Masse und Meinung
Gabriel Tarde (1843–1904) zählt zu den Gründer­vätern der
französischen Soziologie. Nach seiner Tätigkeit als Richter und Leiter der kriminalistischen Abteilung des Justizministeriums in Sarlat
war er Professor für neuzeitliche Philosophie am Collège de France,
wo er seine soziologische Theorie weiterentwickelte und lehrte.
Gabriel Tarde
Masse und Meinung
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Konstanz University Press
Titel der Originalausgabe:
L’Opinion et la foule, Paris: Félix Alcan 1901.
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Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-86253-062-5
Inhalt
Vorwort 7
Erstes Kapitel
Publikum und Masse 9
Zweites Kapitel
Meinung und Konversation 59
Meinung 59
Konversation 74
Drittes Kapitel
Massen und kriminelle Sekten 135
Nachwort 189
Urs Stäheli
Die Zukünftigkeit der Masse
Vorwort
Unter den Begriffen Kollektivpsychologie oder Sozialpsychologie wird
häufig eine Chimäre verstanden, die unbedingt zu bekämpfen ist.
Sie besteht darin, einen Kollektivgeist, ein soziales Bewußtsein, einen
nous anzunehmen, der außerhalb oder oberhalb der individuellen Bewußtseine existieren soll. Aus unserer Sicht bedarf es dieser
mysteriösen Vorstellung nicht, um zwischen gewöhnlicher Psychologie und Sozialpsychologie – die wir lieber interspirituelle Psychologie nennen würden – eine sehr klare Grenze zu ziehen. Während
die erste sich mit den Beziehungen des Bewußtseins zu den anderen
Wesen der Außenwelt als ganzen beschäftigt, untersucht die zweite
(oder soll untersuchen) die gegenseitigen Beziehungen von Bewußtsein zu Bewußtsein, ihre einseitigen und wechselseitigen Einflüsse –
zunächst die einseitigen, dann die wechselseitigen. Zwischen beiden
besteht also die Differenz von Gattung und Art; doch die Art ist
hier so eigenartig und so wichtig, daß sie von der Gattung gesondert
betrachtet und mit eigenen Methoden bearbeitet werden will.
Die folgenden Untersuchungen sind Fragmente einer so verstandenen Kollektivpsychologie. Ein enges Band vereint sie. Es schien
notwendig, die Studie über die Massen, die den Band als Anhang
abschließt, neu zu veröffentlichen, weil sie hier ihren sachlich angemessenen Ort hat.1 Das Publikum, der spezifische Gegenstand der
zentralen Studie, ist eine verstreute Masse, innerhalb deren der
gegenseitige Einfluß der Bewußtseine sich auf dem Wege der Fern1
In der Revue des deux mondes, Dezember 1893, dann in den Essais et mélanges
sociologiques (Paris: Storck et Masson 1895). Die beiden anderen Untersuchungen sind 1898 beziehungsweise 1899 in der Revue de Paris erschienen.
8 Vorwort
wirkung vollzieht, einer Wirkung über immer größere Entfernungen. Die (öffentliche) Meinung schließlich als Resultante aller Fernoder Kontaktwirkungen steht zu Masse und Publikum etwa im
gleichen Verhältnis wie das Denken zum Körper. Und wenn man
unter den Handlungen, aus denen sie entsteht, nach der allgemeinsten und konstantesten sucht, erkennt man mühelos, daß es sich
um das Gespräch, die Konversation handelt, ein elementares soziales
Verhältnis, das von den Soziologen völlig vernachlässigt wird.
Eine vollständige Geschichte der Konversation bei allen Völkern
und zu allen Zeiten wäre ein sozialwissenschaftliches Desiderat von
höchstem Interesse, und die Schwierigkeiten, die ein solches Thema
bietet, wären ohne Zweifel durch die Zusammenarbeit zahlreicher
Forscher überwindbar. Aus der Zusammenstellung von Tatsachen,
die man unter diesem Gesichtspunkt bei ganz unterschiedlichen
Menschengruppen und Völkern sammeln müßte, ergäben sich zahlreiche Ideen, die geeignet wären, die vergleichende Konversation in
eine echte Wissenschaft zu verwandeln. Eine solche Wissenschaft
fände ihren Platz nicht weit entfernt von der vergleichenden Religionswissenschaft oder der vergleichenden Kunstwissenschaft – oder
sogar der vergleichenden Industrie, mit anderen Worten: der politischen Ökonomie.
