publik 01 / 16 | Forschung Hier brummt die Industrie 4.0 schon Eine Modellfabrik im Fachbereich Maschinenbau bildet eine vollautomatische Produktion nach – zum Nutzen von Forschung und Lehre gleichermaßen TEXT Aleksandra Czajkowska FOTOS Andreas Fischer Bild links und Mitte: Farbige Kugeln simulieren verschiedene Farbstoffe der produzierten Limonade. Bild rechts: Sebastian Schramm überwacht die Fertigungszelle. Ein Surren erfüllt plötzlich den Raum. Es erinnert an fern gesteuerte Autos, doch stattdessen gleitet ein mobiler Roboter über den Boden und steuert eine kompliziert anmutende Anlage an. Dann brodelt es inmitten des Raumes plötzlich. Wasser wird aus einer Prozessinsel in eine Abfüll- und Wasser und Kunststoffkugeln besteht, deren unterschiedli- Entleerstation für mobile Roboter gepumpt, durchsichtige che Farbkombinationen verschiedene Geschmacksrichtungen Becher werden befüllt und nacheinander an vier etwa einen symbolisieren. μPlant, so die offizielle Bezeichnung der halben Meter große, schwarz glänzende Hightech-Helfer Modellfabrik (der griechische Kleinbuchstabe μ [my:] steht weitergereicht. Damit fahren sie nun an eine Fertigungs für ‚Mikro-’), wurde am Fachgebiet Mess- und Regelungs zelle, an der das Zwischenprodukt weiterverarbeitet wird. technik im Fachbereich Maschinenbau unter Federführung Das Summen wächst zu einem Klang-Durcheinander von Prof. Dr.–Ing. Andreas Kroll konzipiert und seit 2011 an, das jetzt der Geräuschkulisse einer Fabrik ähnelt. sukzessive aufgebaut. Sie besteht aus sechs miteinander kommunizierenden Stationen, mobilen Robotern sowie Andreas Burlakow (v.l.), Prof. Dr.-Ing. Andres Kroll, Sebastian Schramm und Lars Kistner beobachten die Arbeit der Roboter vom Leitstand aus. 10 Und tatsächlich: Das hier ist eine Fabrik, in der in diesem einem Leitstand und ermöglicht es den Wissenschaftlerin- Moment ohne menschliches Zutun gleichzeitig verschiede- nen, Wissenschaftlern und Studierenden, vollautomatische ne Limonadensorten hergestellt werden. Nur dass diese Produktionsabläufe abzubilden und Methoden etwa zur Pro- Produktionsstätte ganz klein ist, sich mitten auf dem Campus gnose von Fehlfunktionen in einer automatisierten, vernetz- der Universität Kassel befindet und besagte Limonade aus ten und heterogenen Multi-Produkt-Anlage zu erforschen. 11 publik 01 / 16 | Forschung publik 01 / 16 | Forschung Links: Doktorand David Arengas an der Fertigungszelle. Mitte: Lars Kistner mit den mobilen Robotern. Rechts: Das Team beobachtet die Arbeit des Lagerroboters. Der Knickarmroboter sortiert hier die fertige Limonade in das Miniatur-Hochregallager. Eine Miniatur-Fabrik, die mehr kann als andere Hier steht also die Mini-Ausgabe einer Fabrik der Zukunft, ein suchungsergebnisse aus der μPlant fließen unter anderem frühes Exemplar der Industrie 4.0. Die nächste industrielle in Produktionsabläufe der Kooperationspartner aus der Pro- Revolution verheißt smarte Fabriken und Produktionsanlagen, zess- und Fertigungsindustrie ein. „In μPlant verknüpfen wir die selbstständig miteinander kommunizieren. Mit der Kas- verschiede Prozess-Arten“, erklärt Kroll und weicht dabei einem seler Modellfabrik lassen sich dafür Tests durchführen, die im Roboter aus, der nun die fertige „Limo“ von der Fertigungs- Normalbetrieb nicht möglich wären – etwa um die Sicherheit zur Lagerzelle transportiert: „Flüssigkeits- und Schüttgutfer- der Abläufe zu erhöhen. „Wir können hier gezielt kritische tigung erfolgen automatisiert, der Materialfluss robotisch, Situationen provozieren, sie beliebig oft wiederholen, analy ebenfalls die Einlagerung des Endprodukts.“ Dies sei einzig- sieren und Methoden zur Optimierung entwickeln“, nennt artig, denn obwohl deutschlandweit etwa 35 Modellfabriken Kroll eines der möglichen Anwendungsgebiete. Bereits heute existieren, verknüpfe keine von ihnen so viele heterogene sind beispielsweise in der Pharmaindustrie viele Fertigungs- Prozesse und Automatisierungssysteme in einer flexibel abschnitte vollkommen automatisiert, um Kontaminationen gestaltbaren Anlage. Auch der Einsatz mobiler Roboter sei zu vermeiden. Die Erkenntnisse aus Kassel tragen direkt ganz selten, fügt Kroll sachlich, aber nicht ohne Stolz hinzu. dazu bei, die Industrie 4.0 möglich zu machen, denn Unter12 13 publik 01 / 16 | Forschung publik 01 / 16 | Forschung Das Projekt μPlant Das Konzept der Modellfabrik entstand 2011. Ende 2013 wurde die erste Prozessinsel in Betrieb genommen. Für Ende 2016, nachdem die noch ausstehende zweite Prozessinsel ihren Platz in der Anlage einnimmt, ist die offizielle Gesamtinbetriebnahme geplant. Info Informationen zum Fachgebiet Mess- und Regelungstechnik: http://www.uni-kassel.de/maschinenbau/institute/isac/mrt.html Prof. Dr.