Luthers Schatten (Referat auf der Goslarer Propsteisynode vom 3.9

Luthers Schatten
(Referat auf der Goslarer Propsteisynode vom 3.9.2015)*
Dass man ihre Synagoge und Schule mit Feuer anstecke
und, was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte,
dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich …
dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. …
dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten …
Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen. …
Dies ist ein kleiner Auszug aus dem, was Luther 1543, also drei Jahre vor seinem Tod in
einer berüchtigten Schrift zur Behandlung der Juden vorschlug.
Die zitierten Sätze und viele andere Äußerungen über die Juden haben bei den meisten
Menschen, die sie zu hören bereit waren, tiefes Entsetzen, Verwirrung, Unverständnis,
Ablehnung, ja Hass ausgelöst.
Was bedeuten diese Sätze Luthers für unser Lutherbild? Ist das noch theologischer
Antijudaismus, wie man ihn ja auch vor Luther kannte. Oder spricht hier ein Rassist, ein
Wegbereiter der Shoah? Noch pointierter: Gehörte Luther auf die Anklagebank von
Nürnberg, wie einer der schlimmsten Rassisten der Nazizeit, der Herausgeber des
„Stürmer“, Julius Streicher, in einer Art perverser Vorwärtsverteidigung gesagt hat?
Wenn wir uns diesen Fragen nähern, scheint es, sinnvoll – ohne Luther gleich von jeder
Verantwortung freizusprechen –:
o dass wir uns den Blick auf den Menschen des 16. Jahrhunderts nicht von vornherein
durch die Verbrechen des 20. Jahrhunderts verstellen
o und dass wir uns sehr behutsam zwischen dem religiös bedingten Antijudaismus jener
Zeit und dem rassistischen Antisemitismus der Moderne bewegen
Schauen wir kurz, wie die Juden an der Wende zur Neuzeit, im 15./16. Jahrhundert,
betrachtet und behandelt, misshandelt wurden? Schon seit dem Beginn der Kreuzzüge,
dann besonders nach der Pest in der Mitte des 14. Jahrhundert gab es immer wieder
Pogrome und Verfolgungswellen im Reich. Die Juden fungierten als „Sündenböcke“ für
vielerlei Beschwernisse. Die meisten Berufe waren ihnen verwehrt, Landbesitz war ihnen
verboten. Fast nur Waren- und der Geldhandel kamen als Berufe in Betracht; mit der
Folge, dass man sie immer wieder des Wuchers bezichtigte. Gelbe Ringe oder Flecken auf
der Vorderseite der Kleidung waren seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts vielen
süddeutschen Städten verbindlich. Eheliche Verbindungen zwischen Christen und Juden
waren unmöglich oder erschwert. Das Aufenthaltsrecht der Juden war überall prekär.
Besonders Mitteldeutschland war eine ausgeprägte Vertreibungszone.
Die damit verbundene Desintegration der Juden förderte verständlicherweise bei ihnen ein
enges Zusammengehörigkeitsgefühl und die Pflege der eigenen heiligen Texte und
Traditionen. Dies wiederum gab Anlass, Juden geheimnisvolle magische Praktiken
nachzusagen, Brunnenvergiftungen, die Beschuldigung des Hostienfrevels. Die
*
Das Referat stützt sich im Wesentlichen auf die lesenswerten Arbeiten von Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer
Zeit des Umbruchs, 2012, und Thomas Kaufmann, Luthers Juden, 2014, ohne dies im Einzelnen nachzuweisen.
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schlimmste Anklage, die immer wieder erhoben wurde: Sie würden in der Passionszeit
christliche Kinder rituell ermorden, um das Christenblut für magische oder kultische
Zwecke zu verwenden.
Luther lebte mitten in diesem antijüdischen Sumpf.
