Foto: Greg Willis/wikimedia/cc: by-sa NAMIBIA Traditionelle Autoritäten RELIKTE DER VERGANGENHEIT ODER BESTANDTEIL ALTERNATIVER MODERNE? NAMIBIA ALS BEISPIEL Traditionelle Autoritäten, „chiefs“, Könige, Königinnen, „headmen/women“, oder was immer die Titulierung sein mag, sind Bezeichnungen für Repräsentanten afrikanischer Realität. Sie verkörperten Autorität, bevor die Kolonialmächte sich Afrika aneigneten. Heute verweisen Repräsentanten traditioneller Autorität immer wieder darauf, dass sie Strukturen repräsentieren, die den Kolonialismus überlebt haben und von den nachkolonialen politischen Ordnungen in besonderer Weise zu respektieren seien. Traditionelle Autorität sei afrikanische Autorität, deren Legitimität auf die Ahnen zurückgehe und die damit anders als der moderne Staat in afrikanischer Geschichte verwurzelt sei! Der vergleichende Blick auf die jüngere politische Geschichte Afrikas zeigt, dass der nachkoloniale Staat mit traditioneller Autorität unterschiedlich umgeht. Sieht man von Swasiland ab, dessen König ein König nach Tradition ist, verfolgen die meisten afrikanischen Länder Modelle pluraler Autorität, d.h. Modelle, in denen traditioneller Autorität unter dem Dach des Staates mehr oder weniger ausgeprägte Eigenständigkeit eingeräumt wird. Eine Abschaffung 20 afrika süd 3|2015 der traditionellen Strukturen war, wo dies, wie etwa in einem bestimmten Abschnitt der Geschichte Simbabwes versucht wurde, bestenfalls insoweit erfolgreich, als mit der politischen Verfügung der Abschaffung die traditionellen Autoritäten zu inoffiziellen, also parallelen Strukturen wurden. Namibia gehört zu den Ländern, die den Weg einer geregelten Dualität von traditionellen und staatlichen Strukturen eingeschlagen haben. Der namibische Weg weist eine interessante Gemengelage von Problemen auf, die zu weiteren Fragen nach Ort und Funktion traditioneller Autorität im Staat führt. Traditionelle Gemeinschaft In Namibia sind zur Zeit 50 traditionelle Gemeinschaften im Sinne des für traditionelle Autoritäten zuständigen Gesetzes (Traditional Authorities Act, Nr. 25 von 2000) anerkannt. Zu diesen gehören Gemeinschaften, die bereits in früher Literatur beschrieben sind, so die Ndonga und Kwanyama im Norden des Landes, wie auch aus Zentralund Südnamibia die Herero und Nama, die in der Geschichte des Widerstandes gegen den deutschen und später den südafrika- nischen Kolonialismus eine wichtige Rolle spielten. Zu den aus vorkolonialen und kolonialen Ethnografien und politischen Bestandsaufnahmen bekannten Gruppen sind neue hinzugetreten: Abspaltungen, wie zum Beispiel Mbalantu, die zuvor Teil von Kwanyama waren, aber auch neue Gruppen wie die der San, die zwar auch vor der Unabhängigkeit als eigenständige Gruppierungen wahrgenommen worden waren, aber in der politischen Struktur des Landes keine Rolle spielten. Nach langen Bemühungen und von Nichtregierungsorganisationen unterstützen Verhandlungen sind heute fünf SanGruppen als traditionelle Gemeinschaften anerkannt, zwei davon im früheren Buschmanland (heute Tsumkwe West und Tsumkwe Ost in der Otjozondjupa-Region), zwei im Osten des Landes und die Hai-//kom, die nach ihrer Vertreibung aus dem Etosha-Nationalpark an verschiedenen Orten in Zentralnamibia leben. Der bereits genannte Traditional Authorities Act wie auch sein Vorgänger aus dem Jahr 1965 enthalten keine Maßgabe dafür, was eine traditionelle Gemeinschaft ist und welche Kriterien eine Gemeinschaft erfüllen muss, um als solche anerkannt zu werden. NAMIBIA Die in das Gesetz aufgenommene Definition von traditioneller Gemeinschaft ist für Verfahren um Anerkennung ungeeignet, da diese Definition gemäß der längst überholten kolonialen Ethnografie eine traditionelle Gruppe als