Friede den Zelten, Krieg den

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Kultur
Goldene Palme für
«Das weisse Band»
Der österreichische Filmemacher Michael Haneke ist beim Filmfest in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt worden. Die Jury kürte Haneke mit seinem in Deutschland gedrehten Film
«Das weisse Band» gestern Abend zum Gewinner des Wettbewerbs.
Der 67-jährige Österreicher sagte, er sei
«sehr glücklich» über die Auszeichnung. In
dem einzigen deutschen Film, der zusammen
mit 19 anderen Beiträgen im Wettbewerb gewesen war, spielen unter anderem Ulrich Tukur,
Susanne Lothar und Burghart Klaussner mit;
der Schwarz-Weiss-Film spielt am Vorabend
des Ersten Weltkrieges in Norddeutschland.
Den Vorsitz der Jury in Cannes hatte die französische Schauspielerin Isabelle Huppert, die
2001 in «Die Klavierspielerin» mit Haneke gedreht hatte. Der Filmemacher bekam im Laufe
seiner Karriere etliche Preise verliehen, unter
anderem für die beste Regie für «Caché» vor
vier Jahren.
Er war im diesjährigen Wettbewerb unter anderen gegen US-Kultregisseur Quentin Tarantino und den taiwanischen Oscar-Preisträger
Ang Lee angetreten. Im deutschen Kino war
von Haneke zuletzt «Funny Games U.S.» zu sehen.
(sda)
KONZERTKRITIK
88 Männer in Concert
D
er Chor viril Lumnezia lud am Samstagabend zu seinem aktuellen Jahreskonzert in die Mehrzweckhalle Vella.
Wenn vielerorts die Tendenz zu überalterten und vor der Auflösung stehenden Chören
beklagt wird, dann ist der Männerchor aus
dem Lugnez unbedingt als Gegenbeispiel zu
nennen. Zwar ist auch da der Anteil an jungen (was heisst das konkret?) Stimmen
scheinbar nicht hochprozentig, doch mit gegen 90 Sängern nur schwerlich zu erreichen.
Und diese Gesamtzahl bestätigt die Konstanz, welche diesen Chor seit Jahren prägt.
Dennoch gibt es wesentliche Entwicklungen
zu konstatieren. Zum einen in der Stimmqualität: Die Spanne der beiden Eckpunkte im
dynamischen Bereich erscheint zunehmend
grösser, die Homogenität der numerisch fast
auf den einzelnen Mann austarierten Stimmen in sich ausgewogener. Zum anderen in
der Programmgestaltung: Clau Scherrer als
künstlerischer Leiter versteht es ausgezeichnet, aus der Fülle der Partituren genau jene
auf sein Notenpult zu stellen, welche seinem
Chor adäquat entsprechen; das führt dann
weder zu einer Unter- noch einer Überforderung seiner Sänger. Scherrers Blick für die
Möglichkeiten von Laien ist weder von Unerfüllbarem noch von eigener Selbstdarstellung verstellt. Diese Haltung ist möglicherweise auch einer der Schlüssel für den anhaltenden Erfolg seines Männerchors.
In dieselbe Betrachtung gehört die Tatsache, dass die siebenköpfige Klarinettengruppe aus der Musica sonora Vella (Leitung:
Norbert Capeder) als Gastformation zum
Jahreskonzert eingeladen wurde: So werden
die musikalischen Kräfte eines Tals gebündelt und ihnen Podien zur Präsentation geboten. Und wenn dies alles auf einem recht hohen Level des Laienmusizierens geschieht,
dann sind regelrechte Beifallsstürme und
Bravorufe – wie am Samstagabend geschehen – nichts anderes als der berechtigte Ausruf: Wir sind begeistert, ihr habt es sehr gut
gemacht! Da kann man nur einstimmen.
Christian Albrecht
Montag, 25. Mai 2009
Theater
Friede den Zelten,
Krieg den Reihenhäusern
Das Jugendensemble
Basta! des Theaters
Chur zeigte am Samstag
sein erstes Stück:
«Leonce und Lena» nach
Georg Büchner. Das
war schon mal ganz gut.
Von Julian Reich
Nein, campieren unter freiem
Himmel wäre Leonce wohl nicht
in den Sinn gekommen, als er auszog gen Italien, seinen getreuen
Kompagnon Valerio an seiner Seite. Auszog nach Italien, um der arrangierten Ehe mit einer gewissen
Prinzessin Lena aus dem Reiche
Pipi zu entfliehen. Diese wiederum hatte just dasselbe im Sinn.