Das bedeutet freilich nicht, dass er selbst nennenswerten Kontakt zu Juden und eigene
Kenntnisse von den angeblichen Praktiken gehabt hätte. In Wittenberg gab es praktisch
keine Juden. Aber es gab die sogenannte „Judensau“, eine an der Stadtkirche in Stein
gehauene üble Verhöhnung der Juden, die durch eine obszöne Verbindung mit dem ihnen
als unrein geltenden Tier ihre religiösen Gefühle in den Schmutz zerrt.
Auch seine Stellung als Reformator veranlasste Luther nicht, mit den Juden in einen
Dialog zu treten. Nur wenige persönliche Begegnungen sind überliefert, so für die Mitte
der 1520er Jahre eine Art Religionsgespräch mit zwei oder drei Rabbinern. Dieser
Versuch, sich über die Bedeutung Jesu zu verständigen, misslang aber gründlich. Und das
diente Luther später immer wieder als Beweis dafür, dass die Auseinandersetzung mit
Juden über die Exegese des Jüdischen Testaments (in dem er doch Jesus Christus schon als
Messias angekündigt sah) zu nichts führen könne. Mehrfach erwähnte er später entsetzt,
die Rabbiner hätten im Zusammenhang mit diesen Gespräche Christus als „Thola“, also
als den „erhängten Schächer“, einen zu Recht hingerichteten Straßenräuber, diffamiert.
Weitere Kontakte hatte Luther nur zu einigen Konvertiten, von denen er seine
Informationen über Kultus und Kultur der Juden bezog, die vermutlich, wie das bei
Konvertiten gelegentlich ist, sehr negativ gefärbt waren. Dies galt besonders für die
Informationen, die er aus einem damals sehr wirkungsreichen Werk des Konvertiten
Antonius Margaritha (Der gantz Jüdisch glaub) zog. Dieser wusste zum Beispiel zu
berichten, dass die gesamte Gebets- und Ritualpraxis der Juden darauf ausgerichtet war,
den christlichen Glauben zu verunglimpfen und den Christen zu schaden; dass man ihnen
daher keinesfalls freundlich begegnen dürfe; dass die Obrigkeit deshalb gegen sie
vorgehen, ihnen Zwangsmaßnahmen und Arbeitspflichten auferlegen solle.
So waren es kaum eigene Begegnungen und Gespräche, die Luthers Judenbild
bestimmten, sondern solche verzerrenden Berichte und auch gewisse Aussagen der Bibel,
besonders des Johannes-Evangeliums. Schilling sagt: „ Sein Urteil über die Juden war im
Kern gegenüber Einflüssen aus der Erfahrung im Umgang mit ihnen resistent.“ Kurz
gesagt: Er wusste nichts Gesichertes über sie.
Schauen wir, wie sich dies auf seine Äußerungen über Juden auswirkte. Es ist schwierig,
sie präzis zu fassen, weil sie immer wieder schwankten. Aber es lassen sich grob drei
Phasen unterscheiden, in denen er durchaus unterschiedliche Akzente setzte: Erstens: die
Phase der Duldung – die frühen Äußerungen bis 1523, zweitens: die Phase der
Umwerbung – die erste Judenschrift 1523, drittens: die Phase der Verteufelung – die
späten Judenschriften ab 1543
Die frühen Äußerungen waren fast ausschließlich theologisch akzentuiert entsprechend der
reformatorischen Lehre.
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Auf sie müssen wir deshalb vorweg einen ganz kurzen Blick werfen, um die auch in dieser
Phase schon heftige Abgrenzung gegen die Juden zu verstehen:
Also jetzt Konfirmanden-Unterricht-Extrakt:
Luther lässt die Bibel als einzigen Maßstab christlicher Erkenntnis und Handlungen gelten
(„Allein die Schrift“). Zentrum christlicher Existenz ist für ihn der unbedingte Zuspruch
der Gnade Gottes („Allein durch Gnade“). Dieser Zuspruch habe sich exklusiv dadurch
ereignet, dass Jesus als Gottes Sohn in der Kreuzigung die Schuld der Menschen
übernommen habe („Allein Christus“). Das sei schon im Alten Testament angekündigt.