homogene Einheit verstand, die noch dazu Homogenität durch ein System endogamer Heirat, also Heirat innerhalb der Gruppe, unterstützte. Der Mangel im Gesetz bedeutet in der Praxis Rechtsunsicherheit für die Antragsteller. Die politische Kommentierung von Anerkennungsverfahren führte dazu, dass Entscheidungen der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung als politisch motiviert kritisiert wurden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das Gesetz eine einheitliche politische Struktur für die traditionelle Gemeinschaft vorsieht. Jeder traditionellen Gemeinschaft soll ein „chief“ vorstehen, dem jeweils eine Anzahl von „senior traditional councillors“ und „traditional councillors“ nachgeordnet sind. Dieses politische Modell ist der Realität nachgebildet, die insbesondere in den traditionellen Gruppen der Oshiwambo-sprechenden Regionen des zentralen Nordens des Landes, die wie die Ndonga und Kwanyama eine Königsverfassung haben, zu finden ist. Für andere Realitäten hat das Modell keinen Raum, so etwa für Gruppen, die traditionell keine Könige, oder präziser ethnologisch formuliert, keine zentralisierte Autorität kannten oder auch abgeschafft hatten. Die Folge der Modellrigorosität ist entweder Anpassung der jeweiligen politischen Struktur an das Anerkennungsverfahren, ohne dass der formalen Anpassung Realität folgt, oder tatsächliche Anpassung, wie sie etwa bei den anerkannten San-Gruppen zu beobachten ist, die in ihren Selbstdarstellungen aus jüngerer Zeit von Königen und Königshäusern sprechen. Rat traditioneller Führer Die berichteten Probleme aus der Geschichte der Anerkennung der traditioneller Gemeinschaften spiegeln die politischen Schwierigkeiten im Umgang mit traditioneller Herrschaft wider, die bereits vor der Unabhängigkeit Namibias die Diskussion bestimmten und die entsprechend in der Unabhängigkeitsverfassung ihren Niederschlag fanden. Dass das afrikanische Gewohnheitsrecht gesellschaftliche Realität war, war unbestritten, auch wenn man es als notwendig begriff, dass dieses Recht im Sinne der Werte einer demokratischen Verfassung zu entwickeln war. Traditionelle Herrschaft dagegen war etwas, was mit Vorsicht zu genießen war: Gab es doch genügend Beispiele der Kollaboration zwischen den „chiefs“ und der südafrikanischen Kolonialmacht. In diesem Sinne findet sich in der Verfassung ein klares Bekenntnis zum Gewohnheitsrecht, aber nur eine indirekte Bezugnahme auf traditionelle Autorität. Artikel 66 Absatz 1 der Verfassung besagt in missverständlicher Sprache, dass das Gewohnheitsrecht, wie es zur Zeit des Inkrafttretens der Verfassung galt, neben dem von der südafrikanischen Verwaltung eingeführten „common law“ bestehen bleibt, es sei denn, es widerspricht der Verfassung oder einem anderen Gesetz. Mit dieser Regelung fand die koloniale Sichtweise, nach der afrikanisches Gewohnheitsrecht Recht zweiter Klasse war, ein Ende. Wie dieses hat jenes seinen eigenen Wert und ist wie das Recht im Übrigen änderbar durch entsprechende Gesetze, ansonsten jedoch nur der Verfassung unterworfen. Die Verfassung Namibias erreicht traditionelle Autorität nur indirekt. In ihrem Artikel 102 regelt sie den Aufbau der regionalen und kommunalen Verwaltung. Im fünften Absatz dieses Artikels ist von einem Rat traditioneller Führer die Rede. Dieser durch ein Gesetz näher zu bestimmende Rat soll nach der Verfassung nur auf bestimmte Zusammenhänge beschränkte Beratungsfunktion haben. Der Rat soll den Präsidenten Namibias „bezüglich der Kontrolle und der Nutzung des kommunalen Landes“ und anderer dem Rat übertragener Angelegenheiten beraten. Die Regierungspraxis zeigte schnell, dass Politik im ländlichen Raum Zusammenarbeit mit den traditionellen Führer