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Das Ende der Harmonie
Die Ablehnung der Maßästhetik in der Ästhetischen Theorie von Theodor W. Adorno
Andres C. Pizzinini
Die Kunst ist für Adorno ein gesellschaftliches Korrektiv, das sich in seiner
unbezwingbaren Autonomie jeglicher sozialen Integration sperrt. Als
Gegenkunst zur Gesellschaft, zu ihren sozialen und politischen
Einrichtungen soll sie nicht so sehr gefallen, als vielmehr zu kritischem
Denken anregen. Ich schicke diese Zeilen zu Adornos Kunstauffaussung
voraus, um das Verstädnis des Folgenden zu erleichtern.1
Ich möchte drei Gründe nennen, warum ich der Meinung bin, dass es
bedeutsam ist, sich mit Theodor Wiesengrund Adornos Ästhetischer Theorie
zu beschäftigen.
Erstens: Das Werk ist eine der beiden umfassenden Ästhetiken im 20.
Jahrhundert, die andere ist diejenige von Georg Lukács, eine dritte
vergleichbare gibt es nicht. Beide Werke rühren vom Marxismus her, wobei
Lukács zeit seines Lebens den Realismus in der Kunst verteidigt hat,
Adorno gilt als Verteidiger der klassischen Avantgarde.
Zweitens: Entsprechend ihrem Umfang hat Adornos Ästhetik einen
beispiellosen Einfluss auf die Schönheitsvorstellung in der Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg bis in unsere Tage gehabt. Damit meine ich lediglich jene
Schönheitsvorstellung, die zur hohen Kunst gerechnet wird; die
Kulturindustrie, also Werbung, Musikvideos, Autos usw. steuert hingegen
genau in die entgegengesetzte Richtung.2
Drittens: Die wenigsten sind sich vom Einfluss dieses Werkes bewusst.
Dies hat damit zu tun, dass die Ästhetische Theorie trotz ihrer Bedeutung
und ihrer Einflussnahme auf unser Empfinden nicht viel gelesen und
entsprechend selten zitiert wird.
Die Form des Werkes
Dass dieses einflussreiche Werk paradoxerweise ein Schattendasein führt,
hat mit den großen Verstädnisschwierigkeiten zu tun, vor die sich der Leser
1
Diese zusammenfassende Beschreibung entspricht gängigen Interpretationen in Standartwerken zu Ästhetik wie z. B.
Mario PERNIOLA, L'estetica del Novecento, Bologna 1997, 105-108.
2
Bemerkenswerterweise war sich Adorno dieser Entwicklungen durchaus bewusst, vgl. Theodor W. ADORNO,
Ästhetische Theorie, Stuttgart 1973, 417.
gestellt sieht, der es in Angriff nimmt. Es ist bekanntlich selbst unter
Fachleuten schwer zugänglich und kommt auch in Standartwerken zur
Ästhetik zuweilen nicht vor, mit der Begründung, man verstehe nicht, was
Adorno letzlich sagen wolle.3
Damit komme ich zum ersten wichtigen Thema: Die Form, d. h. die Art und
Weise, wie das Werk geschrieben ist.
Ich schicke voraus, dass Adornos sehr seltsamer Sprachduktus durchwegs
gewollt ist. In seiner Heideggerkritik, die einige Jahre vor der Ästhetischen
Theorie veröffentlicht wurde, kritisiert Adorno Heidegger wegen seiner
mystifizierenden, unverständlichen Sprache. 4 Und er tut es mit großem
Scharfsinn und erstaulicher Klarheit. Also haben wir es nicht mit einer
charakterlichen Marotte zu tun, sondern mit einem klaren Ziel, das der Autor
verfolgt. Was meine ich mit "seltsamen Sprachduktus"? Ich meine, dass der
Text permanent von einem Inhalt bzw. Autor zum anderen springt, dass er
sich sehr seltener, zuweilen antiquierter Wortwendungen bedient, dass viele
Sätze gar nicht abgeschlossen sind, dass er Präpositionen anders verwendet
als üblich, dass metaphorische Rede der Normalfall ist, wobei es sich oft um
eine private Metaphorik handelt, die Adorno an keiner Stelle einleitet oder
erklärt und nicht zuletzt, dass Theodor Wiesengrund Adorno die
Beistrichregeln nicht respektiert.5
Ich führe drei Gründe an, warum Adorno so schreibt.
Erstens: Adorno vertritt den Primat der Form vor dem Inhalt. Zu Beginn
seines Werkes schreibt er, dass "die From sedimentierter Inhalt sei"6, was
bedeuted, dass der Inhalt sich in der Kunst als Form zeigt. An anderer Stelle
heißt es: "Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den
Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der
Einschuss gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur
Gesellschaft."7 Adorno legt mithin größten Wert auf die Form, hier zunächst
undifferenziert als Art und Weise der Darstellung verstanden. Dabei hätte er
in üblichen Termini den Primat der Form vor den Inhalt verteidigen können,
3
Elmar WAIBL, Ästhetik und Kunst von Pythagoras bis Freud, Wien 2009, Vorwort, auch Johann DVORÁK, Theodor W.