Nur durch das Vertrauen auf Christus werde die Gnade bei uns wirksam („Allein durch
Glauben“). Wer sich durch Eigenleistung vor Gott rechtfertigen wolle (sog.
Werkgerechtigkeit), sei daher ein Feind Christi und verdammt. Hauptvertreter solcher
Werkgerechtigkeit sind für ihn neben den sog. Papisten die Juden.
Da hinein fügen sich die Äußerungen, die wir schon in der ersten Vorlesung über die
Psalmen finden und die bereits das ganze theologische Programm Luthers gegenüber den
Juden enthalten, also das was man theologischen Antijudaismus nennen kann:
Die Juden verstünden nichts davon, dass Christus im Alten Testament bereits angekündigt
sei. Ihre Erwartung, der Messias werde noch kommen, und ihre ganze Hingabe an das
Gesetz seien „fleischlicher“ Art. Der Talmud (der ja eine Art weitergeschriebene Bibel ist)
habe sie vom rechten Verständnis der Bibel entfernt. Er lehre lauter Lügen, um die
Wahrheit Christi zu verbergen. Die Juden stünden unter Gottes Zorn; Gott habe sein Volk
wegen dessen fortgesetzter Überheblichkeit „ausgespien“. Als Strafe für Jesu Kreuzigung
hätten die Juden ihren Tempel verloren und seien zerstreut worden. Dieses Gericht habe
sie aber nicht gebessert, sondern verstockt. Nur ein kleiner Rest der Juden werde durch die
Bekehrung zu Christus, die nur Gott selbst vollbringen könne, gerettet werden.
Obwohl einen schaudert, wenn man dies hört, es ist immerhin theologisch argumentiert.
In 2. Psalmenvorlesung betont Luther dann mehr den Gedanken, dass die Juden durchaus
wieder zurückfinden, wieder in der Stamm „eingepfropft“ werden könnten (vgl. Röm
11,23). Deshalb sei es verdammungswürdig, wenn einige Christen meinten, Gott damit
einen Dienst zu tun, dass sie die Juden auf die hässlichste Weise verfolgen, alles Schlechte
über sie denken. Stattdessen sollten sie doch durch alle Sanftmut und Geduld, Gebet und
Sorge angezogen werden. Wer wolt Christen werden, szo er sihet Christen so unchristlich
mit menschen umbgahn? fragt er in der Auslegung des Lobgesangs der Maria (Magnificat,
1521).
Luther betont in dieser Phase und auch später immer wieder, dass Gott die Zusage des
Heils an die Juden nie zurückgenommen habe. Es seien die Juden selbst, die sich
abgekehrt hätten.
Und in den bisher vorgestellten Texten distanziert er sich noch von der geläufigen Praxis
in Passionspredigten, die Christen zum Judenhass aufzustacheln. Wir finden hier nichts
von den damals üblichen Anwürfen des Ritualmordes, der Hostienschändung, der
Brunnenvergiftung. Vielmehr stand er mit einer gewissen Offenheit gegenüber den Juden
gegen den Trend der Zeit. Ja, man kann sagen, er erschien aufgrund dieser Äußerungen
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damals vielen als „Judenfreund“ – auch wenn wir uns heute darunter etwas anderes
vorstellen.
Auf dieser Linie ging Luther im Jahre 1523 – Phase der Umwerbung – einen
bemerkenswerten Schritt weiter. Gemeint ist der Traktat „Dass Jesus Christus ein
geborener Jude sei“. Einleitend führt er geradezu freudig aus, dass nun die Hoffnung
bestehe, dass viele unter den Juden bekehrt und so im Ernst zu Christus gezogen werden.
Auslöser war wohl die Bekehrung des Rabbiners Jakob Gipher. Luther zeigte sich
überzeugt, dass seine Theologie auch die Juden in den christlichen Aufbruch hineinziehen
werde.
