Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? GRUNDLAGEN DER IDENTITÄTSTHEORIE UND -THERAPIE Attnang-Puchheim, 22. September 2015 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 1 Fragen Wer bin Ich? Wer bin Ich gerne? Wer bin Ich nicht gerne? Wer war Ich? Wer möchte Ich in Zukunft sein? Welches Wir ist für mich lebensnotwendig? Welches Wir ist für mich erfreulich? Welches Wir möchte Ich in Zukunft erreichen? 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 2 Gliederung Grundbegriffe Ich-Konzepte: Freud, Berne, Rogers, Peichl, Buber, Gehirnforschung Entwicklung von Ich und Ich-Bewusstsein Ich und Symbiose- und Autonomiebedürfnisse Identität und Identifikation Identität, Identifikation und Trauma Grundzüge der Identitätstherapie 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 3 Grundbegriffe Ich Selbst(bewusstsein,-wert) Selbst- und Fremdbild Ego (-zustände) Persönlichkeit 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT Subjektivität Individualität Identität Identifikation Wir 4 Das Ich-Konzept von Sigmund Freud (1856-1939) Das Ich ist eingeklemmt zwischen Es und Über-Ich-Anforderungen. Das Ich kann Triebimpulse unterdrücken, sie in der Phantasie befriedigen („Sublimation“) oder sie abwehren („Angst-Abwehrmechanismen“). Das Ich sucht nach einer Harmonie zwischen Triebimpulsen und moralischen Geboten. Das Ich vertritt das Realitätsprinzip. Therapieziel: „Wo Es ist, soll Ich werden.“ 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 5 Die Transaktionsanalyse (Eric Berne 1910-1970) • • • • • • • • • Jeder Mensch verfügt prinzipiell über drei Ich-Strukturen (Eltern-, Erwachsenen-, Kind-Ich) Es werden 6 Haltungen postuliert: Fürsorgliches und kritisches Eltern-Ich, reifes Erwachsenen-Ich, freies, angepasstes und rebellisches Kind-Ich Komplementäre Transaktionen fördern die Kommunikation Überkreuz-Transaktionen verursachen Kommunikationsund Beziehungsstörungen Therapieziel: „Ich bin ok, du bist ok!“ https://www.youtube.com/watch?v=2Wp4yuiP_hc 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 6 Das Selbstkonzept von Carl Rogers (1902-1987) Selbstaktualisierung: Fähigkeit des Organismus, sich selbst zu erhalten und weiterzuentwickeln Selbstverwirklichung: Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach konstruktiver Veränderung Selbstkonzept: Gesamtheit der eigenen Sichtweisen sowie der Fremdwertungen Inkongruenz: Erfahrungen, die mit dem Selbstbild nicht zu vereinbaren sind Wiedererlangen eines authentischen Selbst durch eine akzeptierende Beziehung https://www.youtube.com/watch?v=o0neRQzudzw 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 7 Das Ich und die Gehirnforschung: „Ich gibt es nicht!“ „Zu den etwas seltsamen Vorgängen in der Hirnforschung gehört, dass manche Neurowissenschaftler zwar das Ich bestreiten, aber gleichzeitig untersuchen, wie es entsteht. Nicht selten ist das Ich der Lieblingsfeind im Labor, den man allerdings erstmal voraussetzen muss, um ihn zu bekämpfen. … Die alte Vorstellung, dass der Mensch von einem Supervisor namens Ich geistig zusammengehalten wird, ist nicht widerlegt. Dieses Ich ist eine komplizierte Sache, es lässt sich mitunter in verschiedene Ichs zerlegen, aber es ist gleichwohl so etwas wie eine gefühlte Realität, die sich naturwissenschaftlich nicht einfach erledigen lässt. Reicht denn nicht schon die Beobachtung aus, dass wir uns als ein Ich fühlen, um festzustellen, dass es ein Ich gibt?“ (Precht 2007, S. 71 f.) https://www.youtube.com/watch?v=yrH6utB46Ak 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 8 Das Ich und die Gehirnforschung: der präfrontale Cortex als Sitz des Ichs „Da die Selbstkontrolle ein vom Präfrontalen Cortex organisierter Prozess ist, liegt es nahe, dass hier auch die Vorstellung vom eigenen Ich und das innere Abbild von einem Du verankert sein müssen. Die Annahme, eine solche innere Vorstellung sei bereits bei der Geburt eines Menschen von Natur aus irgendwie gegeben, ist ein Irrtum. Die Vorstellung, der menschliche Säugling beginne sein Leben bereits mit einer bereits vorhandenen egoistischen Instanz namens Ich, zu der irgendwann die Vorstellung von einem Du hinzukommt, ist sowohl aus psychologischer wie neurobiologischer Sicht falsch. Die Entstehung eines gefühlten Ich oder Selbst einerseits und die Entwicklung der inneren Vorstellung von einem Du andrerseits muss im Gehirn des Säuglings noch passieren, wobei beide Prozess von Anfang an aufs Engste miteinander gekoppelt sind.