Adorno und die Wiener Moderne, Frankfurt am Main 2005, 103.
4
Theodor W. ADORNO, Ontologie und Dialektik, Frankfurt am Main 2002, 147ff.
5
Eine der vielen Textstellen, an der ein gänzlich willkürlicher Gebrauch von Allegorien stattfindet ist S. 269, wo von
"dem Blinden" und "dem Leeren" die Rede ist. Ein Beispiel eines unfertigen Satzes: "Keine widerspruchslose
Theorie der Geschichte von Kunst ist zu entwerfen: Wesen ihrer Geschichte widersprüchlich in sich." 313. auch 307,
316. Man beachte auch Seite 418 wie im Text von einem Autor zum nächsten unvermittelt und plötzlich gesprungen
wird.
6
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 15, 218, 317, 341ff
7
Ebenda, 16.
wie es auch Clement Greenberg tat, der diesbezüglich dieselbe Position
vertritt wie er.8 Dieselbe Kunst ist im 20. Jahrhundert bekanntlich diesen
Weg des Primats der Form vor dem Inhalt gegangen, von den Anfängen der
Abstraktion mit Cezanne und Matisse, über die Informelle Malerei nach
dem Zweiten Weltkrieg bis in unsere Zeit. Desgleichen gilt für die
Konzeptkunst und die Postmoderne, die beiden anderen großen Stränge der
Kunst. Letzteres ist eine Behauptung, die ich hier allerdings aus
Platzgründen nicht untermauern werden.
Im Unterschied zu Greenberg und anderen gibt es beim deutschen
Philosophen Adorno keine Trennung mehr zwischen Kunst und
Kunsttheorie, sodass die Form der Kunst direkt jene ihrer Theorie
beeinflusst. Wir halten fest, dass Inhalte in Adornos Werk wesentlich durch
die Form, die Art und Weise ihrer Darstellung, nicht nur vermittelt, sondern
bestimmt werden. Alle Kunst müsse nach Adorno einen reflexiven,
intellektuellen Charakter haben. Umgekehrt nähert sich in ihm die
Kunsttheorie derselben Kunst, indem sie ihr ähnlich wird.
Zweitens: Klarheit war eine der wichtigsten Anforderungen an die Kunst in
der nationalsozialistischen Kunsttheorie, vor allem in jener von Adolf Hitler.
Dabei wird Klarheit schlichtweg als das Gegenteil von Unverständlichkeit
definiert. Die Zugänglichkeit der Kunst für die breite Masse war ein
entscheidender Punkt im Kulturprogramm Hitlers, Göbbels, Rosenbergs
und anderer Nationalsozialisten. Der Komplexität seines Denkens sich
durchaus bewusst, beteuert Adorno den Schwindel einer angeblich
verständlichen Kunst fürs Volk und hält demgegenüber an der Bedeutung
einer komplexen, kritischen und zur Reflexion anregenden Kunst fest, die
wahrhaftig den Interessen des Volkes diene, auch wenn dieses sich dessen
oft nicht bewusst sei.9 Die unverholene Unzugänglichkeit der Ästhetischen
Theorie
ist
durchwegs
als
direkte
Opposition
gegen
Allgemeinverständlichkeit in Kunst und Theorie jeglichen Totalitarismus'
zu verstehen.10Nie schreibt Adorno in seiner Theorie so klar, wie wenn er
das nationalsozialistische Regime samt dessen Kulturpolitik verurteilt und
sich davon absetzt, indem er das neologistische Schimpfwort "Banausie"
wie ein Mantra im pejorativen Sinn über fünfhunder Seiten hinweg
wiederholt.
8
Stefan MAJETSCHAK, Ästhetik zur Einführung, Dresden 2007, 100-104.
Vgl. Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, Die Stabilisierte Musik. Zum fünften Fest der I. G. N.
M. in Frankfurt am Main (1927), Gesammelte Schriften 19, Frankfurt am Main 1997, 102.
10
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 162.
9
Der dritte Grund, den ich für die Unverständlichkeit der Ästhetischen
Theorie geltend mache, ist philosophischer Natur. Dieser Grund bestimmt
auch Adornos gesamtes System und führt uns zu dem Punkt, der hier im
Mittelpunkt steht: Adornos Absage an die Harmonie.
Das Thema ist die Vernunft. Der Begriff der Vernunft wird hier im
kant'schen Sinne verwendet, als jene geistige Fähigkeit des Menschen
einzelne Erfahrungen bzw. Entitäten in das Weltganz einzuordnen. Kant hat
den Begriff der Vernunft als Antwort auf die metaphysischen Problemen der
Neuzeit klar und erfolgreich definiert, doch hatte man ihn bereits im
Mittelalter und auch davor sehr ähnlich verstanden, wodurch ich diese
terminologische Entscheidung begründen möchte.