Und so traf man sich im Garten eines Wirtshauses, wo sich die beiden wider besseren Wissens verliebten und zu heiraten beschlossen. So steht es bei Georg Büchner.
Campieren? Eher nein. Nicht
Leonce, der Abkömmling jener
von Popo, ein Taugenichts von einem Prinzen, ein Müssiggänger
sondergleichen. Nun lässt er aber
doch sein Zelt aufspannen von seinen Freunden Valerio und Chris –
man ahnt es und der letzte Name
sagts: Es ist nicht Büchners Leonce, der hier agiert, es ist jener Leonce des Ensembles Basta!, einer
elfköpfigen Gruppe rund um das
Maturandenalter, das seit Beginn
des Jahres Büchners Stück in die
heutige Zeit zu übersetzen versucht. Am Samstag war dies zum
ersten Mal auf der Theaterbühne
zu sehen.
Märchenhafte Satire
Wäre Georg Büchner (1813–
1837) nicht ein solch tragisches
Schicksal zuteil geworden, «Leonce und Lena» (verfasst 1836, uraufgeführt 1895 ) käme heute wohl
nicht viel mehr als die Bedeutung
einer Fingerübung bei. Es ist eine
sich an die Märchenform anschmiegende Satire auf den Adelsstand und die durch Fürstentümer
fragmentierte deutsche Politlandschaft. Nun ist aber neben «Dantons Tod» (1835), «Lenz» (1835)
Das Jugendensemble Basta! tobt sich auf der Bühne aus.
und «Woyzeck» (1837) – der Typhus ist schuld – nicht viel mehr
auf uns gekommen vom Mediziner, Früh-Sozialisten und Aufwiegler Büchner («Friede den Hütten, Krieg den Palästen», sein Aufruf an die hessische Landbevölkerung, wird auch heute noch gern
skandiert). Jung gestorben, umschwebt die Person Büchners der
Nimbus des zu früh verblühten Genies.
Schon damit wäre genug Projektionsfläche geboten, um Jugendliche von Büchners Werk zu faszinieren. Nun legt aber Büchner just
dem Leonce jene Worte in den
Mund, in denen sich an einer Wegscheide befindende junge Menschen wiederfinden: «Mein Herr,
was wollen Sie von mir? Mich auf
meinen Beruf vorbereiten?» Neun
Schauspielende sitzen auf einem
Sofa und rezitieren mal im Chor,
mal im Wechsel, jene erste Szene,
in der sich Leonce als auf Steine
spuckender und Sand in die Luft
werfender Nichtsnutz vorstellt. Er,
der so alt ist unter seinen blonden
Locken, wie Lena später bemerkt,
ist des langen Lebensweges, der
ihm bevorsteht, jetzt schon überdrüssig. Stattdessen wird getanzt,
gefeiert, getrunken, geschwommen und gesünnelet. Und: campiert am Meeresufer.
Latente Todessehnsucht
Geschickt übersetzten die Basta!-Mitglieder unter der Leitung
des Theaterpädagogen Roman
Weishaupt die Handlung in ihre eigene Lebenswelt. Die Aktualisierung macht hingegen dort Halt, wo
das Stück ohnehin am stärksten ist:
an Büchners Worten. Zwar wird
viel Text gestrichen, Personen erfunden und andere vergessen,
doch wo gesprochen wird, dort in
schönstem Büchner-Deutsch. Nur
Valerio (Sandro Lötscher) spricht
Mundart, und Lena (Gianna Könz)
manchmal Romanisch. Was Sinn
macht, stammt sie doch aus einem
fernen Land, Pipi eben. Mit Felix
Kammer als Leonce ist ihr ein
ebenbürtiger Partner zur Seite gestellt, der nicht nur jungenhaft viel
(Foto Theo Gstöhl)
Charme spielen lässt, sondern
auch Leonces latente Todessehnsucht glaubhaft macht.
Engagiert ist das Spiel der ganzen Truppe, mit viel Energie tobt
sie sich auf der Bühne (Chris Hunter und Stefan Casotti) aus und
zeigt überraschend wenig Scheu,
sich zu exponieren. Katharina Balzer sticht durch die Intonation von
Eddie Vedders «Long Nights» aus
dem Aussteigerfilm «Into the
Wild» – passend zur Grundhaltung
der Basta!-Adaption – hervor
(Musik: Anselm Caminada). Nur
eines kam wohl in der langen Probenzeit zu kurz: Nicht immer authentisch scheint es, wenn Büchners Verse rezitiert werden, oft ist
der Geist wohl mehr damit beschäftigt, die richtigen Worte zu
treffen, als den Einklang mit dem
Körperspiel zu finden. Auch hinsichtlich der Sprechtechnik ist
noch Luft nach oben. Aber das
kann ja noch werden.
