Plötzlich war die Karte zu Ende

Ulf Rosenow
Plötzlich war die Karte zu Ende
Geschichten am Rande des Fliegens
Rosenow, Ulf :
Plötzlich war die Karte zu Ende : Erzählungen / Ulf Rosenow. Berlin : ePubli.com, 2015
ISBN 978-3–7375-7149-4
© Ulf Rosenow, Göttingen 2015
Alle Rechte vorbehalten / Printed in Germany
Inhalt
Vorwort
Wie es und wie ich zum Segelfliegen kamen
Einschub über Verantwortung und Vertrauen
Der unvergessliche Nils
Eine fast unendliche Geschichte
Gibt es ein Finnisch-Urologisches Seminar?
Dresscode? Beim Fliegen?
Nach Holland
„Wie, wie, wie macht der Astronaut Pipi“
Pokalpolitik
Plagegeister in Zell am See
Die Provence – eine Sehnsuchtslandschaft
Western-Stimmung
Die „german boys“ wetten in London
Die Provence – vom Boden aus
Göttingen – Paris
Da möchte noch einer nach Paris fliegen
Zum guten Fliegen gehört eine gute Portion Hirn
Frankreisch – Frankreisch
Die Krux mit der Rückholerei
Das Fliegen im Pulk
Die nicht ganz einfache Navigation zu noch GPS-freien
Zeiten
Thermik im Land der vielen Atomkraftwerke
Cool bleiben über dem Mittelmeer
MfZ – Die Mitflugzentrale
Reisemotorsegler
Panik in Weimar
Die große weite Welt
Kabuki-Theater
First Class
Ausklang
Anhang:
1. Mit dem Spatz nach Holland
2. Mit dem Segelflugzeug auf Diamantensuche in
Südfrankreich
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Der Autor
Ulf Rosenow ist Professor für Medizinische Physik im
Ruhestand. Er war an der Medizinischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen, sowie zeitweilig in Istanbul,
Zürich, Bethesda, MD, USA, und New York tätig. Sein
Arbeitsschwerpunkt war die medizinische Strahlenkunde. Er
hat über 200 wissenschaftliche und andere Beiträge
veröffentlicht. Er ist Träger des Dr. Kurt Sauerwein-Preises
(1991) und Fellow of the American Association for Physicists
in Medicin, FAAPM, 1998. Seit 1958 ist er begeisterter
Flugsportler mit dem Schwerpunkt Segelflug und seit 1971
auch Fluglehrer. In dieser, seiner ersten belletristischen
Buchveröffentlichung berichtet er aus eigenem Erleben nicht in
erster Linie über das Fliegen selbst, sondern über viele kuriose,
amüsante oder sonst bemerkenswerte Erlebnisse am Randes
des sportlichen Fliegens und des Reiseflugs.
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Vorwort
Wohl jeder kennt den lockeren Spruch „Nur Fliegen ist schöner“, der
zu allen möglichen Situationen passt, oder für passend gehalten wird,
besonders, wenn es um Dinge geht, die Spaß machen, ja gerade auch
um die, an die Sie jetzt denken müssen. Ich habe vor nun schon 57
Jahren mit dem Fliegen begonnen, genauer mit dem Segelfliegen,
und schon aus diesen vielen, leider wie im Fluge vergangenen Jahren
können Sie ablesen, dass es Weniges für mich gegeben hat, was ich
faszinierender als dass Fliegen fand. Ja, ich hatte einen Beruf, der
mich gefesselt hat, der mir viele Reisen, viele Begegnungen, viele
Freundschaften oder auch einige Liebschaften gegeben hat, auch einiger Erfolge, über die ich einen gewissen Stolz empfinde, von denen
aber, wie Gottfried Benn sagte, „trotz Teilerfolg im Geistesringen
keiner von olympischem Gewähr (war.)“1 Ja, ich hatte auch zwei Familien, die mich größtenteils glücklich gemacht haben, vor allem wegen dieser wunderbaren Kinder, die ich zwei sehr verschiedenen
Frauen verdanke. Ja, ich war einige Male sehr verliebt – und was gibt
es Aufregenderes.
Aber womit füllt man die Zeit, die neben all dem noch bleibt? Für
mich ab meiner Studentenzeit war die Antwort: Segelfliegen. Unter
Segelfliegern ist der Ausspruch eines der erfolgreichsten Segelflugsportler, Hans-Werner Grosse, bekannt, der am 25.04.1972 von Lübeck nach Biarritz über eine Strecke von 1460,8 km zum Streckenflugweltrekord segelte, und wenig später, als er das erste 1000kmDreieck über Deutschland flog, nach seiner Ankunft am heimatlichen
Zielort gefragt haben soll: „Was mache ich nun mit dem angebrochenen Nachmittag?“ Segelflieger fragen sich aber Land auf Land ab
kaum einmal, was sie mit dem nächsten Wochenende anfangen könnten, es sei denn, es ist Winter, oder schlechtes Wetter, oder die Familie möchte endlich auch einmal den lange versprochenen Ausflug
machen. Aber selbst an den nicht fliegbaren Tagen gibt es einiges auf
dem Flugplatz zu tun, Pflege der Segelflugzeuge, im schlimmeren
1
Verszeile im Gedicht „Verlies das Haus - “
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Fall Reparaturen, Arbeit an den Hallen, dem Platz, den sonstigen
Einrichtungen. Es endet aber fast immer in geselligem Beisammensein, bei Kaffee und Kuchen, wenn der Tag noch jung ist, oder bei
manchem Grillwürstchen und dem einen oder anderen Bier. Hoppla!
Alkohol? Ist das denn in der Fliegerei erlaubt? Vor Jahren noch galt
die Regel: Kein Alkohol in den 24 Stunden vor einem Flug, was allerdings schon gerne einmal umgedeutet wurde in: kein Alkohol auf
den letzten 24 Metern vor dem Flugzeug! Nein, natürlich gilt heute
die Null-Promille-Regel, wenn man verantwortlich ein Flugzeug führen möchte. Sicherheit geht im Fliegen über alles, und so kommt es,
dass die Fahrt zum Flugplatz, nicht das Fliegen selber, für das große
Sicherheitsrisiko gehalten wird.