Zuerst werde ich analysieren, was Adornos Absage an die Vernunft für die
Form des untersuchten Textes bedeutet, um dann von der Absage an die
Vernunft ausgehend unser eigentliches Thema "das Ende der Harmonie" im
Spezifischen zu behandeln.
Das Werk von Adorno ist ein Versuch, eine Theorie zu formulieren
möglichst ohne dabei affirmative Aussagen zu treffen, so merkwürdig dies
auch klingen mag. Bereits in seinem früheren Werk, die Negative Dialektik,
unterstellt Adorno den Begriffen eine "Gewalttat des Gleichmachens" 11
sowie eine "spirituell gewordene Naturbeherrschung" 12 . Die
Allgemeinbegriffe stammen von der Vernunft, d. h. sie werden von ihr
abgeleitet, wie Kant sagen würde. Ein Allgemeinbegriff subsumiert eine
bestimmte Quantität von Einzeldingen unter sich. Eine affirmative Aussage
benötigt einen Begriff, der sich auf eine oder mehrere Entitäten bezieht, von
der bzw. denen etwas prädiziert wird. Eine Folge von Adornos Ablehung
von Allgemeinbegriffen ist beispielsweise seine Absage an die Vorstellung
unterschiedlicher Kunstgattungen, da er dies als Ausdruck autoritärer
Gesinnung versteht; eine Gesinnung, die er grundsätzlich ablehnt.13
Es ist leicht einsehbar, warum ohne Begriffe keine Aussagen möglich sind,
zumindest nicht solche, die den Anspruch erheben können, wahr zu sein.
Dass der Verzicht auf dieses Fundament allen diskursiven Denkens Adorno
nicht ganz gelingt, versteht sich von selbst, dennoch unternimmt diesen
Versuch. Es handelt sich um eine Utopie, was laut Adorno genauso für die
von ihm untersuchte Kunst gilt. Auch hier erkennen wir die Verschmelzung
von Theorie und Praxis.
11
Theodor W. ADORNO, Negative Dialektik, Stuttgart 2003, 146
Ebenda, 30.
13
Ebenda, 301.
12
Nicht die Vernunft, sondern die Kunst ist das einzig noch gültige Medium
des Erkennens für Adorno. Und zwar ein solches, dass die Dinge und die
Natur nicht der herrschenden Macht des Begriffs unterwirft, so Adorno,
sondern in ihrer Einzigartigkeit bestehen lässt. 14 Man könnte annehmen,
dies führe zu einer Erkenntnis nicht des allgemeinen Wesens, sondern eines
Gegenstandes in seiner Besonderung samt allen dazugehörigen Akzidentien.
Eine solche Erkenntnistheorie hatte Alexander Baumgarten, der Begründer
der Ästhetik, als Gnoseologia inferior, also als niedere Erkenntnislehre
formuliert.15 Doch auch dies entspricht Adornos Vorhaben nicht, erfordert
Baumgartens Lehre doch eine klare Über- und Unterordnung der Kräfte der
Erkenntnis, also eine Hierarchie, was für Adornos antiautoritäre Haltung
gänzlich inakzeptabel ist; außerdem stehen Einzeldinge und
Allgemeinbegriffe in einem durchaus verstehbaren Verhältnis zueinander.
Ein Allgemeinbegriff kann beispielsweise extensional, d. h. durch die
Summe aller Einzeldinge, die darunter fallen, bestimmt werden. Adorno
geht es mithin weder um das Allgemeine noch um das Besondere, wie
manchmal
fälschlicherweise
behauptet
wird,
da
er
vom
16
"Unsubsumierbaren" spricht. Es ist ihm vielmehr um ein Drittes zu tun,
das sich jenseits dieser beiden Kategorien befindet. Er nennt es das "NichtIdentische". "Moderne Kunst übt das Münchhausenkunststück einer
Identifikation des Nichtidentischen aus", schreibt Adorno 17 . Dies gilt
konkret für die Kunst, für den geschriebenen Text bedeutet Adornos
Unternehmen indes eine Fülle von sprachlichen Schrauben und
Seitenwegen. Selbstverständlich gelingt das Vorhaben einer Theorie ohne
Begriffe und Aussagen nicht, sodass wir es als eine Chiffre für das
Unmögliche verstehen können, als "negative Utopie", um es mit Adornos
Worten zu sagen.18Ähnlich ging die Kunst im 20. Jahrhundert vor, wenn sie
ein künstlerisches Produkt ohne Produktion, eine Darstellung ohne
Darstellung, eine Musik ohne Musik und Architektur ohne Architekten sein
wollte. "Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch
dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die
Utopie."19 Wir verstehen allmählich, wie schwierig es ist, bei Adorno den
untersuchten Gegenstand von der Untersuchung zu scheiden. Dass Adornos
14
Birgit RECKI, Aura und Autonomie: zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno,
Würzburg 1988, 163.
15
Alexander G. BAUMGARTEN, Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg 1983 , Hans Rudolf Schweizer (Hg.), 5,
16.
16
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 128
17
EBENDA, 41.
18
EBENDA, 204.
