Traditionelle Autoritäten

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NAMIBIA
Traditionelle Autoritäten
RELIKTE DER VERGANGENHEIT ODER BESTANDTEIL ALTERNATIVER MODERNE? NAMIBIA ALS BEISPIEL
Traditionelle Autoritäten, „chiefs“, Könige, Königinnen, „headmen/women“, oder
was immer die Titulierung sein mag, sind
Bezeichnungen für Repräsentanten afrikanischer Realität. Sie verkörperten Autorität,
bevor die Kolonialmächte sich Afrika aneigneten. Heute verweisen Repräsentanten traditioneller Autorität immer wieder darauf,
dass sie Strukturen repräsentieren, die den
Kolonialismus überlebt haben und von den
nachkolonialen politischen Ordnungen in
besonderer Weise zu respektieren seien. Traditionelle Autorität sei afrikanische Autorität, deren Legitimität auf die Ahnen zurückgehe und die damit anders als der moderne
Staat in afrikanischer Geschichte verwurzelt
sei!
Der vergleichende Blick auf die jüngere
politische Geschichte Afrikas zeigt, dass der
nachkoloniale Staat mit traditioneller Autorität unterschiedlich umgeht. Sieht man
von Swasiland ab, dessen König ein König
nach Tradition ist, verfolgen die meisten
afrikanischen Länder Modelle pluraler Autorität, d.h. Modelle, in denen traditioneller
Autorität unter dem Dach des Staates mehr
oder weniger ausgeprägte Eigenständigkeit eingeräumt wird. Eine Abschaffung
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der traditionellen Strukturen war, wo dies,
wie etwa in einem bestimmten Abschnitt
der Geschichte Simbabwes versucht wurde,
bestenfalls insoweit erfolgreich, als mit der
politischen Verfügung der Abschaffung die
traditionellen Autoritäten zu inoffiziellen,
also parallelen Strukturen wurden.
Namibia gehört zu den Ländern, die den
Weg einer geregelten Dualität von traditionellen und staatlichen Strukturen eingeschlagen haben. Der namibische Weg weist
eine interessante Gemengelage von Problemen auf, die zu weiteren Fragen nach Ort
und Funktion traditioneller Autorität im
Staat führt.
Traditionelle Gemeinschaft
In Namibia sind zur Zeit 50 traditionelle
Gemeinschaften im Sinne des für traditionelle Autoritäten zuständigen Gesetzes
(Traditional Authorities Act, Nr. 25 von 2000)
anerkannt. Zu diesen gehören Gemeinschaften, die bereits in früher Literatur beschrieben sind, so die Ndonga und Kwanyama im
Norden des Landes, wie auch aus Zentralund Südnamibia die Herero und Nama, die
in der Geschichte des Widerstandes gegen
den deutschen und später den südafrika-
nischen Kolonialismus eine wichtige Rolle
spielten. Zu den aus vorkolonialen und kolonialen Ethnografien und politischen Bestandsaufnahmen bekannten Gruppen sind
neue hinzugetreten: Abspaltungen, wie zum
Beispiel Mbalantu, die zuvor Teil von Kwanyama waren, aber auch neue Gruppen wie
die der San, die zwar auch vor der Unabhängigkeit als eigenständige Gruppierungen
wahrgenommen worden waren, aber in der
politischen Struktur des Landes keine Rolle spielten. Nach langen Bemühungen und
von Nichtregierungsorganisationen unterstützen Verhandlungen sind heute fünf SanGruppen als traditionelle Gemeinschaften
anerkannt, zwei davon im früheren Buschmanland (heute Tsumkwe West und Tsumkwe Ost in der Otjozondjupa-Region), zwei
im Osten des Landes und die Hai-//kom, die
nach ihrer Vertreibung aus dem Etosha-Nationalpark an verschiedenen Orten in Zentralnamibia leben.
Der bereits genannte Traditional Authorities Act wie auch sein Vorgänger aus dem
Jahr 1965 enthalten keine Maßgabe dafür,
was eine traditionelle Gemeinschaft ist und
welche Kriterien eine Gemeinschaft erfüllen
muss, um als solche anerkannt zu werden.
