Predigt über Matthäus 25, 31 ff. am vorletzten Sonntag im

Predigt über Matthäus 25, 31 ff.
am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, 15.November 2015,
St. Jakob Nürnberg, von Pfarrerin Barbara Hauck
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus
Christus.
„Der Rucksack war plötzlich da. Es war wie im Film, wenn der Held mit den
Augen blinzelt, und auf einmal ist da etwas, wo vorher nichts war. Ein
schwarzer Rucksack lag zwischen den Wellen, die sanft auf den Strand
ausliefen, und keine fünf Meter entfernt lag ein Mann auf seinem Liegestuhl und
wunderte sich. Wo kam jetzt dieser Rucksack her?“
So beginnt ein langer Artikel, der letzte Woche in der „ZEIT“ stand. Darin wird
erzählt, wie dieser Mann, Jonas Anderhub, ein Schweizer, der eigentlich für eine
Woche auf die griechische Insel Kos gefahren ist, um mit dem Tod seines Vaters
ins Reine zu kommen, beginnt, sich auf diesen Rucksack zu konzentrieren. Er
öfnet ihn, findet Kamm, Zahnbürste, Tabletten, einen Paß. Die arabischen
Schriftzeichen des Dokuments kann er nicht lesen. Aber aus dem Dokument
schaut ihn das Gesicht eines jungen Mannes an. Und dann sind da noch Fotos
von zwei kleinen Kindern. Sie sehen aus wie Kinder aus der Nachbarschaft,
denkt er – aber er ahnt: es sind Flüchtlinge. Einer von ihnen hat diesen Rucksack
gepackt. Dann hat er sich auf die Reise gemacht übers Meer. Auf einmal
schrumpft die Weltpolitik mit ihren großen Wörtern, Flüchtlingskrise,
europäische Außengrenzen, sicherer Herkunftsstaat… - all das schrumpft auf
einmal auf das Maß des Menschlichen, auf ein Schicksal. Jemand packt einen
Rucksack. Jemand steigt in ein Boot. Jonas Anderhub beschießt, diesen einen
Mann zu suchen und zu finden und ihm seinen Rucksack zurückzugeben….
Warum fange ich meine Predigt heute so an? Es gäbe ja vielleicht noch
Aktuelleres, noch Erschreckenderes heute, am Volkstrauertag, am Gedenktag
der Kriege, von denen wir gehofft haben, dass sie vorbei sind. Sie sind nicht
vorbei. Es ist Krieg, hat der französische Staatspräsident gestern gesagt. Und es
ist Krieg seit Jahren in vielen Ländern. Kriege sind nicht vorbei.
Aber da ist da mitten im Evangelium, das Sie vorhingehört haben und das
Predigttext für den heutigen Sonntag ist, dieser eine Satz. Er ist da, als würde er
uns vor die Füße gespült, wir, die wir in unserer Verwirrung und Angst nicht
mehr wissen, was wir denken oder sagen oder tun sollen. Dieser eine Satz lautet:
Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem der geringsten dieser meiner Brüder
getan habt, habt ihr mir getan.
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Man wird diesen Satz nicht mehr los. Man kann nicht mehr so tun, als hätte man
ihn nicht gehört oder nicht gesehen. Man muß ihn anpacken, öffnen, auspacken,
aus-legen, was darin steckt.
Wer das tut, für den schrumpft die riesige Frage, wie denn mein Glaube mit all
den Herausforderungen dieser Welt zusammenhängt, was denn zu tun ist, wer
ich denn bin, ich kleiner Mensch am Strand eines riesigen Meeres voller Fragen
und Verwirrung – für den schrumpft das alles auf ein menschliches Maß. Dieser
Satz fasst zusammen, was Jesus seiner Gemeinde antwortet auf die Frage.
worum es im menschlichen Miteinander eigentlich geht. Er sagt ihnen, was sie
zu denen macht, die vor Gott stehen als Gesegnete, als Menschen, denen das
Reich Gottes zugesprochen wird, jetzt schon als Kinder Gottes und dann als
Erben: Kommt her, Gesegnete meines Vaters, erbt das Reich, das euch bereitet
ist von Grundlegung der Welt an; (35) denn mich hungerte, und ihr gabt mir
zu essen; mich dürstete, und ihr gabt mir zu trinken; ich war Fremdling, und
ihr nahmt mich auf;(36) nackt, und ihr bekleidetet mich; ich war krank, und
ihr besuchtet mich; ich war im Gefängnis, und ihr kamt zu mir.