19
EBENDA, 55.
utopisches Projekt scheiterte, wird von scharfsinnigen Analytikern wie z.B.
von Birgit Recki inzwischen anerkannt.20
Adorno will schließlich der Kunst kein Theoriegebäude aufzwingen,
sondern die Kunst dem Zugriff der Vernunft entziehen und sich in seinem
Werk ihr anverwandeln.21 Damit wird auch der Titel verständlich, der eben
nicht "Theorie der Ästhetik" heißt, sondern Ästhetische Theorie: Die
Reflexion wurde von der Kunst gleichsam aufgesogen, um einen
"herrschaftsfreien Diskurs" zu ermöglichen, wie man im Gefolge Adornos
zu sagen pflegte.
Vernunft und Harmonie
Soviel sei zur Art und Weise der Darstellung in Adornos Werk gesagt. Wir
widmen uns nun der zentralen Frage, wie Vernunft und ästhetische
Harmonie zusammenhängen. Was ist Harmonie? "Die Harmonie (...) ist ein
Verhalten qualitativer Unterschiede, und zwar einer Totalität solcher
Unterschiede, wie sie im Wesen der Sache selbst ihren Grund findet." Diese
Definition von Hegel entspricht im Wesentlichen den viel älteren
Auffassungen von Aristoteles und Heraklit. Wenn Hegel sagt, Harmonie sei
in der Sache selbst begründet, teilt er Harmonie der Naturschönheit zu, nicht
der höher gestellten Kunst strictu senso. Es handelt sich also eine
seinsmäßige Qualität erster Ordnung, oder anders, Harmonie ist eine
Eigenschaft des Dargestellten, nicht der Darstellung. Dass bereits bei Hegel
Harmonie auf der niederen Stufe des Naturschönen angesiedelt ist, erinnert
daran, dass Adornos Ablehnung der Harmonie in der Kunst eine wichtige
Vorgeschichte hat.
Harmonie setzt also Unterschiedliches in ein Verhältnis zueinander, sodass
die Unterschiedlichen als Teile eines Ganzen erscheinen, Hegel verwendet
für das Ganze den Begriff "Totalität". Ähnliches haben wir zuvor von der
Vernunft gesagt, wenn wir von ihr als einem Regulativ gesprochen haben,
sodass wir feststellen, dass Harmonie das Erscheinen der Betätigung der
Vernunft ist. Das Maß ist ein anderes Wort für Verhältnis, sodass wir in
diesem Sinn von Maßästhetik sprechen können. Adorno verabschiedet sich
von diesem Ganzen, das von der Vernunft vorgestellt wird und worin es
Einzelnes einordnet. Bereits in seinem früheren Werk, Minima Moralia,
meinte er: "Das Ganze ist das Unwahre". Aus diesem metaphysischen
Grund erfolgt auch seine Ablehnung der Harmonie, d. h. der Maßästhetik.
20
Birgit RECKI, Aura und Autonomie: zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. ADORNO,
Würzburg 1988, 160ff.
21
Zu Adornos Ablehnung der Vernunft vgl. auch Theodor W. ADORNO, Die Aktualität der Philosophie, 1931,
Gesammelte Schriften, Bd. I, Frankfurt am Main 1997, 321ff.
Es muss allerdings erwähnt werden, dass Adorno den Begriff der Harmonie
streckenweise auch für die neue Kunst in Anspruch nimmt, allerdings als
eine Harmonie sui generis, die nicht aus der ordnenden Tätigkeit der
Vernunft hervorgeht, sondern aus deren systematischen Ablehnung, wobei
hier das Wort systematisch betont sei. 22 Auch wenn ich ein Gebäude
niederreiße, muss ich dies auf geordnete, systematische Weise tun. Wenn
Adorno zuweilen von Harmonie der neuen Kunst spricht, meint er damit
lediglich, dass auch diese Kunstwerke eine interne Logik, einen
strukturierten Aufbau haben. Doch davon später.
Es seien nun einige Beispiel aus der Kunst angeführt, um die Brücke von
der Vernunft zur Harmonie besser zu verstehen.
Denken Sie an ein Bild aus dem italienischen Quattrocento, worin mehrere
menschliche Figuren und Gebäude in unterschiedlicher räumlicher Tiefe
sich befinden. Ein Beispiel ist Piero della Francescas Flaggellazione. Der
Raum, in den die Objekte gestellt sind, entsteht durch eine direkte
Anwendung der euklidischen Geometrie auf unsere perspektivische
Wahrnehmung. Im Ganzen des Bildes, d. h. des dargestellten Raumes stehen
die Dinge mithin in einem mathematisch-räumlichen Verhältnis zueinander.
Und das Ganze des Bildes ist ein Repräsentant für das Weltganze, in das wir
unsere Erfahrung einordnen, ein klares Bild für die frühhumanistische
Weltauffassung. Hier ist es die Geometrie, also die Rationalität, eine
mögliche Anwendung der Vernunft, die das Maß bereitstellt, nach dem
Dinge im Verhältnis zueinander gebracht werden.