Nach dem Fliegen wird es also häufig gesellig. Es werden die Tageserlebnisse ausgetauscht und es machen alle jene mehr oder weniger
lustigen, komischen, schönen Geschichten die Runde, die es zu Hauf
im Umfeld des Fliegens gibt, oder zum Glück selten auch tragische,
nicht nur des sportlichen Fliegens, sondern auch aus dem Bereich des
Reiseflugs. Von diesen soll im Folgenden einiges erzählt werden. Dabei soll es also nicht nur um die Randerscheinungen des Segel- oder
des Sportfliegens gehen, sondern es werden auch Abstecher in die
Verkehrsfliegerei gemacht. Und es soll auch nicht nur aus eigenem
Erleben berichtet werden, wenn das auch im Mittelpunkt steht, sondern auch die eine oder andere Begebenheit erwähnt werden, die
man nur vom Hörensagen kennt. Sehr vieles wird aus schon länger
zurückliegenden Zeiten berichtet. Das bringt etwas Nostalgie mit
sich, wirft aber auch die Frage auf, ob es früher allgemein lustiger
zuging. Das ist schwer zu beantworten, aber der Spielraum für eher
komische Vorkommnisse war damals vielleicht in der Tat größer, da
Vieles noch lockerer genommen wurde. Viele gesetzliche Regelungen des allgemeinen Luftverkehrs sind im Laufe der Jahre detaillierter, umfangreicher, strikter und damit leider auch einschränkender
und bürokratischer geworden. Ein jüngster Schub in diese Richtung
erfolgte mit der Vereinheitlichung des Luftrechts auf EU-Ebene. Dabei hat man sich nicht an Regeln derjenigen EU-Ländern orientiert,
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die noch besonders einfach waren, sondern sich die ausgefeiltesten
zum Vorbild genommen. Und da sich die EU-Bürokratie gedanklich
hauptsächlich im Umfeld des kommerziellen Flugverkehrs bewegt,
ist es für die sogenannte Allgemeine Luftfahrt, kurz die private Fliegerei und den Luftsport, sehr viel komplizierter geworden. Aber auch
ein gewisser Ehrgeiz, ein Anspruch, der Kompetentere zu sein und
auf Augenhöhe mitreden zu können, manchmal vielleicht auch ein
Quäntchen Wichtigtuerei haben die Tendenz zu Überregulierung
auch von Seiten der Verbandsvertreter und -funktionäre gefördert. Es
ist dadurch wohl auch merklich humorloser geworden.
Stemmen wir uns hier wenigstens gegen solche Entwicklungen. nehmen wir also Teil an dem, was häufig schöner als das Fliegen selber
angesehen wird oder wurde, an Erlebnissen der besonderen Art, die
nur das Fliegen mit sich bringt, auch wenn in Wirklichkeit nur dieses
selbst am schönsten ist.
Wie es und wie ich zum Segelfliegen kamen
Es ist zunächst zum weiteren Verständnis unumgänglich, eine kurze
Einführung in den Segelflug selbst zu geben, da häufig unter Laien
nur vage, falsche oder auch gar keine Vorstellungen darüber zu finden sind, was es mit dem Segelflug so auf sich hat.
Weithin bekannt ist, dass es Otto Lilienthal war, der die ersten erfolgreichen Segelflüge unternahm, die er dem Vogelflug abgeschaut
hatte. Seine Flüge waren reine Gleitflüge, von Hügeln herab, denn
der für den Auftrieb des Fluggerätes unerlässliche Vortrieb musste
aus dem Abgleiten eines Höhenunterschiedes gewonnen werden. Sie
erinnern sich aus der Schulzeit: Umwandlung von potentieller in kinetische Energie. Die letzten Flüge unternahm er am Gollberg bei
Stölln-Rhinow im Havelland, wo er 1895 abstürzte und drei Tage
später an den Folgen des Sturzes in Berlin starb, ein Opfer seiner
Pioniertaten für die Entwicklung des Menschenfluges. Wie man
überhaupt schätzt, dass in der Anfangszeit der Fliegerei, etwa bis
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Mitte der 1920er Jahre, jeder zweite Pilot seine Passion mit dem Leben bezahlte, die kriegsbedingten Fälle nicht gezählt. Jene Zeiten
sind glücklicherweise längst vergangen. So ist heute besonders die
Flugschulung als außerordentlich sicher zu bewerten. Aus Zahlen des
Deutschen Aero Clubs (DAeC) und der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) kann man ableiten, dass im Schulbetrieb die
Wahrscheinlichkeit für einen Segelflugunfall mit Schwerverletzten
oder Toten bei nur 0,00001, also einem Hundertstel eines Promille
liegt, bei etwa einer halben Million Segelflugschulstarts im Jahr. Das
ist weit unter der Wahrscheinlichkeit, einen Unfalltod bei einfacher
Büroarbeit zu erleiden, z. B. durch Einschlafen und vom Bürostuhl
fallen, oder so.
Weithin bekannt ist ebenfalls, dass den Gebrüdern Wright die ersten
Motorflüge zugeschrieben werden. Das war 1903 und ist nicht ganz
unumstritten. Nach der Niederlage am Ende des ersten Weltkrieges
war in Deutschland der Motorflug dann zunächst verboten, was zur
Folge hatte, dass sich einige Enthusiasten auf den Segelflug besannen, der dann insbesondere auf der Wasserkuppe in der Rhön eine rasante Entwicklung erfuhr. Ähnliches geschah nach dem zweiten
Weltkrieg, wo der Segelflug erst ab 1952 erlaubt war, sich dann viele
Segelflugvereine neu oder aus altem Bestand bildeten, die damals
häufig noch ihre Flugzeuge selber bauen mussten. 200 Pflichtarbeitsstunden pro Mitglied im Jahr waren damals keine Seltenheit. Ein
Verein, der das heute noch verlangen würden, wäre der Selbstaufgabe nahe.
Ich erinnere noch heute den intensiven Geruch von Kauritleim und
Spannlack aus dem Segelflugzeugbau, den ich in der Werkstatt
schnuppern durfte, als ich 1958 dem Kurhessischen Verein für Luftfahrt e. V. in Marburg an der Lahn (schon 1911 gegründet) beitrat,
und der einen noch im Flugzeug begleitete und zu dem besonderen
Flair im damaligen Segelflug beitrug. Der Segelflugplatz Marburg
lag damals noch in fußläufiger Entfernung vom Stadtzentrum, und
bei unseren studentischen sonntäglichen Wanderungen durch die
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Lahnberge und in die nahen Dörfer, wo in den Dorfkneipen noch auf
jedem Tresen ein großes Glas mit den köstlichen Soleiern stand, sah
man mit dem Gefühl der Sehnsucht die Segler majestätisch am Himmel schweben.
Aller Anfang ist schwer, sagt man. Meiner war eher unglücklich.
Man ist ja zunächst mit besonderem Eifer oder gar Übereifer dabei.
Und so ergriff ich bei erster Gelegenheit beherzt den Griff am hinteren Abschnitt des Rumpfes einer Ka8, einem Schuleinsitzer, kurz vor
dem breit ausladenden Höhenleitwerk, um sie wie üblich rückwärts
mit zum Startplatz zu ziehen. Gerade machte ich einen ausladenden
Schritt nach vorne, als das unter dem Rumpf angebrachte Rad plötzlich in ein größeres Mauseloch sackte, dadurch die vorn unter dem
Cockpit angebrachte Kufe hart auf dem Boden aufsetzte, dadurch
wegen des langen Hebels das Höhenleitwerk noch heftiger nach unten schlug, auf mein vorgestrecktes Knie traf, welches sich folgerichtig splitternd einen Weg durch die sperrholzbeplankte Nase der Höhenruderflosse nach oben brach. Es ergab sich die erste schnelle Gelegenheit, Sperrholzverarbeitung, Kauritleim und Flugzeuglack kennen zu lernen. Auch eine erst Gelegenheit, die Solidarität unter Segelfliegern zu erfahren. Niemand machte mir einen Vorwurf.
