BRENNPUNKT ARZNEI Jahrg. 20, Nr. 2 | Juli 2015 Pharmakotherapie Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis Masernausbruch in Berlin G YN Gefährliche Impflücken – nicht nur bei Kindern ECIAL P S - r e fü Hilf isalltag e Prax rapi den akothe haft m sc Phar wanger t h ei in Sc d Stillz n u STANDPUNKT NACHRICHTEN FORSCHUNG UND PRAXIS Ezetimib: Blockbuster immer noch ohne überzeugenden Nutzen Metformin: auch bei eingeschränkter Nierenfunktion Schlaganfall: Risikoreduktion durch Folsäure? EDITORIAL Biosimilars: Wirtschaftliches Potenzial ist enorm Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege, Hinweis KVH – Brennpunkt Arznei Die vorliegende Publikation „KVH – Brennpunkt Arznei“ ist ein Informationsangebot zur rationalen und rationellen Pharmakotherapie in der Praxis. Sie wird herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Die enthaltenen Beiträge geben die Auffassung der Verfasser bzw. der Redaktion wieder. Aufgrund der regionalen Unterschiede können nicht alle Inhalte auf die Gegebenheiten in Hamburg übertragen werden. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann keine Gewähr übernommen werden. Biologika (Biologicals) sind hochkomplexe Arzneimittel, die gezielt in Vorgänge im Körper des Menschen eingreifen. Sie umfassen unter anderem Gerinnungsfaktoren, Hormone, hämatopoetische Wachstumsfaktoren, Interferone, monoklonale Antikörper und TNF-Inhibitoren. Sie sind extrem teuer. So kann die Therapie der rheumatoiden Arthritis mit einem TNF-Inhibitor 50.000 Euro pro Jahr kosten. Der TNF-Inhibitor Adalimumab ist in Deutschland das umsatzstärkste Arzneimittel. Zunehmend gibt es bei den Biologika Biosimilars als Nachfolgeprodukte von diesen, nachdem der Patentschutz abgelaufen ist. Sie werden aber nur sehr zögerlich und unzureichend verordnet. Einer der Haupteinwände gegen den Einsatz der Biosimilars ist, dass sie sich als Molekül eindeutig vom Molekül des Originalpräparats unterscheiden würden und damit nicht vergleichbar seien. Dies ist formal richtig, deswegen heißen sie auch Biosimilars und nicht Bioidenticals. Der Grund ist, dass sie in hochkomplexen biologischen Herstellungsprozessen zu chemisch gering differierenden Molekülen führen, ohne dass dies auf die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels überhaupt eine Auswirkung hat. Selbst Originalpräparate weisen Unterschiede im Molekül zwischen einzelnen Chargen auf. Für die Biosimilars gibt es bei der EMA ein spezielles, sehr strenges Zulassungsverfahren, das die vergleichbare Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit gegenüber dem Originalpräparat überprüft und bewertet. Die AkdÄ hat aufgrund dieser hohen Anforderung bei der Zulassung der Biosimilars diese als den Originalpräparaten gleichwertig bezeichnet und daher können sie wie das Originalpräparat am Beginn einer Behandlung problemlos eingesetzt werden. Bei 6 Milliarden Euro Kosten für Biologika im Jahr 2014 sind nur 80 Millionen Euro Kosten auf Biosimilars entfallen. 2015 läuft der Patentschutz für Biologika in Höhe von 1,34 Milliarden Euro aus. Dass wir uns bei den Biologika und ihren hohen Kosten das Wirtschaftlichkeitspotenzial der definitiv gleichwertigen Verordnung von Biosimilars entgehen lassen, ist weder rational noch rationell. Ihr Dr. med. Wolfgang LangHeinrich KOMMENTAR IN EIGENER SACHE Das Layout jedes Magazins kommt irgendwann in die Jahre. Auch für uns war es an der Zeit, dem KVH-Informationsdienst ein frisches, modernes Gesicht zu geben. Mit der neuen Gestaltung wollen wir Ihnen mit unseren nach wie vor kritischen und informativen Beiträgen mehr Lesekomfort, Übersichtlichkeit und Services für Sie und Ihre Praxis bieten. Dazu gehören die KVH-Kurzlinks anstelle langer URLs und der direkte Zugang auf Websites mit QR-Codes. Wichtig: Der QR-Code-Leser sollte so konfiguriert sein, dass er auf einen Internet-Browser weiterleitet. Wer keinen QR-Code verwendet, kann die Kurzlinks in den Browser eingeben. Wir möchten uns aber nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich verbessern: beispielsweise mit unseren Themenspecials in der Heftmitte, die regelmäßig spezifische Fragestellungen aufgreifen. Die Redaktion wünscht Ihnen viel Freude beim Lesen! 2 KVH aktuell 2|2015 Inhalt 2|2015 EDITORIAL SEITE 2 Biosimilars: Wirtschaftliches Potenzial ist enorm SCHWERPUNKT SEITEN 4 –9 Masernausbruch Ohne Impfungen in Kita und Schule – verantwortungslos! STANDPUNKT SEITEN 10 –17 Ezetimib: Blockbuster nach zwölf Jahren immer noch ohne überzeugenden Nutzen DAK: Arzneimittel ohne erwiesenen Mehrwert werden trotzdem verschrieben Langes QT-Syndrom und Torsade de Pointes: Die Liste der auslösenden Medikamente wird immer länger Chinin ist seit April 2015 verschreibungspflichtig – damit auch verordnungsfähig? GYN-SPECIAL SEITEN I –XVI Aktuelle Behandlungsempfehlungen: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit NACHRICHTEN SEITEN 18 –19 Angaben zur Häufigkeit von UAW: Nur Schätzwerte SSRI: Spermienveränderungen möglich ABSURD: Die Placebo-Republik Metformin Glucophage® und andere Antidiabetika: Auch bei eingeschränkter Nierenfunktion bei Beachtung von Kontraindikationen zugelassen FORSCHUNG & PRAXIS SEITEN 20 –23 Ischämischer Schlaganfall: Lässt sich durch Folsäure das Risiko reduzieren? DIALOG SEITEN 24 –26 Entlassungsmedikation: Mein persönlicher Medikamenten-Rekord Kasuistik: Marcumar und Doppelherz-Varianten Vorher – nachher: Leitliniengerechte Änderung im Therapieplan der Klinik Stellungnahme: Antibiotika für weiblichen Harnwegsinfekt bei negativem Urinstreifentest Impressum KVH aktuell 2|2015 3 MASERNAUSBRUCH SCHWERPUNKT Ohne Impfung in Kita und Schule – verantwortungslos! Wie gefährlich Impflücken sind, hat ein monatelang anhaltender Masernausbruch in Berlin gezeigt: Etwa ein Viertel der Erkrankten musste ins Krankenhaus, ein Todesfall war zu beklagen. Ein warnendes Beispiel für ganz Deutschland. DR. MED. JÜRGEN BAUSCH 4 KVH aktuell 2|2015 SCHWERPUNKT Hier finden Sie wichtige Hintergrundinformationen der Ständigen Impfkommission (STIKO, am Robert Koch-Institut) zum Thema Masern. kvh.link/1502001 HINTERGRUND KVH aktuell 2|2015 5 A SCHWERPUNKT llein in der ersten Jahreshälfte 2015 erkrankten in Berlin mehr als 1.100 Menschen an Masern, über 300 Personen mussten hospitalisiert werden. Der Tod eines bisher gesunden ungeimpften Kleinkindes an den Folgen der Masern wurde aus der Charité bestätigt. Vorübergehend waren Kitas blockiert und Schulen geschlossen. Eltern von Säuglingen, die aus Altersgründen noch nicht geimpft werden konnten, wurde geraten, direkte Kontakte zu MenschenansammSchluss mit der Impf- lungen im Kaufhaus und Nahvermüdigkeit! Schluss