Ein weiteres Beispiel ist die Kunst des Mittelalters. Ursprünglich als
Monumentalkunst konzipiert, werden einzelne Objekte, von den Pflanzen
bis zum Menschen, in das Ganze des Kirchegebäudes integriert, welches
wie später das einzelne Tafelbild ein Repräsentant des Weltganzen ist. Das
Maß, also das Verhältnis, in dem die unterschiedlichen Entitäten zueinander
stehen, ist hier theologischer Natur. Erhellend ist in diesem Kontext die
Gepflogenheit in der romanischen Malerei, jene Dinge größer Darzustellen,
denen von Gott mehr Sein zukommt, wie man in der etwas artifiziellen
Sprache der Scholastik sagte. Auch die Vorstellung von Gott, hier ein
ästetisches Regulativ, gehört so wie diejenige der Welt zu den Vernunftideen.
Ein drittes Beispiel ist die Malerei der Romantik, denken Sie an Kaspar
David Friedrich. In diesen Bildern finden wir das gesamte bildnerische und
symbolische Arsenal vor, das im Laufe der Geschichte des Abendlandes
22
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 236ff.
entwickelt wurde. Doch versammelt und geordnet wird es durch das Selbst;
jenes transzendentale Ich, das in der Philosophie des deutschen Idealismus
zu ungeahnten Ehren kam. Landschaftsbilder werden zu Stimmungsbildern,
zu Chiffren des Seelischen. Im geistigen Subjekt laufen alle Stränge unserer
Erfahrung, ja des gesamten Kosmos zusammen und werden von ihm her in
ein verstehbares Verhältnis gesetzt.
All diese Formen der Betätigung der Vernunft lehnt Adorno ab,
entsprechend akzeptiert er auch deren respektive Harmonie nicht.23
In seiner Überwindung der harmonischen Schönheitsauffassung verweist
Adorno, genauso wie zahlreiche seiner Zeitgenossen, an verschiedenen
Stellen auf Kants Begriff des Erhabenen. Bezeichnenderweise triumphiert
bei Kants Erhabenem allerdings die Vernunft vor dem Naturphänomen, was
Adorno nicht von ungefähr explizit ablehnt.24
Adornos Ablehung dieser sowie anderer Ordungsprinzipien läuft schließlich
darauf hinaus, dass die Kunst gänzlich ihren sinnstiftenden Charakter
verliert;25 irgendwelchen Sinn aus dem Kunstwerk herauszulesen, gilt als
unzulässige Versöhnung, um es mit einem Begriff zu sagen, den Adorno
sehr häufig verwendet, vor allem im Kontext der namenlosen Schuld, die
Europa und vor allem Deutschland auf sich geladen hat. Gemeint ist
selbstredend der Nationalsozialismus.26
Adornos Ablehnung der Maßästhetik
Wir haben gesehen, wie die Vernunft ein Ganzes vorstellt, in welchem
Einzelne Entitäten in ein Verhältnis zueinander gebracht werden. Wir
nennen die Erscheinung eines solchen verstehbaren Verhältnisses Harmonie.
Adorno lehnt eine einheitliche Interpretation des Weltganzen, worunter er
als Marxist vornehmlich die Geschichte und die Gesellschaft versteht,
explizit ab. Diese Haltung entwickelte er bereits in seinen frühen Jahren in
Wien, vollendete sie aber nach dem Krieg, genauer, nach den Schrecken des
Nationalsozialismus und des Holokausts, als eine sinnsvolle
Gesamtinterpretation der Geschichte nicht nur nicht möglich, sondern nicht
erlaubt war. Dies bedeutet, dass Adorno jegliche auf Vernunft basierende
23
Adorno lehnt eine Auffassung von Form, die durch mathematische Verhältnisse bestimmt ist, ab. Theodor W.
ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 214-215. Eine Kunstvorstellung, die auf ein transzendentales Subjekt
aufbaut, wie die Romantik, lehnt er ebenfalls ab, vgl. Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 410.
24
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 410.
25
EBENDA, 203.
26
EBENDA, 229, 230, 251, 337, 348.