Das Studium, meine junge Familie, Besuche des zum Zuhause gewordenen Bauernhofes meines älteren Bruders und weitläufige andere Interessen ließen dann den Segelflug bei aller Faszination zunächst etwas zurücktreten. Die Erinnerung an diese Anfangszeit
bringt daher nur wenig Bemerkenswertes zum Vorschein. Ich erinnere meine wundervollen und verehrten Fluglehrer, die schon damals
zum Wellenflug nach Frankreich fuhren. Beeindruckt war ich von
dem Bericht des Einen, er sei in die Wolken geraten, die nach längerer heftiger Turbulenz vermeintlich nach oben hin aufgerissen seien.
Aber statt des erwarteten blauen Himmels war dort das Städtchen Issoire am Rande des Zentralmassivs zu sehen gewesen. Das Flugzeug
war also in Rückenlage unten aus der Wolke gefallen, für mich ein
frühes und warnendes Beispiel, wie schnell und zwangsläufig man
bei Sichtverlust in völlige Orientierungslosigkeit geraten kann.
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Ich erinnere auch den ersten Versuch, im August 1962, den für den
Erwerb der Fluglizenz nötigen 50km-Flug zu absolvieren, der aber
schon nach 22km endete. Ich war damals der irrigen Meinung, jede
Landung müsse von einer Amtsperson bescheinigt werden. Also
suchte ich zunächst den Bürgermeister des nahen Dorfes auf, der
aber in der Badewanne saß. Es war Sonnabend. Ich kam auf die Idee,
den örtliche Pastor in Anspruch zu nehmen, wo es dann zu der begehrten Unterschrift auch einen großen Teller belegter Brote gab,
von Frau Pastorin eilfertig zubereitet. Der Herr Pastor äußerte sich
bewundernd über einen aus seiner Sicht beneidenswerten Aspekt des
Segelfliegens: Man sei doch häufig dem Himmel so nahe! Ich
stimmte entschieden zu, wobei ich mich allerdings insgeheim fragte,
ob es sich bei meinem Gastgeber um eine besondere Anwandlung
von Frömmigkeit handelte – welche mir selbst ganz fern lag – , oder
um eine gewisse Naivität – die durchaus häufig mit Frömmigkeit
einhergeht – , ob er mich vielleicht auf Glaubensfestigkeit prüfen
wollte, oder ob er sich insgeheim nur einen Scherz mit mir erlauben
wollte. Letzteres wäre allerdings als eine Sünde einzuordnen gewesen, wenn auch als eine sehr lässliche.
Auch bei meinem zweiten 50km-Versuch, erst ein Jahr später unternommen, musste ich wegen eines plötzlich aufziehenden Gewitters
in der Nähe von Giessen vorzeitig landen. Kein Problem! Vor mir lag
eine riesige Wiese, auf deren linker Seite gerade Heuballen auf einen
Leiterwagen geladen wurden, deren rechte Seite aber bereits abgeerntet war und reichlich Platz für die Landung bot. Kurz vor der Landung schwenkte allerdings der Traktor mit dem schon hoch beladenen Heuwagen exakt quer in meine Landerichtung. Ich konnte gerade noch einen Schwenk um 90 Grad machen und auf der Nachbarwiese aufsetzen. Dort kam ich nicht weit von einem größerem Anwesen zum Stehen und es ergab sich Folgendes: Zwei Jünglinge kamen
heraus, machten sich als Segelflugschüler bekannt und erboten sich,
dass Flugzeug vor dem Gewitter am Boden zu vertäuen. Währenddessen wurde ich auf einen Kaffee, oder besser Café, eingeladen. Da-
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bei stellte sich dann heraus, dass der Hausherr gerade als Leiter einer
Universitätsklinik in Giessen berufen worden war und dass er zuvor
just in jener Universitätsklinik in Göttingen Leitender Oberarzt gewesen war, in deren Strahlentherapieabteilung ich zwei Tage später
meine erste berufliche Stellung als frisch diplomierter Physiker antreten sollte. Ich erhielt einen sehr nützlichen Einblick in Interna
meines zukünftigen Tätigkeitsfeldes als Medizinphysiker.
So kam ich nach Göttingen, wo ich 1964 der dortigen Luftsportvereinigung beitrat, und dort sind einige der im Folgenden beschriebenen
Ereignisse angesiedelt. Einige neue Gestalten kommen ins Spiel, die
ich hier nicht mit Ihren Klarnamen benennen möchte, einfach um sie
nicht zu beschädigen. Sie sollen aber auch unter geänderten Namen
als liebenswert in Erinnerung bleiben, auch wenn manch menschliche Aspekte erwähnt werden müssen. Es sind vor allem Harro, Oskar, Dieter, Norbert, Jochen. Viele andere Namen sind ebenfalls erfunden, auch weil die wirklichen nicht mehr erinnert werden. Bei den
meisten handelt es sich jedoch um passionierte Segelflieger. Wie weit
eine solche Passion gehen kann, hat einer der genannten oder auch
nicht genannten demonstriert, als es an einem Segelflugwettbewerb
in England teilnahm, wozu seine Verlobte als unentbehrliche Helferin mitgereist war. Das Wetter in England ist manchmal besser als
sein Ruf. Diesmal gab es nur einen Tag mit so schlechtem Wetter,
dass nicht geflogen werden konnte. Wie also diesen sonst verlorenen
Tag nutzen? Nun, mein Freund fuhr kurzentschlossen mit seiner Verlobten nach Gretna Green in Schottland, dem damals sehr bekannten
Heiratsparadies, um mal eben zu heiraten. Schön, wenn das Fliegen
manchmal auch Zeit für weniger wichtige Erledigungen lässt. Diese
Ehe hielt dann später auch wesentlich kürzer, als die fliegerische Passion.
Aus dieser Zeit erinnere ich auch ein eher tragikomisches Ereignis.
Es betraf den Betrieb unserer Startwinde und es betraf unseren Fluglehrer Jogi, der wie alle aktiven Piloten auch Windenfahrer war. Die
Startwinde war, wie damals üblich, im Eigenbau erstellt. Dazu wurde
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ein starker Gebrauchtmotor auf einen ausgemusterten, aber noch
fahrtüchtigen LKW auf die ansonsten freie Ladefläche montiert,
dazu eine Bedieneinheit zur Steuerung der Winde. Der Motor trieb
eine Trommel an, auf der das damals stählerne Schleppseil aufgespult war. Dieses wurde zum Start über die gesamte Platzlänge ausgezogen. An seinem Ende befand sich die Vorrichtung zum Einklinken des Segelflugzeuges. Nachdem der Pilot startklar war zog also
die Wind das Seil wieder ein, wobei das Segelflugzeug wie ein Drache in die Lüfte steigt.