Doch natürlich konnte ich nicht den Anspruch erheben, auf
wenigen Seiten das Bild einer solchen Wissenschaft zu zeichnen. Da
mir die Informationen fehlen, die erforderlich wären, sie auch nur
zu skizzieren, konnte ich nur ihren künftigen Platz angeben, und
ich wäre glücklich, wenn ich mit meinem Bedauern über ihr Fehlen
bei irgendeinem jungen Wissenschaftler den Wunsch wecken könnte, diese große Lücke zu füllen.
Mai 1901
G. Tarde
Erstes Kapitel
Publikum und Masse
I
Die Masse ist nicht nur anziehend und lockt unwiderstehlich ihre
Zuschauer an; schon ihr Name übt einen bemerkenswerten Reiz
auf den zeitgenössischen Leser aus, und manche Autoren sind allzu geneigt, mit diesem mehrdeutigen Wort menschliche Gruppierungen aller Art zu bezeichnen. Es ist wichtig, diese Verwirrung
zu beenden und vor allem die Masse nicht mit dem Publikum zu
verwechseln. Zwar läßt diese Vokabel ihrerseits mehrere Bedeutungen zu, doch ich will versuchen, sie zu präzisieren. Man spricht von
einem Theaterpublikum, vom Publikum irgendeiner Versammlung;
hier heißt Publikum soviel wie Masse. Doch diese Bedeutung ist
nicht die einzige und nicht einmal die hauptsächliche. Während
sie in den Hintergrund tritt oder allenfalls erhalten bleibt, hat die
Moderne seit der Erfindung des Buchdrucks ein Publikum von ganz
anderer Art hervorgebracht, das immer wichtiger wird und dessen
unbegrenzte Ausdehnung eines der herausragendsten Merkmale
unserer Epoche ist. Man hat die Psychologie der Massen untersucht;
die Psychologie des Publikums in diesem anderen Sinne, als rein
geistiges Kollektiv, als räumliche Verteilung physisch voneinander
getrennter Individuen, deren Zusammenhalt ein rein psychischer
ist, steht noch aus. Woher das Publikum stammt, wie es entsteht,
wie es sich entwickelt, seine Spielarten, seine Beziehungen zu denen,
die es lenken, sein Verhältnis zur Masse, zu den Korporationen, zu
den Staaten, seine Macht im Guten wie im Bösen, seine Arten, zu
10 Erstes Kapitel
fühlen oder zu handeln: das ist es, was wir in dieser Studie untersuchen wollen.
In den niedersten Tiergesellschaften besteht das soziale Band vornehmlich in der physischen Agglomeration. In dem Maße, wie man
den Baum des Lebens hinaufklettert, wird dieses Band immer mehr
zu einem geistigen. Doch wenn die Individuen sich so weit voneinander entfernen, daß sie sich nicht mehr im Blick haben, oder über
eine gewisse, sehr kurze Zeit hinaus auf Distanz bleiben, zerfällt
ihre Assoziation. – Darin zeigt die Masse etwas Animalisches. Ist sie
nicht ein Bündel psychischer Ansteckungen, die im wesentlichen
durch körperliche Berührung zustande kommen? Doch nicht alle
Kommunikationen von Geist zu Geist, von Seele zu Seele haben
körperliche Nähe zur Voraussetzung. Diese Bedingung ist immer
weniger erfüllt, wenn in unseren zivilisierten Gesellschaften Ströme von Meinungen auftreten. Nicht in Menschenansammlungen
auf öffentlichen Straßen und Plätzen fließen diese sozialen Ströme,2
entsteht dieser starke Sog, der noch das unbeirrbarste Herz, den
kühlsten Kopf mitreißt und imstande ist, von Parlamenten oder
Regierungen Gesetze oder Dekrete zu erwirken. Merkwürdig: Die
Menschen, die derart einander mitreißen, suggestiv beeinflussen
oder vielmehr die Suggestion von höherer Stelle weiterreichen, stehen nicht in Berührung miteinander, sehen oder hören sich nicht.
Sie sitzen, über ein weites Gebiet verstreut, ein jeder für sich zu
Hause und lesen dieselbe Zeitung. Worin also besteht das Band
zwischen ihnen? Sieht man von der Gleichzeitigkeit ihrer Überzeugungen oder Leidenschaften ab, besteht es in dem Bewußtsein
eines jeden von ihnen, daß diese Idee oder dieser Wille im selben
Moment von einer großen Zahl anderer Menschen geteilt wird. Es
genügt, daß jeder das weiß, um von diesen anderen beeinflußt zu
2
Es fällt auf, daß einem diese hydraulischen Vergleiche wie von selbst jedesmal
unter die Feder kommen, wenn es um Massen, aber auch wenn es um Publika
geht. Darin ähneln sie sich. Eine Masse, die am Abend eines öffentlichen Feiertags träge und ziellos promeniert und immer wieder stockt, läßt an einen Fluß
ohne fest bestimmtes Flußbett denken. Dagegen ist die Masse einem Organismus denkbar unähnlich, es sei denn, sie wäre ein Publikum. Eher ähnelt sie
Wasserläufen, deren Weg ziemlich unbestimmt ist.