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Die in das Gesetz aufgenommene Definition von traditioneller Gemeinschaft ist für Verfahren um Anerkennung ungeeignet, da diese Definition gemäß der längst überholten kolonialen Ethnografie
eine traditionelle Gruppe als homogene Einheit verstand, die noch
dazu Homogenität durch ein System endogamer Heirat, also Heirat
innerhalb der Gruppe, unterstützte. Der Mangel im Gesetz bedeutet
in der Praxis Rechtsunsicherheit für die Antragsteller. Die politische
Kommentierung von Anerkennungsverfahren führte dazu, dass Entscheidungen der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung als politisch
motiviert kritisiert wurden.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Gesetz eine einheitliche politische Struktur für die traditionelle Gemeinschaft vorsieht.
Jeder traditionellen Gemeinschaft soll ein „chief“ vorstehen, dem
jeweils eine Anzahl von „senior traditional councillors“ und „traditional councillors“ nachgeordnet sind. Dieses politische Modell ist
der Realität nachgebildet, die insbesondere in den traditionellen
Gruppen der Oshiwambo-sprechenden Regionen des zentralen Nordens des Landes, die wie die Ndonga und Kwanyama eine Königsverfassung haben, zu finden ist. Für andere Realitäten hat das Modell
keinen Raum, so etwa für Gruppen, die traditionell keine Könige,
oder präziser ethnologisch formuliert, keine zentralisierte Autorität
kannten oder auch abgeschafft hatten. Die Folge der Modellrigorosität ist entweder Anpassung der jeweiligen politischen Struktur an
das Anerkennungsverfahren, ohne dass der formalen Anpassung Realität folgt, oder tatsächliche Anpassung, wie sie etwa bei den anerkannten San-Gruppen zu beobachten ist, die in ihren Selbstdarstellungen aus jüngerer Zeit von Königen und Königshäusern sprechen.
Rat traditioneller Führer
Die berichteten Probleme aus der Geschichte der Anerkennung
der traditioneller Gemeinschaften spiegeln die politischen Schwierigkeiten im Umgang mit traditioneller Herrschaft wider, die bereits
vor der Unabhängigkeit Namibias die Diskussion bestimmten und
die entsprechend in der Unabhängigkeitsverfassung ihren Niederschlag fanden. Dass das afrikanische Gewohnheitsrecht gesellschaftliche Realität war, war unbestritten, auch wenn man es als
notwendig begriff, dass dieses Recht im Sinne der Werte einer demokratischen Verfassung zu entwickeln war. Traditionelle Herrschaft
dagegen war etwas, was mit Vorsicht zu genießen war: Gab es doch
genügend Beispiele der Kollaboration zwischen den „chiefs“ und der
südafrikanischen Kolonialmacht.
In diesem Sinne findet sich in der Verfassung ein klares Bekenntnis zum Gewohnheitsrecht, aber nur eine indirekte Bezugnahme
auf traditionelle Autorität. Artikel 66 Absatz 1 der Verfassung besagt
in missverständlicher Sprache, dass das Gewohnheitsrecht, wie es
zur Zeit des Inkrafttretens der Verfassung galt, neben dem von der
südafrikanischen Verwaltung eingeführten „common law“ bestehen bleibt, es sei denn, es widerspricht der Verfassung oder einem
anderen Gesetz. Mit dieser Regelung fand die koloniale Sichtweise,
nach der afrikanisches Gewohnheitsrecht Recht zweiter Klasse war,
ein Ende. Wie dieses hat jenes seinen eigenen Wert und ist wie das
Recht im Übrigen änderbar durch entsprechende Gesetze, ansonsten
jedoch nur der Verfassung unterworfen.
Die Verfassung Namibias erreicht traditionelle Autorität nur indirekt. In ihrem Artikel 102 regelt sie den Aufbau der regionalen und
kommunalen Verwaltung. Im fünften Absatz dieses Artikels ist von
einem Rat traditioneller Führer die Rede. Dieser durch ein Gesetz näher zu bestimmende Rat soll nach der Verfassung nur auf bestimmte
Zusammenhänge beschränkte Beratungsfunktion haben. Der Rat
soll den Präsidenten Namibias „bezüglich der Kontrolle und der Nutzung des kommunalen Landes“ und anderer dem Rat übertragener
Angelegenheiten beraten.
Die Regierungspraxis zeigte schnell, dass Politik im ländlichen
Raum Zusammenarbeit mit den traditionellen Führer verlangt.