So wollte er mit dieser Schrift christlichen Lesern Argumentationshilfen für
missionarische Begegnungen mit Juden bieten. Er hoffte, wie er wörtlich sagt, den Juden
mit der Schrift zu „dienen“, d.h. sie mit seinen Argumenten für den richtigen Glauben zu
erreichen. Bisher habe man die Juden behandelt, als „weren es hunde und nicht
menschen“; man habe sie gescholten, sie ihres Gutes beraubt und ihnen eine qualifizierte
Unterweisung über Lehre und Ethos der Kirche verweigert.
Das müsse sich ändern. Denn Gott habe das Volk der Juden dadurch in unvergleichlicher
Weise ausgezeichnet, dass er den Heiland, aber auch alle Propheten und Apostel, aus ihm
erwählte. Deshalb müsse man die Juden freundlich behandeln als „blutfreund, vettern und
brüder unsers herrn“. Man solle sie freundlich in der durch die Reformation
wiederentdeckten evangelischen Wahrheit unterweisen. Denn es „sollten yhr viel rechte
Christen werden“.
Dazu müsse sich vor allem der alltägliche Umgang mit den Juden ändern; die
Lügenmärchen von der Schuld am Tode Christi und vom Gestank der Juden und „wes des
narren werck mehr ist“, müssten aufhören. Stattdessen solle man ihnen helfen und „guttis
an yhn schaffen“. Es dürfe ihnen nicht länger verboten sein, Berufe ihrer Wahl zu
ergreifen. Sie sollten auch im Übrigen Gemeinschaft mit den Christen haben und ihre
Ghettos sollten sie verlassen dürfen.
Mit dieser freundlichen Behandlung der Juden sollte ihre Unterrichtung aus der Bibel
einhergehen – mit dem Ziel, dass sie zum richtigen Glauben ihrer Väter, der Propheten
und Patriarchen zurückkehrten. Dabei warnt er sogar – pädagogisch fortschrittlich – vor
allzu heftiger Unterweisung der Juden, die „tzu tieff und tzu lange verfurt“ worden seien.
So genüge es zuerst, dass sie Jesus als den rechten Messias erkennten. Darnach sollen sie
weyn trincken (also wohl Abendmahl feiern) und auch lernen, wie Jesus warhafftiger Gott
sey. Jegliche Zwangsmaßnahmen lehnte er ab, weil er die Bekehrung letztlich für Gottes
Werk hielt.
Aber Achtung! Für dieses relativ freundliche Programm verwässert Luther die
reformatorische Theologie um kein Jota. Vielmehr war ja seine Überzeugung von der
Richtigkeit dieser Lehre gerade der Grund, weshalb man nun auch den Juden diese
unwiderlegliche Lehre unterbreiten müsse. Und so legt er auch in dieser Schrift in
schwierigen exegetischen Überlegungen dar, dass der von den Juden erwartete Messias in
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Jesus bereits erschienen sei. Ihre Bekehrung war für ihn also – modernistisch gesprochen –
eine alternativlose Option.
Deshalb – und daher sagte ich „Achtung!“ – steht dies Umwerben der Juden unter einem
äußerst wichtigen Vorbehalt, nämlich dem Satz, dass die neue Haltung gegenüber den
Juden nur gelte „bis ich sehe, was ich gewirckt habe“. Eine unscheinbare, aber überaus
bedeutsame Äußerung. Da lag sozusagen eine für das künftige Verhältnis zu den Juden
gefährliche Mine verborgen. Kaufmann sagt: Die Judenfeindschaft des späteren Luther
wurzelte in der bedingten Freundlichkeit des früheren. Oder noch einfacher: Wenn ihr
nicht wollt, kann ich auch anders.
Wir sollten also nicht annehmen, dass hinter dieser Schrift die Bereitschaft stand, nun mit
dem zeitgenössischen Judentum in einen offenen theologischen Dialog zu treten. Dies ist
wohl der grundlegende Vorwurf, den man Luther über alle Phasen hinweg machen muss.
