Alexander Schwarz AG Staatsrecht I Fall: Der uneinsichtige Bundespräsident Lösungsvorschlag: Die Bundesregierung und der Bundestag können mit Erfolg gegen die Weigerung des Bundespräsidenten, das „Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung“ zu unterzeichnen vorgehen, soweit ein Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG entscheidet gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG über Organstreitverfahren. II. Beteiligtenfähigkeit / Parteifähigkeit, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG Die Bundesregierung bzw. der Bundestag müssten als Antragsteller, der Bundespräsident als Antragsgegner beteiligtenfähig sein. alle drei ausdrücklich von § 63 BVerfGG erwähnt Beteiligtenfähigkeit (+) III. Tauglicher Antragsgegenstand, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG Zulässiger Antragsgegenstand nach Art. 93 I Nr. 1 GG sind „Streitigkeiten über den Umfang von Rechten und Pflichten“ aus dem Grundgesetz. Dies wird in § 64 I BVerfGG näher konkretisiert: Tauglicher Streitgegenstand ist hiernach jede „Maßnahme oder Unterlassung“, die „rechtserheblich“ (BVerfG) ist. Weigerung des BP, das Gesetz auszufertigen, müsste Unterlassen i.S. § 64 I BVerfGG sein (+) Rechtserheblichkeit - Rechtserheblichkeit: Gesetz kann ohne Ausfertigung nicht in Kraft treten (+) tauglicher Antragsgegenstand (+) 1 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I IV. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG Der Antragsteller müssten nach § 64 I BVerfGG antragsbefugt sein. D.h. er müsste geltend machen können, dass er in eigenen sich aus der Verfassung ergebender Rechten durch die verweigerte Ausfertigung des Bundespräsidenten „verletzt oder unmittelbar gefährdet“ wird. Fraglich ist, ob der BP hier das Recht des Bundestages/der Bundesregierung verletzt hat. eigene Rechte: - Bundesregierung/Bundestag Art. 76 I GG → Initiativrecht - Bundestag Art. 77 I 1 GG → Beschlussrecht → Initiativrecht bzw. Beschlussrecht umfassen auch das Recht darauf, dass das Gesetz bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen in Kraft tritt. Eigene Rechte (+) → Möglichkeit der Rechtsverletzung: Verletzung dürfte nicht von „vornherein ausgeschlossen erscheinen“. Hier (+) Der Bundestag/die Bundesregierung kann eine Verletzung seiner/ihrer Rechte gem. Art. 76 ff. GG geltend machen. Sie sind antragsbefugt. V. Rechtsschutzbedürfnis Wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte ersichtlich sind (z. B. wenn das Rechtsschutzziel auch auf anderem Weg erreicht werden könnte) kann davon ausgegangen werden, dass im konkreten Fall ein Bedürfnis nach einer verfassungsgerichtlichen Klärung des Rechtsstreits besteht. VI. Form und Frist des Antrages Antrag innerhalb der Frist gemäß § 64 III BVerfG und unter Beachtung der Formvorschriften des § 23 I, 64 II BVerfGG zu stellen Zwischenergebnis: Der Antrag der Bundesregierung und des Bundestages ist zulässig. 2 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I B. Begründetheit Der Organstreit ist begründet, wenn der Bundespräsident durch seine Weigerung die verfassungsmäßigen Rechte der Bundesregierung verletzt hat. I. Eigene Rechte der Antragsteller Die Rechte aus Art. 76 I (Initiativrecht der Bundesregierung) und aus Art. 77 I 1 GG (Gesetzesbeschlussrecht des Bundestages) beinhalten auch das Recht, dass Gesetz in Kraft tritt, sofern alle weiteren Voraussetzungen vorliegen; also auch das Recht auf Ausfertigung von Gesetzen. → eigene Rechte (+) II. Verletzung Dafür müsste eine Pflicht des Bundespräsidenten zur Ausfertigung des Gesetzes bestehen. → Wortlaut des Art. 82 I GG: „nach den Vorschriften dieses GG zustanden gekommene Gesetze werden vom BP (…) ausgefertigt“ → Formulierung „werden“ spricht für Pflicht zur Ausfertigung, → „nach den Vorschriften dieses GG zustande gekommenen Gesetze“ zeigt die Grenze dieser Pflicht und beinhaltet in logischer Konsequenz eine dem Umfang nach noch zu definierende Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten hinsichtlich der Vereinbarkeit des auszufertigenden Gesetzes mit dem GG Um eine Verletzung der Ausfertigungspflicht festzustellen, ist deshalb zunächst der Umfang der Prüfungskompetenz zu bestimmen 1. Umfang der Prüfungskompetenz Fraglich ist, worauf sich das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes bezieht. a. formelles Prüfungsrecht - Wortlautargument Art. 82 GG: „nach den Vorschriften des GG zustande gekommenen Gesetze“ umfasst wohl wenigstens eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit. [Zum formellen Prüfungsrecht gehört die Prüfung, ob die Zuständigkeit des Bundes für die Gesetzgebung gem. Art. 70 ff. GG bestand (Kompetenz) und ob das ordnungsgemäße Verfahren der Gesetzgebung nach Art. 76, 77 GG eingehalten wurde.] 3 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I FÜR ein formelles Prüfungsrecht: Auch Wortlaut des Art. 78 GG spricht von „Zustandekommen von Gesetzen“. Dies bezieht sich auf das Gesetzgebungsverfahren. formelles Prüfungsrecht nach ganz überwiegender Ansicht (+) b. Materielles Prüfungsrecht Die Frage, ob der Bundespräsident ein materielles Prüfungsrecht hat, ist hoch umstritten. Wortlaut des Art. 82 I GG, der ein solches Recht nicht ausschließt, jedoch auf formelles Prüfungsrecht schließen lässt, kann hinsichtlich des materiellen Prüfungsrechts von Gegnern und Befürwortern gleichermaßen angeführt werden keine Entscheidungshilfe. aa. Argumente für ein ausschließlich formelles / GEGEN ein materielles Prüfungsrecht: systematisches Argument: in Art. 78 GG ist eine annähernd identische Formulierung gewählt worden („kommt zustande“). Darin sind allerdings ohne Zweifel nur formelle Vorschriften, nämlich die dort genannten, gemeint. Diese Parallele spricht systematisch gegen ein materielles Prüfungsrecht. historischer Hintergrund: für schwache Stellung des Bundespräsidenten Lehren aus den Erfahrungen in der Weimarer Republik und der Weimarer Reichsverfassung insgesamt schwache Stellung des Bundespräsidenten unter den obersten Staatsorganen - (Gegenzeichnungspflicht, völkerrechtliche Vertretung und Abschluss der Verträge mit auswärtigen Staaten gem. Art. 59 I GG - die Ernennung des Bundeskanzlers gem. Art. 63 II S. 2 GG, der Bundesminister gem. Art. 64 I GG und der Bundesbeamten gem. Art. 60 GG Bundespräsident ist „Staatsnotar“, hat aber keine Funktion politischer Staatsleitung! Normverwerfungsmonopol des BVerfG: Bundespräsident soll nicht über Verfassungsmäßigkeit einer Norm entscheiden dürfen - Gegenargument: keine Konkurrenz zum BVerfG, da Prüfung durch Bundespräsidenten vor Ausfertigung und Inkrafttreten des Gesetzes, welches erst dann wirksame Norm wird überwiegend abgelehnt, aber vertretbar 4 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I bb. Argumente FÜR materielles Prüfungsrecht Bundespräsident unterliegt Amtseid nach Art. 56 GG - Gegenargument: Art. 56 GG keine kompetenzbegründende Norm, ZirkelschlussArgument Präsidentenanklage. Art. 61 GG Zwar ergibt sich hieraus, dass BP nicht das GG verletzen darf. Hieraus jedoch auf ein Prüfungsrecht zu schließen, wäre ebenso ein Zirkelschluss wie im Zusammenhang mit Art. 56 GG (Amtseid). Stellung des BP als Verfassungsorgan alle Staatsorgane unterliegen Verfassungsbindung aus Art. 1 III, 20 III GG. spräche man dem Bundespräsident materielles Prüfungsrecht zumindest bei evidenten Verfassungsverstößen ab, müsste er „sehenden Auges“ an einer Verfassungsverletzung