Der totale Rausch 2016-1-209 Ohler, Norman: Der - H-Soz-Kult

N. Ohler: Der totale Rausch
Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im
Dritten Reich. Köln: Kiepenheuer & Witsch
2015. ISBN: 978-3-462-04733-2; 363 S.
Rezensiert von: Anne Gnausch, Institut für
Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Der Schriftsteller und Journalist Norman Ohler widmet sich in seinem neuen Buch gleich
zwei populären Themen: Drogen und Nationalsozialismus. Es ist daher nicht verwunderlich, dass seine Publikation in den Medien bereits eingehend rezipiert wurde. Auf der Webseite des Verlages Kiepenheuer & Witsch werden 18 Rezensionen zitiert.1 Ohlers 360 Seiten
starkes Buch gliedert sich in insgesamt vier
Kapitel. Das Vorwort ist einer Packungsbeilage nachempfunden. Dies mag man nun als
„originell“ (literaturkritik.de) oder als „unnötige[n] Gag“ (Der Freitag) empfinden, es
unterstreicht jedenfalls den populärwissenschaftlichen Charakter des Buches.2 Der erste Teil der Studie trägt den Titel „Volksdroge Methamphetamin“. Darin zeichnet Ohler
knapp und übersichtlich die Geschichte der
Drogen in Deutschland vom Beginn des 19.
Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik nach und umreißt die nationalsozialistische Drogenpolitik. Auch er greift das in der
Literatur zur Weimarer Republik häufig zu
findende Klischee, dass der Drogenkonsum
in den 1920er-Jahren etwas Alltägliches gewesen sei, auf: „Die junge Republik badete in
bewusstseinsverändernden und rauscherzeugenden Substanzen [...]“ (S. 27), „[a]lles wirbelte in einem toxikologischen Taumel durcheinander“ (S. 28) und „an den Straßenecken
gab es sämtliche Drogen rezeptfrei“ (S. 29).3
Dabei ist dieses Bild eines allumfassenden
Drogenkonsums in der Weimarer Republik
durch die neuere Forschung längst revidiert
worden.4 In vielen Teilen seiner Studie bezieht sich Ohler jedoch nicht auf die aktuelle
geschichtswissenschaftliche Forschung, sondern auf die 2002 erschienene Anthologie
„Nazis On Speed. Drogen im Dritten Reich“
des Verlegers Werner Pieper, die über keinen Anmerkungsapparat verfügt und von der
Fachwissenschaft nur wenig beachtet worden
ist.5
„Sieg High – Blitzkrieg ist Metamphetamin-
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krieg“ lautet die Überschrift des zweiten Kapitels. Solcherlei Wortspiele zeugen von wenig Seriosität dem Thema gegenüber und veranschaulichen, wie der Autor sich seinem
Untersuchungsgegenstand nähert. Dass Ohler eigentlich Schriftsteller ist, merkt man hier
ganz deutlich, manchmal gehen die Formulierungen und Metaphern mit ihm durch. So
heißt etwa ein Unterkapitel im zweiten Teil
„Vom Graubrot zum Hirnfood“ (S. 71), die
deutschen Panzer- und Motorradfaher im Polenfeldzug nennt Ohler „[t]eutonische Easy
Rider“ (S. 80) und bezüglich der Wirkung
des Arzneimittels Pervitin spricht er von einem „chemische[n] Sturmangriff im Großhirn“ (S. 100). „Geschichtsschreibung ist niemals nur Wissenschaft, sondern immer auch
Fiktion“, schreibt Ohler am Beginn des Buches (S. 13). Bei der Lektüre seiner Studie
kann man sich jedoch des Eindrucks nicht
erwehren, dass bei Ohler selbst die Fiktion
im Vordergrund steht. Immer wieder finden
sich im Buch romanhafte Passagen ohne jegliche Anmerkungen und eigentliche Relevanz,
wie etwa jene, die den Morphiumkonsum von
Hermann Göring beschreibt: „Es dauerte nur
wenige Sekunden, bis das Morphin in seinem Blut wirkte und die übergroße Rubinbrosche an seiner Brust so großartig schillerte,
wie sie für den Reichsmarschall zu schillern
hatte. Görings Augen blickten jetzt groß und
1 <http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-totale-rausch
/978-3-462-04733-2/> (13.01.2016).
2 <http://www.literaturkritik.de/public
/rezension.php?rez_id=21226> und <https://www.
freitag.de/autoren/der-freitag/voll-druff>
(13.01.2016).