-Ing. Andreas Kroll. Information zum Fachbereich Maschinenbau und zu Studienmöglichkeiten: http://www.uni-kassel.de/maschinenbau Video Eindrücke von der Modellfabrik finden Ein mobiler Roboter transportiert Limonade ins Lager; der Roboter stoppt, sobald er jemandem auf seiner Route identifiziert. sich hier: http://youtu.be/cuKS5vl9RBg Autonome Orientierung Der Stolz ist auch angebracht, denn so alltäglich das Produkt Navigieren zwischen den einzelnen Produktionsabschnit- nicht ohne ein wachsames Auge eines Menschen aus. Der wäre. Regelmäßig finden Praktika und individuelle Projekte Limonade scheint, so komplex sind doch die Anforderungen ten – sie folgen einer zuvor mit Hilfe der Robotersensorik menschliche Einsatz begrenzt sich vor allem auf die Überwa- an der Anlage statt. Insgesamt sind seitdem 35 studentische an die Technik. Die Teilsysteme für die Prozess-, Fertigungs- erstellten Karte des Raumes. Die autonome Orientierung und chung, Optimierung und Wartung der smarten Mini-Fabrik. Arbeiten in ihre Entwicklung eingeflossen, an sechs weite- und Lageraufgaben sind mit neuesten Automatisierungs-, kollisionsfreies Fahren garantiert eine Infrarotkamera, mit der Arengas ist für die Überwachung der μPlant zuständig. ren und drei Promotionsschriften wird derzeit noch gefeilt. Informations- und Bussystemen ausgestattet, die teilweise jeder Roboter ausgestattet ist. Untereinander und mit dem Er promoviert zum Thema „Multivariate time series seg- Auf der anderen Seite betont Kroll: „Ohne das studentische von Kooperationspartnern wie etwa dem Energie- und Auto- zentralen Steuerungsrechner kommunizieren sie über ein mentation for system identification“, wobei er eine Big- Engagement wäre der Aufbau der Modellfabrik nicht mög- matisierungstechnikkonzern ABB stammen, teilweise an der geschlossenes WLAN-Netzwerk. Auch die Behälter für den Data-Problemstellung unter die Lupe nimmt, nämlich wie lich.“ Alle Produktionseinrichtungen seien Eigenbauten, von Universität Kassel für die μPlant selbst entwickelt wurden. Transport der Flüssigkeit sind mit RFID-Transpondern verse- in großen Prozessdatenarchiven interessante Daten für Studierenden entworfen und umgesetzt. „Im Rahmen einer Die ein bisschen an den berühmten R2D2 erinnernden mobi- hen, damit alle Stationen, die die Roboter anfahren, erkennen, Analyse und Optimierung gefunden werden können. Bachelorarbeit hat beispielsweise ein Student die Fertigungs len Roboter haben jeweils einen eigenen Rechner an Bord. dass die richtige Limonade an- bzw. abtransportiert wird. Sie sind als fahrerlose Transportsysteme (FTS) konzipiert, zelle konstruiert, ein zweiter sie aufgebaut und ein dritter Das ist ein anderes zentrales Einsatzgebiet von μPlant: Die setzt die Automatisierung um“, sagt Kroll und blickt auf die flexibel programmierbar sind und sich selber im Raum Vom Leitstand mit Bedien- und Engineering-PCs aus beob- Qualifizierung einer neuen Generation von Ingenieurinnen einen Roboter, der nach getaner Arbeit präzise zurück auf orientieren können. Ihre Linux-basierte Steuerung ermöglicht achtet M. Eng. David Arengas zusammen mit drei stu- und Ingenieuren auf allerhöchstem Niveau. Die Studieren- seinen Platz an der Abfüll- und Leerstation hinsteuert. ihnen den Start- und Zielauftrag zu empfangen, die Route dentischen Hilfskräften aufmerksam die Abläufe in der den können weitaus praxisnäher und problemorientierter selbstständig zu planen sowie das zielsichere und exakte Modellfabrik. Auch die hochautomatisierte Anlage kommt arbeiten als es in einem herkömmlichen Seminar möglich 14 15
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