Eine 1991 eingesetzte präsidiale Kommission ermittelte nach landesweiten Beratungen, dass traditionelle Autorität fest akzeptierter
Bestandteil der namibischen Gesellschaft ist. Nach dem Erlass der
Erstfassung des Traditional Authorities Act im Jahr 1995 folgte der
Council of Traditional Leaders Act im Jahre 1997 (Gesetz Nr. 13 von
1997). Die Regelung der rechtsprechenden Tätigkeit traditioneller
Führer, siehe hierzu den Community Courts Act (Gesetz Nr. 10 von
2003), ist ein eigenes Thema, das aus Platzgründen in diesem Beitrag
nicht behandelt werden kann.
Das jährliche Treffen des Council of Traditional Leaders ist fester
Bestandteil des politischen Lebens in Namibia. Der Council berät
alle Fragen, die die Arbeit der traditionellen Führer betreffen. Überlegungen, den Rat der traditionellen Führer in Haus umzubenennen
und damit den beiden Häusern des Parlaments näher zu bringen,
haben hier ihren Grund, auch wenn sie bisher (auch in den Beratungen zum Gesetz zur Ergänzung der Verfassung im Jahre 2014)
ohne Erfolg blieben.
Traditionelle und staatliche Autorität
Das Projekt der Bestandsaufnahme des Gewohnheitsrechtes der
anerkannten traditionellen Gemeinschaften, das vom Rat Traditioneller Führer initiiert wurde und vom Menschenrechtszentrum der
Universität von Namibia durchgeführt wird, besteht aus Texten, die
von den verschiedenen Gruppen selbst verfasst wurden. Die Sammlung enthält eine Fülle von Beispielen, die Anlass geben, traditionelle
und staatliche Rechtspositionen gegenüber zu stellen. Erklärtes Ziel
des customary law ascertainment-Projektes ist es, im Land eine Auseinandersetzung zum Stand des Gewohnheitsrechtes und seines
Verhältnisses zum staatlichen Recht und dabei insbesondere zum
Verfassungsrecht zu fördern.
Ein Streitfeld ist bis heute das Verhältnis von traditioneller zu
staatlicher Autorität hinsichtlich der natürlichen Ressourcen. Wem
gehören diese; wer bestimmt über ihre Verwendung und profitiert
von den erzielten Erträgen?
Die Mehrzahl der traditionellen Autoritäten betrachtet Land als
eine von den Ahnen oder Gott gegebene Einheit, wonach alles, was
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NAMIBIA
Der Autor, Jura- und Ethnologieprofessor, lehrt an
der Universität Bremen
und Jacobs University
Bremen. Während seines
20-jährigen NamibaAufenthalts stand er über
fünf Jahre als Dekan der
Rechtsfakultät der Universität von Namibia vor.
Einführung zum Thema:
M. O. Hinz, Customary
law in Namibia: Development and perspective.
8. Aufl. Windhoek 2003:
Centre for Applied Social
Sciences.
M. O. Hinz, Hrsg. Customary law ascertained.
Vol.1. Windhoek 2010:
Namibia Wissenschaftliche Gesellschaft; Vol. 2.
Windhoek 2013: UNAM
Press, und Vol. 3. Windhoek 2015: UNAM Press (im
Druck).
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auf und unter dem Land ist, der traditionellen Autorität zur Bewahrung, also nicht zum Verkauf, anvertraut ist. Demgegenüber verfolgt der Staat Politiken,
die auf dem rezipierten Eigentumsbegriff aufbauen.
Das ganzheitliche um Land zentrierte Konzept von
Eigentum, das in erster Linie an Nutzung und Nutzungsrechten und nicht an Verfügbarkeit orientiert
ist, ist dem rezipierten Eigentumsbegriff fremd. Dieser
kennt, was Grund und Boden anbelangt, in erster Linie
Privateigentum, das dem Eigentümer weitgehende
Verfügungsmacht über das Eigentum einräumt und
dieses gleichzeitig auf die fassbare Oberfläche beschränkt, also Wild, unter der Oberfläche befindliche
Bodenschätze aber auch bestimmte Wasserquellen
aus dem Privateigentum ausnimmt.