In der Folgezeit kam es tatsächlich zu einigen Anstrengungen, Juden mit Hilfe
christologisch gedeuteter alttestamentlicher Texte für das evangelische Christentum zu
gewinnen. Es gab einige Lehrschriften anderer Theologen in Dialogform, die Luthers
Vorstellungen von einem freundlichen Umgang umzusetzen versuchten. Die
reformatorische Bewegung stellte sich so in den Jahren nach 1523 in einer Weise als
„judenfreundlich“ dar, die mit der bisherigen Tradition brach. Und man sollte im Auge
behalten, dass dafür in dieser Phase niemand mehr getan hatte als Luther.
Aber Luther hatte offenbar durch sein Programm einen gefährlichen Erwartungsdruck
geschaffen – nicht nur für die Juden, sondern vor allem für sich selbst.
Diese Erwartungen waren realitätsfern, weil er seine Behandlung der Juden auch nicht
ansatzweise daran ausrichtete, wie sie in seiner Zeit wirklich lebten und glaubten, sondern
an seiner Vorstellung von ihnen. Es zeigte sich deshalb bald, dass er die Wirkung der
Erneuerung des Christentums auf sie völlig überschätzt hatte.
Vielmehr entzogen sich die Juden der evangelischen Belehrung. Vor allem waren sie nicht
bereit, Luthers Meinung zu folgen, das Jüdische Testament habe schon auf Jesus als den
Messias vorausgewiesen.
Im Gegenteil scheint es gerade in dieser Zeit bei den Juden eine Phase geistig-religiöser
Erneuerung gegeben zu haben. Und die erlebte Luther natürlich wiederum als Bedrohung
seines reformatorischen Auftrags, eine Bedrohung, die er, wie fast alle Widerstände, als
Machenschaften des teuflischen Widersachers deutete.
Deutlich spürbar ist denn auch bald eine Art „Roll back“, zunächst bei dem Straßburger
Reformator und Vertrauten Luthers Bucer/Butzer, der – als es um eine neue hessische
Judenordnung ging, verschiedene Forderungen aufstellte, die an alte Zeiten gemahnten:
den Götzendienst (gemeint war jüdischer Gottesdienst) im Reich zu unterbinden; das
Verbot, Christen zum Übertritt zu verführen; „saubere“ und „ehrliche“ Berufe solle man
den Juden versagen. Die hessische Judenordnung von 1539 verlangte dann, dass Juden
eidlich versichern sollten, dass sie Christus und das Christentum nicht schmähten, sich
allein an die biblischen Worte des Alten Testaments hielten und den Talmud ignorieren.
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Warenhandel wurde ihnen nur noch in engsten Grenzen erlaubt. Der Geschlechtsverkehr
eines Juden mit einer Christin wurde mit der Todesstrafe belegt.
Auch Luther stimmt sich schon ab 1526 wieder auf einen polemischen Ton ein, mit der
Auslegung des 109. Psalms. Er erklärte die Wirkungslosigkeit der reformatorischen
Glaubensverkündigung gegenüber den Juden damit, dass die Juden verstockt seien. Der
Teufel habe die Juden verführt und verblendet. Sie seien deshalb schlechterdings nicht zu
bekehren. Nochmals beton er, die 1500jährige Leidensgeschichte der Juden sei die Folge
göttlicher Bestrafung dafür, dass sie Jesus nicht als den Messias anerkannt hätten. So
wurde das Elend der Juden in einer paradoxen Beweisführung geradezu ein Beweis für die
Messianität Jesu.
Ein Auslöser für weitere Schritte in Richtung auf die Äußerungen, die ich anfangs zitiert
habe, war in diesen Jahren das Auftauchen einer christlichen Splittergruppe in Mähren. Sie
wurden bald als Sabbather bezeichnet, weil sie den wöchentlichen Feiertag nicht sonntags,
sondern am Samstag hielten, und denen man nachsagte, ihre männlichen Neugeborenen zu
beschneiden. Das klang für Luther wie das gefährliche Aufflammen jüdischer Rituale
mitten unter den Christen. Er reagierte heftig in seiner Schrift „Wider die Sabbather“, die
darin gipfelt, die Juden seien ein hoffnungsloses, blindes und böses Volk, das man
unnachgiebig bekämpfen dürfe. Dass es sich bei den Sabbathern in Wirklichkeit um eine
Gruppe christlich-täuferischen Ursprungs handelt, zeigt deutlich, wie Luthers
Wahrnehmung in diesen Bereichen eingeengt war. Man wird – ohne zu sehr zu
psychologisieren –annehmen dürfen, dass die ausbleibende Bekehrungen für Luther eine
Art Bestätigung für das waren, was er schon immer wusste, nämlich, dass die Juden ein
verstocktes Volk waren.