Publikum und Masse 11
werden, auch wenn er sie nicht sieht. Es genügt, um von ihnen als
Masse beeinflußt zu werden, nicht nur von dem Journalisten, dem
gemeinsamen Ideengeber, der selbst unsichtbar und unbekannt und
darum um so faszinierender ist.
Dem Leser ist im allgemeinen nicht klar, welche fast unwiderstehliche Überredungskraft die Zeitung, die er gewöhnlich liest, auf
ihn ausübt. Dem Journalisten ist eher seine Gefälligkeit gegenüber
seinem Publikum bewußt, dessen Charakter und dessen Geschmack
er nie aus den Augen verliert. – Noch weniger Bewußtsein hat der
Leser: Er ahnt nicht im entferntesten, welchen Einfluß die Masse der anderen Leser auf ihn nimmt. Trotzdem ist dieser Einfluß
unbestreitbar. Er wirkt auf seine Neugier, die um so lebhafter wird,
je mehr er weiß oder zu wissen glaubt, daß sie von einem größeren oder gewählteren Publikum geteilt wird, und zugleich auf sein
Urteil, das sich, je nachdem, an dem der Mehrheit oder dem der
Elite auszurichten versucht. Ich schlage eine Zeitung auf, die ich
für die heutige halte, und lese begierig gewisse Nachrichten; dann
bemerke ich, daß sie einen Monat alt ist oder vom Vortage stammt,
und sogleich hört sie auf, mich zu interessieren. Woher kommt dieser plötzliche Widerwille? Haben die Ereignisse, von denen berichtet wird, etwas von ihrem intrinsischen Interesse verloren? Nein;
doch wir sagen uns, daß wir die einzigen sind, die sie lesen, und
das genügt. Das beweist also, daß unsere lebhafte Neugier von
der unbewußten Einbildung abhängt, daß wir diese Neugier mit
einer großen Zahl anderer Menschen teilen. Mit einer Zeitung von
gestern oder vorgestern gegenüber der aktuellen verhält es sich wie
mit einer Rede, die man zu Hause nachliest, im Vergleich zu einer
Rede, der man inmitten einer ungeheuren Menschenmasse zuhört.
Wenn wir, ohne es zu wissen, von dem Publikum, dessen Teil
wir selbst sind, unsichtbar angesteckt werden, führen wir dies gern
auf die bloße Wertschätzung der Aktualität zurück. Wenn uns die
heutige Zeitung so sehr interessiert, dann deshalb, weil sie uns
von aktuellen Ereignissen berichtet. Dann wäre es die Nähe dieser Ereignisse und nicht die Gleichzeitigkeit ihrer Kenntnisnahme
durch uns und die anderen, die uns an dem Bericht über sie fesselt.
Doch analysieren wir dieses merkwürdige Gefühl der Aktualität,
12 Erstes Kapitel
dessen wachsende Faszination eines der hervorstechendsten Merkmale des zivilisierten Lebens ist. Ist das, was »aktuell« ist, nur das,
was gerade stattgefunden hat? Nein; aktuell ist alles, was gegenwärtig ein allgemeines Interesse weckt, wäre es auch ein längst vergangenes Ereignis. »Aktuell« war in den letzten Jahren alles, was Napoleon betrifft; aktuell ist alles, was in Mode ist. Und nicht »aktuell«
ist, was zwar neu sein mag, doch gegenwärtig von der öffentlichen
Aufmerksamkeit, die sich anderem zuwendet, vernachlässigt wird.
Während der ganzen Dreyfus-Affäre geschahen in Afrika oder in
Asien Dinge, die uns hätten interessieren können, von denen man
aber gesagt hätte, daß sie nichts Aktuelles haben. – Kurz, die Leidenschaft für die Aktualität geht einher mit der Vergesellschaftung,
ja, sie ist nur eine von deren verblüffendsten Erscheinungsformen;
und da es das spezifische Merkmal der periodisch erscheinenden
Presse, vor allem der Tageszeitungen ist, nur aktuelle Themen zu
behandeln, darf man nicht überrascht sein, wenn sich zwischen
den habituellen Lesern derselben Zeitung eine Art von Assoziation herstellt, die sehr selten bemerkt wird, die jedoch von größter
Wichtigkeit ist.