Das alles steckt in diesem Satz, wenn ich ihn aufpacke und aus-lege. Ich sehe sie
mir an, die Aufzählung dieser Werke der Barmherzigkeit und der Menschen, die
ihrer bedürfen. Ich sehe darauf, als wären es Fotos.
Ich sehe den kleinen Jungen, der sich früh am Morgen, noch bevor der
Unterricht beginnt, über das Schulfrühstück hermacht, das in seiner Schule
verteilt wird. Die Lehrer wissen, dass die allermeisten Kinder dieser Schule
hungrig und ohne Frühstück losgeschickt werden. Es reicht zuhause einfach
nicht.
Ich sehe die Frau, die so ausgetrocknet ist, körperlich und seelisch, dass sie,
wenn sie zu uns in die Beratungsstelle kommt, immer erstmal ein großes Glas
Wasser braucht, bevor ihre Worte wieder fließen und strömen können;
Ich sehe den jungen Mann, der aus Afghanistan vor ein paar Wochen nach Fürth
gekommen ist und der jetzt vielleicht die amerikanische Bikerjacke trägt, die ein
Kollege am Martinstag in einer Mantel-Aktion gespendet hat, zu der auch vielen
andere Fürther beigetragen haben......
Menschen, Menschengesichter, Menschengeschichten – sie sehen alle aus wie
die, die in der Nachbarschaft wohnen, hungrig, durstig, frierend, alleine, auf der
Suche nach Orientierung,
Ja, eigentlich kann ich das: mit dem, der mir da gegenüber sitzt, von dessen
Geschichte ich so wenig weiß, der mir fremd ist, nicht nur, weil er aus einem
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fremden Land kommt, und dessen Not ich doch wahrnehme, für einen
Augenblick in Beziehung kommen – durch ganz elementare Hilfe. Eigentlich
können wir das und wir tun es, gerade jetzt, gerade in den vergangenen Wochen
und Monaten in einer unglaublichen Hilfsbereitschaft, die viel mehr ist als eine
augenblickliche Aufwallung. Die eine Haltung zum Vorschein bringt, mit der
Menschen zeigen: wir wollen helfen und wir können helfen. Wir sind in der
Lage, zu teilen, unsere Zeit, unseren Besitz unsere Interesse, unsere
Einfühlsamkeit, unsere Erfahrungen. „Wir wissen doch wie das ist, wenn man
wohin kommt und kein Wort versteht….“, sagt ein altes Ehepaar, das 1945 aus
dem Sudetenland ins tiefste Oberbayern gekommen ist.
Aber je länger ich diese Bilder anschaue und die Menschen, die da vor meinem
inneren Auge auftauchen, desto mehr frage ich mich: Habe ich wirklich
genügend gemacht. Tue ich jemals genug? Tun wir jemals genug? Ist es jemals
genug? Ich weiß doch auch, dass ich immer wieder die Augen verschließe, dass
ich mich wegdrehe, dass ich denke, und hoffe, dass ich nicht zuständig bin – und
dass ich das immer wieder als Versagen erlebe, als Anfechtung, als Zweifel, als
Angst (Was ist das denn für einer, dem ich da helfe?) Denn der Satz, der mir da
vor die Füße gespült wird, der bringt ja seinen Gegen-Satz mit: Wahrlich, ich
sage euch, wenn ihr es einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr es
auch mir nicht getan. Hätte ich den Rucksack, den Satz also besser nicht
geöffnet? Besser alles so gelassen, wie bisher? Hätte es besser dabei belassen,
dass ich, wie jeder, zwar eine vage Ahnung habe, dass man den anderen so
behandeln soll, wie man selber gerne behandelt werden möchte. Hätte mir
gedacht: Na ja, meistens mache ich das doch…. – und mich nicht weiter damit
beschäftigt, was das alles mit meinem Glauben zu tun hat?
Wahrlich, ich sage euch, was ihr einem der geringsten dieser meiner Brüder
getan habt, habt ihr mir getan. In diesem Satz steckt noch viel mehr. Es geht
nicht nur um meine Beziehung zu meinen Mitmenschen. Es geht ganz
grundlegend um Gottes Beziehung zu uns. Gott, der unsere Kraft- und
Lebensquelle ist, identifiziert sich mit dem verletzlichen und notleidenden
Menschen, dem Hungrigen und Durstigen, dem Nackten und Kranken, dem
Fremden und dem Einsamen.
