Internat, SU, 2015-06-12, ZLV

Quelle:
, 12.06.2015
»Es war ein Schwindel sondergleichen«
Gespräch mit Bruno Mahlow. Über die Zerstörung der Sowjetunion, deren
Ursachen und die Frage, warum sich Moskau von der NATO täuschen ließ
Seit 1985 war Michail Gorbatschow
Generalsekretär der KPdSU, später
Präsident
der
Sowjetunion.
Parteichef war er seit dem Verbot
der KPdSU in Rußland im August
1991 nicht mehr, das andere Amt
verlor er formell mit der Auflösung
der UdSSR Ende 1991. Wie lassen
sich die wichtigsten Veränderungen
in der sowjetischen Außenpolitik
gegenüber den USA in diesen
Jahren charakterisieren?
Wer über die Außenpolitik eines Landes sprechen will, muß sich zuerst dessen
Innenpolitik anschauen. Um zu verstehen, was sich unter Gorbatschow verändert
hat, muß man einige Jahre vor 1985 zurückgehen. 1981 kam der Sekretär des
Zentralkomitees der KPdSU, Konstantin Russakow, im Auftrag von Leonid
Breshnew, dem damaligen Generalsekretär der KPdSU, zu einem Gespräch mit
Erich Honecker nach Berlin. Es ging um die Reduzierung der sowjetischen
Erdöllieferungen an die DDR um zwei Millionen Tonnen im Jahr. Russakow sagte zu
Honecker, es sei dem Genossen Breschnew sehr schwergefallen, mit einer solchen
Bitte an ihn heranzutreten. Er hoffe auf Verständnis.
Honecker erläuterte die Probleme, die das für die DDR aufwarf, es ging hin und her,
bis Russakow erklärte: »Ein großes Unglück ist geschehen«, und die Situation mit
der zur Zeit des Friedens von Brest-Litowsk 1918 verglich, also mit einer Situation, in
der es um die Existenz der Sowjetmacht ging. Die sogenannten Mittelmächte, das
kaiserliche Deutschland, die österreichisch-ungarische Monarchie und das
Osmanische Reich, diktierten eines der schändlichsten Friedensabkommen der
Geschichte, mit dem 26 Prozent des damaligen europäischen Territoriums Rußlands
geraubt wurden. Der Vergleich Russakows mit Brest kam damals nicht ins
Gesprächsprotokoll, weil niemand die Frage beantworten konnte, worin das Unglück
bestehen sollte. Auch ich, der wußte, was der Brester Frieden bedeutete, konnte das
zu diesem Zeitpunkt nicht.
Später lag die Antwort aber auf der Hand. Bei den regelmäßigen Gesprächen
zwischen Breshnew und Honecker in den 70er Jahren, an denen ich seit 1974
teilnahm, wurde solch eine dramatische Formulierung nie benutzt. Es ging z.B. um
die Kosten der Hochrüstung oder die schlechte Ernte. Für mich habe ich im
nachhinein rekonstruiert: Bevor von einem »Unglück« gesprochen wurde, muß die
sowjetische Führung beraten haben. Aber es dauerte lange, bis ich begriff, was
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gemeint war. Meine verstorbene Frau, die aus Rußland stammte, und ich sahen
zwar, wie sich etwa die Lebensmittelversorgung in den 80er Jahren verschlechterte.
Aber eine Frage der Existenz?
Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren sagte mir ein russischer Botschaftsrat, der
1989/90 an der sowjetischen Botschaft in Bonn gearbeitet hatte: »Glaub nicht, daß
wir damals etwas mit Vereinigung und DDR zu tun hatten. Wir bekamen nur den
Auftrag: Besorgt Kredite, Kredite und nochmals Kredite.«
Würden Sie heute sagen, daß mit »Brester Frieden« schon bei Russakow eine
Gebietsabtretung gemeint war?
Das nicht, aber die Probleme lagen auf derselben Ebene. Ich gehe sogar soweit zu
sagen: Die Situation Anfang der 80er Jahre war von ähnlicher Bedeutung wie der 22.
Juni 1941, der Tag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion. Es ging nicht
mehr um eine Erneuerung, sondern um Grundsätzliches.