Damit diese Suggestion aus der Ferne zwischen den Individuen,
aus denen sich ein Publikum zusammensetzt, möglich wird, müssen sie – an ein intensives soziales, städtisches Leben gewöhnt – die
Suggestion aus der Nähe natürlich schon lange praktiziert haben.
Schon als Kinder und Jugendliche beginnen wir die Wirkung der
Blicke der anderen lebhaft zu empfinden, eine Wirkung, die sich
ohne unser Wissen in unserer Körperhaltung und unseren Gebärden, im veränderten Ablauf unserer Ideen, in unserer Befangenheit
oder Nervosität beim Sprechen, in unseren Urteilen und Handlungen äußert. Und erst wenn wir diese beeindruckende Wirkung des
Blicks jahrelang an uns erfahren haben und andere haben erfahren
lassen, werden wir fähig, uns bereits von dem bloßen Gedanken des
Blicks der anderen beeindrucken zu lassen, also von der Vorstellung,
daß räumlich entfernte Personen ihre Aufmerksamkeit auf uns richten. Ähnlich verhält es sich, wenn wir über längere Zeit die suggestive Macht einer aus der Nähe vernommenen dogmatischen und
autoritären Stimme erlebt und empfunden haben; dann genügt
Publikum und Masse 13
schon die Lektüre einer energisch vorgetragenen Behauptung, um
uns zu überzeugen, und schon die bloße Kenntnis der Zustimmung
einer großen Zahl unserer Mitmenschen zu diesem Urteil macht
uns geneigt, im gleichen Sinne zu urteilen. Die Herausbildung eines
Publikums unterstellt also eine viel weiter fortgeschrittene geistige
und soziale Entwicklung als die Herausbildung einer Masse. Die
Suggestibilität allein durch Ideen, die Ansteckung ohne Berührung,
die diese rein abstrakte und doch so reale Gruppenbildung voraussetzt, diese spiritualisierte, sozusagen zur zweiten Potenz erhobene
Masse konnte erst nach Jahrhunderten des gröberen, einfacheren
sozialen Lebens entstehen.
II
Weder im Lateinischen noch im Griechischen gibt es ein Wort, das
dem entspräche, was wir unter Publikum verstehen. Es gibt Wörter, um das Volk, die Versammlung der bewaffneten oder unbewaffneten Bürger, die Wählerschaft, lauter Sonderfälle von Massen
zu bezeichnen. Doch welcher Schriftsteller der Antike hätte daran
gedacht, von seinem Publikum zu sprechen? Keiner von ihnen hat
je etwas anderes als sein Auditorium gekannt, in gemieteten Sälen,
in denen die Dichter zur Zeit Plinius’ des Jüngeren eine kleine
sympathisierende Menge zu öffentlichen Lesungen versammelten.
Was die verstreuten Leser handschriftlich kopierter, in ein paar
Dutzend Exemplaren verbreiteter Manuskripte angeht, so lag ihnen
der Gedanke völlig fern, ein soziales Gefüge zu bilden, wie gegenwärtig die Leser derselben Zeitung oder manchmal auch desselben
Romans, der gerade in Mode ist. Gab es im Mittelalter ein Publikum? Nein, doch es gab Messen, es gab Wallfahrten, bei denen sich
die Affekte einer lärmenden, frommen oder rauflustigen, wütenden
oder panischen Menge Bahn brachen. Ein Publikum konnte erst
nach dem ersten großen Siegeszug des Buchdrucks im sechzehnten
Jahrhundert entstehen. Die Übertragung von Kraft über Entfernungen hinweg ist gar nichts, verglichen mit dieser Fernübertragung
von Gedanken. Ist nicht das Denken die soziale Kraft par excellence?
