Predigt Matthäus 25, 31-46 - Was ihr den Geringsten getan habt

Stäfa-Männedorf
Predigt Matthäus 25, 31-46 - Was ihr den Geringsten getan habt
Pfarrer Rolf Wüthrich, 15.11.2015
Liebe Gemeinde, der Sonntag als der siebte Tag der Woche wird oft als die „Krone der
Schöpfung“ dargestellt. An diesem Tag finden auf der ganzen Welt Gottesdienste statt. Man
lobt Gott, betet ihn an und verkündet die frohe Botschaft. Aber Jesus lässt uns ebenso
wissen, dass das Wesentliche - das, was wirklich zählt, nicht im sonntäglichen Gottesdienst
stattfindet. Vergleichen wir die Wochentage mit einem Konzert, so würde das Orchester
sechs Tage lang spielen. Am siebten Tag aber gäbe es keinen Strich mehr auf den Saiten
der Violinen, und die Oboe, mit der alles begonnen hatte, würde bei Seite gelegt werden.
Am Sonntag wäre dann nur noch der Wiederhall der Woche in der Luft zu spüren. Die Musik
spielt also unter der Woche. Wie bedeutsam die sechs Wochentage sind - also die Zeit
neben dem Gottesdienst - zeigt uns Jesus in seiner Weisung. Ich lese sie aus dem Mt.
25,31-46. - Predigttext –
Liebe Gemeinde, die Lehre Jesu handelt von unserer Haltung und unserem Tun an den
geringsten Menschen. Vor der eigentlichen Lehre und am Schluss steht eine Gerichtsszene.
Das Gericht bildet im heutigen Text also lediglich den Rahmen um die eigentliche Botschaft.
Dieser Rahmen (mit dem Gericht) macht deutlich, dass Jesu Lehre nicht einen x-beliebigen,
sondern einen ganz zentralen Aspekt christlichen Lebens aufgreift. Den Kern seiner Lehre
hebt Jesus deutlich mit einem „Amen“ hervor:
„Amen, ich sage euch: Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir
getan.“ Und er wiederholt seine Aussage negativ formuliert: „Amen, ich sage euch: Was ihr
einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.“ Jesus spricht also
vom Verhalten gegenüber den „geringsten Brüdern“. Doch wer sind seine Brüder? Ich glaube
kaum, dass er von seinen jüdischen Brüdern gesprochen hatte. Eben so wenig ist davon
auszugehen, dass er damit nur an die Gläubigen dachte. Jesus selbst hat ja von der Liebe
zu allen Menschen - bis zur Feindesliebe hin - gesprochen. Für "Brüder", so vom Gesamtzeugnis Jesus her, kommen alle Menschen in Frage. Keiner ist zu gering, um übersehen
oder missachtet zu werden. Jesus spricht nun dreimal ganz konkret aus, was er unter
„Gering-Sein“ versteht:
1) Zuerst spricht er von den Hungrigen und Durstigen.
Wer nicht zu Essen und nicht zu Trinken hat, für den stehen die Karten schlecht. Seine Tage
sind gezählt, sein Leben ist akut gefährdet. Global gesehen trifft dies leider immer noch auf
viele Menschen zu. Ihr Leiden dürfen wir nicht übersehen noch vergessen. An dieser Stelle
bin ich froh, dass wir mit Connexio einen wichtigen Beitrag in diese Richtung leisten können.
Doch Hunger und Durst findet sich nicht nur in fernen Ländern, sondern ist auch in unserem
nächsten Umfeld präsent. Ich will dies an einem Bild festmachen. Vor ein paar Jahren wollte
ich mit meinem Mountainbike auf den Chasseral fahren. Das ist eine ordentliche Strecke mit
einigen Höhenmetern Unterschied. Der Weg hatte viele grobe Steine und rutschiges Gras.