mit kehr zu meiden. Masern waren lange verdem zartbesaiteten schwunden. Eine ganze GeneraUmgang mit impfun- tion von Kinderärzten und Kinderwilligen Ärzten und krankenschwestern in Deutschland ist herangewachsen, ohne Eltern angesichts der ein einziges Mal einen veritablen gesicherten wissen- Masernfall betreut zu haben. Das schaftlichen Erkenntnisse gilt naturgemäß auch für die gesamte Erwachsenengeneration über die Erfolge der unter 50 Jahre, die jetzt als Eltern Masernimpfung! oder bereits als junge Großeltern Erziehungsverantwortung trägt. Die Maserndurchimpfung der Bevölkerung war einmal eine Erfolgsgeschichte. Dies zeigt eine Meldung aus dem amerikanischen „Center for Disease Control and Prevention“ aus dem Jahr 1999: Danach gab es im Jahr 1962 in den USA 503.282 Maserninfektionsfälle. Im Jahr 1998 waren es nur noch 89 Fälle. Eindrucksvoll! Hochinfektiös Dass diese „Kinderkrankheit“ namens Masern dem kollektiven Bewusstsein über eine potenziell bedrohliche Situation verloren gegangen ist, verwundert deswegen eigentlich nicht. Weder ist den jungen Erwachsenen heute das Masernproblem in seinen individuellen und kollektiven Dimensionen gegenwärtig, noch verfügen sie über Grundkenntnisse der Infektionserkrankungen im Kindesalter und ihrer Besonderheiten. Dass zum Beispiel die „Kinderkrankheit“ Masern hochinfektiös ist – nahezu jeder Infizierte erkrankt auch –, macht sie zu mehr als einem individuellen, kleinen Familienproblem. Denn der Erkrankte macht in seiner infektiösen Frühphase alle Ungeimpften in seiner Umgebung krank. Vor allem die ungeimpften Säuglinge und die Erwachsenen ohne ausreichenden Impfschutz sind Opfer des sich schnell verbreitenden Virus. Beide Gruppen sind im Krankheitsfall besonders komplikationsgefährdet. Ganz unabhängig von der Frage, wie gefährlich diese Kinderkrankheit im individuellen Verlauf sein kann, gefährdet der Masernerkrankte zu nahezu 100 Prozent sein Umfeld, soweit dieses aus welchem Grund auch immer nicht immunisiert ist. 6 KVH aktuell 2|2015 Und es gibt bei Masern auch keine „stille Feiung“, als natürlich verlaufender Immunitätsprozess ohne Erkrankung, wie dies bei Röteln, Mumps und manchen anderen Kinderkrankheiten bestens bekannt ist. „Kinderkrankheit“ klingt so harmlos. Das trifft auf Masern nur bedingt zu. Alle Kinder zeigen hohes Fieber bei meist zweigipfligem Fieberverlauf. Heftiger Husten und andere katarrhalische Erscheinungen plagen die Kids und stören den Schlaf der Gesamtfamilie erheblich. Und erst nach einer Woche geht’s wieder aufwärts. Der Krankheitsverlauf ist zwar selten bedrohlich, aber immunitätsgeschwächte Kinder sind anfälliger, vor allem für eitrige Mittelohrentzündungen. Ernste Komplikationen So weit, so schlecht. „Da muss man durch.“ „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Immer wieder werden solche Parolen tradiert, wenn Impfgegner sich ihre Gedankenwelt schönreden und von „Reifeprozessen“ faseln, die die Kindesentwicklung fördern würden. Was die Masern individuell aber zum gelegentlichen Drama werden lässt: heftige Fieberkrämpfe, schwer zu behandelnde Masernpneumonien mit Krankenhausaufnahme und die gefürchtete Masernenzephalitis, die die kindliche Entwicklung nachhaltig blockieren kann. Die extrem seltene SSPE als mögliche Masernspätfolge sei ebenfalls erwähnt. Aber so richtig weiß niemand, was es mit dieser deletären Hirnerkrankung namens subakute sklerosierende Panenzephalitis auf sich hat. Aus meiner Zeit als angehender Pädiater im Schwabinger Kinderkrankenhaus, das vor Erfindung der Masernimpfung über eine eigene große Masernstation verfügte, sind mir die Schrecknisse und Grausamkeiten dieser im Einzelfall lebensbedrohlichen und lebensbegrenzenden Kinderkrankheit ins Gedächtnis gebrannt. Mit dieser anekdotischen Expertise ausgestattet, gibt es gute Gründe, die Verantwortlichen in unserem Land aufzurufen: Schluss mit der Impfmüdigkeit! Schluss mit dem zartbesaiteten Umgang mit impfunwilligen Ärzten und Eltern angesichts der gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die absolut unstrittigen Erfolge der Masernimpfung bei einer minimalen Komplikationsrate, die zu vernachlässigen ist. Insbesondere, wenn man um die echten Masernkomplikationen weiß. Freiheit oder Fahrlässigkeit? Dass Eltern ihre Zöglinge nicht impfen lassen wollen, kann man in einer egozentrischen Welt, in der das Individuum und seine Rechte alles und das Kollektiv nichts zählt, bis zu einem gewissen Punkt noch bedauernd nachvollziehen. Vermutlich wissen die meisten Impfverweigerer nicht wirklich, was sie ihren Kindern und anderen antun. Mit der bewussten Vermeidung eines sicheren Schutzes Aufklärung ohne Nutzen? „Die Freiheit hört da auf, wo die Volksgesundheit und Sicherheit der Bevölkerung auf dem Spiel ste- hen“ (Marisol Touraine, Gesundheitsministerium Frankreich, FAZ, 12.03.2015). In Frankreich existiert seit 1938 die Impfpflicht, beginnend mit der Diphtherieimpfung. Die derzeitigen Reaktionen aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) deuten eher darauf hin, dass man an der bisherigen generellen „Weichei-Politik“ gegenüber den Wählern und Beitragszahlern festhalten möchte. Die Vorschläge zur intensivierten Aufklärung über die Sinnhaftigkeit von Impfungen in der Bevölkerung gehen ins Leere. Eltern sind durch die Vorsorgeuntersuchungen informiert. Dennoch haben wir die derzeitigen Impflücken. Wenn es stimmt, dass sich angeblich jede vierte Hebamme gegen den Schutz vor Masern, Mumps, Röteln und Keuchhusten ausspricht, obwohl sie es besser wissen muss, dann ist dies ebenso ein Armutszeugnis wie die Unterstützung von Impfgegnern durch Ärzte unter Berufung auf sogenannte „alternative“ Therapierichtungen. Sogenannte „Masernpartys“ sind pervers. Hier SCHWERPUNKT des Kindes gegen Masern durch zwei kaum beeinträchtigende Impfungen gefährden diese Eltern nicht nur die Unversehrtheit ihres Kindes im Fall einer Ansteckung. Sie riskieren damit auch die Krankheitsübertragung auf alle ungeschützten Menschen, egal ob groß oder klein, in ihrem Umfeld. Dabei sind erkrankte Kinder am ansteckendsten, bevor man die Masern mit ihrem typischen Exanthem und Enanthem diagnostizieren und die Kinder isolieren kann. Diese Verantwortungslosigkeit braucht sich ein hochgerüstetes Gesundheitswesen nicht gefallen zu lassen. Es gibt eine Pflicht des Staates zum Schutz der Bevölkerung vor vermeidbaren Infektionen. Trinkwasser wird ja aus dem gleichen Grund von Keimen frei gehalten, die Magen und Darm attackieren können. 