14 Erstes Kapitel
Denken Sie an Fouillées Gedankenkräfte.3 Damals erlebte man eine
tiefgreifende Neuerung von unberechenbarer Wirkung. Man sah,
wie die tägliche und gleichzeitige Lektüre ein und desselben Buches,
der zum ersten Mal in Millionenauflage verbreiteten Bibel, der vereinten Masse ihrer Leser das Gefühl gab, eine neue, von der Kirche
unterschiedene soziale Korporation zu bilden. Doch dieses entstehende Publikum war selbst noch eine Kirche, eine eigene zwar, doch
von dieser ungeschieden. Darin lag die Schwäche des Protestantismus: Er wollte zugleich Publikum und Kirche sein, zwei Aggregate,
die unterschiedlichen Prinzipien gehorchen und nicht miteinander
vereinbar sind. Erst unter Ludwig XIV. bildete sich das Publikum
als solches ein wenig klarer heraus. Zu dieser Zeit gab es ebenso
unbändige Massen wie heute, die bei der Krönung von Fürsten, bei
großen Festen oder bei den periodischen Hungerrevolten auch eine
beachtliche Größe erreichten; das Publikum hingegen bestand aus
kaum mehr als einer schmalen Elite von »Ehrenmännern«, die ihre
monatliche Gazette, vor allem jedoch Bücher lasen, wenige Bücher,
die sich an wenige Leser richteten. Diese Leser wiederum sammelten sich vornehmlich in Paris, wenn nicht gar am Hof.
Im achtzehnten Jahrhundert wuchs dieses Publikum rasch und
fächerte sich auf. Ich glaube nicht, daß vor Bayle ein philosophisches
Publikum existiert hätte, das sich vom großen literarischen Publikum
unterschied oder begonnen hätte, sich von ihm abzulösen. Denn als
Publikum bezeichne ich nicht eine Gruppe von Gelehrten, die –
obwohl über verschiedene Provinzen oder Staaten verstreut – durch
die Beschäftigung mit ähnlichen Forschungen und die Lektüre der
gleichen Schriften zwar verbunden, doch an Zahl so gering war, daß
sie alle untereinander in brieflichen Beziehungen stehen und ihre wissenschaftliche Gemeinschaft hauptsächlich von diesen persönlichen
Verhältnissen zehren konnte. Ein spezielles Publikum bildete sich
3
[Alfred Fouillée, 1838–1912, eklektizistischer Philosoph, versuchte mit dem
Begriff idées-forces den Gegensatz zwischen spekulativem Idealismus und naturwissenschaftlichem Materialismus zu überwinden. Er betrachtete den Geist
als causa efficiens der Verwirklichung von Ideen durch bewußtes menschliches
Handeln. – Anmerkungen oder Teile von Anmerkungen in eckigen Klammern
stammen vom Übersetzer.]
Publikum und Masse 15
erst von dem schwer zu präzisierenden Moment an, als die Männer,
die sich den gleichen Studien widmeten, zu zahlreich wurden, um
sich noch persönlich kennen zu können, und ein gewisses Gefühl der
Zusammengehörigkeit sich nur noch durch unpersönliche Mitteilungen von hinreichender Häufigkeit und Regelmäßigkeit herstellen
ließ. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstand
und wuchs eine überbordende politische Öffentlichkeit, die – so
wie ein Fluß seine Zuflüsse – bald alle anderen Öffentlichkeiten, die
literarische, philosophische und wissenschaftliche, in sich aufnahm.
Doch bis zur Revolution blieb das öffentliche Leben als solches blaß
und gewann Bedeutung erst durch das Leben der Masse, der es sich
durch die extreme Belebung der Salons und Cafés wieder annäherte.
Die Revolution ist das eigentliche Entstehungsdatum des Journalismus und damit des Publikums. Sie löst dessen fieberhaftes
Wachstum aus. Das heißt nicht, daß sie nicht auch Massen erhitzt
hätte, doch darin liegt nichts, was sie von den Bürgerkriegen der
Vergangenheit unterschiede, im vierzehnten oder im sechzehnten
Jahrhundert, sogar während der Fronde. Die Massen der Fronde,
der katholischen Liga oder der Cabochiens waren nicht minder
fürchterlich, vielleicht auch nicht an Zahlen geringer als die des
14. Juli oder des 10. August.4 Denn eine Masse kann nicht über
einen bestimmten Grad hinaus wachsen – der von der Reichweite
der Stimme und des Blicks begrenzt wird –, ohne sich sogleich zu
spalten oder zur gemeinsamen Aktion unfähig zu werden, immer
der gleichen Aktion übrigens: Barrikaden, Plünderung von Palästen,
Massaker, Zerstörungen, Brandstiftungen. Nichts ist monotoner als
die Erscheinungsformen von Massenaktionen im Lauf der Jahrhunderte. Doch das Charakteristische für 1789, das die Vergangenheit
noch nie gesehen hatte, war die gewaltige Vermehrung der Zeitungen, die zu dieser Zeit entstanden und gierig verschlungen wurden.