Es gab nie eine ganzheitliche Theorie des sozialistischen Aufbaus. Gorbatschow hat
später darauf hingewiesen, daß es nie gelungen war, die wissenschaftlich-technische
Revolution mit den Errungenschaften des Sozialismus zu verbinden – im Gegenteil,
der Abstand zum Kapitalismus vergrößerte sich. Das ist der entscheidende Punkt
aus meiner Sicht.
Aus dieser Analyse heraus versuchte die sowjetische Führung, neue Ansätze zu
finden. Und selbstverständlich: Es gibt allgemeine menschliche Interessen, es war
auch so etwas wie das »neue Denken« nötig, wie Gorbatschow es propagierte. Ich
bin zudem der letzte, der das Scheitern des Sozialismus auf Verrat zurückführt.
Dafür muß es einen Verräter geben und Leute, die sich verraten lassen. Aber die
Antworten der KPdSU auf die Lage des Landes in den 80er Jahren schufen neue
Probleme. Für mich steht dabei der XXVIII. Parteitag, an dem ich im Juli 1990 als
Gast teilnahm, im Zentrum.
Insbesondere der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse trat
dort mit der Auffassung auf, der Lösung gemeinsamer Probleme der Menschheit
müsse alles untergeordnet werden. Was sind aus Ihrer Sicht die Konsequenzen
dieser Position?
Sie ist falsch. Man ignoriert damit, daß auf internationaler Ebene Klassenkampf
stattfindet. Diese Auffassung konnte nur zur Folge haben, daß die Sowjetunion zu
einer drittrangigen Macht wurde. Deswegen habe ich auf den 22. Juni 1941
hingewiesen.
Gab es an Schewardnadses Position öffentliche Kritik, oder haben Sie eine solche
den Gesprächen mit sowjetischen Genossen entnommen?
Das waren in erster Linie Gespräche, aber es gab diese Kritik auch auf dem
Parteitag, in ziemlich scharfer Form sogar. Nur noch ein Beispiel: Ich traf dort den
damaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow. Er
sagte mir: »Bruno, wir haben immer gemeinsam überlegt, warum sich alles so
entwickelt hat. Jetzt haben wir die Antwort: Alle unsere Probleme kommen von hier,
aus Moskau.« Das war sehr repräsentativ für die Stimmung auf dem Parteitag.
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Ich will noch hinzusetzen: Richtig ist, was Walentin Falin, der langjährige sowjetische
Botschafter in Bonn, und andere sagen. Es gab für die Vereinigung von DDR und
BRD und die Rolle der Sowjetunion dabei kein durchdachtes und ausgewogenes
Konzept. Einige Beispiele: Die internationalen Verhandlungen dazu hießen zuerst
»Vier plus Zwei«. Woher kam das »Zwei plus Vier«? Im Februar 1990 wurde diese
Formel in Ottawa durch Schewardnadse eingeführt. Falin, damals Abteilungsleiter im
Zentralkomitee der KPdSU, und sein Kollege Anatoli Tschernjajew machen in ihren
Erinnerungen deutlich, daß Schewardnadse dazu nicht befugt war.
Entscheidungen zu solchen strategischen Fragen wurden damals in einer Art
Hinterzimmer getroffen, d.h. unter Umgehung aller politischen und parlamentarischen
Strukturen. Schewardnadse brachte es als Außenminister fertig, keine Vermerke zu
machen, die weitergegeben werden konnten. Was das heißt, kann ich beurteilen. Ich
habe ungezählte solcher Vermerke verfaßt und gelesen.
Ein weiteres Beispiel: Als unter den in der DDR stationierten sowjetischen Truppen
Unruhe wegen der dortigen Entwicklung entstand, ordnete Gorbatschow als
Oberkommandierender an, sich nicht einzumischen. Sonst werde der dritte Weltkrieg
ausgelöst. Heute wird behauptet, es habe einen solchen Befehl nie gegeben. Das ist
eindeutig falsch, ich war bei den Gesprächen mit Gorbatschow im Herbst 1989
anwesend, in denen er danach gefragt wurde. Unabhängig davon, was stimmt: Es
bleibt die Tatsache, daß man sich nicht eingemischt hat. Für mich bestätigt all das
Kotschemassow: Die Probleme wurden durch die Zerfahrenheit und
Konzeptionslosigkeit in Moskau verschärft.