1. Impfung 2. Impfung 96,1% 92,9% 96,4% 93,9% 98,4% 95,7% 96,8% 92,5% 96,9% 93,5% 96,0% 90,8% 98,5% 95,2% 98,2% 93,8% 97,7% 94,6% 96,6% 87,7% 97,7% 94,6% 97,8% 94,6% 97,2% 93,7% NOCH GROSSE LÜCKEN 97,4% 94,0% 98,2% 93,9% 96,4% 93,9% 94,8% 88,8% Übersicht der Masern-Impfquoten bei Schuleingangsuntersuchungen (1. und 2. Impfung) der einzelnen KV-Bezirke. Bisher erreichen nur Brandenburg und MecklenburgVorpommern die für die Elimination erforderliche Impfquote von 95 Prozent bei der Zweitimpfung. Quelle: RKI; Epidemiologisches Bulletin Nr. 16 KVH aktuell 2|2015 7 SCHWERPUNKT Masern – auch bei Erwachsenen! Laut DEGS-Studie des RKI haben nur 56,9 Prozent der unter 18- bis 44-Jährigen mindestens eine MasernImpfdosis erhalten. Bei der Schließung solcher Impflücken kommt dem Vertragsarzt eine wichtige Rolle zu. Die KBV hat daher verschiedene Wartezimmerinformationen zusammengestellt: ■ Karte Masernschutzimpfung ■ Flyer und Kopiervorlagen zum Thema Impfen (mehrere Sprachen) ■ Patienteninformation vom ÄZQ kvh.link/1502015 PRAXISTIPP hilft keine neue Aufklärungskampagne! Immanuel Kant, der Vater des Zeitalters der Aufklärung, hat zwar gemeint, dass es um die „Beseitigung der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ geht. Aber die Geschichte der Gegnerschaft gegen das Impfen ist so lang wie die Erfolgsstory der weltweiten Ausrottung von Polio und Pocken durch öffentliche Impfprogramme. Auch wenn noch von einzelnen Polioherden in Asien und Afrika berichtet wird. Hohe Durchimpfungsrate erforderlich Bei Masern bedarf es für einen kompletten Impferfolg in allen Bevölkerungskreisen einer extrem hohen Durchimpfungsrate von 95 Prozent der 5-Jährigen. Diese lässt sich nur durch ein verschärftes Erwachsenenbildungsprogramm erreichen. In totalitären Staaten sind traditionell Gesetz und Strafe der übliche Weg. Deutschland hat ein Infektionsschutzgesetz, in dem das BMG ermächtigt wird, entsprechende Anordnungen zu treffen. In Demokratien war schon immer der Geldbeutel das beste Erziehungsmittel für Erwachsene. Zu Recht fordert der Berufsverband der Kinderärzte: Wer in Kitas und Schulen untergebracht werden möchte, muss durchgeimpft sein. Man muss das wollen, anordnen und nachprüfen. Falls diese konsequent durchgezogene Linie nicht ausreicht, kann eine fühlbare Reduktion des Kindergeldes schnelle Wunder bewirken, sofern der Impfnachweis zu wünschen übrig lässt! Allein die Androhung einer solchen Maßnahme wird eine Mobilisierung bewirken. Die gleichen gut betuchten und exzellent ausgebildeten Eltern übrigens, die zurzeit die Mehrheit der Impfgegner stellen, rennen den Kinderärzten einige Jahre später die Bude ein. Zum Beispiel dann, wenn das inzwischen herangewachsene Hänschen zu einem Sprachkurs oder Schüleraustausch in die USA abfliegen möchte. Dort, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, läuft nichts ohne kompletten Impfschutz. Dass man das Gefährdungspotenzial, das von ungeimpften Migrantenkindern aus dem Vorderen Orient ausgeht, zusätzlich mindern muss, weil durch den seit Langem bestehenden Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Syrien und im Irak mit großen Impflücken zu rechnen ist, dürfte der kleinere Teil der wichtigen Aufgabe sein. Die großen deutschen Impflücken – Ursache des Berliner Masernausbruchs 2015 – sind zu schließen. Zusammenfassung Der aktuelle Masernausbruch in Berlin ist ein wachrüttelndes Symptom für eine unzureichende Durchimmunisierung unserer Bevölkerung. Ausbrüche in Nordrhein-Westfalen und Bayern waren schnell vergessen worden. Hauptursache sind die impfverweigernden Eltern, meist aus gebildeten und vermögenden Bevölkerungsschichten. Unterstützt von ignoranten Ärzten und Hebammen. Masern sind eine handfeste, hoch kontagiöse Virusinfektion, die zu schweren Komplikationen neigt. Eltern, die ihren Kindern den Impfschutz vorenthalten, handeln zweifach verantwortungslos: einmal gegenüber ihrem Kind und zum anderen gegenüber allen Ungeimpften im Umfeld dieses Kindes. Die dargestellten Ereignisse sind ein Signal an die Verantwortlichen im Lande. Es besteht erheblicher Handlungsdruck und wir sind keineswegs machtlos, wenn es gilt, Unwissenheit und Unvernunft zu überwinden. ■ ✓ Interessenkonflikte: keine FAZIT Es gibt keine Alternativen zu einem schnellen Handeln. Das Impfrisiko ist zu vernachlässigen. Die Kosten sind unerheblich. An Verständnis für stärkeren Zwang bis hin zur Impfpflicht besteht in der Bevölkerung und bei vielen Experten kein Mangel. Masern waren schon immer der markante Prototyp aller Kinderkrankheiten vor Beginn der Impfära: eine handfeste Virusinfektion mit Komplikationspotenzial und hoher Infektiosität, sodass bei Ausbruch nahezu alle Ungeimpften erkrankten. Daran hat sich, wie man an dem Ausbruch in Berlin 8 KVH aktuell 2|2015 erneut sieht, bis heute nichts geändert, weil die Impflücken durch Impfverweigerer zu groß geworden sind. Von dem Ziel, dass 95 Prozent der 5-Jährigen geimpft sein müssen, sind wir teilweise mehr als 10 Prozent entfernt. Aufklärung allein wird nicht reichen. Wer sein Kind in einer öffentlichen oder privaten Kindertagesstätte oder Schule unterbringen will, muss in jedem Fall vollen Impfschutz nachweisen. Notfalls muss der Staat die Auszahlung des Kindergeldes vom Nachweis des Impfschutzes abhängig machen. LEISTUNGSRECHT BEI MASERNIMPFUNG SCHWERPUNKT Wer kann gegen Masern geimpft werden? KLAUS HOLLMANN Folgende Regelungen gelten für Kinder und Erwachsene. Bei Kindern Nach den Empfehlungen der STIKO (Ständige Impfkommission, zuständiges Expertengremium) und der Schutzimpfungs-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA, Festlegung des Leistungsrechts) haben alle Kinder einen Anspruch auf zwei Masernimpfungen bis zum 18. Geburtstag. Diese beiden Impfungen sollen bereits im Babyalter ab dem 11. Lebensmonat und ab dem 14. Lebensmonat gegeben werden. Sie können aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt (bis zum 18. Geburtstag) nachgeholt werden. Eine Auffrischung oder das Boostern sind nicht notwendig. Mit einer Impfung ist man bereits vollständig immunisiert und damit geschützt. Allerdings sprechen nur etwas über 90 Prozent der Impflinge auf die Impfung an. Um auch die restlichen circa 10 Prozent zu immunisieren, gibt es die Empfehlung zu einer zweiten Impfung. Dies soll die Rate der immunen Patienten auf über 95 Prozent erhöhen – und die Maserninfektion wäre ausgerottet. In den meisten Bundesländern ist die Durchimpfungsrate bei den Kindergenerationen zwar recht gut, aber eben nicht hoch genug. Bevorzugt sollte Masern/Mumps/Röteln-Impfstoff (MMR-Impfstoff) gegeben werden. Aber auch die Masern-Monoimpfung ist möglich, wobei es mit der Produktion des Impfstoffs in den zurückliegenden Jahren immer wieder Probleme gab und meist nur geringe Mengen in den Markt gelangen. Bei Erwachsenen Impfstoffe gegen die Masernviren wurden etwa 1970 auf den Markt gebracht. Bei den vor 1970 geborenen Generationen muss man annehmen, dass sie die Masernerkrankung durchlebt haben. Sie gelten daher als immun. Die Erkrankung führt zu einer lebenslangen Immunisierung. Mit Einführung der Impfungen wurden die meisten Menschen der damaligen Kindergenerationen geimpft – einige jedoch nicht. Es gibt somit „Impflücken“ bei Menschen, die weder die Erkrankung durchlebt haben, noch geimpft wurden. Deshalb sind durch STIKO und G-BA vor wenigen Jahren folgende Empfehlungen ausgesprochen worden: 1. Erwachsene, die 1970, 1971, 1972, 1973 und später geboren sind, können nach Kontrolle des Impfpasses geimpft werden. 