Er kostete mich viel Kraft und Energie. Für eine so anstrengende Fahrt hatte ich einfach zu
wenig gefrühstückt. Nach etwa drei Stunden ging gar nichts mehr. Ich hatte zu wenig
Energie getankt, war kraftlos und musste absteigen. Langsam schob ich dann mein Rad die
letzten Höhenmeter auf den Berg, wo es auch wieder etwas zu essen gab. Sportler sprechen
in diesem Zusammenhang von einem „Hungerast“. Es fehlen die Kohlenhydrate, um vorwärts zu kommen. Rein äusserlich hat nichts darauf gedeutet, dass ich zu wenig Nahrung
Predigt Rolf Wuethrich Mt 25,31-46 151115.docx - Seite 1 / 3
hatte. Niemand hatte sehen können, dass ich ebenso zu wenig getrunken hatte. Für mich
steht dieses Bild vom „Hungerast“ für ein Phänomen der Gegenwart. Im Unterschied zu den
armen Ländern sieht man bei uns den Hunger nicht. Wohlgenährt und elegant gekleidet, wird
der Mangel gut kaschiert. Genügend zu Essen und zu trinken ist also nicht das Problem. Und
doch gibt es Menschen, die nicht ausreichend Energie haben, ihr Leben wirklich zu leben.
Vielmehr schieben sie ihr Leben kraftlos, wie ein Fahrrad, neben sich her. Nehmen wir diese
Menschen wahr? Spüren wir ihre Kraftlosigkeit und gleichsam den Hunger und Durst, das
Leben wirklich zu leben? Können wir sehen, dass sie trotz guter Ernährung zu den
Hungernden, zu den geringen Brüdern gehören?
2) Weiter zählt Jesus die Fremden und Nackten zu den Geringen.
Fremde, die sich für eine längere Zeit in einem Volk nieder liessen, kam bereits in der
jüdischen Tradition eine besondere Bedeutung zu. Fremde wurden zwar nicht zum
Gottesvolk gezählt, aber trotzdem gab es für Sie besondere Gesetze zu ihrem Schutz. Für
diesen positiven Umgang mit Fremden war die eigene Geschichte des Volkes Israels
mitentscheidend. Die Erfahrung, ins Babylonische Exil verschleppt zu werden, auf den
Tempelkult zu verzichten und in einer fremden Kultur zu leben, liess sie am eigenen Leib
spüren, was es bedeutet, fremd zu sein. Wer in der Fremde leben musste, sieht Fremde
anders. Deshalb, so im 5. Buch Mose, sollen sie Fremde aufnehmen und ihnen Nahrung und
Kleidung geben. Auf die Kleidung weist Jesus besonders hin: Explizit erwähnt er neben den
Fremden die Nackten. Nackt sein bedeutet, kein Kleidungsstück mehr am Leib zu haben. Da
gibt es nichts mehr, womit man sich vor den Blicken anderer schützen kann. Jede und jeder
kann alles sehen, es gibt nichts mehr, was die Scham begrenzt und die Würde sichert.
Gegenwärtig erlebe ich, dass die Forderung nach Transparenz verstärkt laut wird. Menschen
werden förmlich durchleuchtet, und oft wird dann etwas Beschämendes gefunden. Etwas
das diese Personen in ein schlechtes Licht rückt und ihre Existenz bedroht. Und ich? Zähle
ich mich zu den Menschen, die dann mit dem Finger auf die Schwachstelle des Nackten
zeigen? Oder halte ich mich zurück, tue nichts und überlasse die Person dem AusgestelltSein? Oder schaffe ich es, über meinen Schatten zu springen und, wie für einen Asylsuchenden, einen Schutzraum vor den stechenden Blicken zu öffnen?
3) Zuletzt zählt Jesus Kranke und Gefangene zu den Geringen. Kranke sind oft nicht mehr in
der Lage das Leben selbst zu bewältigen. Sie brauchen Hilfe von aussen. In der Schweiz ist
das Gesundheitswesen so angelegt, dass körperliche Gebrechen professionell behandelt
werden und vieles getan wird, damit aus kranken wieder gesunde werden.