Als die Verhandlungen in Ottawa aufgenommen wurden, war die Vereinigung von
DDR und BRD bereits ein Thema. Welche Rolle spielte das in den Beziehungen
zwischen Moskau und Washington?
Schewardnadse hat 2009 in einem Interview erzählt, daß er vom damaligen USAAußenminister James Baker in Ottawa darauf angesprochen wurde. Er habe darauf
geantwortet, darüber bereits nachgedacht zu haben, aber eine Entscheidung sei in
seinem Land noch nicht gefallen. Außerdem erklärte Schewardnadse in diesem
Interview, er habe den damaligen BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den
er als anständigen Kerl betrachtete, gebeten, ihm zu helfen, damit die Gegner einer
solchen Vereinigung in Moskau nicht unruhig würden. Wer eine Bestätigung für diese
Vorgänge haben will, lese das Buch »Achtung! Vorurteile« von Peter Ustinov aus
dem Jahr 2003. Schewardnades Haltung war jedenfalls eindeutig zweideutig. Dazu
gehörte auch ein Spiel, in dem die DDR als Trumpfkarte genutzt wurde.
Was wußte die DDR-Führung von solchen »Überlegungen« bis 1989, z.B. Erich
Honecker?
Er wußte, daß von Moskau dies und jenes sondiert wurde, hat das aber nicht im
Politbüro zur Sprache gebracht. Das wurde später kritisch bewertet. Aber was wußte
z.B. ich? Für mich war das Jahr 1987 wichtig. Damals saßen Georgi Arbatow,
Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Außenpolitiker, und ich eines Tages
in einer Sauna. Und da sagte Arbatow zu mir: »Bruno, man muß irgend etwas mit der
Mauer machen.« Ich war erschrocken, dachte aber nur an das Modell einer
Föderation zwischen DDR und BRD, das von Walter Ulbricht Ende der 50er Jahre
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entwickelt wurde. Im Juli 1988 fragte mich ein Besucher aus den USA, Professor
Charles Gati, übrigens, ob die DDR darauf vorbereitet sei, daß die Sowjetunion die
Frage nach der Beseitigung der Mauer aufwerfe.
Zusammengefaßt: Als Russakow 1981 von einem »Unglück« sprach, verstand die
DDR-Führung nicht die Tragweite. Warum klingelten aber bei solchen Äußerungen
1987 oder 1988 nicht alle Alarmglocken?
Es gab viel gegenseitiges Mißtrauen. Heute ist bekannt, daß jede Seite – DDR, BRD
und Sowjetunion – über eigene geheime Kanäle zur jeweils anderen Seite verfügte.
Ich erinnere nur an das überraschende Gespräch 1973 zwischen Erich Honecker,
dem FDP-Politiker Wolfgang Mischnick und Herbert Wehner, damals SPDFraktionsvorsitzender im Bundestag. Ich werde nie vergessen, daß Honecker bei
einer Diskussion einmal sagte: »Herbert Wehner ist ein guter Genosse.«
Aber die Zeichen mehrten sich. Im Sommer 1989 gab es ein Gespräch auf
Staatssekretärsebene mit Moskau, bei dem wir fragten, ob die Sowjetunion daran
denke, die DDR zu opfern. Darauf gab es keine Antwort. Ich selbst konferierte mit
sowjetischen Außenpolitikern über die deutsche Frage. Dabei wurde mir erklärt, die
DDR sei das schwächste Glied der sozialistischen Gemeinschaft.
Wo und wann wurden 1989/90 die entscheidenden Weichen für eine NATOMitgliedschaft des vereinten Deutschland gestellt?