2. Liegt kein Impfpass vor, dann gilt der Patient als nicht geimpft und kann einmalig zulasten der GKV geimpft werden. Bevorzugt soll dann Masern/Mumps/Röteln-Impfstoff (MMR-Impfstoff) gegeben werden. 3. Patienten, die 1969, 1968, 1967 und früher geboren sind, erhalten keine Masernimpfung zulasten der GKV. Bei diesen Patienten ist nach guter Aufklärung eine Impfung nur als private Leistung (ärztliche Leistung und Bezug des Impfstoffs) möglich. Bezug des Impfstoffs GKV-Patienten werden Masern-Monoimpfstoff oder MMR-Impfstoff zulasten der GKV im Rahmen des Sprechstundenbedarfs verordnet. Privatpatienten erhalten ein Rezept zum Kauf in der Apotheke. PRAXISTIPP Wann Maserntiter? Eine Titerbestimmung (Laborbestimmung) kann dem Arzt Informationen darüber geben, ob der Patient bereits mit dem Masernvirus oder dem Masernimpfstoff Kontakt hatte. Es bleiben dann Antikörper zurück, die man im Labor bestimmen kann. Leider ist es aber so, dass eine Titerbestimmung auf Masern keine zuverlässigen Informationen liefert. Das bedeutet, es gibt eine Rate von falsch positiven oder falsch negativen Ergebnissen, sodass man eine solche Bestimmung ablehnt. Deshalb sollte man diese Titerbestimmung auch nicht als GKV-Leistung anbieten und durchführen. ■ Die MasernTiterbestimmung ist keine Kassenleistung. INFO ✓ Interessenkonflikte: keine KVH aktuell 2|2015 9 Aktuelles aus EZETIMIB STANDPUNKT Blockbuster nach zwölf Jahren immer noch ohne überzeugenden Nutzen Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers aus dem Arzneimittelbrief 2015; 49, 04 übernommen. 10 KVH aktuell 2|2015 E zetimib hemmt die enterale Resorption von Cholesterin und senkt dadurch deutlich die LDLCholesterin-Konzentration (LDL-C) im Serum.1 Der Wirkstoff ist seit 2002 als Monopräparat (Ezetrol®) und seit 2004 in der Kombination mit Simvastatin (Inegy®) zur Behandlung der primären Hypercholesterinämie und der homozygoten familiären Hypercholesterinämie zugelassen (in Kombination, falls eine alleinige Statin-Therapie „unzureichend“ ist, und als Monotherapie bei Statin-Unverträglichkeit). Ezetimib hat dem pharmazeutischen Unternehmer MSD-SP in dieser Zeit Jahr für Jahr Umsätze in Milliardenhöhe beschert. In Deutschland betrugen allein im Jahr 2013 die Nettokosten zulasten der GKV für Ezetrol® ca. 40 Mio. € und für Inegy® ca. 115 Mio. €.2 Detail am Rande: Es gab bisher keinen klaren Nachweis, dass klinische Endpunkte durch die Einnahme von Ezetimib positiv beeinflusst werden und somit Patienten einen Nutzen haben. Basis für die Marktzulassung war allein die Wirkung auf den Surrogatparameter LDL-C. In bisherigen Studien wurde versucht, einen positiven Einfluss von Ezetimib auf die Intima-Media-Dicke (ENHANCE) oder die Progression der Aortenklappenstenose (SEAS) zu zeigen – ohne Erfolg.3,4 Aufmerksamkeit erregten diese Studien vor allem dadurch, dass die negativen Resultate mehr als ein Jahr unter Verschluss gehalten und erst auf massiven öffentlichen und politischen Druck publiziert wurden (ENHANCE) bzw. Hinweise auf eine möglicherweise erhöhte (mittlerweile aber nicht bestätigte) Malignominzidenz unter Ezetimib gefunden wurden (SEAS). Im Rahmen des Jahreskongresses der American Heart Association (AHA) im Dezember 2014 wurden nun endlich die Resultate der von Merck gesponserten IMPROVE-IT-Studie (IMProved Reduction of Outcomes: Vytorin Efficacy – International Trial) präsentiert, in der Simvastatin versus Simvastatin plus Ezetimib in der Sekundärprophylaxe bei Patienten mit kurz zurückliegendem Akutem Koronarsyndrom (ACS) untersucht wurde.5 Auch mit IMPROVE-IT hatte es offensichtlich niemand eilig: Die Studie wurde vor neun (!) Jahren begonnen und lief über insgesamt sieben Jahre. Da eine gleichzeitige Publikation in einem Journal vorerst nicht vorgesehen scheint, wollen wir ausnahmsweise über die vorläufigen Ergebnisse berichten. Design Die multizentrisch und international angelegte IMPROVE-IT-Studie (39 Länder) schloss KHKPatienten innerhalb von 10 Tagen nach ACS ein. Sie wurden fur Simvastatin 40 mg/d bzw. Simvastatin 40 mg/d plus Ezetimib 10 mg/d randomisiert. Der kombinierte primäre Endpunkt beinhaltete kardiovaskuläre Letalität, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris, koronare Revaskularisation und Schlaganfall. Geplant waren der Einschluss von 10.000 Patienten und eine Nachbeobachtungszeit von mindestens 2,5 Jahren oder bis zum Auftreten von 5.250 klinischen Ereignissen. Dies war berechnet aufgrund einer erwarteten relativen Risikoreduktion um 9,3 % und basierte auf einer angenommenen Senkung des Serum-LDL-Spiegels um 15 mg/dl durch zusätzliches Ezetimib. Während der Einschlussphase wurde das Studiendesign mehrfach „angepasst”. Die wichtigste Änderung betraf die Zahl der statistisch erforderlichen Patienten, die schließlich auf 18.000 angehoben wurde, denn die Endpunkt-Ereignisse und der Effekt von Ezetimib waren geringer als erwartet. Ergebnisse Es wurden 18.144 Patienten eingeschlossen. In der Gruppe mit Monotherapie Simvastatin lag das Diskussion und Kritik Die IMPROVE-IT-Studie wird aufgrund ihrer besonderen Historie mit umstrittenen Vorläuferstudien, der nachträglichen Änderungen im Design und des lange hinausgezögerten Abschlusses bereits seit Jahren kontrovers diskutiert. Die RRR von 6,4 % lag letztlich deutlich unter der ursprünglich erwarteten von 9,3 %. Das hindert Studienautoren und Ezetimib-Anhänger jedoch nicht daran, sich über die „endgültigen“ Beweise zu freuen, dass Ezetimib „nicht nur ein teures Placebo“ und das Serumcholesterin „doch ein verlässlicher Surrogatparameter“ sei.6 Mit dieser Äußerung stellen sie sich gegen die aktuellen US-amerikanischen Leitlinien, die eine Therapie nach „Ziel-LDL“ nicht mehr empfehlen und außer den Statinen keinen anderen Wirkstoff erwähnen.7 Besonders auffällig ist, dass diese „Beweise“ erst mehr als zehn Jahre nach der Markteinführung des teuren Arzneimittels vorgelegt werden, also kurz vor dem vom pharmazeutischen Unternehmer