Wien Modern – Eröffnungsrede Susanne Kirchmayr, 5. November

Wien Modern – Eröffnungsrede Susanne Kirchmayr, 5. November 2015
Guten Abend, verehrte Damen und Herren! Ich freue mich sehr, dass ich heute hier vor Ihnen stehe und die
Eröffnungsrede halten werde. Ich hoffe, dass Sie mir verzeihen können, wenn ich nicht frei reden, sondern lesen
werde. Mir ist diese Rede einfach zu wichtig und ich möchte Ihre Zeit nicht verschwenden...
Manche von Ihnen werden sich vielleicht fragen: „Was sucht diese Person da oben?“. Nun, das ging mir im
Vorfeld ähnlich... Aber in Wahrheit hat es wohl etwas mit dem diesjährigen Motto des Wien Modern Festivals zu
tun. Mein Auftrag ist es offensichtlich, die Interferenzen von hoher Kunst, Musik der Gegenwart und Pop zu
repräsentieren, was mich allerdings nicht ganz uneingeschränkt glücklich macht. „Pop“ bzw. „Popmusik“, so
wie ich sie verstehe, hat für meine Begriffe oft etwas Schmähliches, mit Kommerz oder Sellout Konnotiertes, von
dem ich mich seit etwa zweieinhalb Jahrzehnten abzugrenzen bemüßigt fühle. Dieses Abgrenzungsbedürfnis
liegt selbstverständlich an der bestehenden Verwechslungsgefahr, denn was denkt eine, die mit der Materie
vielleicht nicht ganz so vertraut ist, wenn sie den Begriff „Techno“ hört? Vermutlich an überfüllte
Großraumdiscos, Drogen und klebrige Longdrinks. Ich habe mich aber schon lange der nicht ganz so leicht
zugänglichen Musik verschrieben und tendiere unbestreitbar dazu, mit einem gewissen Hochmut auf simpel,
nach erprobten Rezepten gestrickte Stücke, die aufdringlichen Signalcharakter haben, herabzublicken. Für
diese Rede musste ich sozusagen über meinen eigenen Schatten springen und, aus etwas Distanz betrachtet,
Pop weniger abfällig definierend, kann ich natürlich anerkennen, dass ich mich nicht nur in zwei gemeinhin als
sehr unterschiedlich wahrgenommenen Bereichen bewege, vereinfacht gesagt sowohl in der Hoch- als auch in
der Subkultur mehr oder weniger beheimatet bin, sondern ich kann der Popkultur auch einiges Positive
abgewinnen.
Aus diesem Grund fällt es mir leicht, Parallelen und Gemeinsamkeiten festzustellen, insbesondere, was die
Moderne und sozusagen dissidente Subkulturen angeht: Da wären auf musikalischer Ebene unter anderem die
Suche nach unerhörten Klängen, die übrigens in beiden „meiner“ Bereiche besonders wichtig ist, veränderte
Tonalitäten, der Anspruch auf Innovation und Originalität – ob der dann auch verwirklicht wird, steht natürlich auf
einem anderen Blatt geschrieben. Der Bruch mit Traditionen und allgemein anerkannten Regeln ist typisch, es
gilt Formelhaftigkeit und Presets tunlichst zu vermeiden, die Erkundung neuer Ausdrucksmittel und ästhetischer
Formen, Diskontinuitäten, Stilpluralismus können wir da wie dort beobachten.
Im Feld der elektronischen Musik wird es meines Erachtens noch deutlicher: Maschinenmusik lässt sich auf die
Futuristen zurückführen, ebenso Musik aus Geräuschen / Noise Music. Die Musique Concrete, elektroakustische Musik, Kompositionen mit Klangpartikeln und in Folge die Granularsynthese, die immerhin die
Grundlage für das kreative Arbeiten mit Samples liefert, kommen aus dem akademischen Bereich und sind ganz
wesentliche Impulsgeber für die Popmusik, sei sie kommerzieller Natur oder sogenannte Undergroundmusik.