Nun war eines Tages wieder einmal etwas an der Startvorrichtung in
Ordnung zu bringen, an der Spul- oder Kappvorrichtung oder am
Seil selber. Jedenfalls musste Jogi, der den Windenfahrerdienst übernommen hatte, vom Führersitz über die schmale freie Fläche um das
Motoraggregat herumgehen, wobei er ins Stolpern kam und kopfüber
von der Ladefläche zu Boden fiel. Er brach sich dabei beide Oberarme. Im Krankenhaus erhielt er folglich zwei Gipsverbände, so dass
er seine Gipsarme horizontal und angewinkelt vor sich her tragen
musste. So erschien er einige Zeit später auf dem Flugplatz. Man
kann sich den Grad der Hilflosigkeit denken, der Jogi in fast allen
Geschäften des Lebens schwer behinderte. Auch waren wir, seine
Fliegerkameraden keineswegs herzlos oder gar zynisch. Aber Jogi
bot einen derart komischen Anblick, das bei uns ein Gelächter kaum
zu unterdrücken war und Jogi auch etliche Witzeleien über sich ergehen lassen musste.
Einschub über Verantwortung und Vertrauen
Im Göttinger Verein wurde ich sehr freundlich aufgenommen. Nur
die Fluglehrer schienen meine fliegerische Vorgeschichte nicht so
recht zu schätzen. Hatten mich in Marburg sehr aufgeschlossene und
fördernde Fluglehrer ausgebildet, so wurden mir zu meinem Erstaunen oder gar Unverständnis noch einmal eine große Zahl an Starts im
Doppelsitzer mit Lehrer abverlangt, ehe ich mich auch hier freifliegen, also auch wieder alleine fliegen durfte. In Marburg hatte ich
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mich mit dem neunundzwanzigsten Start freifliegen können, darunter
drei Starts als Gastflugschüler in Wetzlar, die eigentlich nicht viel
zählten. Einer der Fluglehrer in Göttingen legte mir plötzlich, etwa
ab dem zwanzigsten Start, beide Zeigefinger von hinten auf die
Schultern. Ich war leicht peinlich berührt und hatte schon die abwegigsten Vermutungen, traute mich dann aber doch nach dem Sinn der
Maßnahme zu fragen. Er wolle mir nur zeigen, dass er nun nicht
mehr mit die Steuerung bediene – oh, nach insgesamt an die sechzig
Starts! Erleichtert ahnte ich, dass es nun vielleicht bald zum erneuten
Alleinflug kommen würde. Aber diese vielen zusätzliche Starts hatten mein Selbstvertrauen eher beschädigt. Wo lag die Erklärung? Der
Platz war nicht schwieriger zu befliegen, das Schulflugzeug war vom
selben Typ, ich hatte nicht das Gefühl, schlechter zu fliegen. Es
musste also wohl an den Fluglehrern liegen. Erst später kam ich darauf: es gibt unterschiedliche Auffassungen davon, wie man Verantwortlichkeit praktiziert, man könnte auch sagen, es gibt unterschiedliche Verantwortungskulturen. Dazu ein paar Beobachtungen und Erfahrungen, die ich in meinen langen Jahren als Fluglehrer machen
konnte.
Die erste Gelegenheit, bei der ein Fluglehrer das ganze Ausmaß der
Verantwortung für einen Flugschüler spürt, ergibt sich beim Auftrag
für den ersten Alleinflug des Schülers. Jetzt muss sich der Fluglehrer
sicher sein, dass er diesem Flugschüler zutrauen kann, den Flug ohne
Schaden durchzuführen. Aber wie im Leben, so gibt es auch beim
Fliegen keine Sicherheit, was dem strengen Wortbegriff nach die einhundertprozentige Wahrscheinlichkeit ist, keinen Schaden zu erleiden. Umgangssprachlich verstärkt man das ebenso unnötig wie häufig, indem man von absoluter oder maximaler oder eben hundertprozentiger Sicherheit spricht. Zu erreichen ist aber nur eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wobei unbestimmt bleibt, wann
diese erreicht ist. Jeder Fluglehrer wird das für sich anders bestimmen. Seine Einschätzung hängt einerseits von seiner Erfahrung, seinem Augenmaß, seiner Fähigkeit, den Flugschüler und äußere Gegebenheiten, wie etwa das Wetter, richtig beurteilen zu können, ande-
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rerseits aber eben auch von seiner Selbstsicherheit ab. Mangelt es
dem Fluglehrer an Selbstvertrauen (was gelegentlich vorkommt und
nicht selten hinter einem autoritären Auftreten versteckt wird), so
wird er dazu tendieren, eine maximale Sicherheit erreichen zu wollen. Er wird dem Flugschüler also viele Doppelsitzerstarts abverlangen, bevor er ihn alleine fliegen lässt. Das führt aber meist zu keiner
optimalen Ausbildung. Im Gegenteil: ab einem bestimmten Moment
wird der Schüler zunehmend verunsichert, an Selbstvertrauen verlieren; und die Wahrscheinlichkeit für eine sichere Durchführung des
ersten und der weiteren Alleinflüge wird abnehmen. Ich hatte ja
selbst diese zunehmende Verunsicherung gespürt.
Ein fast schon erheiterndes Beispiel von gelebtem „maximalen“ Sicherheitsbedürfnis von Fluglehrern soll hier in zwei Varianten eingeschoben werden. Es geht um die Seilrissübung beim Windenstart.
Letzterer verläuft für einen Zuschauer ebenso wie für den frischen
Flugschüler spektakulär steil, ähnlich einem Drachenstart, und wird
gelegentlich durch einen Riss des Windenseils schockartig unterbrochen. Wie man in einem solchen Fall das Flugzeug in eine normale
Fluglage und sicher zur Landung bringt muss geübt werden. Dazu
klinkt der Fluglehrer in verschiedenen Phasen des Windenstarts das
Seil für den Flugschüler überraschend aus. Dieser muss dann richtig
zu reagieren lernen. Manche, sagen wir sehr vorsichtige Fluglehrer
sollen dazu noch am Windenseil das Flugzeug erst in eine annähernd
normale Fluglage bringen und erst dann ausklinken. Die offizielle
„Methodik der Segelflugausbildung“ des Deutschen Aero Clubs
empfiehlt zusätzlich zu den echten Ausklinkübungen das Simulieren
des Seilrisses in großer Höhe im freien Flug. Dazu wird ein Seilriss
dadurch nachgestellt, dass der Fluglehrer das Flugzeug zunächst auf
höhere Geschwindigkeit andrückt, dann etwa so steil wie beim Windenstart hochzieht, dem Schüler „Seilriss!“ zuruft und ihn dann reagieren lässt. Die „Methodik“ verlangt hier etwas wenig Sinnvolles.