Im Vorfeld des Communal Land Reform Act (Act
Nr. 5 von 2002), der das Land unter der Zuständigkeit
traditioneller Autoritäten regeln sollte, kam es zur
offenen Auseinandersetzung: Der staatlichen Auffassung entsprach es, dass der Staat Eigentümer des
kommunalen Landes sei. Die traditionellen Autoritäten widersprachen. Als Kompromiss enthält sich
das Gesetz der Äußerung zur Eigentümerschaft und
bestimmt, dass „all communal land areas vest in the
State in trust for the benefit of the traditional communities“ (Section 17 (1)). Gleichzeitig bestätigt das Gesetz: Es ist Sache der traditionellen Autoritäten, über
die Verleihung von Nutzungsrechten hinsichtlich des
kommunalen Landes zu befinden. Land Boards bleibt
es vorbehalten, die Entscheidungen der traditionellen
Autoritäten auf ihre formale Stimmigkeit zu überprüfen und danach zu ratifizieren. Weitere staatliche
Befugnisse bestehen, wenn es um die Nutzung von
kommunalem Land für öffentliche Belange geht oder
gar um die Umwidmung von kommunalem Land als
Land einer neuen oder sich erweiternden Gemeinde.
Ungeachtet dieses um Abwägung von Interessen bemühten Kompromisses versuchen nicht nur staatliche Stellen, mit dem Hinweis darauf, das kommunale
Land gehöre dem Staat, Politik zu machen. Doch Gewohnheitsrechte am kommunalen Land sind Rechte,
in die Eingriffe Entschädigungen beanspruchen lassen. Das ist längst noch nicht begriffen.
Während also im Bereich kommunales Land immerhin ein in der Umsetzung noch schwieriger Kompromiss erzielt werden konnte, gibt es zu Wild, Wasser
und Bodenschätzen nichts Entsprechendes. Dafür entstanden aber entwicklungshemmende Spannungen
wie etwa in den Kavango-Regionen, in denen sich traditionelle Führer aus Namibia und Angola bemühen,
ein grenzübergreifendes Regelwerk zum Schutz des
Flusses und seiner Ressourcen zu entwerfen.
Alternative Modernität
So komplex die Geschichte der traditionellen Gemeinschaften Namibias ist, so komplex ist ihr politisches Bild. In den nördlichen Regionen des Landes
spielen die traditionellen Gemeinschaften nach wie
vor eine zentrale Regierungsrolle: Sie sprechen Recht
(die Mehrheit der Fälle wird vor traditionelle Gerichte
gebracht); sie setzen Recht (etwa auch zugunsten verwitweter Frauen, die nach einer Änderung des Gewohnheitsrechts Landrechte erhielten, und dies bevor
sich der staatliche Gesetzgeber der Sachlage annahm);
sie nehmen Verwaltungsaufgaben wahr (so etwa im
Bereich der Vergabe von Landrechten). In Zentral- und
Südnamibia sind viele traditionelle Autoritäten noch
in ihren Findungsphasen. Etliche traditionelle Führer
klagen darüber, dass ihnen alte Rechte genommen
seien. In der Tat, ein „chief“, auch wenn er König heißt,
ist dies innerhalb eines Staatsverbandes, der dessen
Spielregeln und nicht den Regeln afrikanischer Tradition folgen muss.
Der Traditional Authorities Act spricht in klaren
Worten davon, dass „to promote peace and welfare”
die oberste Aufgabe der traditionellen Autorität ist.
Ob eine traditionelle Autorität dieser Aufgabe gerecht
wird, hängt zu einem großen Teil von ihr selbst ab. Es
liegt bei ihr, ob sie sich von Bildern (Scheinbildern) einer vergangenen Tradition leiten lässt, oder von einer
Werteordnung, die Tradition mit gewandelten Erwartungen von – wie die politische Ethnologie es formuliert – alternativen Modernitäten verbindet. Vielerlei
Möglichkeiten bestehen, diese Wertordnung zur Politik zu machen, obwohl der Staat bisher versäumt hat,
notwendige Regelungen mit den traditionellen Gemeinschaften besser abzustimmen und damit Vieles
einer Alltagspolitik überlässt, in der gesamtgesellschaftliche Bezüge nicht gesehen werden.
Entwicklungspolitik wie Forschung haben sich mit
der Thematik bisher leider immer nur am Rande befasst und dabei eine Realität ignoriert, die keineswegs
Relikt der Vergangenheit ist, sondern Gegenwart mitbestimmt. Rigorose Modernität wird dieser Realität
nicht gerecht.
>> Manfred O. Hinz