Etwa in den 1960er Jahren begannen die Grenzen zwischen Moderne und populärer Kultur zu verschwimmen.
Die Mods, eine der ersten, berühmt-berüchtigten, subkulturellen Jugendbewegungen, beziehen sich ganz
explizit auf die Moderne, ist ihr Name doch eine Abkürzung für „Modernists“. Darüber hinaus spielt die moderne
bildende Kunst eine mindestens so große Rolle in der Popkultur. Kein Popstar wäre ohne Image, ohne FashionStatement, kein Popsong ohne Video denkbar. Hier werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts Anleihen in der
Hochkultur genommen und in manchen Fällen überhaupt neue Maßstäbe an Innovation gesetzt.
Selbst das Bestreben, bleibende, hochqualitative Kunst zu machen, ist der Popkultur nicht fremd. Als Beispiel
dienen mir Krautrock-Bands wie Tangerine Dream. Can, Amon Duul oder Neu!, die sich zwischen Karlheinz
Stockhausen und Jimi Hendrix sahen, jedenfalls weit abseits vom Mainstream – ein Begriff, den ich mit Kitsch
im Sinne von Clement Greenberg gleichsetze und als mechanisierte, formelhafte, bequem konsumierbare Ware
beschreiben möchte.
Aber es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen akademischer Musik und subkultureller Popmusik: den
Anspruch auf Authentizität, im Pop-Kontext auch gerne Credibility genannt, und den Widerstand gegen die
Kulturindustrie. Letzterer äußert sich im subkulturellen Zusammenhang zum Beispiel im vorsätzlichen
Unterwandern von Vermarktung: Das Veröffentlichen unter ständig wechselnden Projektnamen, das
Vorenthalten von Informationen – ich da denke an Platten, die ausschließlich als Whitelabels ohne Aufdruck
verkauft werden, oder an gezielte Desinformation mittels kryptischer Gravuren im Vinyl; auch die strikte
Weigerung, Portraitfotos oder überhaupt Fotos publik zu machen, ist geradezu typisch für ein bestimmtes
Segment der elektronischen Clubmusik, dem ich mich zugehörig fühle. All das hat z.B. in Berlin oder Detroit eine
jahrzehntelange Tradition. Aus Detroit, genauer gesagt aus dem Umfeld einer Gruppe namens Underground
Resistance, kommt auch der Spruch „For those who know“, der sich auf die Verfügbarkeit ihrer Musik bezieht.
Mit Absicht vermeiden sie Werbung, aktives Promoten ihrer Platten oder Künstler. Manche ihrer Releases sind
ausschließlich im eigenen, „Somewhere In Detroit“ genannten Plattenladen erwerbbar. Da muss man als
Europäerin eben über den Atlantik fliegen, um die zu bekommen.
Dieser Widerstand gegen die Gesetze des Marktes geschieht selbstverständlich als ein Akt der Autonomie, die
auch in Theodor Adornos Ästhetischer Theorie eine gewichtige Rolle spielt. Gleichzeitig bedeutet es Exklusivität,
also die Ausgrenzung von Unkundigen – eine weitere Überschneidung zwischen den beiden Feldern.
Womit ich bei einem wichtigen Kritikpunkt an der Moderne angekommen bin: ihrem Elitismus, den sie, wie
gerade beschrieben, durchaus mit den mir persönlich sehr vertrauten Bereichen gemein hat... Außerdem fällt
mir da noch z. B. die strenge Türpolitik in Clubs ein. Clubs, die auch ich für die coolsten des Planeten halte.
Jedenfalls, der reflektierte und kritische Zugang zu hoher Kunst, zu Avantgarde, die sich durch den Bruch mit
ästhetischen Konventionen dem kommerzialisierten Musikbetrieb entziehen möchte, ist an Bildung und Wissen
gekoppelt. „Ästhetische Reflexion von Musik ohne mimetischen Nachvollzug ist leer, ästhetische Erfahrung von
Musik ohne begrifflichen Nachvollzug ist taub.“, schrieb Adorno und dieser Satz findet bei mir großen Widerhall.