Es wird glaubhaft von Fluglehrern berichtet, welche, offenbar aus
Ängstlichkeit, allein diese Variante üben und die echte Seilrissübung
am Startseil vermeiden. Mit einem realen Seilriss und der Notwen-
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digkeit, sich je nach verbleibender Höhe für die richtige Landeeinteilung entscheiden zu müssen, hat das wenig zu tun. Auch fehlt der
Überraschungseffekt. Die Übung hat wohl mehr mit der Unsicherheit
des Fluglehrers zu tun oder dem Übereifer der „Methodiker“. Zur
Ehre der Fluglehrer sei aber gesagt, dass solche Schulungsmethode
eher eine Seltenheit ist.
Hier stoßen wir aber auf ein viel allgemeineres Prinzip, welches über
die Flugschulung, ja über die Fliegerei insgesamt weit hinaus weist.
Wir verdanken ihm leider ein übertriebenes Regelungsbedürfnis. Es
tritt nicht nur bei Mitgliedern, Fluglehrern und Vorständen von Vereinen auf, sondern meist verstärkt bei übergeordneten Verbänden, Behörden und gesetzgebenden Organen. Das Prinzip könnte lauten: Objektive Verantwortungsscheu aus subjektivem (oder eingebildetem)
Verantwortungsbewusstsein. Das soll kurz erläutert werden, und
dazu bleiben wir bei zwei bezeichnenden Beispielen aus der Flugschulung.
Anders als bei der Fahrschulung, bei der der Fahrlehrer bis zur Fahrprüfung immer mit am Doppelsteuer sitzt, der Fahrschüler also erst
nach Erwerb des Führerscheins zum ersten Mal wirklich alleine ein
Kraftfahrzeug steuern kann, verläuft die Segelflugschulung in drei
Abschnitten. Im ersten Ausbildungsabschnitt wird der Flugschüler
(der Einfachheit halber verwende ich hier nur die männliche Form,
die weibliche ist immer mitzudenken) möglichst zügig zum ersten
Alleinflug gebracht, wobei selbstredend der Fluglehrer davor immer
mit im Flugzeug sitzt. Im zweiten Ausbildungsabschnitt wird er dann
durch weitere Alleinflüge unter Aufsicht eines Fluglehrers oder in
weiteren Doppelsitzerstarts mit Fluglehrer in der Nähe des Flugplatzes zur sicheren Beherrschung des Fluggerätes auch unter schwierigeren Verhältnissen gebracht. Der dritte Abschnitt dient dann der
Ausbildung zum Streckenflug, also zur sicheren Durchführung von
Flügen, die den Platzbereich deutlich verlassen und möglichst auch
auf fremden Flugplätzen oder durch Außenlandungen im Gelände enden. Für den Erwerb der Segelfluglizenz ist ein Alleinflug von min-
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destens 50 km Entfernung vom Heimatflugplatz ein Erfordernis.
Dies ist ein sehr bemerkenswerter Unterschied zur Fahrschulung,
oder können Sie sich vorstellen, dass man einen Fahrschüler ohne
Begleitung des Fahrlehrers vor dem Erwerb de Fahrerlaubnis etwa
von Göttingen nach Kassel schickt? Der Flugschüler muss also so
gut ausgebildet sein, dass er einen solchen Streckenflug ganz auf
sich allein gestellt, also ohne der direkten Aufsicht durch den Fluglehrer zu unterliegen, durchführen kann. Für mich als Fluglehrer ist
es immer selbstverständlich gewesen, dass ein Flugschüler am besten
auf diese Aufgabe vorbereitet ist, wenn er auch schon im Platzbereich häufiger ohne direkte Aufsicht des Fluglehrers selbständig Flüge durchführen kann. Er wird an Selbstvertrauen, Entscheidungsfreude, auch technischem Geschick gewinnen und somit auch den bevorstehende Überlandflug mit größerer Sicherheit durchführen können.
Aber wie kann man sicher sein, dass der Fluglehrer einen solchen
Flug nicht doch insgeheim vom Boden aus beobachtet? Z. B. dann,
wenn der Fluglehrer selber mit einem anderen Flugschüler im Doppelsitzer in der Luft ist, oder es auf andere Weise den Flugschüler
deutlich merken lässt. Natürlich hat der Fluglehrer auch in diesem
Fall die Aufsichtspflicht über die Flugausbildung des betreffenden
Flugschülers. Er kommt dieser nach, indem er dem Flugschüler in jedem Fall wie vorgeschrieben für einen Flug einen Flugauftrag erteilt,
bei welcher Gelegenheit er sich vergewissert, ob der Flugschüler diesen (nicht direkt beaufsichtigten) Flug nach den gegebenen Umständen, wie z. B. Ausbildungsstand, Fitness oder Wetterbedingungen, sicher durchzuführen in der Lage sein wird. Übrigens wird sich auch
der Fluglehrer bei einem so vorgebildeten Flugschüler erheblich sicherer fühlen, wenn er ihn dann schließlich auf einen Überlandflug
schickt.
Nun haben einige, zum Glück nicht alle Landesverbände des DAeC
die strikte Order erlassen, dass in denen ihnen angeschlossenen Vereinen der verantwortliche Fluglehrer in jedem Fall am Boden zu bleiben hat, wenn ein Flugschüler alleine fliegt. Selbstredend macht das
nur Sinn, wenn er den Flug des Flugschülers dann auch ununterbro-
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chen beobachtet. Das klingt zunächst einmal sehr verantwortungsvoll, muss aber eher als verantwortungsscheu eingestuft werden, da
es eben nicht zu mehr Sicherheit führt, wie ausgeführt. Übrigens
wird diese Vorgabe in der Praxis oft nur halbherzig befolgt, denn
schon, wenn mehrere allein fliegende Flugschüler in der Luft sind,
können sie ja nicht alle gleichzeitig ständig beobachtet werden. Manche Fluglehrer halten es dabei für ausreichend, Start und Landung
des Flugschülers zu beobachten. Es ist aber eine Illusion, wenn man
meint, vom Boden aus, z. B. über Funk, bei Fehlern des Flugschülers
in den bodennahen Phasen des Fluges noch eingreifen zu können.
Eher tritt eine Verunsicherung oder Ablenkung des Flugschülers ein,
wenn er unter Stress noch angesprochen wird, was auch schon zu
schweren Unfällen geführt hat. Inzwischen verlangt auch die neue
EU-Ausbildungsverordnung nicht das ausnahmslose Beobachten des
alleine fliegenden Schülers.
Der zweite hier anzuführende Fall ist eigentlich nur bedingt ein Beispiel für objektive Verantwortungsscheu durch subjektives Verantwortungsbewusstsein, sondern ist eher einer vorschnellen Annahme
und daraus erwachsener Sorge zuzuschreiben. Viele Fluglehrer sind
der Auffassung, dass ein Flugschüler in der letzten Kurve vor dem
Landeanflug, die also schon in vergleichsweise geringer Höhe geflogen wird, nicht die Bremsklappen betätigen sollte. Die Befürchtung
ist, er könnte die Kurve gerade versehentlich sehr langsam fliegen
und durch das Ausfahren der Bremsklappen die Umströmung der
kurveninneren Tragfläche, die sich etwas langsamer bewegt, als die
äußere, zusammenbrechen lassen, so dass das Flugzeug ins Trudeln
geraten und nicht mehr abgefangen werden könnte. Das klingt nur
vordergründig einleuchtend. Da auch einige der für die Formulierung
der „Methodik“ Verantwortlichen hieran mantramäßig festhalten,
muss man wohl davon ausgehen, dass auch sie von dieser falschen,
ja in gewissen Situationen sogar gefährlichen Annahme ausgehen.