3 Drogen sind ein beliebtes Thema in Erzählungen und
journalistischen Darstellungen zur Weimarer Republik. So beispielsweise in Volker Kutschers Kriminalroman „Der nasse Fisch“, der im Berlin des Jahres
1929 spielt. Vgl. ders., Der nasse Fisch, Köln 2008,
S. 121, 126 und S. 207. Siehe außerdem Stephan Wiehler, Kokain in Berlin (Teil 5): Schnee für Germania,
in: Tagesspiegel, 02.11.2000, S. 17; Cay Rademacher,
Der Schnee der Zwanziger, in: Geo special Berlin
1/1999, S. 134–142, sowie Johannes Strempel, Berlin bei
Nacht. Morgen früh ist Weltuntergang, in: Geo Epoche
08/2007, S. 44–53.
4 Vgl. hierzu etwa Annika Hoffmann, Drogenkonsum
und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2012.
5 Werner Pieper (Hrsg.), Nazis On Speed. Drogen im
Dritten Reich, 2. Bde., Löhrbach 2002.
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glänzend, die Pupillen dagegen winzig klein,
was seinem Blick etwas Stechendes verlieh.“
(S. 113f.)
Im zweiten Abschnitt des Buches geht es
Ohler um die Fragen, ob es bei der deutschen
Wehrmacht zu einem Massenmissbrauch von
Pervitin kam und „Hunderttausende oder gar
Millionen deutscher Soldaten bei ihren Eroberungsfeldzügen unter dem Einfluss von Methamphetamin“ standen und dieses „sogar
Einfluss auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs“ gehabt habe (S. 67). Er beschreibt
in diesem Kapitel anschaulich die PervitinVersuche an jungen Soldaten der Militärärztlichen Akademie unter Prof. Dr. Otto Ranke,
dem Leiter des neu gegründeten Instituts für
Allgemeine und Wehrphysiologie. Das Methamphetamin Pervitin war Ende 1937 von
der Berliner Pharmafirma Temmler auf den
Markt gebracht worden. Es fand Verwendung
im Polen- und Frankreichfeldzug, Sanitätsoffiziere der Wehrmacht gaben die Substanz an
die Soldaten ab. Zwischen April und Juli 1940
wurden mehr als 35 Millionen Pervitin-Pillen
an das Heer und die Luftwaffe ausgeliefert,
wie der Medizinhistoriker Peter Steinkamp
bereits 2006 feststellte.6 Eine kriegsentscheidende Wirkung, wie von Ohler unterstellt,
hatte die Substanz jedoch nicht. Dies ist Konsens in der historischen Forschung (wie die
Historiker Arnd Bauerkämper und Winfried
Süß in einer anderen Rezension bestätigen).7
Das dritte Kapitel mit dem ebenfalls plakativen Titel „High Hitler – Patient A und
sein Leibarzt“ umfasst über 100 Seiten und
bildet das Kernstück des Buches. In diesem
beschäftigt sich Ohler mit dem Medikamentenkonsum Adolf Hitlers und dessen Verhältnis zu seinem Leibarzt Theodor Morell und
geht dabei folgenden Fragen nach: „Was hat
der Diktator also wirklich genommen? Und
kommt dem eine Bedeutung zu oder nicht?
Lassen sich historische Ereignisse und Entwicklungen mit pharmakologischen Darreichungen verknüpfen?“ (S. 146) Von August
1941 bis April 1945 behandelte Morell Hitler nahezu täglich. Von 885 dieser 1349 Tage
gibt es Aufzeichnungen, die Ohler ausgewertet hat. Er zählt über achtzig Substanzen auf,
die Hitler von seinem Arzt gespritzt bekam,
darunter Kokain, Pervitin und das Opiod Eukodal.
Neu ist das alles nicht. Es ist schon viel
über die Patientengeschichte Adolf Hitlers geschrieben worden und bereits 1983 legte der
britische Historiker und heutige Holocaustleugner David Irving eine entsprechende Studie vor.8 Dieses Buch ignoriert Ohler völlig, es
taucht auch nicht in seinem Literaturverzeichnis auf. Was Ohlers Studie von der Irvings
unterscheidet, ist die These, dass das häufig
auftauchende „X“ in Morells Aufzeichnungen für Eukodal stehe. Zwischen dem zweiten
Quartal 1943 und Ende 1944 verzeichnete der
Arzt 24 Eukodal-Applikationen auf Hitlers
Patientenblatt. Ohler mutmaßt jedoch, dass
Hitler das Mittel weitaus öfter verabreicht bekam, „um nach außen hin überzeugend zu
wirken und die alte Magie, die er früher natürlicherweise ausgestrahlt hatte, wenigstens
noch künstlich heraufzubeschwören“ (S. 193).