Wissen allerdings, oder der begriffliche Nachvollzug, ist eine Funktion von Macht. (Womit ich bei Michel Foucault
gelandet bin...) Wenn wir Ästhetik als Teilbereich der Erkenntnistheorie sehen und anerkennen können, dass
Kunst zumindest teilweise dem Erkenntnisgewinn dient, dann behaupte ich, auch die Zugänglichkeit zu Kunst ist
eine Funktion von Macht. Wir haben es also mit kulturell, sozial und auch politisch bedingten Hürden bzw.
Chancen zu tun. Das betrifft nicht nur die Erschließbarkeit von anerkannt hoher Kunst, sondern auch jene
etablierter Subkulturen. Je elaborierter und verfeinerter die ästhetische Sprache und die Strukturen einer
Subkultur sind, desto elitärer und im Regelfall auch männlich-weiß-patriarchalischer gestaltet sie sich, wenn
nicht bewusst gegengesteuert wird. Die natürlichen Folgen von Elitismus und Exklusivität sind Redundanz und
Selbstreferenz, während kulturelle Weiterentwicklung von der Durchlässigkeit sozialer, geschlechtlicher,
ethnischer aber auch ästhetischer Grenzen lebt. So kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass
avancierter Pop bzw. der Underground überhaupt erst durch die Partizipation wirtschaftlich und politisch nicht
privilegierter Schichten entstanden ist. Schichten, die auch meist einen erschwerten Zugang zu Bildung haben.
Ohne die Musik der Black Communities in Nordamerika, ohne die schwul-lesbischen Clubs in den USA, ohne
die Kultur der Einwanderer- und Arbeiterghettos in Großbritannien z. B. wäre ich nicht da, wo ich heute bin.
Übrigens wahrscheinlich auch nicht ohne japanische Synthesizer... Sie sehen, ich will auch den vorherrschende
Eurozentrismus der Hochkultur in Frage stellen.
Dieses in vielerlei Hinsicht grenzüberschreitende Potential der Popkultur, aber auch die Tatsache, dass die
Unterscheidung von Moderne und Massenkultur durch ihr seit der Nachkriegszeit fortschreitendes
Verschmelzen an Präzision verlor, mögen zusätzliche Gründe für dieses Festivalmotto „Pop, Song, Voice“ sein.
Lassen Sie mich zu den Gesetzen des Marktes zurückkehren. Die autonome Kunst kann nicht – oder darf nicht
– konsumiert werden, da sie, nach Adorno, zweckbefreit, von allen Ansprüchen des Marktes gelöst ist. Kunst
sei ein gesellschaftlich erzeugter Tatbestand, ein „fait social“. Kunstwerke seien in die herrschenden
Produktionsverhältnisse eingebunden und Produkte gesellschaftlicher Arbeit. Aus ihrer, der Gesellschaft
mühsam abgezwungenen Autonomie folge ihre Funktionslosigkeit. Interessanterweise gedieh oder gedeiht die
von Adorno so beschriebene, autonome Kunst aber ausschließlich in konsumistischen, kapitalistischen
Gesellschaften, was darauf hindeutet, dass diese das notwendige Umfeld für hohe Kunst bilden.
Darüber hinaus leben wir in einer Zeit, in der Kriterien, die nicht ökonomischer Natur sind, in den Hintergrund
treten und die wirtschaftliche Kraft, die zur Realisierung eines Kunstwerkes eingesetzt wird, einen allgemein
gültigen Indikator für deren Qualität darstellt. Diese neoliberalen Bedingungen haben gravierende Auswirkungen
– sowohl auf die hohe Kunst, als auch auf die Kulturindustrie bzw. niedere Kunst. An beiden Enden der Skala
stellt das ökonomische Ergebnis einen wichtigen Gradmesser für die künstlerische Errungenschaft dar. Der
Wandel zum Warencharakter von Kunst scheint unaufhaltsam und es ist bestimmt kein Zufall, dass mir die
Empörung über eine Untergrabung von Urheberrechten durch das Internet, die ja in den meisten Fällen eher
eine Untergrabung von Verwertungsrechten großer Player am Musikmarkt meint, in akademischen Kreisen
weniger laut vorkommt. Wie dem auch sei, der wirtschaftliche Erfolg, so er denn gegeben ist, bedingt und
bewirkt gleichzeitig eine unternehmerische Professionalisierung der Künstlerinnen und Künstler. Überschüsse
müssen in neue Projekte investiert werden, um das Rad am Laufen zu halten... Wir haben uns weit wegbewegt
von der Autonomie der Kunst.