Nun ist es aber so, dass der Langsamflug bis hin zum Abkippen des
Flugzeuges im Geradeausflug eine wichtige Übung im Ausbildungs-
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programm ist, die doppelsitzig mit Lehrer praktiziert wird, und zwar
in größerer Höhe, so dass ein mögliches Abkippen und Trudeln des
Flugzeuges noch sicher abgefangen werden könnte. Was aber leider
in der „Methodik“ gänzlich fehlt, ist, die Abkippübung auch aus dem
Geradeaus- oder Kurvenflug auch mit gezogenen Klappen zu üben.
Es ist sehr lehrreich, dies zu üben, zumal auch für die Fluglehrer, die
das offenbar nie tun. Das wiederum kann nur durch mangelnde
Übung des Fluglehrers und einer daraus sich ergebenden Ängstlichkeit erklärt werden. Denn jeder Fluglehrer, der diese Abkippübungen
konsequent durchführt, wird feststellen, dass alle gängigen Schulflugzeuge, Doppel- wie Einsitzer (und auch viele weitere Flugzeugtypen, wie einige Reisemotorsegler und sogar Ultraleichtflugzeuge)
bei gezogenen Brems- oder Landeklappen weder aus dem Geradeausflug, noch aus dem selbst extremen Kurvenflug zum Abkippen,
geschweige denn zum Trudeln gebracht werden können. Bei gezogenen Bremsklappen kann der Flugschüler also gar nicht in eine gefährliche Situation kommen. Die Fluglage wird eher stabilisiert. Er
wird lediglich schneller sinken, aber deshalb benutzt er ja gerade die
Bremsklappen. Man muss schon staunen, dass das Verbot, die
Bremsklappen in der Landekurve zu betätigen, sogar sehr ernsthaft
oft in der Fluglehrerausbildung gelehrt wird, oder dies auch von den
Aufsichtsbehörden gefordert wird. Möglicherweise wird es sogar als
Grund angesehen, den Fluglehreranwärter bei Nichtbeachtung in der
praktischen Abschlussprüfung durchfallen zu lassen.
Ich habe diese Sachlage mit vielen Fluglehrern, Ausbildern, Funktionären im Ausbildungssektor des Deutschen Aero Clubs diskutiert,
meist ohne überzeugen zu können. Dabei ist diese falsche Lehrmeinung potentiell gefährlich. Man stelle sich einen Piloten vor, dem
dieses Verbot in Fleisch und Blut eingegangen ist und der sich bei einem Streckenflug mangels Aufwind zu einer Außenlandung gezwungen sieht. Im Anflug zur gewählten Landestelle stellt er aber fest,
dass er viel zu hoch kommt, meint aber, auf keinen Fall die Bremsklappen in der letzten Kurve ziehen zu dürfen oder sie, falls schon
gezogen, wieder einfahren zu müssen, um nicht abzuschmieren. Das
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könnte fatal ausgehen weil er das Flugzeug nicht mehr auf dem vorgesehenen Landefeld zu Boden bringt und dahinter in unlandbares
Gelände rauscht.
Damit aber genug dieser ernsteren Aspekte der Segelfliegerei, die allerdings auch einer gewissen Kuriosität nicht entbehren und somit
nicht gänzlich vom Thema abweichen. Wenden wir uns nunmehr
den angenehmen oder erheiternden Aspekten zu.
Der unvergessliche Nils
Nils traf ich in den frühen 1970er Jahren auf dem Segelflugplatz an.
Da war er schon 72 Jahre alt, ziemlich schmächtig von Statur und ein
überaus liebenswerter Mensch. Nils hatte nach jahrelanger Pause den
Segelflug wieder aufgenommen und befand sich nun in der doppelsitzigen Flugschulung. Nils war als ein Ingenieur der Aerodynamik
tätig gewesen, was, wie wir sehen werden, nicht ohne Einfluss auf
seinen Flugstil, ja sein ganzes Verhalten war. Beruflich hatte er es,
durch welche widrigen Umstände immer, nicht sonderlich weit gebracht. Das erstaunte mich umso mehr, nachdem mir einige seiner
wissenschaftlich hochwertigen Facharbeiten zu Gesicht gekommen
waren. Er war anspruchslos und lebte sehr bescheiden. Er kam immer mit einem Fahrrad zum Flugplatz, trug immer den gleichen verschlissenen Sakko und vom Frühjahr bis Herbst Sandalen, man
musste fast annehmen, auch im Winter, wo ich ihn nie zu sehen bekam. An seinem Fahrrad hatte er „geniale“ technische Verbesserungen vorgenommen, z. B. eine Bruststütze, um die Arme zu entlasten.
Das er zeitweilig auch einen Spiegel so angebracht haben sollte, dass
er in Rennfahrerstellung nicht den Kopf so weit in den Nacken drehen musste und nach unten blickend den Verkehr nach vorne überblicken konnte, war wohl schon deshalb nur eine Kolportage, weil er ja
dann alles vor sich auf dem Kopf stehend gesehen haben müsste.
Aber es wurde Nils zugetraut.
Sein sehnlichster Wunsch war es damals, noch einmal alleine fliegen
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zu können, nachdem er schon früher, nach Wiederzulassung des Segelfluges in Deutschland ab 1955 auf dem alten Göttinger Flugplatz
geflogen war. Damals waren das zwangsläufig Alleinflüge, denn der
junge Flugverein verfügte zunächst nur über ein Exemplar des sagenumwobenen Schulgleiters SG38, noch aus der Vorkriegszeit stammend, von dem es insgesamt 5000 Stück gegeben haben soll. 2 Auf
dem schmalen Sitzbrett saß man ganz im Freien, nur den Steuerknüppel und die Seitenruderpedale vor sich, wenigstens angeschnallt.
Es gab also keinen mitfliegenden Fluglehrer und die Flugschulung
ging so los, dass man erst noch im Stand im Wind die Flügel mit dem
Querruder waagerecht halten musste, dann gab es erste Rutscher über
den Boden am Windenseil, dann erste mehr oder weniger lange Flüge ganz dicht über dem Boden. Das Ziel waren Hochstarts am Windenseil. Über Nils' ersten Hochstart wurde folgendes berichtet. Der
Fluglehrer gab ihm noch einmal letzte und genaue Anweisungen zum
Flugverlauf. Zunächst, wenn die Winde anzieht, solle das Höhenruder leicht gedrückt gehalten werden, um ein zu frühes Aufbäumen
des Fluggerätes zu verhindern. Im Steigflug werde dann der Knüppel
kräftig nach hinten gezogen. Das Flugzeug steigt wie ein Drache.
