N. Ohler: Der totale Rausch Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015. ISBN: 978-3-462-04733-2; 363 S. Rezensiert von: Anne Gnausch, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin Der Schriftsteller und Journalist Norman Ohler widmet sich in seinem neuen Buch gleich zwei populären Themen: Drogen und Nationalsozialismus. Es ist daher nicht verwunderlich, dass seine Publikation in den Medien bereits eingehend rezipiert wurde. Auf der Webseite des Verlages Kiepenheuer & Witsch werden 18 Rezensionen zitiert.1 Ohlers 360 Seiten starkes Buch gliedert sich in insgesamt vier Kapitel. Das Vorwort ist einer Packungsbeilage nachempfunden. Dies mag man nun als „originell“ (literaturkritik.de) oder als „unnötige[n] Gag“ (Der Freitag) empfinden, es unterstreicht jedenfalls den populärwissenschaftlichen Charakter des Buches.2 Der erste Teil der Studie trägt den Titel „Volksdroge Methamphetamin“. Darin zeichnet Ohler knapp und übersichtlich die Geschichte der Drogen in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik nach und umreißt die nationalsozialistische Drogenpolitik. Auch er greift das in der Literatur zur Weimarer Republik häufig zu findende Klischee, dass der Drogenkonsum in den 1920er-Jahren etwas Alltägliches gewesen sei, auf: „Die junge Republik badete in bewusstseinsverändernden und rauscherzeugenden Substanzen [...]“ (S. 27), „[a]lles wirbelte in einem toxikologischen Taumel durcheinander“ (S. 28) und „an den Straßenecken gab es sämtliche Drogen rezeptfrei“ (S. 29).3 Dabei ist dieses Bild eines allumfassenden Drogenkonsums in der Weimarer Republik durch die neuere Forschung längst revidiert worden.4 In vielen Teilen seiner Studie bezieht sich Ohler jedoch nicht auf die aktuelle geschichtswissenschaftliche Forschung, sondern auf die 2002 erschienene Anthologie „Nazis On Speed. Drogen im Dritten Reich“ des Verlegers Werner Pieper, die über keinen Anmerkungsapparat verfügt und von der Fachwissenschaft nur wenig beachtet worden ist.5 „Sieg High – Blitzkrieg ist Metamphetamin- 2016-1-209 krieg“ lautet die Überschrift des zweiten Kapitels. Solcherlei Wortspiele zeugen von wenig Seriosität dem Thema gegenüber und veranschaulichen, wie der Autor sich seinem Untersuchungsgegenstand nähert. Dass Ohler eigentlich Schriftsteller ist, merkt man hier ganz deutlich, manchmal gehen die Formulierungen und Metaphern mit ihm durch. So heißt etwa ein Unterkapitel im zweiten Teil „Vom Graubrot zum Hirnfood“ (S. 71), die deutschen Panzer- und Motorradfaher im Polenfeldzug nennt Ohler „[t]eutonische Easy Rider“ (S. 80) und bezüglich der Wirkung des Arzneimittels Pervitin spricht er von einem „chemische[n] Sturmangriff im Großhirn“ (S. 100). „Geschichtsschreibung ist niemals nur Wissenschaft, sondern immer auch Fiktion“, schreibt Ohler am Beginn des Buches (S. 13). Bei der Lektüre seiner Studie kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass bei Ohler selbst die Fiktion im Vordergrund steht. Immer wieder finden sich im Buch romanhafte Passagen ohne jegliche Anmerkungen und eigentliche Relevanz, wie etwa jene, die den Morphiumkonsum von Hermann Göring beschreibt: „Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Morphin in seinem Blut wirkte und die übergroße Rubinbrosche an seiner Brust so großartig schillerte, wie sie für den Reichsmarschall zu schillern hatte. Görings Augen blickten jetzt groß und 1 <http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-totale-rausch /978-3-462-04733-2/> (13.01.2016). 2 <http://www.literaturkritik.de/public /rezension.php?rez_id=21226> und <https://www. freitag.de/autoren/der-freitag/voll-druff> (13.01.2016). 