für 2016 angekündigten Ablauf des Patentschutzes. Der Verdacht liegt nahe, dass hier erneut die Publikation einer Studie, deren positiver Ausgang mehr als fraglich war, aus kommerziellen Gründen verzögert wurde. Außerdem wird kriti- siert, z. B. vom renommierten Kardiologen der Yale University, Harlan Krumholz8, dass IMPROVE-IT nicht – wie sonst üblich – gleichzeitig mit der Präsentation auf dem AHA-Kongress in einem großen Journal publiziert wird. Möglicherweise gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Datenqualität. Man darf gespannt sein, ob überhaupt, wann und wo die Ergebnisse publiziert werden. Der Nachweis eines moderaten klinischen Nutzens von Ezetimib in der IMPROVE-IT-Studie beschränkt sich auf Patienten in der Sekundärprävention kurz nach ACS. Daten zur Primärprävention bei Menschen mit niedrigem kardiovaskulärem Risiko gibt es nicht. So wie für Statine9 ist der Nachweis eines Nutzens fur Ezetimib in dieser Population auch nicht zu erwarten. Immerhin haben 42 % der Studienteilnehmer im Verlauf der sieben Jahre die Medikation abgesetzt (d. h. 6 %/Jahr). Differenzierte Sicherheitsdaten (sowie auch andere Details) aus IMPROVE-IT liegen zurzeit nicht vor. Bei Therapie mit Ezetimib ist Folgendes zu beachten:4 Eine Monotherapie kann (sehr selten) zur Rhabdomyolyse fuhren und die Transaminasen erhöhen. Sie ist dann sofort abzusetzen; dasselbe gilt selbstverständlich bei Kombination mit einem Statin für beide Substanzen. Bei Leberinsuffizienz wird von Ezetimib abgeraten. Bei gleichzeitiger Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten oder Ciclosporin muss auf potenzielle Wechselwirkungen geachtet werden. Einzelfälle von Pankreatitis und Hepatitis wurden berichtet. 1. AMB. 2003, 37, 41 2. Schwabe, U. und Paffrath, D. (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2014. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2014. S. 1170 und 1177 3. Kastelein, JJ, et al. ENHANCE = Ezetimibe and simvastatin in hypercholesterolaemia enhances atherosclerotic regression. Am. Heart J. 2005,149, 234. AMB. 2008, 42, 31 4. Rossebø, AB, et al. SEAS = Simvastatin and Ezetimibe in Aortic Stenosis. N.Engl. J. Med. 2008, 359, 1343. AMB. 2009, 43, 11 5. http://www.medscape. com/viewarticle/835030 6. http://www.forbes.com /sites/larryhusten/2014/ 11/17/improve-itmeets-endpoint-anddemonstrates-real-butmodest-clinical-benefitfor-ezetimibe/ 7. AMB. 2014; 48, 01 8. http://www.nytimes. com/2014/11/18/ health/study-findsalternative-to-statinsin-preventing-heartattacks-and-strokes. html?_r=0 9. AMB. 2010; 44, 84 Fazit Kurz vor Ablauf des Patentschutzes für Ezetimib (Ezetrol®, in Kombination mit Simvastatin in Inegy®) liegen nun erstmals klinische Endpunktdaten vor. Sie zeigen nur einen geringen Effekt in einer Hochrisikogruppe von KHK-Patienten, ohne bei ihnen die Letalität zu senken. Wir sehen – wie bisher – Ezetimib nur als Reservemittel bei familiärer Hypercholesterinämie und bei echter Unverträglichkeit von Statinen. Es ist aus unserer Sicht unverständlich, dass dieser Arzneistoff seit zehn Jahren unter den umsatzstärksten Arzneimitteln rangiert. ■ Ereignisse Simvastatin Ezetimib/Simvastatin p Komb. prim. Endpunkt 34,7 % 32,7 % 0,016 Gesamtletalität 15,3 % 15,4 % 0,782* Myokardinfarkt 14,8 % 13,1 % 0,002 Schlaganfall 4,8 % 4,2 % 0,052 Ischäm. Schlaganfall 4,1 % 3,4 % 0,008 Instabile Angina p. 1,9 % 2,1 % 0,618* 23,4 % 21,8 % 0,107* Revaskularisation Literatur: STANDPUNKT Serum-LDL bei 69,9 mg/dl, mit Simvastatin/Ezetimib bei 53,2 mg/dl. Während der Nachbeobachtungszeit von sieben Jahren wurde der primäre Endpunkt in der Gruppe mit Simvastatin bei 34,7 % der Patienten erreicht, unter Kombinationstherapie mit Simvastatin/Ezetimib bei 32,7 % (Hazard Ratio = HR: 0,936; 95-%-Konfidenzintervall: 0,887–0,988; p = 0,016). Dies entspricht einer relativen Risikoreduktion (RRR) von 6,4 % und einer Number-needed-to-treat (NNT) von 50 Patienten über sieben Jahre, d. h. 350 über ein Jahr. In einer separaten Sitzung des AHA-Kongresses wurde eine „On-treatment“-Analyse nachgereicht, d. h. die Ergebnisse der Patienten, die die Studienmedikation tatsächlich bis zum Ende eingenommen hatten. In dieser Subgruppe von 10.563 Patienten (58 % der Studienpopulation) betrug die RRR 7,6 % und die NNT 38 über sieben Jahre (266 über ein Jahr). Vorläufige Ergebnisse der IMPROVE-ITStudie. Ereignisse während sieben Jahren Simvastatin: n = 9.077 Ezetimib/Simvastatin: n = 9.067 * = nicht signifikant KVH aktuell 2|2015 11 AMNOG* ZEIGT SCHWACHSTELLEN IM SYSTEM STANDPUNKT Arzneimittel ohne erwiesenen Mehrwert werden trotzdem verschrieben Der AMNOG-Report der DAK-Gesundheit zur Arzneimittelbewertung zeigt, dass Medikamente ohne Nutzen beträchtliche Verordnungszuwächse haben. DR. MED. JOACHIM SEFFRIN H ey, was ist da los? Kann das sein? Oder vielleicht besser gefragt: Wie kann das sein? Knapp zusammengefasst stellt diese wissenschaftliche Analyse fest, dass Ärzte in Deutschland ihren Patienten häufig neue WirkIch persönlich schenke stoffe zur Einnahme verordnen, bei denen bisher kein Nachweis meine Arbeitszeit eines nennenswerten Zusatznutprinzipiell nur meinen zens gegenüber den älteren Patienten. Für Pharma- Wirkstoffen vorliegt. Professor Dr. h. c. Herbert Rebscher von der referenten bleibt keine DAK spekuliert darüber, dass Zeit übrig. möglicherweise Informationsmängel in der Ärzteschaft vorliegen könnten.1 Ich würde provokant fragen, ob es daran liegen könnte, dass die Werbemaßnahmen der Hersteller so gut wirken. Auch wir sind gegen Werbung nicht immun Wir alle wissen, dass Werbung ihren Dienst erfüllt. Sie wirkt selbstverständlich auch bei uns Ärzten, wer will das bestreiten? Die Zeitschrift TAZ2 zitiert im Jahr 2011, dass circa 60.000 Pharmareferenten in unseren Landen unterwegs seien, MEZIS4 gibt rund 15.000 an. Das müssen in jedem Fall gewaltige Geldsummen sein, die die Pharmaindustrie in diese Art Werbung investiert. Wir dürfen schließen, dass diese Investition nicht getätigt würde, wenn sie keine Früchte abwerfen würde. Oder würden Sie so viel Geld ausgeben, wenn es nutzlos wäre? Nach meinem Verständnis ist der Auftrag des Pharmareferenten, mir Dinge nahezubringen, die den Verkauf seiner Produkte ankurbeln. Das heißt, dass ich dann neue Medikamente rezeptiere, weil sie mir entsprechend positiv dargestellt wurden. Kann dies eine vernünftige Entscheidungsgrundlage sein? Aber nicht nur die niedergelassene Ärzteschaft steht hier in der Verantwortung, sondern nach meinem persönlichen Eindruck ganz besonders unsere Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen. Sehr häufig erlebe ich bei Patienten, die aus der Klinik oder der Reha entlassen