Gottes Wesen, so hat der EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm betont,
ist geprägt von seiner mitfühlenden Zuwendung zu den Menschen. Wir glauben
an einen Gott, der sich erbarmt, wenn Menschen zu ihm um Hilfe schreien: „Er
sah ihre Not an… und es reute ihn“, heißt es im 106.Psalm. Es gehört zum
Wesen Gottes, dass er einer ist, der sein Volk aus der Unterdrückung, aus der
Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat in die Freiheit. Dass ein Fremdling
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geschützt werden soll, hat mit Gott selbst zu tun: „Wenn ein Fremdling bei euch
wohnt in eurem Lande, heißt es im 3.Buch Mose, den sollt ihr nicht bedrücken.
Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch und du sollst ihn
lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.
Ich bin der Herr, euer Gott. (3.Mose 19,33f…). Ihr wisst, sagt Gott, wie es ist,
fremd zu sein und ausgegrenzt zu werden. Also handle an einem Fremden genau
so, wie du selbst es dir wünschst, wenn du in der gleichen Situation wärst. Aber
er sagt auch: „Ich bin der Herr, dein Gott. Ich mache mir die Sache der Fremden
zu eigen wie ich mir eure Sache zu eigen gemacht habe. Ich nehme mich der
Fremden so an, wie ich mich euer angenommen habe….“. Und diese Beziehung
zum Menschen, die Gott selbst definiert, an der er festhält durch die ganze
Geschichte mit seinem Volk hindurch, sie findet ihre endgültige und
unübersehbare Ausprägung im Leben und der Lehre Jesu. Der, der im Namen
Gottes den Fremden annimmt, der wird selber fremd, der wird selber durstig und
hungrig, der wird selber nackt und bloß und gefangen. So will er gesehen, so
will er gefunden werden, und so will er mit uns in Beziehung sein.
Diese Worte Jesu, diese Rede, die die letzte ist, die er an seine Jünger richtet, die
ist nichts als eine einzige Einladung, mit ihm und untereinander in Beziehung zu
sein – ganz elementar. Im miteinander essen und trinken, im aneinander
wahrnehmen, wo Not und Einsamkeit gelindert werden kann, im einander helfen
und orientieren.
Es kann dabei eine Entlastung sein, zu hören, dass Jesus nicht sagt: Du mußt
jedem helfen, der Hilfe braucht….. Er sagt: das was Ihr einem tut, das habt ihr
mir getan….. Das ist eine Art jesuanischer Mengenlehre, die mir erlaubt, mir
klar zu machen: ich bin nicht alleine mit meinen Möglichkeiten und Angeboten.
Wir alle sind angesprochen, als Christen, als Gemeinde, als Gemeinschaft
welchen Glaubens auch immer, mit unseren unterschiedlichen Begabungen und
Möglichkeiten – und manchmal kann ein anderer an meiner Stelle etwas tun,
was mir unmöglich ist. Und es geht eben nicht darum, allen auf einmal zu
helfen. Einem, sagt Jesus…. Der, auf den dein Blick fällt, der, der für dich in
einem kurzen Moment ein Gesicht bekommt und eine Geschichte, vielleicht nur
der, den du dich anzusprechen und zu fragen traust: „was kann ich denn jetzt im
Moment für dich tun?“ Aus solchen kleinen Momenten setzt sich Leben
zusammen, Leben, das nur denkbar ist als gemeinsames Leben, als Leben in
Solidarität und Nähe zu den Schwachen, Hungernden, Gefangenen, Kranken
und Fremden.
Der Schweizer Jonas Anderhub übrigens, der hat nichts anderes getan, als dem
syrischen Asylbewerber Abdulrahman Alyasin seinen Rucksack zurückzugeben.
Abdulrahman Alyasin, ehemals Geschäftsführer eines Feinkostgeschäfts in der
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syrischen Stadt Hama, eine Frau, zwei kleine Kinder. Der Militärgeheimdienst
steckt ihn ins Gefängnis, sagt, er sei einer der Terroristen aus dem bürgerlichen
Viertel. Sie hängen ihn an den Händen auf, sie verprügeln ihn. Als er freikommt,
weiß er, dass er weg muß. Seine Frau und seine Kinder gehen in den Libanon, er
selbst bricht nach Europa auf. Als er die Lichter der Insel Kos schon sehen kann,
kentert sein Boot. Er schwimmt an Land. Den Rucksack muß er zurücklassen.