“ (Bauer 2015, S. 48 f.) 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 9 Ego-States (Watkins, Peichl) „… die menschliche Persönlichkeit im Allgemeinen ist aus verschiedenen Ich-Zuständen, Rollen, Teilpersönlichkeiten oder Ego-States zusammengesetzt.“ (Peichl 2007, S. 47) Ich-Zustände als einzigartige Muster von Beziehungen eines Menschen mit seiner Umwelt Ego-States entstehen durch normale Differenzierung, Introjektion von „important others“ und als Reaktion auf ein Trauma •Der Kontrolleur •Innerer Antreiber •Innerer Kritiker •Innerer Verfolger •Beschützer-Anteile 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 10 Entwicklung von Ich-Sein Bereits vorgeburtlich gibt es das ungeborene Kind als einzigartiges Subjekt mit seiner Psyche. Das Kind ist in seinem Körper da und entwickelt sich in seinem subjektiven Tempo. Es ist ein Individuum (etwas nicht Aufgeteiltes), solange es nicht traumatisiert wird. Durch das eigene Handeln lernt das Kind, dass „Ich“ etwas bewirken kann. Zum Ich-Sein kommt Schritt für Schritt, unterstützt durch die Gehirnreifung, ein Ich-Bewusstsein hinzu. 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 11 Entwicklung von Ich-Bewusstsein Das kindliche „Ich“ entwickelt sich am „Du“ seiner Mutter. Zur Ich-Bildung ist die Abgrenzung vom Du der Mutter von essentieller Bedeutung. Wenn das „Du“/die Mutter selbst unklar in ihrem Ich ist, kann es zu Abgrenzungsproblemen und Identitätsstörungen beim Kind kommen. Bei einer gesunden Entwicklung verfügt ein Kind mit ca. zwei Jahren bereits über ein ausgeprägtes Selbst-Konzept. Mit vier Jahren können persönliche Pronomen (mich, mir, mein …) sprachlich richtig gebraucht werden. 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 12 Symbiotische Bedürfnisse genährt werden gewärmt werden Körperkontakt haben gehalten werden gesehen werden verstanden werden unterstützt werden zusammen gehören willkommen sein 21.09.2015 fördern die Anpassung an das Du 13 Autonomiebedürfnisse Selbst wahrnehmen, fühlen, denken Eigenständig sein In sich selbst Halt finden Etwas selbst machen Unabhängig sein Frei sein Selbst entscheiden ... fördern die Abgrenzung vom Du 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 14 Identität Ich Sein im eigenen Körper in Beziehungen Kind Sein Freund Sein Partner Sein als Mann oder als Frau Mutter Sein, Vater Sein, Onkel Sein, Tante Sein, Großmutter Sein … Ich Sein und über besondere Neigungen und Fähigkeiten verfügen (Sportler, Musiker, Maler, Dichter, Schauspieler … Sein) 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 15 Identifikation Weil kein Mensch alleine überlebensfähig ist, ist die Ich-Entwicklung immer mit der Entwicklung eines Wir verknüpft. Das erste Wir ist „Ich und meine Mutter“. Weitere Wir: „Ich und mein Vater“, „Ich und mein(e) Bruder/Schwester“, „Ich und meine Familie“, „Ich und meine Freunde“, „Ich und meine Kollegen“, „Ich und mein Mann/meine Frau.“ „Ich und meine Kinder.“, „Ich und mein Land“ … Die Angebote zum Wir kommen zunächst von außen. Sie werden vom Kind zunächst fraglos angenommen. Sie werden dem Kind ohne seine Zustimmung zugeschrieben (z.B. Nationalität, Religion). Erst später im Leben können Wir-Angebote auch frei gewählt werden. 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 16 Selbst gewählte Identifikationen Selbst gewählte Staatsbürgerschaft Selbst gewählte Religion Freiwillige Vereinsmitgliedschaft Selbst gewählte Anhängerschaft (Sport, Geschmack …) … 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 17 Auferlegte Identifikationen „Braves“, „böses“, „unschuldiges“, „ungewolltes“, „mein“ Kind Angehöriger einer Nation (Deutscher, Türke, Russe …) Flüchtling, Migrant http://www.zeit.de/campus/2007/04/doktorarbeiten-typisch-deutsch Christ, Moslem, Jude … http://www.focus.de/wissen/mensch/deutsch/stereotype_aid_21930.html Reaktionär, Staatsfeind, Terrorist psychisch krank, schizophren, depressiv, „Borderline“ 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 18 Aufgezwungene Identifikationen Dienen der Vereinnahmung wie der Ausgrenzung Führen zu Überbewertungen und Abwertungen Bedienen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit Heizen die Konkurrenz an Machen Druck und rufen Rollenerwartungen hervor (du musst, du sollst, du darfst nicht …) Schaffen Feindbilder 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 19 Ersatz-Identitäten: Ich bin Wir Identifikation z.B. mit dem Sportverein aus der Heimat, die Region, in der man lebt, die Firma, in der man arbeitet Identifikation z.B. mit Stars aus dem Sport, der Film- und Musikindustrie Identifikation mit selbsterdachte Personen oder „Gott“ Frage: Unterstützen und fördern oder behindern und verunmöglichen solche Identifikationen die eigene IdentitätsEntwicklung? 