Damit war die dritte Phase eingeleitet.
Die Zeit des Abwartens war für ihn nun vorbei. Er musste – das war wohl seine Sicht –
nun mit den nächsten Schriften noch eine Pflicht einlösen, die er Gott schuldig war. Und
das geschah ab 1543 in drei Schriften, die man nur als schrecklich bezeichnen kann.
Gewiss – das mag vorweg noch erklärend, nicht entschuldigend – gesagt werden: Er war
in seinen letzten Lebensjahren von ständigen körperlichen Leiden wie Kopfschmerzen,
Kreislaufstörungen und Steinleiden geplagt, nannte sich selbst einen alten Madensack. Er
schaute überwiegend griesgrämig, pessimistisch und schwermütig in die Welt. Auch mag
es äußere Gründe gegeben haben – wie das Wüten der Pest und Christenverfolgungen in
Italien, endlose Auseinandersetzungen innerhalb der protestantischen Bewegung –, die
dazu geführt haben, dass er die Welt nur noch als eine Hölle der Schlechtigkeiten erfuhr..
Und mit dem Tod der über alles geliebten Tochter Magdalena im Jahr 1542 war wohl
etwas in ihm gestorben. Besonders in den letzten Jahren wurde Luther überdies von der
Angst verfolgt, dass ein von katholischen Bischöfen gedungener jüdischer Mörder ihm
nach dem Leben trachtete, ja, es gibt die plausible Vermutung, dass ihn von den früheren
1520er Jahren an bis zu seinem Lebensende eine existentielle Angst vor jüdischen
Mördern begleitete.
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Wie er nun freilich mit dem Pamphlet „Die Juden und ihre Lügen“ über die Juden herfiel,
das übertrifft an Grobheit und Menschenverachtung alles, was man selbst von ihm, der ja
nie ein Blatt vor den Mund genommen hatte, erwartet hätte.
Einleitend, führt er, noch relativ gelassen aus, es sei ihm zu Ohren gekommen, dass „die
Elenden, heillosen Leute (gemeint sind die Juden) nicht aufhören, uns, das ist die
Christen, an sich zu locken“. Dem müsse er entgegentreten, so schreibt er, „damit ich
unter denen erfunden werde, die solchem giftigen furnemen (Vorhaben) der Jüden
widerstand getan und die Christen gewarnet haben.“
Theologisch geht es auch hier wieder darum, dass Gottes ewige Bundestreue sich in der
Ankunft Jesu als Messias verwirklicht habe. Durch die in Christus erfüllten
alttestamentlichen Worte werde der christliche Glaube „auff das aller sterckest beweist“.
In den Ausführungen zur Abrahamskindschaft der Juden, zur Beschneidung, zur
Landverheißung in Palästina und zur Messiaslehre beschränkt er sich nicht auf
theologische Begründungen. Vielmehr münden sie alle in wüste Beschimpfungen der
Juden. Sie seien allesamt bösartige Schriftverdreher, eine gotteslästerliches Volk. Sie
galten ihm nun nicht mehr als verirrte Brüder, die man durch Belehrung für das
evangelische Christentum gewinnen konnte; nun waren sie Agenten des Satans, die man
bedingungslos niederringen musste. Seit 1400 Jahren seien die Juden die „plage, pestilentz
und alles unglück“ der Christenheit gewesen. Daher wolle er mit keinem Juden mehr zu
tun haben; sie seien, wie Paulus gesagt habe, dem Zorn übergeben. Ihnen zu predigen sei
so, als wollte man einer Sau das Evangelium predigen.