Gewiß waren viele totgeboren, aber einige lieferten das Spektakel
einer unerhörten Verbreitung. Jeder der großen niederträchtigen
4
[Cabochiens: Anhänger des Schlachters Simon Caboche, der 1413 einen blutigen Volksaufstand in Paris anführte. – Am 10. August 1792 wurden die Tuilerien
erstürmt.]
16 Erstes Kapitel
Publizisten,5 Marat, Desmoulins, der Père Duchesne, hatte sein
Publikum, und man kann die brandstiftenden, plündernden, mörderischen, kannibalischen Massen, die Frankreich damals von Nord
bis Süd, von Ost bis West verwüsteten, als Auswüchse, als bös­
artige Eruptionen dieser Publika betrachten, deren boshafte Mund­
schenke Tag für Tag das berauschende Gift ihrer hohlen Worte und
Gewalttiraden ausschenkten – und die nach ihrem Tod dann im
Triumphzug ins Pantheon überführt wurden. Gewiß, die Aufständischen waren nicht ausschließlich Zeitungsleser, nicht einmal in
Paris, erst recht nicht in den Provinzstädten und auf dem Lande,
doch letztere waren stets die Hefe, wenn nicht der Teig. Auch die
Clubs, die Versammlungen in den Cafés, die eine so wichtige Rolle
in der Revolutionszeit gespielt haben, sind aus dem Publikum entstanden, während vor der Revolution das Publikum eher Wirkung
als Ursache der Versammlungen in den Cafés und Salons war.
Doch das revolutionäre Publikum war vor allem pariserisch; seine
Ausstrahlung über Paris hinaus war gering. Arthur Young war auf
seiner berühmten Reise verblüfft darüber, wie wenig die Gazetten
selbst in den Städten verbreitet waren. Zwar bezog sich diese Bemerkung auf die Anfänge der Revolution; ein wenig später hätte sie viel
von ihrer Richtigkeit verloren. Bis zum Schluß jedoch stellte das
Fehlen einer raschen Kommunikation ein unüberwindliches Hindernis für die Intensität und die Ausbreitung des öffentlichen Lebens
dar. Wie sollten Zeitungen, die nur zwei- oder dreimal wöchentlich
– und acht Tage nach ihrem Erscheinen in Paris – eintrafen, ihren
Lesern im Midi das Gefühl von Aktualität und das Bewußtsein einer
simultanen Übereinstimmung vermitteln, ohne die sich die Lektüre
einer Zeitung nicht wesentlich von der eines Buches unterscheidet?
Erst unserem Jahrhundert mit seinen Techniken der perfektionierten Fortbewegung und der instantanen Gedankenübertragung über
5
»Der Begriff Publizist«, sagt Littré, »erscheint im Dictionnaire de l’Académie erst ab
1762«, und zwar – wie übrigens heute noch in der Mehrzahl der Wörter­bücher
– in der Bedeutung eines Autors, der über Öffentliches Recht (ius publicum)
schreibt. Der Sinn des Wortes hat sich erst im Laufe unseres Jahrhunderts zu dem
heute gebräuchlichen erweitert, während die Bedeutung von Publikum – jedenfalls so, wie ich das Wort verwende – sich aus dem gleichen Grund verengt hat.
Publikum und Masse 17
beliebige Entfernungen war es vorbehalten, die potentiell unbegrenzte Ausdehnung des Publikums, aller Publika, zu verwirklichen und
damit zwischen ihnen und den Massen einen deutlichen Gegensatz
aufzureißen. Die Masse ist die soziale Gruppe der Vergangenheit;
nach der Familie ist sie die älteste aller sozialen Gruppen. In keiner
ihrer Formen, ob sie sitzt, steht oder durch die Straßen stürmt, vermag sie sich über einen geringen Radius hinaus auszudehnen; wenn
ihre Anführer sie nicht mehr in manu haben, wenn sie die Stimme
ihrer Anführer nicht mehr hört, zerfällt sie. Die größte Zuhörerschaft, die es je gab, war die des Kolosseums, und auch sie überschritt nicht hunderttausend Personen. Perikles oder Cicero, selbst
die größten Prediger des Mittelalters, Petrus von Amiens oder der
heilige Bernhard, sprachen vor Auditorien, die gewiß viel kleiner
waren. Es ist auch nicht zu erkennen, daß die Macht der politischen
oder religiösen Rhetorik in der Antike oder im Mittelalter merkliche Fortschritte gemacht hätte. Ein Publikum hingegen kann sich
unbegrenzt erweitern, und da es um so lebendiger und lebhafter
wird, je weiter es sich ausdehnt, läßt sich nicht leugnen, daß es die
soziale Gruppe der Zukunft darstellt. So entstand durch das Zusammenwirken dreier einander ergänzender Erfindungen – Buchdruck,
Eisenbahn und Telegraph – die ungeheure Macht der Presse, dieses
erstaunliche Telephon, das das alte Auditorium der Rhetoren und
Prediger ins Unermeßliche vergrößert hat. Ich kann also der These
eines schwungvollen Schriftstellers, Dr. Le Bon, unsere Epoche sei
»das Zeitalter der Massen«,6 nicht zustimmen. Sie ist das Zeitalter
des Publikums oder der Publika, was etwas ganz anderes ist.