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 20 Was macht ein Psychotrauma mit unserer Identität? 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 21 Je extremer das Psychotrauma, desto dringender ist die Notwendigkeit … Sich selbst zu verleugnen (z.B. „Ich bin nicht geschlagen/sexuell missbraucht worden“!) Sich selbst umzudefinieren (z.B. „Mir hat das nichts ausgemacht!“) Das Ich vom eigenen Körper zu lösen (z.B. „Mein Körper ist krank!“ „Mein Körper ist schon gestorben!“) Zu versuchen, das eigene Ich aufzulösen (z.B. durch Drogenkonsum oder in die Verwirrung gehen) 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 22 Je extremer das Psychotrauma, desto dringender ist die Notwendigkeit … Sich mit dem Ich eines Täters zu identifizieren (z.B. mit dem gewalttätigen Vater oder der traumatisierten Mutter) Sich durch Identifikation eine Ersatz-Identität zu erschaffen (z.B. eine Berufsrolle) Sich an eine andere Identität anzuklammern (z.B. an einen Partner, an ein eigenes Kind) Sich in und hinter einem „Wir“ zu verstecken (Beziehung, Familie, Firma, Nation, “System“) 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 23 Spaltung der Identität eines Menschen nach einer Traumaerfahrung Traumatisiertes Ich Überlebens-Ich Gesundes Ich 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 24 Merkmale eines gesunden Ichs Ist präsent, aber nicht dominant Ist vorausschauend, kann flexibel reagieren Behält alle anderen Anteile im Blick Bleibt beim Auftauchen von Überlebensanteilen und angesichts traumatisierter Anteile ruhig Übernimmt Verantwortung für den gesamten Organismus Bleibt realistisch Hat einen freien Willen zu seiner Verfügung 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 25 Das Überlebens-Ich macht … … aus einem Individuum eine gespaltene Teilperson, die das als ihre Normalität erlebt … aus Menschen Objekte, die das als ihre Identität annehmen … aus Männern und Frauen funktionierende Maschinen ohne Ich-Bezug 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 26 Wahre Identität ist die Summe all meiner bewussten wie unbewussten Lebenserfahrungen. Dazu gehören meine schönen Erlebnisse ebenso wie meine Traumata. Nichts davon kann weggelassen werden, ohne mich selbst zu verleugnen und nicht mehr ich selbst zu sein. 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 27 Identitätstherapie Förderung der unterbrochenen Identitätsentwicklung Auflösung verstrickender Identifikationen Bewusstmachung eigener Traumatisierungen Bewusstmachung der eigenen Überlebensstrategien Stärkung der gesunden Ich-Merkmale Möglich machen, dass gesundes Ich und traumatisierte Anteile sich begegnen, ohne dass es wieder zur Spaltung kommt 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 28 Zentrale Methode der Identitätstherapie Erforschung meines Anliegens Wort für Wort mit Hilfe von Resonanzpunkten im Außen (andere Menschen oder Objekte) 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 29 Literatur Bauer, J. (2015). Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München: Blessing Verlag. Berne, E. (1976). Spiele der Erwachsenen. Hamburg: Rowohlt Verlag. Hollweg, W. H. (2014). Von der Wahrheit, die frei macht. Heidelberg: Mattes Verlag. Peichl, J. (2007). Innere Kinder, Täter, Helfer & Co. Ego-State-Therapie des traumatisierten Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Precht, R. D. (2007). Wer bin ich und wenn ja, wie viele. Eine philosophische Reise. München: Goldmann Verlag. Rogers, C. (1988). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett Cotta Verlag. Ruppert, F. (2010). Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. Ruppert, F. (2012). Trauma, Angst und Liebe. München: Kösel Verlag. Ruppert, F. (Hg.) (2014). Frühes Trauma. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 30 Einladung • 3. Internationale Tagung „Wer bin Ich und was will Ich? • 21.-23. Oktober 2016 in München • Grundlagen der Identitätstheorie und -therapie • www.gesunde-autonomie.de 21.09.2015 © PROF. DR. FRANZ RUPPERT 31
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