Irgendwann Ende August verschlägt es ihn nach Amsterdam, genauer: ins
Asylsucherzentrum in Hoogeveen, das einmal ein Gefängnis war. Dort findet
Jonas Anderhub ihn. Und dann sitzen die beiden zusammen in einer Wohnzelle
auf dem Bett, der blonde Schweizer neben Abdulrahman Alyasin. Hier, sagt der
Schweizer, dein Rucksack. Mach auf… Zögernd öffnet Alyasin den
Reißverschluß. Sieht das Foto eines Fischernetzes, schaut lange darauf. Dreht es
um und liest: Dear Abdulrahman, Welcome in Europe, I wish you and your
family only the best. Jonas
In Alyasins Gesicht verwandelt sich Staunen in Freude. Er führt die Hand an
sein Herz. Er sagt etwas. „Er will wissen: Ist es erlaubt zu umarmen?“ sagt der
Übersetzer. Dann stehen die beiden auf und umarmen sich…. Wahrlich, ich
sage euch, was ihr einem der geringsten dieser meiner Brüder getan habt,
habt ihr mir getan.
Ja, das könnte ein Schluß dieser Predigt sein, irgendwie…… wenn es da nicht
noch ein paar Fragen gäbe. Eine lautet zum Beispiel: Warum muß Jesus diese
Essenz seiner Lehre und seines Lebens ausgerechnet in ein Gerichtsgleichnis
verpacken? Warum heißt die Überschrift über diesen Abschnitt aus dem
Matthäusevangelium eben nicht: die Werke der Barmherzigkeit – sondern: das
große Weltgericht? Warum müssen sich so viele erst durch all die
Schreckensbilder durcharbeiten, bevor sie diesen einen Satz entdecken, als
würde er ihnen fast zufällig vor die Füße gespült aus diesem Meer der
bedrohlichen Bilder?
Keine Angst, ich fange nicht noch mal an. Das wird kein Predigtdoppelpack.
Aber zwei Gedanken will ich noch nennen, die mir heute, gerade heute, wichtig
sind.
Das eine ist: dieses Gleichnis vom Weltgericht wird ja nicht erzählt, damit wir
jetzt schon wissen, was uns droht. Sondern es wird erzählt, damit das, was uns
bedroht, nicht Wirklichkeit wird. Was uns bedroht, ist immer wieder
Beziehungslosigkeit. Sich alleine fühlen und andere alleine lassen; hungrig sein
und deshalb denken: ich habe ja sowieso nichts zu geben; durstig sein und sich
abfüllen mit allem, was einen nur noch weiter von anderen Menschen entfernt,
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sich in sich selbst schrecklich fremd fühlen und deswegen Angst haben, dass
alles Fremde schrecklich sein muß, sich hilflos fühlen und dabei denken: mir
hilft ja auch keiner….. Das, so glaube ich, so fürchte ich, ist die Hölle. So
alleine, so hungrig, so durstig, so verzweifelt ums Leben ringend kann sie sich
anfühlen. Der, der will, dass wir leben, öffnet unseren Blick für den, für die, die
in Reichweite sind, hilfsbereit und hilfsbedürftig, nur den einen, nur jetzt, nur
hier – mehr braucht es nicht, um herauszukommen aus ewiger Pein und ewiger
Qual.
Und der andere Gedanke: Nie zuvor habe ich so deutlich wie heute gehört, dass
da steht: Wenn aber der Sohn des Menschen kommen wird in seiner Herrlichkeit
und alle Engel mit ihm, dann wird er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzen;
(32) und vor ihm werden versammelt werden alle Nationen… Nicht einzelne
Menschen, auch nicht nur Christen. Er sieht sie alle, die einander Fremden und
die miteinander Vertrauten, sein Volk und die Völker.
Als wären diese Nationen einzelne Menschen, die einander beistehen müssen in
elementaren Nöten. Die gibt es weiß Gott genug. Vor ihm haben sie alle die
Chance, einander zu sehen. Was könnte das für eine Herausforderung sein über
politische Bündnisse und Religionen hinweg einander zu sehen und einander zu
stützen? Es ist doch mehr als deutlich, dass die Alternative nur die Hölle sein
kann. Es ist doch mehr als deutlich, dass Haß und Angst nur Spaltung und Tod
bringen. Es ist ein globaler, ein universaler Blick, der in diesem
Gerichtsgleichnis eingeübt wird. Es sind globale, universale Werte, an die Jesus
hier erinnert. Vielleicht ist das die ernsteste Frage, die für uns heute in diesem
Gleichnis steckt: wie soll das enden, wenn wir es nicht immer wieder schaffen,
uns diesen Blick Jesu zu eigen zu machen?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen
und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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