Weitere Vorstellungen: Morgen Dienstag, 26.
Mai, 14 und 20 Uhr, 27. und 28. Mai, jeweils
um 20 Uhr. www.theaterchur.ch, 0812526644.
Literaturtage
Attentat auf die deutsche Bundeskanzlerin
Mit der Lesung von Fritz
H. Dinkelmann aus
seinem Polit-Thriller «Die
Kanzlerin» sind gestern
die 31. Solothurner Literaturtage zu Ende
gegangen. Trotz strahlendem Wetter besuchten
10 500 Leute die etwa
70 Veranstaltungen.
Von Irene Widmer
Attentat in der Säntisbahn sind die
Haupt-Ingredienzien des im August erscheinenden, 600-seitigen
Schmökers.
Der Autor bedient sich zwar bei
realen Politikern, denunziert aber
niemanden, wie er sagt. Im Gegenteil habe er in dem von Juristen geprüften Werk Angela Merkel sogar
aufgewertet und ihr mehr «Sprachmacht» verliehen. Aus der wortkargen Frau ist so ein echtes Plaudertäschchen geworden, wie die
Lesung zeigte.
Etwa 2000 weitere Literaturfans
und Passanten folgten ausserdem
den 40 «Querbeet»-Lesungen auf
dem Klosterplatz. Zu den 92 Autoren, die auftraten, kamen fast 150
Schreibende, um zuzuhören. Die
Schlusslesung des Deutschlandkorrespondenten Dinkelmann bot
eine der spannendsten Entdeckungen: Die deutsche Bundeskanzlerin, ein Gipfeltreffen mit Bundesrat, Internet-Anarchisten und ein
Fleissiger «Stargast» Hohler
Ein weiterer Höhepunkt war am
Samstag die «Doppellesung» Johann Peter Hebel/Franz Hohler,
bei der der noch lebende Autor
auch seinen längst verstorbenen
Partner spielte. Indem Hohler seine eigenen heiteren Geschichten
jenen von Hebel gegenüberstellte,
belegte er, dass sich die Menschheit in den vergangenen 200 Jahren nicht nennenswert fortentwi-
ckelt hat. Hohler war einer der
meistbeschäftigten Autoren an den
Literaturtagen, absolvierte er doch
auch noch zwei Auftritte im Rahmen des Kinder- und Jugendprogramms sowie je einen im Dunkelzelt und bei der Gratis-OpenairReihe «Querbeet».
Etwa 300 Passanten und Festivalbesucher lauschten ihm auf
dem Klosterplatz. Ähnlich viele
zog wohl nur noch der Langenthaler Spoken-Word-Autor Pedro
Lenz mit seiner urkomischen Rezitation aus dem Band «Plötzlech
hets di am Füdle» an.
Hart, aber herzlich
Am Samstagnachmittag vermochte die deutsche Bachmannpreis-Trägerin Sibylle Lewitscharoff – wie zuvor Hohler – den
grossen Landhaussaal zu füllen,
sonst eine Seltenheit um diese
Zeit. Ihre expressive Lesung aus
dem preisgekrönten Roman
«Apostoloff» gefiel, obwohl der
harsche Ton, mit dem darin eine
Stuttgarterin Bulgarien abkanzelte, manche irritierte.
Ähnlich Unverblümtes war tags
zuvor von der Schweizer Autorin
Andrea Gerster zu vernehmen –
hier über Altersdemenz. In «Dazwischen Lili» muss eine Frau ihre demenzkranke Schwiegermutter betreuen, während der holde
Gatte seine Freizeit der Geliebten
widmet. Kein Wunder, entwischen
ihr gelegentlich sarkastische Seitenhiebe gegen die Kranke, die das
ja gleich wieder vergisst.
West-Ost
Sibylle Lewitscharoff war nicht
die Einzige in Solothurn, die Ostund Westeuropa aufeinander treffen liess. Auch in Roman Grafs
demnächst erscheinendem DebütRoman «Herr Blanc» reist der
Held in den Osten – hier nach Polen – um etwas abzuholen, was ihm
eine verstorbene Jugendliebe vermacht hat.