werden, dass sie mit den neuesten Wirkstoffen behandelt werden. Wie kann das sein? Fortbildung am Tresen? Darf ich als Arzt erwarten, nützliche, objektive Informationen vom Pharmareferenten zu erhalten? Kann ich hier etwas Sinnvolles lernen? Dies ist aufgrund des Auftrags der Pharmareferenten kaum *ArzneimittelmarktNeuordnungsgesetz 12 KVH aktuell 2|2015 Welche Konsequenzen sollten wir ziehen? Die Entlassungsmedikation von Patienten, die aus dem Krankenhaus oder einer Reha entlassen werden, ist ganz besonders kritisch zu prüfen. Zögern Sie nicht, die Medikation gemäß Ihrer eigenen Erfahrung umzustellen! Bleiben Sie ruhig beim Bewährten. Damit sind Sie üblicherweise auf der sicheren Seite. Beim Einholen von Informationen über Medikamente sollten wir konsequent darauf achten, neutrale Quellen zu nutzen. Dies können natürlicherweise Pharmareferenten oder pharmagesponserte Fortbildungsveranstaltungen nicht sein. Falls gelegentlich noch jemand meine Praxis aufsucht, lasse ich mir gegebenenfalls Prospekte überreichen und entscheide dann, ob ich mich damit nach der Sprechstunde beschäftigen werde. Bei der Beschäftigung mit diesen Materialien habe ich aber immer die Studie von Kaiser im Hinterkopf. Sämtliche Damen und Herren, die uns im Auftrag ihrer Arbeitgeber aufsuchen, haben unseren Respekt und eine entsprechende Behandlung verdient. Es sei daran erinnert, dass manche von ihnen hoch qualifizierte Akademiker sind. Dies bedeutet aber nicht, dass wir verpflichtet sind, ihnen unsere wertvolle Arbeitszeit zu widmen. Ein früherer Kollege bezeichnete sie sogar als Zeitdiebe. Wenn wir uns von Pharmareferenten und industriegesponserter Fortbildung fernhalten, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, unsere Patienten rational und gut zu behandeln, und können uns zeiteffektiver fortbilden. Andernfalls werden wir uns weiterhin solche Studien wie die von der DAK um die Ohren hauen lassen müssen. ■ Kaiser et. al.: Studie kostenlos auf der Internetseite des arznei-telegramm®, Ausgabe Februar 2004, nachlesen. STANDPUNKT vorstellbar. Schließlich wollen sie ihren Wirkstoff, ihr Präparat verkaufen. Üblicherweise wird ihre Leistung auch am Verkaufserfolg gemessen. Im Jahr 2004 führten Kaiser et. al. eine Studie durch, in der sie überprüften, ob die Aussagen medizinischer Werbeprospekte korrekt sind.3 Die Ergebnisse sind schlichtweg erschütternd. Wer die Studie nicht kennt, kann sie kostenlos auf der Internetseite des arznei-telegramm®, Ausgabe Februar 2004, nachlesen. Soll man nun nach Kenntnis des gewissermaßen gruseligen Ausmaßes an Fehlinformation, das durch diese Art Informationsgewinnung zu erwarten steht, seine wertvolle Arbeitszeit den Werbeboten schenken oder seine Zeit gar verkaufen, wie es auch schon geschehen ist? Seit 2007 gibt es die Initiative MEZIS, „Mein Essen Zahl Ich Selbst“.4 Diese Initiative fordert unter anderem pharmaunabhängige Fortbildung. Logischerweise können die Besuche der Pharmareferenten nicht dazuzählen. Gøtzsche5 fordert in seinem Buch „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert“ die komplette Abschaffung von Pharmawerbung. Ein Auftrag an die Politik. kvh.link/1502016 INTERNET Quellen: 1. kvh.link/1502002 2. kvh.link/1502003 3. a-t. Feb. 2004; 35: 21–23 4. kvh.link/1502004 5. Peter C. Gøtzsche: „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert“. Riva-Verlag, Nov. 2014 (siehe Buchtipp) ✓ Interessenkonflikte: keine Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert Riva-Verlag 2014 ISBN: 978-3868834383 Gebundene Ausgabe: 512 Seiten, 24,99 Euro KVH aktuell 2|2015 13 LANGES QT-SYNDROM UND TORSADE DE POINTES STANDPUNKT Bei Patienten mit KHK oder Herzrhythmusstörungen oder anderen Erkrankungen, bei denen man die QTVariabilität wissen muss, kann neben 659 Langzeit-EKG die Ziffer 636 (23,82 bei 2,3-fachem Satz) abgerechnet werden. Gleiches gilt für die SDNN (Herzfrequenzvariabilität). Dies sollte dazu führen, dass zumindest bei Patienten mit GOÄ öfter daran gedacht wird. Quelle: Privatverrechnungsstelle Büdingen INFO Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft bietet kostenlose E-Mail-Newsletter zu wichtigen aktuellen Fakten an. www.crediblemeds.org informiert Ärzte auf seiner Seite zum Thema QT-verlängernde Medikamente und versorgt sie nach Anmeldung mit kostenlosen Mails. kvh.link/1502017 PRAXIS-TIPP 14 KVH aktuell 2|2015 Die Liste der auslösenden Medikamente wird immer länger DR. MED. JOACHIM SEFFRIN W ie bereits in Ausgabe 1/2015 von KVH aktuell im Artikel auf Seite 12 beschrieben, muss bei der Behandlung mit Donepezil (Aricept® und andere) mit dem Auftreten eines malignen neuroleptischen Syndroms gerechnet werden. Ende März erreicht uns die Nachricht von CredibleMeds (E-Mail von crediblemeds.org vom 30.3.2015), dass bei Anwendung von Aricept® durch Verlängerung der QT-Zeit auch mit dem Auftreten von Torsade de Pointes, einer potenziell tödlichen Herzrhythmusstörung, zu rechnen ist. Am 20. April 2015 versendet die Arzneimittelkommission eine Infomail, in der sie über das gleiche Risiko bei Galantamin (Reminyl® und andere) – ebenfalls ein Acetylcholinesterasehemmer wie Donepezil – berichtet.1 „Die AkdÄ empfiehlt, bei ungeklärten Stürzen oder Synkopen unter Behandlung mit Galantamin EKG-Kontrollen durchzuführen, vor allem, wenn weitere Risikofaktoren für QT-Verlängerung und Torsade-de-PointesTachykardien (wie zum Beispiel höheres Alter, weibliches Geschlecht, Hypertonie, Myokardischämie, Herzinsuffizienz, Bradykardie, Elektrolytstörungen) vorliegen. Die Kombination mit anderen QT-verlängernden Arzneimitteln sollte vermieden werden bzw. nur unter EKG-Kontrolle erfolgen.“2 Die Liste der Medikamente, die ebenfalls eine Verlängerung der QTZeit bedingen können, wird immer länger und betrifft viele häufig genutzte Stoffe, darunter besonders viele psychotrope Substanzen wie SSRIs und Neuroleptika. Damit nicht genug. Auch andere extrem häufig genutzte, sehr wichtige und effektive Wirkstoffe bergen ein nennenswertes Risiko. „Conditional risk“: „Substantial evidence supports the conclusion that these drugs are associated with a risk of TdP BUT only under certain conditions (e.g. excessive dose, hypokalemia, congenital long QT or by causing a drug-drug interaction that results in excessive QT interval prolongation).