Aber zum Glück gibt es innerhalb dieses neoliberalen Umfeldes die Möglichkeit, den Gesetzen des Marktes zu
widerstehen. Hans Bertens unterscheidet zwischen Postmodernism of Resistance und Postmodernism of
Reaction, wobei Postmodernism of Resistance die Autonomie als wichtige Größe beibehält oder sie sogar
weiterentwickelt, und nur der Postmodernism of Reaction sozusagen klein beigibt und die Kommerzialisierung
der Kunst rückhaltlos betreibt. Techniken wie Collage, Pasticcio, Remix, Crossover, Parodie und Ironie sind
naturgemäß hervorragend geeignet, die Autonomie der Musik, der Kunst in Frage zu stellen und statt dessen
auf einen kulturellen, sozialen oder politischen Kontext zu verweisen, somit Kritik zu üben und einem
Erkenntnisgewinn Vorschub zu leisten – eine der möglicherweise zentralen Aufgaben von Kunst. Auch die
Überwindung der Konzentration auf Exzellenz und Virtuosität, welche als Selbstzweck oft genug Beschränkung
und Verzerrung der ästhetischen Fragestellung zur Folge hat, kann als künstlerische Praxis zu Originalität,
Innovation, Erkenntnisgewinn und Autonomie führen.
Ob die neoliberalen Gegebenheiten ursächlich für die postmoderne Infiltrierung von Avantgarde durch Kitsch
und vice versa verantwortlich sind, weiß ich nicht. Immerhin hat Greenberg dieses Phänomen schon 1939
beschrieben. Andererseits kann man durchaus konstatieren, dass der Einsatz von volkstümlichen
Versatzstücken aller Art – Cartoons, Pornografie, Mundart, Volkslied, Hollywood Blockbuster, TV-Serien etc. – in
der hohen Kunst seit den 1980er Jahren ganz besonders intensiviert wurde und somit zeitlich mit dem
Neoliberalismus korreliert. Wichtig für die Klassifikation als hohe Kunst scheint vor allem der Kontext, in dem sie
erlebbar wird. Man kann böserweise natürlich auch konsumierbar sagen. Wie Nelson Goodman 1968 festhielt,
die Frage danach, was Kunst sei: „What is art?“ kann durch „When is art?“ ersetzt werden.
Wenn sich Wien Modern „Pop“ und sogar „Song“ – für mich der Inbegriff von kommerziell verwertbarem Pop
und nicht nur besonders von formaler Standardisierung sondern auch von der „Regression des
Hörens“ betroffen, bei der die Wiedererkennung anstelle des Wertens tritt – wenn sich also dieses Festival
derartige Begriffe auf die Fahnen heftet, dann können wir Goodman ganz sicher antworten: „now is art“.
Darüber hinaus kann ich mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Wien Modern nun, nach fast 30 Jahren
Festivalgeschichte, zu Wien Postmodern geworden ist.
Davon aber ganz unbenommen, werden wir jetzt gleich in den Genuss großartiger, unzweifelhaft hoher Kunst
kommen zu der ich noch ein Adorno-Zitat anbringen möchte: „In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas,
was es nicht gibt.“
In diesem Sinne freue ich mich sehr auf das Konzert und all die folgenden Konzerte des diesjährigen Wien
Modern Festivals und danke für Ihre Aufmerksamkeit.