Und jetzt auch hemmungslos dies: Ihnen sei allemal zuzutrauen, „dass sie die Brunnen
vergiftet und Kinder gestohlen und gequält hätten. Und er versäumt nicht, wieder auf die
berüchtigte „Judensau“ an der Wittenberger Pfarrkirche hinzuweisen. Las sie faren, sagt er
am Ende dieses Abschnitts.
Daraus folgerte er:
Wenn sich ein Christ gegenüber den Juden „barmherzig“ zeige – also ein Verhalten
praktiziere, das er 1523 selbst empfohlen hatte –, werde er, wie die Juden, am Jüngsten
Tag mit ewiger Höllenpein bestraft. treffe er auch die Christen, die diese verfluchten
Kreaturen dulden. Um das zu verhindern, hätten Fürsten und Herren mit Unterstützung der
Pfarrer und Prediger ganz konkrete Gegenmaßnahmen zu treffen. Diese kulminieren in
den Vorschlägen, die ich eingangs schon zitiert habe und die ich mich weigere zu
wiederholen.
„Christus unser Herr, bekere sie barmherziglich“, mit diesem Gebet endet der
schreckliche antijüdische Traktat.
Auch in der Endzeitperspektive des alten Luther also soll Heil universell und allen
Menschen zugänglich bleiben, gerade auch den Juden. Wie das zu den entsetzlichen
Invektiven der Texte passt, entzieht sich mir.
Leider war das noch nicht alles. Es folgten Äußerungen in Predigten und zwei weitere
Schriften, die ebenso wüst oder noch schlimmer in diese Kerbe schlugen. Ich erspare sie
Ihnen.
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Welche Wirkung entfalteten diese Schriften?
Gab es einen Aufschrei des Entsetzens unter den Theologen? Nur bei wenigen Kollegen
stießen Luthers Ausfälle auf Ablehnung, dies vor allem bei Osiander (Würzburg) und
Bullinger (Zürich). Dieser schrieb, Luther habe den schönen und dankbaren Stoff entstellt
und geschändet durch seine schmutzigen Ausfälle. Die schweinische letzte Schrift hätte
auch dann, wenn ein Schweinehirt und kein berühmter Seelenhirt sie verfasst hätte, wenig
Entschuldigung. Die Luther nahestehenden Melanchthon und Spalatin dagegen betrieben
die Verbreitung der Schrift unter protestantischen Fürsten. Luthers Hass auf die Juden
blieb auch später, wie Kaufmann sagt, in der evangelischen Kirche als eine Art „mentale
Ressource“ gegenwärtig und konnte jederzeit aktiviert werden.
Diese Wirkungsgeschichte können wir hier nicht im Einzelnen verfolgen.
Nur dies:
Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Luther dafür in Anspruch genommen,
dass Judentum und christlich geprägtes Deutschtum unvereinbar seien. Die sog.
Rassentheoretiker der Nationalsozialisten nahmen das dann bereitwillig auf, sicher ohne je
selbst Luther gelesen zu haben. Und es kann kaum zweifelhaft sein, dass Luthers Worte
sich gleichsam wie von selbst in rassistischen Antisemitismus verwandelten, als
lutherische Bischöfe der Deutschen Christen die antisemitische Rassentheorie der
Nationalsozialisten übernahmen. Einen Tiefpunkt dieser Entwicklung waren die
Reaktionen nach der Reichspogromnacht des 9. November 1938:
Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse veröffentlichte dazu in hoher Auflage eine
Broschüre, in der er vom gottgesegneten Kampf des Führers zur völligen Befreiung
unseres Volkes... sprach und unter Hinweis auf Luther wörtlich hinzufügte: In dieser
Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16.
Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem
Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit
seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden“.
Und eine Woche später schrieb der mecklenburgische Landesbischof Martin Schultz ein
Mahnwort zur Judenfrage an seine Pastoren, in der er das Geschehnis als Erfüllung des
Vermächtnisses Luthers bewertete.