verlangt. Eine 1991 eingesetzte präsidiale Kommission ermittelte nach landesweiten Beratungen, dass traditionelle Autorität fest akzeptierter Bestandteil der namibischen Gesellschaft ist. Nach dem Erlass der Erstfassung des Traditional Authorities Act im Jahr 1995 folgte der Council of Traditional Leaders Act im Jahre 1997 (Gesetz Nr. 13 von 1997). Die Regelung der rechtsprechenden Tätigkeit traditioneller Führer, siehe hierzu den Community Courts Act (Gesetz Nr. 10 von 2003), ist ein eigenes Thema, das aus Platzgründen in diesem Beitrag nicht behandelt werden kann. Das jährliche Treffen des Council of Traditional Leaders ist fester Bestandteil des politischen Lebens in Namibia. Der Council berät alle Fragen, die die Arbeit der traditionellen Führer betreffen. Überlegungen, den Rat der traditionellen Führer in Haus umzubenennen und damit den beiden Häusern des Parlaments näher zu bringen, haben hier ihren Grund, auch wenn sie bisher (auch in den Beratungen zum Gesetz zur Ergänzung der Verfassung im Jahre 2014) ohne Erfolg blieben. Traditionelle und staatliche Autorität Das Projekt der Bestandsaufnahme des Gewohnheitsrechtes der anerkannten traditionellen Gemeinschaften, das vom Rat Traditioneller Führer initiiert wurde und vom Menschenrechtszentrum der Universität von Namibia durchgeführt wird, besteht aus Texten, die von den verschiedenen Gruppen selbst verfasst wurden. Die Sammlung enthält eine Fülle von Beispielen, die Anlass geben, traditionelle und staatliche Rechtspositionen gegenüber zu stellen. Erklärtes Ziel des customary law ascertainment-Projektes ist es, im Land eine Auseinandersetzung zum Stand des Gewohnheitsrechtes und seines Verhältnisses zum staatlichen Recht und dabei insbesondere zum Verfassungsrecht zu fördern. Ein Streitfeld ist bis heute das Verhältnis von traditioneller zu staatlicher Autorität hinsichtlich der natürlichen Ressourcen. Wem gehören diese; wer bestimmt über ihre Verwendung und profitiert von den erzielten Erträgen? Die Mehrzahl der traditionellen Autoritäten betrachtet Land als eine von den Ahnen oder Gott gegebene Einheit, wonach alles, was 3|2015 afrika süd 21 NAMIBIA Der Autor, Jura- und Ethnologieprofessor, lehrt an der Universität Bremen und Jacobs University Bremen. Während seines 20-jährigen NamibaAufenthalts stand er über fünf Jahre als Dekan der Rechtsfakultät der Universität von Namibia vor. Einführung zum Thema: M. O. Hinz, Customary law in Namibia: Development and perspective. 8. Aufl. Windhoek 2003: Centre for Applied Social Sciences. M. O. Hinz, Hrsg. Customary law ascertained. Vol.1. Windhoek 2010: Namibia Wissenschaftliche Gesellschaft; Vol. 2. Windhoek 2013: UNAM Press, und Vol. 3. Windhoek 2015: UNAM Press (im Druck). 22 afrika süd 3|2015 auf und unter dem Land ist, der traditionellen Autorität zur Bewahrung, also nicht zum Verkauf, anvertraut ist. Demgegenüber verfolgt der Staat Politiken, die auf dem rezipierten Eigentumsbegriff aufbauen. Das ganzheitliche um Land zentrierte Konzept von Eigentum, das in erster Linie an Nutzung und Nutzungsrechten und nicht an Verfügbarkeit orientiert ist, ist dem rezipierten Eigentumsbegriff fremd. Dieser kennt, was Grund und Boden anbelangt, in erster Linie Privateigentum, das dem Eigentümer weitgehende Verfügungsmacht über das Eigentum einräumt und dieses gleichzeitig auf die fassbare Oberfläche beschränkt, also Wild, unter der Oberfläche befindliche Bodenschätze aber auch bestimmte Wasserquellen aus dem Privateigentum ausnimmt. Im Vorfeld des Communal Land Reform Act (Act Nr. 5 von 2002), der das Land unter der Zuständigkeit traditioneller Autoritäten regeln sollte, kam es zur offenen Auseinandersetzung: Der staatlichen Auffassung entsprach es, dass der Staat Eigentümer