Bei den Gesprächen Gorbatschows mit Egon Krenz und später mit Hans Modrow
Ende 1989, Anfang 1990 spielte das keine Rolle. Ich denke, hier kommen wir wieder
zum Hinterzimmer. Der große Vertreter von Glasnost, also von Transparenz,
Gorbatschow, vereinte eine solche Machtfülle auf sich wie vorher niemand. Das ist
paradox, aber daran muß man erinnern. Daher werde ich nie verstehen, daß er auch
Jahre danach nie ein erklärendes Wort für sein Scheitern gefunden hat. Aber es gibt
nun einmal in Zeiten der Konfrontation eine rote Linie. Ich halte es da mit dem DDRJournalisten und Politiker Gerhart Eisler, der nach dem XX. Parteitag der KPdSU
1956, nach der Chruschtschow-Rede zu Stalin, einmal bei einer öffentlichen
Versammlung gefragt wurde, ob er auch für Stalin gewesen sei. Eisler antwortete
trocken: »Ja, es konnten ja nicht alle für Hitler sein.«
Zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland: Genscher erklärte Anfang
Februar 1990 in Washington, es gebe keine Pläne zur Ausweitung der NATO nach
Osten, das betreffe nicht nur die DDR. Gorbatschow verlangte wenige Tage später
gegenüber USA-Außenminister Baker in Moskau, das vereinte Deutschland solle
neutral sein, eine NATO-Ausdehnung sei inakzeptabel. Analoge Äußerungen gibt es
vom damaligen NATO-Generalsekretär Manfred Wörner, und Egon Bahr schreibt,
der Westen habe der Sowjetunion zugesagt, er werde ihr nicht auf den Pelz rücken.
Was seither passierte, ist eindeutig. Die NATO hat, militärisch gesehen, die
Nachteile, die sie gegenüber Rußland hatte, korrigiert und verzeichnet einen
Raumgewinn in Richtung Moskau von bis zu 700 Kilometern. Das ist heute z.B. für
den Ukraine-Konflikt von Bedeutung.
Das mußte doch jedem Fachmann klar sein. Gab es in Moskau keinen Widerstand?
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Man darf nicht vergessen, daß die KPdSU im August 1991 in Rußland verboten
wurde. Und: Viele Russen, die ich kannte, waren zwar Patrioten ihrer Großmacht,
aber keine Marxisten. Da waren wir blauäugig. Außerdem sollte nicht unterschätzt
werden, welche Rolle die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen politischen
Lager innerhalb der Sowjetunion seit den 1920er Jahren stets gespielt haben. Auch
heute gibt es große innere Gegensätze, etwa zwischen Moskau und St. Petersburg.
Die NATO-Außenminister haben im Juni 1990 die sogenannte Botschaft von
Turnberry Richtung Moskau geschickt. Inhalt: Die Zeit der Konfrontation ist vorbei.
Was sollte das?
Man wollte auf den XXVIII. Parteitag der KPdSU Einfluß nehmen. Es war, wie wir auf
deutsch sagen, Süßholzraspeln – oder mit einem russischen Ausdruck: »Weich
betten, hart schlafen«. Da ist von Stärkung der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa, der KSZE und späteren OSZE, die Rede, von der
Abrüstung konventioneller Waffen. Nichts in dieser Richtung ist passiert, es war ein
Schwindel sondergleichen. Dasselbe gilt für die »Charta von Paris für ein neues
Europa« vom November 1990. Nichts liegt den USA ferner als die Idee eines
geeinten, starken Europa. In Washington gilt weiterhin die Devise: die USA drin, die
Russen draußen und die Deutschen unter Kontrolle.
Halb Moskau muß das doch gewußt haben.
Von Aristoteles stammt die Einsicht: Ein Staat kann von außen nicht zerstört werden,
wenn die innere Lage es nicht gestattet. Das gilt auch für das Ende der Sowjetunion.
Dem Westen kann nicht verübelt werden, daß er jede Möglichkeit genutzt hat. Hinzu
kommt eine historische Tatsache, die der verstorbene sowjetische Diplomat Juli
Kwizinski so beschrieben hat: Für Rußland war Deutschland außenpolitisch stets die
erste Wahl, für Deutschland war Rußland stets nur die zweite. Und: Deutschland hat
sich seit dem Ersten Weltkrieg an keinen Vertrag gehalten. Es gibt in dieser Hinsicht
nichts Neues.
Interview: Arnold Schölzel
Bruno Mahlow (geb. 1937 in Moskau) war DDR-Diplomat und arbeitete seit 1967 in der
Abteilung Internationale Beziehungen des Zentralkomitees der SED, seit 1973 als
stellvertretender Abteilungsleiter. Er ist Mitglied des Ältestenrats der Partei Die Linke
Freitag 12. Juni 2015