III
Bis zu einem gewissen Punkt deckt sich ein Publikum mit dem, was
man eine Welt nennt, »die literarische Welt«, »die Welt der Politik« usw., nur daß diese letztere Idee einen persönlichen Kontakt
6
[Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), übersetzt von Rudolf Eisler,
durchgesehen von Elisabeth Göhlsdorf, Leipzig: Kröner, 5. Auflage 1932, S. 1 ff.]
18 Erstes Kapitel
zwischen den Angehörigen derselben Welt unterstellt, gegenseitige Besuche, Empfänge, wie es sie zwischen den Mitgliedern eines
Publikums nicht geben kann. Doch wie man bereits sieht, ist der
Abstand von der Masse zum Publikum immens, auch wenn das
Publikum zum Teil aus einer Art Masse hervorgeht, der Zuhörerschaft der Redner.
Es gibt noch weitere aufschlußreiche Unterschiede zwischen beiden, auf die ich noch nicht hingewiesen habe. Man kann mehreren
Publika zugleich angehören – und das ist tatsächlich auch stets der
Fall –, so wie man mehreren Korporationen oder Sekten angehört.
Dagegen kann man zu einem jeweiligen Zeitpunkt immer nur einer
Masse angehören. Daher rührt die viel größere Unduldsamkeit der
Massen und folglich der Nationen, in denen der Geist der Massen
vorherrscht, weil dort das Individuum als ganzes unwiderstehlich
von einer Gewalt ohne Gegengewicht mitgerissen wird. Und darin
liegt der Vorteil, den man der allmählichen Ersetzung der Massen
durch Publika zubilligt, einer Transformation, die stets mit einem
Zuwachs an Toleranz, wenn nicht an Skeptizismus einhergeht.
Zwar trifft es zu, daß aus einem überhitzten Publikum, wie es oft
vorkommt, plötzlich fanatische Massen werden, die durch die Straßen marschieren und schreiend irgend etwas hochleben lassen oder
zu Tode verwünschen. Und in diesem Sinne ließe sich das Publikum
als eine virtuelle Masse definieren. Ein solcher Absturz des Publikums in die Masse ist zwar in höchstem Grade gefährlich, doch
insgesamt ziemlich selten; und ohne zu prüfen, ob solche aus einem
Publikum hervorgegangenen Massen nicht trotz allem ein bißchen
weniger brutal sind als die Massen, die jedem Publikum vorausgehen, bleibt doch evident, daß der Gegensatz zweier Publika, die
immer bereit sind, entlang unbestimmter Grenzen miteinander zu
verschmelzen, eine viel geringere Gefahr für den sozialen Frieden
darstellt als das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Massen.
Die Masse ist als natürlichere Gruppierung den Naturkräften
stärker unterworfen; sie ist von Regen oder schönem Wetter, von
Hitze oder Kälte abhängig; im Sommer tritt sie häufiger auf als im
Winter. Ein Sonnenstrahl genügt, um eine Masse zu versammeln,
ein Regenschauer zerstreut sie. Als Bailly Bürgermeister von Paris
Publikum und Masse 19
war, pries er die Regentage und wurde betrübt, wenn der Himmel
sich aufhellte. Umgekehrt ist das Publikum als Gruppierung höherer Ordnung solchen Veränderungen und Launen der natürlichen
Umgebung, der Jahreszeit oder gar des Klimas nicht unterworfen.
Nicht nur Entstehung und Wachstum, sondern auch die fiebrigen
Erregungen des Publikums – soziale Krankheiten, die in diesem
Jahrhundert immer ernster wurden – entziehen sich solchen Einflüssen.