des kommunalen Landes sei. Die traditionellen Autoritäten widersprachen. Als Kompromiss enthält sich das Gesetz der Äußerung zur Eigentümerschaft und bestimmt, dass „all communal land areas vest in the State in trust for the benefit of the traditional communities“ (Section 17 (1)). Gleichzeitig bestätigt das Gesetz: Es ist Sache der traditionellen Autoritäten, über die Verleihung von Nutzungsrechten hinsichtlich des kommunalen Landes zu befinden. Land Boards bleibt es vorbehalten, die Entscheidungen der traditionellen Autoritäten auf ihre formale Stimmigkeit zu überprüfen und danach zu ratifizieren. Weitere staatliche Befugnisse bestehen, wenn es um die Nutzung von kommunalem Land für öffentliche Belange geht oder gar um die Umwidmung von kommunalem Land als Land einer neuen oder sich erweiternden Gemeinde. Ungeachtet dieses um Abwägung von Interessen bemühten Kompromisses versuchen nicht nur staatliche Stellen, mit dem Hinweis darauf, das kommunale Land gehöre dem Staat, Politik zu machen. Doch Gewohnheitsrechte am kommunalen Land sind Rechte, in die Eingriffe Entschädigungen beanspruchen lassen. Das ist längst noch nicht begriffen. Während also im Bereich kommunales Land immerhin ein in der Umsetzung noch schwieriger Kompromiss erzielt werden konnte, gibt es zu Wild, Wasser und Bodenschätzen nichts Entsprechendes. Dafür entstanden aber entwicklungshemmende Spannungen wie etwa in den Kavango-Regionen, in denen sich traditionelle Führer aus Namibia und Angola bemühen, ein grenzübergreifendes Regelwerk zum Schutz des Flusses und seiner Ressourcen zu entwerfen. Alternative Modernität So komplex die Geschichte der traditionellen Gemeinschaften Namibias ist, so komplex ist ihr politisches Bild. In den nördlichen Regionen des Landes spielen die traditionellen Gemeinschaften nach wie vor eine zentrale Regierungsrolle: Sie sprechen Recht (die Mehrheit der Fälle wird vor traditionelle Gerichte gebracht); sie setzen Recht (etwa auch zugunsten verwitweter Frauen, die nach einer Änderung des Gewohnheitsrechts Landrechte erhielten, und dies bevor sich der staatliche Gesetzgeber der Sachlage annahm); sie nehmen Verwaltungsaufgaben wahr (so etwa im Bereich der Vergabe von Landrechten). In Zentral- und Südnamibia sind viele traditionelle Autoritäten noch in ihren Findungsphasen. Etliche traditionelle Führer klagen darüber, dass ihnen alte Rechte genommen seien. In der Tat, ein „chief“, auch wenn er König heißt, ist dies innerhalb eines Staatsverbandes, der dessen Spielregeln und nicht den Regeln afrikanischer Tradition folgen muss. Der Traditional Authorities Act spricht in klaren Worten davon, dass „to promote peace and welfare” die oberste Aufgabe der traditionellen Autorität ist. Ob eine traditionelle Autorität dieser Aufgabe gerecht wird, hängt zu einem großen Teil von ihr selbst ab. Es liegt bei ihr, ob sie sich von Bildern (Scheinbildern) einer vergangenen Tradition leiten lässt, oder von einer Werteordnung, die Tradition mit gewandelten Erwartungen von – wie die politische Ethnologie es formuliert – alternativen Modernitäten verbindet. Vielerlei Möglichkeiten bestehen, diese Wertordnung zur Politik zu machen, obwohl der Staat bisher versäumt hat, notwendige Regelungen mit den traditionellen Gemeinschaften besser abzustimmen und damit Vieles einer Alltagspolitik überlässt, in der gesamtgesellschaftliche Bezüge nicht gesehen werden. Entwicklungspolitik wie Forschung haben sich mit der Thematik bisher leider immer nur am Rande befasst und dabei eine Realität ignoriert, die keineswegs Relikt der Vergangenheit ist, sondern Gegenwart mitbestimmt. Rigorose Modernität wird dieser Realität nicht gerecht. >> Manfred O. Hinz
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