Die von den Deutschen Christen dominierten Landeskirchen bekannten sich im September
1941 als „Glieder der deutschen Volksgemeinschaft“ zur Kennzeichnungspflicht mit dem
sogenannten „Judenstern“ und beriefen sich darauf, dass schon Dr. Martin Luther nach
bitteren Erfahrungen die Forderung erhoben habe, schärfste Maßnahmen gegen die Juden
zu ergreifen und sie aus deutschen Landen auszuweisen. Sogar Theologen der
Bekennenden Kirche (nämlich der spätere nordelbische Landesbischof Wilhelm
Halfmann) traten der unter Berufung auf Luther öffentlich für die Rassegesetze des NSStaates ein, wohl weil sie den Bestand der Kirche so zu sichern hofften.
Gehörte also Luther auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse?
War er Rassist im heutigen erbbiologischen Sinne?
Wir sehen seinen Hass auf die Juden, wie er sich in den letzten Schriften artikulierte, aus
vielen Quellen gespeist. Eine der Quellen war sicher theologisch begründet, nämlich die
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Enttäuschung, dass es trotz des Angebots in der Schrift von 1523 nicht gelungen war, die
Juden in nennenswerter Zahl zum Christentum zu führen. Das hat Luther leider nicht
veranlasst, nun in persönlichem Dialog mit den Juden wirklich fundierte Kenntnisse über
ihre Traditionen und Kulte zu suchen. Vielmehr nahm er ungeprüft die gehässigen
Klischees von Margaritha und anderen auf. Und er verschärfte sie noch in einer Weise, die
weit über den traditionellen kirchlichen Antijudaismus hinaus geht. Luthers Hinweise auf
angebliche erpresserische Wucherei, Geldgier, Bosheit und Verschlagenheit der Juden, das
Aufnehmen der Vorwürfe von Giftmordanschlägen speiste sich aus vielen trüben Quellen
eines vormodernen Antisemitismus. Auch Sätze wie der, das „jüdische blut“ sei „wesserig
und wild“ geworden, den er vier Tage vor seinem Tod in der „Vermahnung wider die
Juden“ formulierte, lassen an rassistischen Antisemitismus denken. Man muss schon sehr
wohlwollend sein, um sich mit der Erklärung Schillings zu beruhigen, dass hier nicht
rassistische Ängste vor der biologischen Verunreinigung christlichen Bluts den
Reformator trieben, sondern dass er sich lediglich gesorgt habe, dass die damals lebenden
Juden sich immer weiter davon entfernten, Christus als den ihnen angekündigten
blutsverwandten Messias zu erkennen.
Wie dem auch sei:
Die religiösen und die nicht-religiösen Elemente von Luthers Judenhass lassen sich schwer
voneinander trennen.
Mich überrascht es deshalb nicht, dass er im Laufe der Jahrhunderte immer wieder
sozusagen rassistisch fortgeschrieben wurde. Dazu hat sicher beigetragen, dass weite Teile
der Theologie, um ihn als gültige Instanz, als Vorbild zu erhalten, sich nur selektiv auf ihn
bezogen und es vermieden, den ganzen Luther zu sehen und zu diskutieren. So konnten die
antijudaistischen und antisemitischen Anteile seiner Schriften immer wieder ungeprüft für
völkisch-rassistische Vorhaben in Anspruch genommen werden.
Jeder mag für sich selbst die Eingangsfragen beantworten.
Wie immer die Antwort lautet – wichtig scheint mir:
1. Dem historischen Luther war die Vorstellung fremd, Juden systematisch zu töten.
2. Glatte Linien von Luther zu Auschwitz gibt es nicht.
3. Aber der theologische Antijudaismus, der ja wie ein cantus firmus alle seine
Äußerungen trägt, muss einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.
4. Und von den auch nur ansatzweise rassistisch klingenden Äußerungen sollte sich die
Kirche – soweit nicht schon geschehen – schnellstens distanzieren.