Es war mitten im Winter, als in ganz Europa die unseres Wissens
schwerste Krise dieser Art wütete, die Dreyfus-Affäre. Hat sie im
Süden heftigere Leidenschaften geweckt als im Norden, nach dem
Beispiel der Massen? Nein, sie erregte die Gemüter eher in Belgien,
Preußen und Rußland. – Schließlich ist das Publikum viel weniger
als die Masse durch die Eigenheiten eines jeweiligen Menschenschlags geprägt. Und es kann auch nicht anders sein, wenn man
folgende Überlegung anstellt.
Warum unterscheidet sich denn ein englisches Meeting so tiefgreifend von einem französischen Club, ein Septembermassaker von
einem amerikanischen Lynchmord, ein italienisches Fest von einer
Zarenkrönung, bei der zweihunderttausend versammelte Leibeigene sich nicht über die Katastrophe erregen, die dreißigtausend von
ihnen das Leben kostet?7 Warum kann ein guter Beobachter anhand
der Nationalität einer Masse fast mit Sicherheit voraussagen, wie sie
handeln wird – viel sicherer, als er die Handlungsweise eines der
Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, voraussagen könnte?
Warum erinnern trotz der großen Veränderungen, die in den Sitten
7
[Bei dem Volksfest im Anschluß an die Feierlichkeiten zur Krönung Nikolaus’ II. kam es am 18./30. Mai 1896 zu einer Massenpanik. Mehrere hunderttausend Menschen drängten sich auf einem Truppenübungsplatz bei Moskau,
um ein Geschenkpaket – einen Trinkbecher mit dem Zarenwappen sowie Nahrungsmittel – entgegenzunehmen. Als mehrere Stunden vor dem angekündigten Zeitpunkt das Gerücht umlief, die Geschenke würden bereits ausgegeben,
kam es zur Panik. Die Ordner glaubten die Massen besänftigen zu können,
indem sie willkürlich Trinkbecher in die erregte Menge warfen. Weit über tausend Menschen wurden erdrückt. Wegen der riesigen Ausmaße des Geländes
wurde vielen die Katastrophe gar nicht bewußt; sie aßen, tranken und feierten,
als wäre nichts geschehen.]
20 Erstes Kapitel
und den Ideen Frankreichs oder Englands seit drei oder vier Jahrhunderten eingetreten sind, die französischen Massen unserer Zeit,
Boulangisten oder Antisemiten, in so vielen gemeinsamen Zügen
den Massen der Liga oder der Fronde, so wie die englischen Massen
von heute denen der Zeit Cromwells ähneln? Weil die Individuen in
die Zusammensetzung einer Masse nur durch ihre ethnischen Ähnlichkeiten eingehen, die sich addieren und massieren, nicht durch
ihre je eigenen Unterschiede, die sich neutralisieren, und weil sich
in einer rotierenden Masse die Kanten der Individualität zugunsten
eines nationalen Typus abschleifen. So verhält es sich trotz des individuellen Handelns des Anführers oder der Anführer, das man stets
spüren kann, das aber durch das reziproke Handeln der Geführten
stets ausgeglichen wird.
Nun ist der Einfluß, den der Publizist auf sein Publikum ausübt,
in einem gegebenen Moment zwar viel weniger intensiv, durch seine Kontinuität aber viel mächtiger als der kurze und vergängliche
Impuls, den eine Masse von ihrem Anführer empfängt. Außerdem
wird dieser Einfluß bestärkt – und nie konterkariert – durch den
viel schwächeren, den die Mitglieder desselben Publikums wechselseitig aufeinander ausüben, weil sie das Bewußtsein der simultanen
Identität ihrer Ideen oder Neigungen, ihrer Überzeugungen oder
Leidenschaften haben, die tagtäglich von demselben Blasebalg angefacht werden.
Man hat zu Unrecht, aber nicht ohne den Anschein einer stichhaltigen Begründung bestritten, daß jede Masse einen Anführer
habe, und deshalb gemeint, häufig sei es die Masse, die ihren Führer, manchmal ihren Schöpfer führe. Was Sainte-Beuve vom Genie
sagt, es sei »ein König, der sich sein Volk erschafft«, gilt vor allem
vom großen Journalisten. Wie oft sieht man, daß Publizisten sich
ihr Publikum erschaffen!8 In der Tat, damit Edouard Drumont
8
Wird man sagen: Wenn jeder große Publizist sein Publikum erschafft, erschafft
sich auch jedes etwas größere Publikum seinen Publizisten? Diese letztere
Behauptung ist viel weniger wahr als die erste: Man erlebt, wie es sehr großen
Gruppen während langer Jahre nicht gelang, den Autor hervorzubringen, der
ihrer eigentlichen Orientierung entspräche. Dies ist der Fall der katholischen
Welt heute.