Neuromuskuläre Erkrankungen: ein update

Neuromuskuläre Erkrankungen: ein update
Wolfgang Müller-Felber
Insbesondere die Fortschritte in der Molekulargenetik haben in den letzten Jahren zu einer dramatischen Änderung des
diagnostischen Vorgehens geführt. In ersten Ansätzen zeichnet sich bereits ab, dass möglicherweise in Zukunft auch
neue therapeutische Ansätze zur Verfügung stehen werden.
Unabhängig von diesen technischen Fortschritten ist allerdings nach wie vor ein systematisches Vorgehen notwendig,
um im Einzelfall mit einem möglichst geringen Aufwand zu einer korrekten diagnostischen Einordnung zu kommen.
Als erster Schritt sollte überlegt werden, ob überhaupt eine neuromuskuläre Erkrankung vorliegt oder ob die Symptome
Ausdruck einer Erkrankung des zentralen Nervensystems oder des Bindegewebes bzw. Skelettsystems sind. Insbesondere im Säuglingsalter kann diese Unterscheidung erhebliche Probleme mit sich bringen, bisweilen erlaubt erst eine
längerfristige Verlaufskontrolle der Kinder eine korrekte Zuordnung. Rein zahlenmäßig sind zentralnervöse Störungen
oder Systemerkrankungen deutlich häufiger als neuromuskuläre Probleme.
Hat man sich zur Annahme einer neuromuskulären Erkrankung entschlossen, erlauben klinische Kriterien zusammen
mit der Bestimmung des CK-Werts und derSonographie der Muskulatur häufig eine orientierende Zuordnung. Ganz
wesentlicher Parameter ist insbesondere jenseits der Säuglingsperiode der CK-Wert.Ein beständig deutlich erhöhter CKWert bei einem Kind mit einer Muskelschwäche spricht, falls eine Myositis klinisch unwahrscheinlich ist, in erster Linie
für eine Muskeldystrophie. Umgekehrt macht eine normale CK eine Dystrophie recht unwahrscheinlich (mit wenigen
Ausnahmen). Handelt es sich um einen Knaben, geht die Diagnostik jetzt direkt hin zur molekulargenetischen Untersuchung im Dystrophingen.handelt es sich um ein Mädchen bietet sich angesichts der Vielzahl dann in Betracht kommender unterschiedlicher Gene das next generation sequencing an. Bei einer Muskelschwäche ohne CK-Erhöhung hingegen
sollte in erster Linie entweder an die Möglichkeit einer neurogenen Erkrankung (zum Beispiel spinale Muskelatrophie)
oder einer kongenitalen Myopathie mit Strukturbesonderheiten gedacht werden. Hier erlaubt die Sonographie der Muskulatur oft schon das Festlegen der weiteren Richtung, es folgen dann entweder ein gezielter Gentest zur Frage einer
spinalen Muskelatrophie oder auch hier eine breit gefächerte Diagnostik mit den neuen genetischen Verfahren. Wichtig
für die Praxis ist, dass bei subakutem Auftreten einer Muskelschwäche immer eine erworbene Erkrankung (am häufigsten eine Myositis) in Betracht gezogen werden muss, da dies mit ganz erheblichen therapeutischen Konsequenzen verbunden ist.
Stand früher die Muskelbiopsie ganz im Vordergrund der definitiven Diagnostik, hat sie heute in der Primärdiagnostik
ihren Stellenwert im Wesentlichen nur noch bei entzündlichen oder metabolischen Myopathien. Bei zweifelhaften
genetischen Befunden kann sie allerdings zur weiteren Einordnung beitragen.
In der Therapie neuromuskulärer Erkrankungen steht heute eine sehr umfangreiche symptomatische Behandlung ganz
im Vordergrund. Dies hat insgesamt zu einer deutlichen Besserung der Prognose auch bei den schweren Formen wie der
Muskeldystrophie Duchenne geführt. Insbesondere das Sekretmanagement, die Beatmung und die konsequente Behandlung der Skoliose sind für das längere Überleben verantwortlich.
Noch unklar ist, in welchem Maß die neuen, in der Erprobung befindlichen Therapien bei Duchenne Muskeldystrophie,
und spinaler Muskelatrophie eine wesentliche Änderung der Prognose mit sich bringen. Es ist allerdings zu hoffen, dass
in absehbarer Zeit hier deutliche Fortschritte zu erwarten sind.
Der zunehmende Einsatz invasiver Therapiemöglichkeiten bringt allerdings auch neue ethische Herausforderungen mit
sich. Es bleibt eine schwierige Aufgabe gemeinsam mit der Familie Ziele und Grenzen der symptomatischen Therapie
abzustecken, welche nur in einem gut funktionierenden Team zu lösen ist.
Oster-Seminar-Kongress in Brixen, 29.3. - 4.4.2015 – Vortrag Prof. Dr. Wolfgang Müller-Felber am 2.4.2015