Angesichts der Tatsache, dass der Diktator
zwischen dem 23. und 29. September 1944
in einer hohen Intensität, nämlich gleich vier
Mal, Eukodal gespritzt bekam und sein Arzt
dies offen notierte, ist es unwahrscheinlich,
dass Morell Hitlers Eukodalkonsum vertuschen wollte. Es scheint, als habe Ohler Angst
vor seiner eigenen Courage bekommen, wenn
er am Ende des Kapitels – nach seitenlangen
Beschreibungen der Wirkungen der Drogen
auf Hitler – zu dem Schluss kommt: „Die Ziele und Motive, die ideologische Wahnwelt, all
das war also nicht Resultat der Drogen, sondern bereits viel früher festgelegt. Auch mordete Hitler nicht aufgrund seiner Umnebelung, im Gegenteil, er blieb zurechnungsfähig
bis zum Schluss.“ (S. 246f.)
Im vierten Teil des Buches „Späte Exzesse – Blut und Drogen“ beschreibt der Autor
anschaulich den Drogenkonsum in der Marine während der letzten Kriegsmonate, die
letzten Tage im Führerbunker und auch Mo6 Peter Steinkamp, Pervitin (methamphetamine) test, use
and misuse in the German Wehrmacht, in: Wolfgang
Eckart (Hrsg.), Man, Medicine and the State: The Human Body as an Object of Government Sponsored
Medical Research in the 20th Century, Stuttgart 2006,
S. 61–71.
7 <http://www.bild.de/politik/inland/adolf-hitler
/buch-der-totale-rausch-war-hitler-ein-junkie42762568.bild.html> (13.01.2016).
8 David Irving, Die geheimen Tagebücher des Dr. Morell. Leibarzt Adolf Hitlers, München 1983. Vgl. außerdem Ernst Günther Schenk, Patient Hitler. Eine medizinische Biographie, Düsseldorf 1989.
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N. Ohler: Der totale Rausch
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rells Entlassung durch Hitler. Er stellt in diesem Kapitel die seltsame These auf, dass der
Diktator weniger wegen des verlorenen Weltkriegs als vielmehr aufgrund der körperlichen
Qualen des Drogenentzugs Suizid begangen
habe (S. 291). Sätze wie „[...] weil für einen
goldenen Schuss kein Eukodal mehr griffbereit lag, wählte er Blei.“ und „Deutschland,
Land der Drogen, der Weltflucht und des
Weltschmerzes, suchte den Superjunkie. Und
fand ihn in seiner dunkelsten Stunde in Adolf
Hitler.“ (S. 296) verdeutlichen noch einmal die
Unwissenschaftlichkeit des Buches. Am Ende
schlägt Ohler einen sehr relativierenden Ton
an: Drogen seien im „Dritten Reich“ als künstliches Mobilisierungspotential genutzt worden, man müsse aber betonen, „dass dieses
dunkelste Kapitel unserer Geschichte nicht etwa deshalb derart entgleiste, weil zu viele
Suchtmittel eingenommen wurden“ (S. 301).
Fraglich bleibt indes, warum diese Erkenntnis nicht auch ihren Niederschlag im Titel des
Buches gefunden hat. Dieser wirkt, angesichts
der historischen Tatsachen, übertrieben und
sensationsheischend.
Norman Ohlers Buch behandelt anschaulich und verständlich einen Aspekt der Medizingeschichte des „Dritten Reiches“. Dabei
setzt der Autor jedoch zu sehr auf Sensation
und vermittelt dem Leser so ein falsches Bild
über die Bedeutung der Drogen im Nationalsozialismus. Die klar gegliederten und kurzen
Unterkapitel erleichtern die Lektüre, 47 Abbildungen illustrieren das Buch. Für die Fachwissenschaft bietet die Untersuchung keine
neuen Erkenntnisse.9 Aber Ohler ist eben,
wie er selbst etwas ironisierend am Ende des
Buches mittels eines Goethe Zitats feststellt,
„kein Mann vom Fache“ (S. 303).
HistLit 2016-1-209 / Anne Gnausch über
Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen
im Dritten Reich. Köln 2015, in: H-Soz-Kult
25.03.2016.
9 Vgl.
etwa Peter Steinkamp, Pervitin und Kalte
Ente, Russenschnaps und Morphium. Zur Devianzproblematik in der Wehrmacht: Alkohol- und
Rauschmittelmissbrauch bei der Truppe, Dissertation Universität Freiburg 2008, verfügbar unter:
<http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5681
/pdf/SteinkampDiss.pdf> (18.01.2016), sowie Tilmann Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik aus dem
Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von
1933 bis 1972, Norderstedt 2007.
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