Interpretation des Weltganzen nicht nur als falsch, sondern als Lüge, oder
"Verblendung" ansieht, um seine Terminologie zu gebrauchen. Dass Adorno
den Positivismus und den Rationalismus des 20. Jahrhunderts als wahrhaftig
irrational ansieht, geht ebenfalls aus dieser pessimistischen Haltung
hervor.27
Bestimmte Negation als Kriterium der Kunst
Eine Kunst, in der die Vernunft sich betätigt, wird von Adorno "affirmativ"
bezeichnet, da sie eine affirmative Aussage zur Welt impliziert. Aus diesem
Grund lehnt Adorno diese Kunst ab. Er meint dazu: "Angesichts dessen,
wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr
unausweichlich, zum Unerträglichen geworden. Sie muß gegen sich wenden,
was ihren eigenen Begriff ausmacht, und wird dadurch ungewiß bis in die
innerste Fiber hinein".28
Adorno stellt dem affirmativen Wesen des Schönen eine Kunst entgegen,
die jeglichen Totalitätsanspruch durch Negation zunichte macht. Er spricht
dabei von "bestimmter Negation".29 Es ist sehr wichtig das Wort "bestimmt"
dabei im Auge zu behalten, da Adorno in diesem Punkt sehr ausführlich und
sogar klar ist. Er vertritt zwar eine Kunstposition, die als Negation zur
Gesellschaft, d. h. marxistisch gesprochen zum Ganzen, auftritt. Allerdings
muss diese Negation bestimmt sein, d. h. das Negierte muss künstlerisch
adäquat erfasst und durchgebildet sein. Andernfalls entfernt sich die Kunst
vom Negierten, sie wird autark und bildet als art pour l'art eine
selbstgenügsame Gegenwelt zur Gesellschaft. "Schatten des autarkischen
Radikalimus der Kunst ist ihre Harmlosigkeit, die absolute Farbkomposition
grenzt ans Tapetenmuster". 30 Daher versteht man, weshalb Adorno die
Theorie der reinen Farbe, wie sie die klassische Avantgarde vertreten hat,
ablehnt. Die Farben haben sich hierin vom empirischen Kontext, dem sie
entnommen wurden, gänzlich emanzipiert und beanspruchen eine
unvermittelte und reine Wirkung, wie bei Kandinsky. 31 Bemekrenswert,
dass Adorno diese These mit den gleichen Argumenten ablehnt wie seine
schärfsten Gegener, wie z.B. Lukacs und der Nationalsozialist Rosenberg. 32
Adorno sieht in dieser absolut losgelösten Begeisterung für Formen und
27
EBENDA, 473, Theodor W. ADORNO, Die Aktualität der Philsophie, 1931, Gesammelte Schriften, Bd. I, Frankfurt am
Main 1997, 331ff.
28
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 10.
29
EBENDA, 24, 137, 235, 379
30
EBENDA, 51
31
Wassily KANDINSKY, Über das Geistige in der Kunst, Bern 1952, 25, 62ff.
32
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 140 und Alfred ROSENBERG, Schriften 1917-1921, München
1943, 32.
Farben ein bürgerliches Divertissement, das zuerst art pour l'art und
schließlich zu Kitsch wird 33 . Als Bild mögen die zahlreichen
Sommerakademien dienen, in denen Menschen dazu angehalten werden,
abstrakte Bilder anhand von Silberpapier und Muscheln zu schaffen.
Aus folgendem Beispiel aus dem Anhang zu Adornos Theorie erhellt mit
einiger Klarheit, was mit bestimmter Negation gemeint ist. Im Beispiel geht
es um die Klarheit eines Werkes, die bestimmt negiert wird. "Die Idee
mancher Kunstwerke erheischt geradezu, daß die Grenzen ihrer Momente
verwischt werden: jene, welche die Erfahrung des Vagen realisieren
möchten. Aber in ihnen muß das Vage als Vages deutlich "auskommponiert"
sein. Authentische Gebilde, die dem Desiderat des deutlichen sich weigern,
setzen es implizit voraus, um es in sich zu negieren; nicht Undeutlichkeit an
sich, negierte Deutlichkeit ist ihnen wesentlich. Sonst wären sie
dilettantisch."34 Man könnte auch sagen, dass nur das negiert werden kann,
was uns bekannt ist. Die bestimmte Negation ist das wichtigste Kriterium
für ein Kunstwerk bei Adorno und kommt in seiner Theorie entsprechend
oft vor.
Es ist in diesem Zusammenhang erstaunlich mit welcher Beharrlichkeit er
darauf besteht, dass die einzigen gültigen Kriterien, nach denen Kunstwerke
erfasst werden können, intrinsischer, d. h. streng künstlerischer Natur seien.
Biografische, psychologische, soziale, moralische, religiöse u.ä. Kriterien
lehnt er allesamt ab; damit hat er die Kunst gewiss aufgewertet.35
Dissonanz statt Harmonie
Das Fehlen von Einheit gegensätzlicher Momente nennen wir in der Kunst
Dissonanz, was von Adorno als das "Signum aller Moderne" definiert
wird. 36 "Das in ihr (der Kunst) Erscheinende ist nicht länger Ideal und
Harmonie; ihr Lösendes hat einzig noch im Widerspruchsvollen und
Dissonanten seine Stätte."37 An anderer Stelle meint er: "Dissonanz ist die
Wahrheit über Harmonie". 38 Obwohl das Kunstwerk weder ein
Harmonisches noch ein Ganzes bildet, ist es laut Adorno in sich selbst
bestimmt, wie zuvor erwähnt. Als ein Autonomes findet es die Regel seines
Seins in sich selbst, wobei aber kein internes Maß für es gilt, abgesehen von
der bestimmten Negation, da es sich jeglicher Bemessung und folglich der
33
EBENDA, 150, vgl. auch 340 und 352.
EBENDA, 438.
35
EBENDA, 17ff.