Kurz vor dem Ausklinken des Seils würde nach vorne gedrückt, um
das Flugzeug in die normale Fluglage zu bringen. Nach dem Abgleiten der Höhe müsse die Maschine dicht über dem Boden abgefangen
werden. Dazu müsse der Knüppel wieder nach hinten gezogen werden, nicht so weit, wie im Steigflug. Nils hörte sich diesen Ablauf
genau an, griff in die Seitentasche seines Sakkos (es ist zu hoffen,
dass es ein Vorläufer des Exemplars war, welches ich später kennenlernte), holte ein Stück Kreide hervor und malte sich vier Striche auf
das linke Hosenbein, den vier angesagten Flugphasen entsprechend.
Der folgende Flug soll dann eine Bahn aus vier ruckartig aneinandergefügten gradlinigen Phasen genommen haben, sehr zur Erheiterung
der am Boden Gebliebenen. Nur dem Fluglehrer haben wohl die
Haare zu Berge gestanden. Aber der Flug wurde glücklich beendet.
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Georg Brütting, „Die berühmtesten Segelflugzeuge“, 3. Aufl., Stuttgart
1973, S. 43
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Nicht ganz so perfekt verlief dann ein späterer Flug, bei dem Nils
sich im Landeanflug seitlich versetzt vorfand und geradeswegs auf
den den Flugplatz begrenzenden Zaun zuflog. Man sah schon einer
Katastrophe entgegen, aber der Flieger setzte mit seiner schmalen
Kufe genau auf den Draht zwischen zwei Zaunpfählen auf, wurde
von selbigem nach oben und zum Glück auch seitwärts zum Landefeld hin zurückgefedert, so dass Nils noch eine einwandfreie Landung gelang. Sein Eintrag unter Bemerkungen in dem Flugbuch,
welches jeder Pilot führen muss, lautete: „Haarscharf am Tode vorbei“, der Eintrag eines Stoikers.
Wir Fluglehrer in Settmarshausen hätten Nils liebend gerne seinen
sehnlichsten Wunsch nach einem Alleinflug erfüllt. Es gab aber gewisse Hemmnisse. Einerseits war der Platz relativ schmal und zudem
im Westen der Start- oder Landerichtung durch einen Hochwald begrenzt. Auch bei nicht zu starkem Ostwind musste mit Rückenwind
gelandet werden, was also auch eine höhere Geschwindigkeit über
Grund zur Folge hatte. Man durfte sich also nicht vertun und zu weit
kommen. Zum zweiten flog Nils, als Ingenieur, exakt nach einer Art
festem Programm, von dem er nicht abwich, wenn er es einmal eingeübt hatte, allerdings nun nicht mehr nach aufgemalten Kreidestrichen. Das führte dazu, dass er sich im Landeanflug regelmäßig stark
verkrampfte. Lustig anzusehen war dabei für den hinter ihm sitzenden Fluglehrer, dass sich in seinem Nacken auch drei starke Hautwülste bildeten. Weniger lustig war allerdings, dass er dabei durch
seine Anspannung die Ruder blockierte, wovon ich als damals junger
Fluglehrer beim ersten Start mit Nils sehr überrascht wurde. Nur
durch Aufbietung starker Kräfte gelang es mir, den Flug unter Kontrolle zu halten. Ermunternde und als Auflockerung gedachte Zurufe
halfen nichts. Trotzdem war ich geneigt, Nils endlich seinen ersten
Freiflug machen zu lassen. Er hatte bereits zwei einwandfreie Platzrunden geflogen, präzise wie ein Uhrwerk. Doch beim dritten Flug
hatte wohl etwas Seitenwind eingesetzt, wodurch das einprogrammierte Flugschema leicht seitlich verschoben wurde und Nils sich,
wieder einmal, im direkten Anflug auf die Platzbegrenzung wieder-
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fand, was ihn aber keinesfalls irritierte. Er hatte ja alles genau so gemacht, wie bei den vorangegangenen Flügen. Zureden half auch hier
nichts, so dass leider wieder der Fluglehrer den Flug beenden musste. Man ahnt es wohl schon, Nils hat den Alleinflug nie wieder geschafft und die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen wohl schlussendlich auch akzeptiert. Er kam jedenfalls immer seltener zum Flugplatz und flog auch nicht mehr. Man hörte wenig später, dass er mit
einem Moped zu einer Reise ins Land seiner norwegischen Vorfahren
aufgebrochen sei. Dazu war sein ganzes Reisegepäck in einem riesigen Rucksack verstaut, der so gestaltet war, dass er auf dem schmalen Gepäckträger aufsaß, so dass er auf der unendlich langen Reise
wenigstens nicht an seinen schmalen Schultern zerrte. Er soll auch
wohlbehalten von der Reise zurückgekehrt sein. Wir haben ihn dann
aus den Augen, nicht aber aus einer bleibenden Erinnerung verloren.
Eine fast unendliche Geschichte
Die folgende Geschichte spielte sich auch auf dem Segelfluggelände
Settmarshausen bei Göttingen ab, welches schon seit 1975 nicht
mehr existiert. Letzteres lag an der Kurzsichtigkeit des Vereins, die
Pacht nicht frühzeitig auch langfristig vertraglich zu gesichert zu haben. Dieser Segelflugplatz lag auf einem Höhenrücken, war etwa
1000 m lang, hatte eine Grasbahn in Ost-West-Richtung, die am
Westende vor einem Hochwald endete. Das bedeutete, dass die Landungen auch bei Ostwind in Richtung West, also mit Rückenwind
erfolgten, es sei denn bei sehr starker Osttendenz, bei der jeder, der
dies Manöver beherrschte, rasant über den Hochwald hineingeslipt
kam, also im sogenannten Seitengleitflug, damit das Flugzeug nicht
so weit zurückgeholt werden musste.
Die Flugzeughalle lag etwa in Platzmitte auf einem seitlichen Grundstück. Sie war von den Vereinsmitgliedern selbst errichtet worden
und es glich einem Wunder, dass bei der Errichtung niemand zu
Schaden kam, denn bei Kälte, Regen und Schnee liefen wir ohne Absicherung auf den schmalen Eisenträgern herum, um die Dachplatten
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aufzubringen, jedenfalls diejenigen von uns, die schwindelfrei und
mutig genug waren. Denn nicht jeder Segelfliege ist schwindelfrei –
und nicht jeder Segelflieger ist mutig (oder leichtsinnig?). Damit sich
ein Schwindelgefühl, auch Höhenangst genannt, überhaupt einstellen
kann, muss man bekanntlich an einer senkrechten Struktur hinunter
sehen. Im Flugzeug wird man nicht schwindelig.