mitwirken, wozu kein Staatsorgan aufgrund ihrer Verpflichtung zur Achtung und Verteidigung der Verfassung gezwungen werden darf nicht zu widerlegen Ein Verfassungsorgan kann nicht verpflichtet sein, zu einem offensichtlichen Verfassungsbruch beizutragen. Bundespräsident hat zumindest bei evidenten Verfassungsverstößen ein materielles Prüfungsrecht (h. M.). (a. A. geht sogar weiter und bejaht umfassendes materielles Prüfungsrecht, da Evidenzkriterium für nicht sachgerecht und nicht praktikabel eingestuft, beides vertretbar) wohl herrschende Meinung: formelles Prüfungsrecht sowie materielles Prüfungsrecht hinsichtlich EVIDENT materieller Verstöße. c. Zwischenergebnis Ein Prüfungsrecht des Bundespräsidenten besteht im Hinblick auf formelle sowie evident materielle Verfassungsverstöße Der BP kann daher Ausfertigung und Verkündung verweigern, WENN das Gesetz offensichtlich verfassungswidrig ist. Es ist daher zu prüfen, ob der BP im vorliegenden Fall, seine Prüfungskompetenz verfassungskonform ausgeübt hat. 5 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I 2. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes a. Formelle Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Privatisierung der Flugsicherung“ aa. Gesetzgebungskompetenz - Luftverkehr gem. Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG betrifft alle mit dem Flugwesen zusammenhängenden Tätigkeiten und Institutionen Luftaufsicht und Luftpolizei umfasst ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben bb. Verfahren - keine gegenteiligen Angaben im SV, insbesondere Bundesrat nach SV ordnungsgemäß beteiligt (+) cc. Zwischenergebnis: Das Gesetz ist formell verfassungsgemäß. b. (Evidente) materielle Verfassungswidrigkeit In Betracht käme ein Verstoß gegen das Erfordernis der bundeseigenen Verwaltung aus Art. 87 d Abs. 1 S. 1 GG durch aa. Kapitalprivatisierung an sich Art. 87 d I S. 1 GG bestimmt für Luftverkehrsverwaltung die Form der bundeseigenen Verwaltung; insbesondere Flugsicherung als sonderpolizeiliche Aufgabe, die folglich hoheitlich wahrzunehmen ist staatliche Gewährleistungsverantwortung Durch die Vorschrift soll deshalb die jederzeitige Durchsetzung des staatlichen Willens sichergestellt werden. Zulässig ist daher lediglich eine Organisationsprivatisierung (so auch ausdrücklich Art. 87 d I S. 2 GG) Kapitalprivatisierung, wie im Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung vorgesehen, verstößt dieses daher gegen das Gebot der bundeseigenen Verwaltung gem. Art. 87 I GG und ist verfassungswidrig 6 Alexander Schwarz AG Staatsrecht I bb. Verstoß gegen das Erfordernis der bundeseigenen Verwaltung aus Art. 87 d Abs. 1 S. 1 GG durch Einführung einer Mindestbeteiligung des Bundes - mit 25,1 % der Anteile hielte der Bund nur Sperrminorität, kann jedoch nicht von sich aus zwingend Unternehmen steuern, was aber den Anforderungen der bundeseigenen Verwaltung zur Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung nicht genügt (Literatur hierzu: Degenhart, Staatsrecht I, 2013, S. 197-198) Die Einführung einer Mindestbeteiligung des Bundes ist demnach ebenfalls verfassungswidrig cc. Das Gesetz ist materiell verfassungswidrig. Der Bundespräsident durfte deshalb die Ausfertigung wegen evidenter materieller Verfassungswidrigkeit des Gesetzes verweigern C. Endergebnis: Der Antrag der Bundesregierung und des Bundestages ist zwar zulässig, aber mangels Pflichtverletzung des Bundespräsidenten unbegründet und hat folglich keinen Erfolg. Literaturhinweis: Christoph Degenhart: Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht. Mit Bezügen zum Europarecht. 29. Auflage, Müller, Heidelberg 2013, S. 304–309. 7
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