3 Drogen sind ein beliebtes Thema in Erzählungen und journalistischen Darstellungen zur Weimarer Republik. So beispielsweise in Volker Kutschers Kriminalroman „Der nasse Fisch“, der im Berlin des Jahres 1929 spielt. Vgl. ders., Der nasse Fisch, Köln 2008, S. 121, 126 und S. 207. Siehe außerdem Stephan Wiehler, Kokain in Berlin (Teil 5): Schnee für Germania, in: Tagesspiegel, 02.11.2000, S. 17; Cay Rademacher, Der Schnee der Zwanziger, in: Geo special Berlin 1/1999, S. 134–142, sowie Johannes Strempel, Berlin bei Nacht. Morgen früh ist Weltuntergang, in: Geo Epoche 08/2007, S. 44–53. 4 Vgl. hierzu etwa Annika Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle. Zur Etablierung eines sozialen Problems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2012. 5 Werner Pieper (Hrsg.), Nazis On Speed. Drogen im Dritten Reich, 2. Bde., Löhrbach 2002. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. glänzend, die Pupillen dagegen winzig klein, was seinem Blick etwas Stechendes verlieh.“ (S. 113f.) Im zweiten Abschnitt des Buches geht es Ohler um die Fragen, ob es bei der deutschen Wehrmacht zu einem Massenmissbrauch von Pervitin kam und „Hunderttausende oder gar Millionen deutscher Soldaten bei ihren Eroberungsfeldzügen unter dem Einfluss von Methamphetamin“ standen und dieses „sogar Einfluss auf den Verlauf des Zweiten Weltkriegs“ gehabt habe (S. 67). Er beschreibt in diesem Kapitel anschaulich die PervitinVersuche an jungen Soldaten der Militärärztlichen Akademie unter Prof. Dr. Otto Ranke, dem Leiter des neu gegründeten Instituts für Allgemeine und Wehrphysiologie. Das Methamphetamin Pervitin war Ende 1937 von der Berliner Pharmafirma Temmler auf den Markt gebracht worden. Es fand Verwendung im Polen- und Frankreichfeldzug, Sanitätsoffiziere der Wehrmacht gaben die Substanz an die Soldaten ab. Zwischen April und Juli 1940 wurden mehr als 35 Millionen Pervitin-Pillen an das Heer und die Luftwaffe ausgeliefert, wie der Medizinhistoriker Peter Steinkamp bereits 2006 feststellte.6 Eine kriegsentscheidende Wirkung, wie von Ohler unterstellt, hatte die Substanz jedoch nicht. Dies ist Konsens in der historischen Forschung (wie die Historiker Arnd Bauerkämper und Winfried Süß in einer anderen Rezension bestätigen).7 Das dritte Kapitel mit dem ebenfalls plakativen Titel „High Hitler – Patient A und sein Leibarzt“ umfasst über 100 Seiten und bildet das Kernstück des Buches. In diesem beschäftigt sich Ohler mit dem Medikamentenkonsum Adolf Hitlers und dessen Verhältnis zu seinem Leibarzt Theodor Morell und geht dabei folgenden Fragen nach: „Was hat der Diktator also wirklich genommen? Und kommt dem eine Bedeutung zu oder nicht? Lassen sich historische Ereignisse und Entwicklungen mit pharmakologischen Darreichungen verknüpfen?“ (S. 146) Von August 1941 bis April 1945 behandelte Morell Hitler nahezu täglich. Von 885 dieser 1349 Tage gibt es Aufzeichnungen, die Ohler ausgewertet hat. Er zählt über achtzig Substanzen auf, die Hitler von seinem Arzt gespritzt bekam, darunter Kokain, Pervitin und das Opiod Eukodal. Neu ist das alles nicht. Es ist schon viel über die Patientengeschichte Adolf Hitlers geschrieben worden und bereits 1983 legte der britische Historiker und heutige Holocaustleugner David Irving eine entsprechende Studie vor.8 Dieses Buch ignoriert Ohler völlig, es taucht auch nicht in seinem Literaturverzeichnis auf. Was Ohlers Studie von der Irvings unterscheidet, ist die These, dass das häufig auftauchende „X“ in Morells Aufzeichnungen für Eukodal stehe. Zwischen dem zweiten Quartal 1943 und Ende 1944 verzeichnete der Arzt 24 Eukodal-Applikationen auf Hitlers Patientenblatt. Ohler mutmaßt jedoch, dass Hitler das Mittel weitaus öfter verabreicht bekam, „um nach außen hin überzeugend zu wirken und die alte Magie, die er früher natürlicherweise ausgestrahlt hatte, wenigstens noch künstlich heraufzubeschwören“ (S. 193). Angesichts der Tatsache, dass der Diktator zwischen dem 23. und 29. September 1944 in einer hohen Intensität, nämlich gleich vier Mal, Eukodal gespritzt bekam und sein Arzt dies offen notierte, ist es unwahrscheinlich, dass Morell Hitlers Eukodalkonsum vertuschen wollte. Es scheint, als habe Ohler Angst vor seiner eigenen Courage bekommen, wenn er am Ende des Kapitels – nach seitenlangen Beschreibungen der Wirkungen der Drogen auf Hitler – zu dem Schluss kommt: „Die Ziele und Motive, die ideologische Wahnwelt, all das war also nicht Resultat der Drogen, sondern bereits viel früher festgelegt. Auch mordete Hitler nicht aufgrund seiner Umnebelung, im Gegenteil, er blieb zurechnungsfähig bis zum Schluss.