36
EBENDA, 29,74.
37
EBENDA, 130.
38
EBENDA, 168.
34
Identifizierung entzieht.39
Mit der Dissonanz als intrinsischem Merkmal von Kunst hängt auch die
Rolle, die Kunst in der Gesellschaft spielt, zusammen.40 Adornos Ästhetik
ist die umfassendste theoretische Untermauerung der Kunst als
gesellschaftliche Gegenkunst. Als dissonant gelten dabei sowohl das
Kunstwerk in sich selbst als auch dessen Verhältnis zur Gesellschaft. Das
amerikanische Pendant dazu, die Counterculture und die Beat Generation
haben im Vergleich mehr ausgeführt als reflektiert.
Dissonanzen waren auch in früherer Kunst keine Seltenheit, wenn wir an
die Verzerrungen mittelalterlicher Bestiarien denken oder an romantisches
zerschellen der Maßeinheit in der Unendlichkeit des Horizonts. Doch gab
es stets eine Integration im Gesamt des Werkes. Genau dieser Versöhnung
sperrt sich Adorno mit Vehemenz.
Absage an den schönen Schein
Wie aus dem Gesagten hervorgeht, ist Kunst eine ästhtisch reorganisierte
Darstellung der Wirklichkeit; darin liegt ihr Scheincharakter. Dass dies einer
Art Täuschung gleichkomme, hatte bereits der Naturalismus am Ausgang
des 19. Jahrhunderts erkannt und vor allem Oscar Wilde, als er gegen diese
wahrheitsbeflissene Strömung in seinem Essay "About the decay of lying"
polemisierte. Der Naturalismus ging aus den Gleicheitsbestrebungen der
französischen Revolution hervor zbd hängt eng mit der späteren
Arbeiterbewegung zusammen und mit dem ästhetischen Willen in deren
Niederungen die neuen Heroen für die Kunst zu finden. In einer direkten
Linie führt diese Strömung zu Adorno, der mit sehr ähnlichen Argumenten
den "Schönen Schein" der Kunst als eine ungerechtfertigte Versöhnung mit
einer zerrütteten Wirklichkeit geißelt.41
Adorno sieht schließlich von der Kunst als einem Genuss gänzlich ab: "Der
Begriff des Kunstgenusses als konstitutiver ist abzuschaffen". 42 In seiner
Theorie findet sich eine geistige Seilschaft zwischen ästetischem Genuss,
sinnlichem Wohlgefallen, Kitsch, dem Kulinarischen, wie er es nennt, der
Kulturindustrie, der Propaganda und der Ideologie. 43
Das Angenehme an der Kunst hat von alters her mit ihrem mimetischen
39
EBENDA, 205.
Vgl. EBENDA, 398.
41
EBENDA, 371.
42
EBENDA, 30.
43
EBENDA, 411, 177, 464, 12, 412.
40
Moment zu tun, also damit, dass etwas dargestellt wird. Das ästhetische
Wohlgefallen entspringt eben aus dieser Täuschung, Artistoteles nennt es
eine Lust der Erkenntnis, weil wir im Bild einen Gegenstand der
dargestellten Wirklichkeit erkennen und uns daran erfreuen. 44 Der damit
zusammenhängende Scheincharakter des Kunstwerks kam bei Hegel, dann
bei Oskar Wilde ein letztes Mal zu Ehren, dann setzte der Naturalismus die
Axt an die Wurzel, Adorno gab schließlich den Fangschuss.45
Dabei schlussfolgert Adorno kompromisslos, dass wer heute, also in seiner
Zeit, realistisch, d. h. gegenstandsbezogene Kunst betreibe, sich der
Ideologie schuldig mache.46
Tatsächlich wurde die mimetische, also die objektbezogene Kunst in Europa
und in der damaligen Sowjetunion nicht nur mit ästhetischen Werken
bekämpft, sondern auch von der CIA, dem amerikanischen Geheimdienst,
wodurch die damalige abstrakte Kunst, die Informelle Malerei, zum ersten
internationalen Stil wurde. Dies ist keine Hypothese, sondern eine durchaus
bekannte Tatsache, über die allerdings kaum gesprochen wird.
Die sehr verbreitete Meinung, dass Kunst mit Authentizität der Intention
und des Gewissens und mit Aufrichtigkeit zusammenhänge, hat in dieser
Ablehnung des schönen Scheins, wie es Hegel nannte, seine Wurzel. In der
Architektur wurde der künstlerische Schein durch das Bestreben nach
sogenannter Materialechtheit ersetzt. Es ist kein Zufall, dass Adorno sich in
seinen frühen Jahren in Wien im selben Biotop mit Karl Kraus, Freud, Musil
und Adolf Loos, dem Vater der architektonischen Moderne, befand. Hier hat
er jene Gedanken vorbereitet, die er Jahre später in Form eines imposanten
Systems zu Papier brachte. Es ist mehr als ein Zufall dass gerade Wien mit
ihrem Barock, Biedermeier, mit ihrer Fassadenarchitektur und ihren ganzen
Zeitungslesern, kurzum mit dem ganzen Arsenal habsburgischer
Bühnentechnik diese scharfsinnigen Leute dazu bewogen hat, die Farbe von
den Tempeln der Kunst herunterzukratzen. 47
Fragment und Werkcharakter gegen Ganzheit
Die sinnstiftende Einheit des Kunstwerks, seine gegliederte Ganzheit, wird
aus den zuvor genannten Gründen im Zusammenhang mit der Vernunft
abgelehnt.48 Adorno spricht von der starken Tendenz der Kunstwerke "der
Geschlossenheit des eigenen Gefüges sich zu entwinden, in sich selbst
44ARISTOTELES, Poetik, Olof Gigon (Hg.) Stuttgart 1971, 20ff.