Die grössere Herausforderung scheint mir die Einsamkeit während einer Krankheit. Wie
wertvoll ein Beistand ist, weiss, wer selbst ans Bett gefesselt war oder ist. Und ganz am
Schluss spricht Jesus von den Gefangenen. Es sind die Menschen, die gegen ein Gesetz
verstossen haben. Ich halte mir Menschen vor Augen, die ihre Religion in fremden Kulturen
mutig vertreten und kundtun, was ihnen wichtig ist und deshalb ins Gefängnis kommen. So
wie es z.B. mit Paulus geschehen war. Weiter sind in den Gefängnissen aber auch
Menschen, die bewusst eine illegale Tat verübt haben, einen Einbruch, einen Raubüberfall
oder noch Schlimmeres. Wie gehe ich damit um, wenn jemand etwas absichtlich oder
unabsichtlich falsch gemacht hat? Lege ich die Person auf ihre Fehler fest? Halte ich ihre
Schwäche hoch und lasse laut werden, dass diese Person einen Fehler gemacht hat? Betitle
ich sie als Verbrecher, Betrüger, religiösen Spinner oder einfach als abscheulich böse? Lege
ich sie auf diesen einen Aspekt fest? Halte ich damit die Gefangenen für weniger wertvoll,
als Menschen die moralisch gut handeln? Jesus hat uns an drei Beispielpaaren gezeigt, wen
er als die geringen Brüder bzw. Schwestern versteht. Was wir ihnen Gutes tun, das tun wir
Jesus.
Predigt Rolf Wuethrich Mt 25,31-46 151115.docx - Seite 2 / 3
Wo wir ihnen nichts getan haben, da haben wir auch Jesus nichts getan. Zum Schluss der
Predigt will ich drei Aspekte der Lehre Jesu hervorheben.
1) Es kommt auf die Nächstenliebe an.
Jesus verliert in der heutigen Lehre kein Wort über ein Bekenntnis oder über die Frömmigkeit
der Glaubenden. Sie spielen hier keine Rolle. Zum Schluss ist es nicht entscheidend, wie oft
man den Gottesdienst besucht hat oder ob man sich eher zu den konservativen oder
liberalen Christen zählt. Das Relevante findet im Alltag, unter der Woche statt. Weil sich dort
unsere Liebe zu Jesus in der Hinwendung zum Nächsten zeigt. Wo wir die Not der anderen
sehen und handeln, ist dies Ausdruck von Gottes-beziehung.
2) Mit meinem Handeln an den Geringen, kann ich mir den Himmel gottlob nicht verdienen.
Das zeigt deutlich die Gerichtsszene am Anfang der Geschichte: Keiner wusste, wann und
wo er Christus seine Liebe erwiesen hat. „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und
haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben
wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich
bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir
gekommen?“ Eine Liebe zum Nächsten, die dem eigenen Heil dient, ist keine wirkliche
Liebe. Deshalb soll nicht die Gerichtsschilderung unser Handeln am Nächsten bestimmen,
sondern die Liebe Jesu, die uns zuteil geworden ist. Keine Werkgerechtigkeit!
3) Jesus im Geringsten begegnen.
Der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez folgerte aus diesem Text: „Am Sakrament des
Nächsten vorbei gibt es keinen Weg zu Gott.“ Er schreibt davon, dass er in der Begegnung
mit den Armen Jesus neu erfahren hat. Ihnen, so zieht er die Schlussfolgerung, kommt von
Jesus her eine Sonderstellung zu. Er nannte dies „die vorrangige Option für die Armen“,
welche später ins 2. Vatikanische Konzil einfloss. Gutiérrez macht uns mit dem heutigen
Predigttext darauf aufmerksam, dass die Armen und Leidenden zum Ort der Gottesbegegnung werden. Wo wir von uns absehen und auf die Geringen schauen, schauen wir auf
Jesus Christus, der selbst ein Leidender und Gebrochener war.
Amen.
Predigt Rolf Wuethrich Mt 25,31-46 151115.docx - Seite 3 / 3