“ (S. 246f.) Im vierten Teil des Buches „Späte Exzesse – Blut und Drogen“ beschreibt der Autor anschaulich den Drogenkonsum in der Marine während der letzten Kriegsmonate, die letzten Tage im Führerbunker und auch Mo6 Peter Steinkamp, Pervitin (methamphetamine) test, use and misuse in the German Wehrmacht, in: Wolfgang Eckart (Hrsg.), Man, Medicine and the State: The Human Body as an Object of Government Sponsored Medical Research in the 20th Century, Stuttgart 2006, S. 61–71. 7 <http://www.bild.de/politik/inland/adolf-hitler /buch-der-totale-rausch-war-hitler-ein-junkie42762568.bild.html> (13.01.2016). 8 David Irving, Die geheimen Tagebücher des Dr. Morell. Leibarzt Adolf Hitlers, München 1983. Vgl. außerdem Ernst Günther Schenk, Patient Hitler. Eine medizinische Biographie, Düsseldorf 1989. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. N. Ohler: Der totale Rausch 2016-1-209 rells Entlassung durch Hitler. Er stellt in diesem Kapitel die seltsame These auf, dass der Diktator weniger wegen des verlorenen Weltkriegs als vielmehr aufgrund der körperlichen Qualen des Drogenentzugs Suizid begangen habe (S. 291). Sätze wie „[...] weil für einen goldenen Schuss kein Eukodal mehr griffbereit lag, wählte er Blei.“ und „Deutschland, Land der Drogen, der Weltflucht und des Weltschmerzes, suchte den Superjunkie. Und fand ihn in seiner dunkelsten Stunde in Adolf Hitler.“ (S. 296) verdeutlichen noch einmal die Unwissenschaftlichkeit des Buches. Am Ende schlägt Ohler einen sehr relativierenden Ton an: Drogen seien im „Dritten Reich“ als künstliches Mobilisierungspotential genutzt worden, man müsse aber betonen, „dass dieses dunkelste Kapitel unserer Geschichte nicht etwa deshalb derart entgleiste, weil zu viele Suchtmittel eingenommen wurden“ (S. 301). Fraglich bleibt indes, warum diese Erkenntnis nicht auch ihren Niederschlag im Titel des Buches gefunden hat. Dieser wirkt, angesichts der historischen Tatsachen, übertrieben und sensationsheischend. Norman Ohlers Buch behandelt anschaulich und verständlich einen Aspekt der Medizingeschichte des „Dritten Reiches“. Dabei setzt der Autor jedoch zu sehr auf Sensation und vermittelt dem Leser so ein falsches Bild über die Bedeutung der Drogen im Nationalsozialismus. Die klar gegliederten und kurzen Unterkapitel erleichtern die Lektüre, 47 Abbildungen illustrieren das Buch. Für die Fachwissenschaft bietet die Untersuchung keine neuen Erkenntnisse.9 Aber Ohler ist eben, wie er selbst etwas ironisierend am Ende des Buches mittels eines Goethe Zitats feststellt, „kein Mann vom Fache“ (S. 303). HistLit 2016-1-209 / Anne Gnausch über Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln 2015, in: H-Soz-Kult 25.03.2016. 9 Vgl. etwa Peter Steinkamp, Pervitin und Kalte Ente, Russenschnaps und Morphium. Zur Devianzproblematik in der Wehrmacht: Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch bei der Truppe, Dissertation Universität Freiburg 2008, verfügbar unter: <http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5681 /pdf/SteinkampDiss.pdf> (18.01.2016), sowie Tilmann Holzer, Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene. Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, Norderstedt 2007. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
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