45Lukács ist dabei eine Ausnahme. Vgl. Andres C. PIZZININI, Antimoderne, Ästhetische Gegenkonzepte zur
künstlerischen Avantgarde, Hamburg 2012, 203-238.
46
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 477.
47
Vgl. dazu auch Johann DVORÁK, Theodor W. Adorno und die Wiener Moderne, Frankfurt am Main 2005, 30ff.
48
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 161.
Zäsuren zu legen, die Totalität der Erscheinung nicht länger gestatten."49
Zur Ganzheit meint Adorno: "Während die Einheit der Kunstwerke
abstammt von der Gewalt, welche die Vernunft den Dingen antut, stiftet sie
zugleich in den Kunstwerken die Versöhnung ihrer Momente."50
An anderer Stelle spricht er in ähnlicher Weise über die offene Form: "In
hochentwickelten modernen Werken neigt die Form dazu, ihre Einheit, sei's
dem Ausdruck zuliebe, sei's als Kritik des affirmativen Wesens, zu
dissoziieren."51 Ein Vergleich mit dem Offenen Kunstwerk von Umberto
Eco verdeutlicht Adornos Position. Auch Eco spricht von
unabgeschlossenen Formen im Kunstwerk, doch ist dies eine epistemische
Metapher für die Relativismen, die durch die großen wissenschaftlichen
Erkenntnisse seiner Zeit erfolgten, wie z.B. durch die Quantentheorie oder
die Relativitätstheorie. Adorno vertraut den Wissenschaften weniger als Eco,
für ihn ist die Unabgeschlossenheit des Werks sozial motiviert, und zwar als
Indikator einer Gesellschaft, die durch "vollendete Negativität"
gekennzeichnet ist, von Adorno auch "prästabilierte Disharmonie"
genannt.52
Eine weitere Stelle aus der Ästhetischen Theorie: "Kunst obersten
Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische."
Musikalisch zeige sich dies im sogenannten Finalproblem, in der Dichtung
am Schluss53. Denken wir an die Fotografie, so ist es längst Usus geworden
abgebildete Objekte, vor allem Portraits zu beschneiden, was sich
inzwischen auch in der Werbegraphik und in anderen bildgebenden
Handwerken sedimentiert hat.
Nicht nur der Abschluss, sondern auch der Beginn eines Werkes, wird
unkenntlich gemacht. Der Herstellungsprozess wird Teil desselben Werkes,
durch dessen Integration der sogenannte Werkcharakter bezeichnet wird.
Adorno meint dazu: "In schroffem Gegensatz zur herkömmlichen kehrt die
neue Kunst das einst versteckte Moment des Gemachten, Hergestellten
selbst hervor" 54 . Auch dies hat sich weitgehend in der heutigen
künstlerischen Praxis sedimentiert, wenn wir an den industriellen Charme
von Denkwerkstätten, Kunst am Bau und Ausstellungen in verlassenen
49
EBENDA, 137.
EBENDA, 454.
51
EBENDA, 212.
52
Theodor W. ADORNO, Negative Dialektik, Stuttgart 2003, 25. Zur Theorie von Eco vgl. Umberto ECO, Opera aperta,
das Kapitel L'opera come metafora epistemologica, Mailand 1962.
53
Theodor W. ADORNO, Ästhetische Theorie, wie Anm. 2, 221, weiteres zur Problematik der Einheit auf Seite 278.
54
Ebenda, 46.
50
Fabrikhallen denken, nebst dem Einfallsreichtum an Namen für
künstlerische Aufsteiger und Pop Bands aus der Branche aus dem Bereich
der Schwerindustrie.
Jede neue Kunst muss extrem sein, was Adorno selbst mit Konservativen
Theoretikern wie Sedlmayr teilt. Extrem ist etwas, wenn es sich im
Grenzbereich, also am Rande seiner selbst befindet. Das heißt, dass im
Wettlauf um das Extreme gibt es notwendigerweise einen Endpunkt. Diesen
Endpunkt hat die Theorie der Kunst in Adorno zweifelsohne erreicht, in der
Kunst geschah dies bereits viel früher. Es gibt zwei mögliche Reaktionen
darauf: entweder Epigonentum oder die Suche nach einer neuen Harmonie.