Nun hatten wir damals den Norbert in unserem Verein, der mittleren
Alters war und ein Pelzgeschäft in der Stadt führte. Eines Tages
überraschte uns Norbert zusammen mit Fritz, der damals noch Flugschüler war, damit, dass beide sich eine „Weihe“ gekauft hätten. Das
war wohl 1968. Nach Georg Brütting: “Die berühmtesten Segelflugzeuge“ galt dieses 1938 entwickelte Leistungssegelflugzeug für zwei
Jahrzehnte als „das beste Seriensegelflugzeug der Welt“. Es wurden
über 300 Stück davon gebaut. Die Weihe war ein freitragender
Schulterdecker in Holzbauweise mit 18 m Spannweite. Der Rumpf
bestand aus einer sperrholzverkleideten Röhre und das Cockpit war
mit einer aerodynamisch geformten, bei der Weihe 50 auch schon einer geblasenen Haube verkleidet. Vom 22. bis 24. September 1943
flog Ernst Jachtmann an der Steilküste bei Brüsterort im Samland
nordwestlich von Königsberg/Ostpreußen einen Dauer-Weltrekord
von 55 Stunden und 51 Minuten mir einer Weihe. Dieser Rekord
wurde erst im April 1954 von Dauvint und Causton im Doppelsitzer
übertroffen, die am Hang der Alpilles bei St. Remy de Provence 57h
10 min flogen. Dauvint stürzte dann im Dezember 1954 bei eine weiteren Weltrekordversuch dieser Art alleinfliegend, wohl wegen Übermüdung, tödlich ab. Seitdem wurden keine Dauerweltrekorde mehr
offiziell geführt. Als ich 1972 das erste Mal zum Aérodrôme de Romanin, dem Segelflugplatz von St. Rémy-en-Provence, etwa 20 km
südlich von Avignon, fuhr und auch Jahre später, waren noch die verrosteten Scheinwerferanlagen zu sehen, mit denen man die Bergkette
für die Dauerflüge nachts beleuchtet hatte. In die Weihe von Jachtmann war in der Rumpfspitze ein Scheinwerfer eingebaut worden.
Mit der Weihe wurde auch von Per Axel Persson 1947 über Örebro
ein neuer Höhenflugweltrekord im Segelflug von 8050m erflogen
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und Persson siegte auch bei der ersten Nachkriegsweltmeisterschaft
1948 in Samedan/Schweiz mit einer Weihe. Viele andere Erfolge
wurden mit ihr erflogen, so auch noch 1955 über der Teck ein Höhenweltrekord von 9665 m. Brütting schreibt: „Nach der Wiederzulassung des Segelfluges in Deutschland blieb sie noch für Jahre der
Wunschtraum aller Leistungsflieger“.
Auch Ende der 1960er Jahre also kein schlechter Kauf, sollte man
meinen. Norbert und Fritz ließen in Ihrem Besitzerstolz auch jeden,
der interessiert war, auf der Weihe einen Probeflug machen. Auch ich
ergriff die Gelegenheit und war von den Flugeigenschaften begeistert, zumal das Flugzeug wegen seiner hervorragenden aerodynamischen Auslegung schon nahezu so geräuscharm flog, wie schon die
neuen Glasfaserkunststoffflugzeuge. Erst wenig später stellte sich
heraus, dass das ein etwas riskantes Unternehmen war, denn alsbald
erwies sich das Flugzeug als sehr reparaturbedürftig. Das stellte sich
nach einer Beschädigung heraus und das kam so:
Nachdem Norbert und einige weitere Vereinsmitglieder mit der Weihe geflogen waren und sämtlich voll des Lobes waren, wollte natürlich auch der Miteigentümer Fritz sein Flugzeug ausprobieren. Fritz
hatte aber gerade erst die C-Prüfung geflogen, also noch nicht die
Fluglizenz erworben, und allgemein hielt man es für gewagt, ihn
schon auf sein Flugzeug zu lassen. Die Weihe hatte nämlich zwei
konstruktive Besonderheiten. Zum einen wurde sie zum Transport
auf dem Boden und für die Anfangsphase des Starts auf ein abwerfbares Fahrwerk gestellt, welches unter dem Rumpf eingeklinkt wurde. Es musste beim Start kurz nach dem Abheben ausgeklinkt und
damit abgeworfen werden, was aber nicht in zu geringer Höhe, sagen
wir nicht unter zwei Meter über dem Boden geschehen durfte, weil
es wegen der beiden luftgefüllten Gummiräder vom Boden hochsprang und dabei das Flugzeug hätte beschädigen können. Zum anderen benötigte die Weihe nicht nur ein sogenanntes Vorseil, welches
dem eigentlichen Windenstartseil vorgeschaltet war, sondern zwei,
deren Enden gleichzeitig in zwei entsprechende Seilkupplungen
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rechts und links des Rumpfes eingeklinkt werden mussten. Beide
Vorseile wurden dann bei erreichen der Ausklinkhöhe gleichzeitig
durch eine gemeinsame Ausklinkvorrichtung ausgeklinkt. Als Erschwernis kam hinzu, dass die Weihe durch das untergesetzte Fahrwerk am Start sehr steil angestellt war und in der allerersten Startphase deutlich angedrückt werden musste, um schnell in eine normale Fluglage zu kommen und der Gefahr des Aufbäumens zu entgehen.
Für einen Flugschüler mit der „C“ als Ausbildungsstand waren diese
Besonderheiten, die die Weihe deutlich von den gängigen Schulflugzeugen unterschied, als eben sehr anspruchsvoll einzustufen. Da Fritz
aber so bettelte und quängelte, seine Weihe fliegen zu dürfen, und
sich bis dahin als talentierter und sicherer Pilot erwiesen hatte, wurde
ihm der Flug schließlich gestattet. Die zustimmenden Fluglehrer waren in diesem Fall einmal ungewohnt wagemutig. Man sollte nicht
unterstellen, dass der Gedanke eine Rolle gespielt haben könnte, dass
es sich ja schließlich nicht um ein Vereinsflugzeug handelte. Man
war nicht zynisch, vielleicht damals auch nur im Sinne des alten
Rhöngeistes noch etwas lockerer. Fritz stieg also in seine Weihe, es
wurden ihm noch einmal die Besonderheiten des Flugzeuges eindringlich aufgezählt, insbesondere, dass er zu Anfang deutlich andrücken müsse, und dann nahm das Schicksal seinen eigentlich voraussehbaren Verlauf.
Als die Weihe sich am Windenseil in Bewegung setzte, drückte Fritz
das Höhenruder so stark nach vorne, dass die Flugzeugnase zunächst
etwa 50 Meter durch die Grasnarbe pflügte und das Flugzeug nicht
vom Boden abheben konnte. Dann hatte Fritz den Fehler bemerkt
und hob durch eine nun erstaunlich dosierte Steuerbetätigung vom
Boden ab. Nun passierte kurz hintereinander Folgendes. Zunächst
sah man, dass sich das linke Vorseil vom Flugzeug löste. Fritz hatte
offenbar das Fahrwerk abwerfen wollen, dabei aber die Ausklinkvorrichtungen von Fahrwerk und Windenseil verwechselt. Noch während er schon an dem Seilausklinkknopf zog, muss er seinen Irrtum
Ende der Leseprobe von:
Plötzlich war die Karte zu Ende - Geschichten am Rande des Fliegens
Ulf Rosenow
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