“3 Zu den genannten Substanzen zählen Furosemid (Lasix® und andere) wie auch Torasemid (Torem® und andere). ■ Quellen: 1. kvh.link/1502005 2. E-Mail-Newsletter der AkdÄ vom 20.4.15 3. kvh.link/1502006 ✓ Interessenkonflikte: keine FAZIT Bei der täglich über uns hereinflutenden Menge an Informationen zu Nebenwirkungen und Interaktionen von Medikamenten wird es für den Arzt immer schwieriger, noch eine akzeptable Übersicht zu behalten. Erneut ein Hinweis, bei der Indikationsstellung einer medikamentösen Behandlung, hier im Besonderen bei Donepezil, Galantamin, aber auch bei Schleifendiuretika wie Furosemid und Torasemid, kritischer bzw. noch aufmerksamer zu werden. Immer zu bedenken: Stehen mögliche Komplikationen in einem vernünftigen Verhältnis zur Indikation und zur erwarteten Wirkung? Nach meiner Meinung ist das Verhältnis zumindest bei Acetylcholinesterasehemmern eher ungünstig. GYN-SPECIAL Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung von Autor, Redaktion und Verlag und dem Herausgeber – Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg – aus dem Verordnungsforum 32, Januar 2015, übernommen Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit Diese Sonderausgabe des Verordnungsforums richtet sich an Ärzte und soll sie bei der Beratung von Frauen, die eine Schwangerschaft planen, bereits schwanger sind oder stillen und die einer akuten oder chronischen Medikation bedürfen, unterstützen. Sie soll in der alltäglichen Praxis bei Verordnungen helfen und schnelle Orientierung bieten, doch kann sie die individuelle Beratung nicht ersetzen. Auch ersetzt sie keine Grundlagenrecherche, ein Abgleich mit der aktuellen Datenlage bleibt obligat. Darüber hinaus finden sich Informationen zu Nebenwirkungen, Risiken und Vorsichtsmaßnahmen der Arzneimittel in der Fachinformation des jeweiligen Fertigarzneimittels. KVH aktuell 2|2015 I GYN-SPECIAL Grundregeln der Teratologie U nter dem Begriff Teratogenität werden alle exogenen Einflüsse auf die intrauterine Entwicklung zusammengefasst, die zu Fehlbildungen oder bleibenden funktionellen Anomalien des Kindes führen.1 Sechs Grundregeln der Teratologie (Principles of Teratology)2 hat James Wilson im Jahr 1977 formuliert. Diese Prinzipien sind nach wie vor aktuell: Unter der Federführung von Professor Dr. Klaus Mörike, Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie des Universitätsklinikums Tübingen, und der Mitarbeit von Dr. Christof Schaefer vom Pharmakovigilanzund Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité in Berlin sowie Dr. Wolfgang Paulus vom Institut für Reproduktionstoxikologie am Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg ist dieses Kompendium entstanden. 1 Die Empfindlichkeit gegenüber teratogenen Einflüssen hängt vom Genotyp der Frucht und von der Art seiner Wechselwirkung mit Umweltfaktoren ab. 2 Die Empfindlichkeit gegenüber teratogenen Einflüssen ist nach Entwicklungsstadium zur Expositionszeit unterschiedlich. 3 Teratogene Agenzien wirken in spezifischer Weise (Mechanismen) auf in Entwicklung befindliche Zellen und Gewebe, indem sie eine abnormale Embryogenese initiieren (Pathogenese). 4 Die Manifestationen einer abnormalen Entwicklung sind Tod, Fehlbildung, Wachstumsretardierung und Funktionsstörung. 5 Der Zugang ungünstiger Umwelteinflüsse auf sich entwickelnde Gewebe hängt von der Art der Einflüsse ab (Agens). 6 Manifestationen abweichender Entwicklung nehmen in Abhängigkeit von der Dosis zu und können im Extremfall zum letalen Verlauf führen. II KVH aktuell 2|2015 1. Präimplantationsphase: Die ersten beiden Wochen nach Konzeption sind durch das „Allesoder-nichts“-Prinzip gekennzeichnet, das heißt, erfolgte Schäden werden entweder repariert oder die Frucht wird abgestoßen. Das Fehlbildungsrisiko in dieser Phase wird für gering gehalten. 2. Phase der Organogenese (Tag 15 bis 56 post conceptionem): In dieser Zeit ist die Sensibilität gegenüber exogenen Noxen am größten und es werden die meisten Fehlbildungen ausgelöst. 3. Fetalperiode (ab Tag 56): In dieser Zeit nimmt die Empfindlichkeit der Frucht gegenüber exogenen Noxen ab. Gleichzeitig können auch hier schwerwiegende Funktionsstörungen der kindlichen Organe entstehen. Beispiele sind Intelligenzdefekte durch Alkohol, die Entwicklung einer Niereninsuffizienz durch ACE-Hemmer und Sartane oder Zahnverfärbungen unter Tetracyclinen.1 Schematische Darstellung der Entwicklungsperioden, in denen der menschliche Embryo/Fetus durch Teratogene gefährdet ist.3 Dunkelgrüne Felder bezeichnen Perioden hoher Gefährdung, hellgrüne Felder solche weniger starker Empfindlichkeit. 4 Herz Auge Herz Herz Arme Beine Periode hoher Gefährdung Periode weniger starker Empfindlichkeit FETALZEIT (IN WOCHEN) EMBRYONALZEIT (IN WOCHEN) 3 Quellen: 1. Paulus WE: Pharmakotherapie in der Schwangerschaft. In: Wehling M (Hrsg.): Klinische Pharmakologie. 2. Aufl.; Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2011 2. Friedman JM: The principles of teratology: are they still true? Birth Defects Res A Clin Mol Teratol 2010; 88(10): 766–8 3. Rath W: Erkrankungen in der Schwangerschaft. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2009: S. 11 5 6 7 Auge Ohr Gaumen 8 GYN-SPECIAL Der zweiten Grundregel, der Abhängigkeit der Empfindlichkeit vom Entwicklungsstadium, kommt besondere Bedeutung zu. Üblicherweise werden folgende Entwicklungsstadien unterschieden:1 12 16 Ohr äußere Genitalien GEBURT 20-36 38 Gehirn bezeichnet den üblichen Angriffspunkt des Teratogens Zentralnervensystem Herz Arme Augen Beine Zähne Gaumen äußere Genitalien Ohren STÄRKERE MORPHOLOGISCHE ABNORMITÄTEN PHYSIOLOGISCHE DEFEKTE UND WENIGER STARK AUSGEPRÄGTE MORPHOLOGISCHE ABNORMITÄTEN KVH aktuell 2|2015 III GYN-SPECIAL Beratung von Patientinnen Zur Frage, ob und welche Arzneimittel in der Schwangerschaft verwendet werden können, besteht oft Unsicherheit – bei Laien ebenso wie bei beratenden Ärzten. Entsprechend groß ist der Informationsbedarf. Die Erkenntnisse zu Arzneimitteln in der Schwangerschaft haben in den letzten Jahrzehnten zwar ständig zugenommen, sind aber für viele Medikamente immer noch unzureichend bezüglich der definitiven Beurteilung ihrer Sicherheit. Dieser Mangel betrifft neue Arzneimittel in noch höherem Maße als altbekannte, da für letztere die Erfahrung im Laufe der Jahre oft gewachsen ist. Randomisierte Studien, wie sie für die Zulassung neuer Arzneimittel hinsichtlich ihrer Wirksamkeit erwartet werden, liegen für Schwangere aus ethischen Gründen nicht vor. Darüber hinaus stellt die Arzneimittelsicherheit meist nicht den primären Zielparameter randomisierter Studien dar. Gleichwohl nimmt die Zahl von Studien bei Schwangeren unter Medikation zu.1 Auch Einzelfallberichte, Fallserien und FallKontroll-Studien können informativ sein, da sie Assoziationen aufdecken und Hypothesen generieren können. Kausalzusammenhänge zu sichern oder auszuschließen, vermögen sie aus methodischen Gründen, insbesondere wegen ihrer Anfälligkeit für Verzerrungen (Bias), nicht. Untersuchungen zu Häufigkeiten, vor allem mit niedriger Prävalenz, erfordern hohe Fallzahlen. Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen ist der Bedarf an Fallbeobachtungen und Registerdaten sehr groß. In der Beratung gibt es im Wesentlichen zwei unterschiedliche Situationen: a. Eine Frau benötigt aufgrund einer chronischen Erkrankung eine Arzneimitteltherapie und möchte schwanger werden. b. Eine Frau hat – meist in Unkenntnis einer bereits vorliegenden Frühschwangerschaft – ein Arzneimittel verwendet und ist besorgt, ob es ihrem Kind geschadet hat und wie weiter verfahren werden soll. IV KVH aktuell 2|2015 In der Beratung stillender Frauen zur Arzneimittelverwendung ist der Informationsbedarf ebenfalls groß. Prospektive Studien liegen kaum vor. Auch der Kenntnisstand zur Langzeitverträglichkeit von Arzneimitteln, die den Säugling über die Brustmilch erreichen, ist mangelhaft.2 Aus der Konzentration eines Arzneimittels in der Milch und dem vom Säugling aufgenommenen Milchvolumen kann die absolute Substanzmenge, die ein Säugling pro Mahlzeit oder pro Tag aufnimmt, errechnet werden. Diese Überlegungen zum Arzneimitteltransfer zum Säugling werden in einem Standardwerk2 detailliert erläutert. Die meisten Arzneimittel finden sich in der Muttermilch in einem Konzentrationsbereich, der für den Säugling weit unter der therapeutischen Dosis des jeweiligen Arzneimittels liegt. Bei Daueranwendung kann es allerdings infolge Anreicherung zu Symptomen beim Säugling kommen.3 Als grundsätzlich problematisch sind folgende Arzneimittel in der Stillzeit anzusehen: Zytostatika, Radionuklide, Opioide (außer Einzeldosen), eine Kombinationstherapie mit mehreren Psychopharmaka oder Antiepileptika (insbesondere bei Kombinationen mit Lamotrigin, Benzodiazepinen oder Lithium), iodhaltige Kontrastmittel und großflächige iodhaltige Desinfektion.2 Ist eine solche Behandlung unverzichtbar, ist im Einzelfall zu entscheiden, ob vorübergehend oder endgültig auf das Stillen verzichtet werden muss. Quellen: 1. Endicott S, Haas DM: The current state of therapeutic drug trials in pregnancy. Clin Pharmacol Ther 2012; 92(2): 149–50 2. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl.; München: Urban & Fischer (Elsevier); 2012 3. Schaefer C, Weber-Schöndorfer C: Aktuelle Aspekte zum Arzneimitteleinsatz in Schwangerschaft und Stillzeit. Arzneimitteltherapie 2012; 30(12): 383–90 Nachfolgend werden beispielhaft Arzneimittel für die Schwangerschaft diskutiert, die in der Beratung eine wichtige Rolle spielen. Detaillierte Informationen enthalten die am Ende zusammengestellten Bücher und Übersichtsarbeiten sowie die Websites der genannten Beratungsdienste. Für die meisten Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit stehen Arzneimittel der Wahl zur Verfügung (weitgehend in Anlehnung an 1. und 2.). Diese Mittel werden am Ende des jeweiligen Abschnitts in einer vereinfachenden Tabelle zusammengefasst. Einschränkungen und weitere Einzelheiten werden im Text genannt. Die Einzelfallbetrachtung und -beratung mithilfe einschlägiger, aktueller Quellen und Beratungsstellen werden durch diese Tabellen nicht ersetzt. Quellen: 1. Schaefer C, Weber-Schöndorfer C: Aktuelle Aspekte zum Arzneimitteleinsatz in Schwangerschaft und Stillzeit. Arzneimitteltherapie 2012; 30(12): 383–90 2. Paulus W: Krank in der Schwangerschaft und Stillzeit. Welche Medikamente dürfen Sie verschreiben? MMW Fortschr Med 2005; 147(16): 1–8 Analgetika Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR)1 wie Ibuprofen oder Diclofenac ■ sind während des ersten und zweiten Trimenons in bestimmungsgemäßer Anwendung insgesamt offenbar sicher; es gibt keine Hinweise auf Teratogenität. ■ sollten nach der 28. Schwangerschaftswoche nicht verwendet werden, weil sie sonst einen vorzeitigen Schluss des Ductus arteriosus verursachen können. Für die selektiven Cyclooxygenase-2(COX-2)Inhibitoren („Coxibe“) sind die Erfahrungen in der Schwangerschaft unzureichend. Sie sollen daher gemieden werden. Quellen: 1. Bermas BL: Non-steroidal anti inflammatory drugs, glucocorticoids and disease modifying anti-rheumatic drugs for the management of rheumatoid arthritis before and during pregnancy. Curr Opin Rheumatol 2014; 26(3): 334–40 GYN-SPECIAL Ausgewählte Arzneimittel Paracetamol Die analgetische und antipyretische Wirkung von Paracetamol kann in allen Stadien der Schwangerschaft genutzt werden. In üblicher therapeutischer Dosierung und kurzfristiger Anwendung ist es sicher. Allerdings sind auch für Paracetamol unerwünschte Wirkungen (kontrovers) diskutiert worden. So wird über asthmatische Symptome im Kindesalter nach Exposition in der Schwangerschaft spekuliert,1–4 über ein erhöhtes Risiko für Gastroschisis5,6, Kryptorchismus7,8 und ADHS-ähliches Verhalten9. Dabei handelt es sich um schwach signifikante Assoziationen in einigen Studien. Eine Kausalbeziehung zur ParacetamolExposition kann derzeit daraus nicht abgeleitet werden; weitere Studien sind erforderlich. Wegen dieser Befunde sollte der unkritische, länger dauernde Gebrauch vermieden werden. Quellen: 1. Shaheen SO, Newson RB, Sherriff A, Henderson AJ, Heron JE, Burney PGJ, Golding J, and the ALSPAC Study Team: Paracetamol use in pregnancy and wheezing in early childhood. Thorax 2002; 57: 958–63 2. Scialli AR, Ang R, Breitmeyer J, Royal MA: Childhood asthma and use during pregnancy of acetaminophen. A critical review. Reprod Toxicol 2010; 30: 508–19 3. Eyers S, Weatherall M, Jefferies S, Beasley R: Paracetamol in pregnancy and the risk of wheezing in offspring: a systematic review and metaanalysis. Clin Exp Allergy 2011; 41: 482–9 4. Shaheen SO, Newson RB, Smith GD, Henderson AJ: Prenatal paracetamol exposure and asthma: further evidence against confounding. Int J Epidemiol 2010; 39: 4 5. Torfs CP, Katz EA, Bateson TF, Lam PK, Curry CJ: Maternal medications and environmental exposures as risk factors for gastroschisis. Teratology 1996; 54: 84–92 6. Werler MM, Sheehan JE, Mitchell AA: Maternal medication use and risks of gastroschisis and small intestinal atresia. Am J Epidemiol 2002; 155: 26–31 7. Kristensen DM, Hass U, Lesné L, Lottrup G, Jacobsen PR, Desdoits-Lethimonier C, Boberg J, Petersen JH, Toppari J, Jensen TK, Brunak S, Skakkebaek NE, Nellemann C, Main KM, Jégou B, Leffers H: Intrauterine exposure to mild analgesics is a risk factor for development of male reproductive disorders in human and rat. Hum Reprod 2011; 26: 235–44 8. Jensen MS, Rebordosa C, Thulstrup AM, Toft G, Sørensen HT, Bonde JP, Henriksen TB, Olsen J: Maternal use of acetaminophen, ibuprofen, and acetylsalicylic acid during pregnancy and risk of cryptorchidism. Epidemiology 2010; 21: 779–85 9. Liew Z, Ritz B, Rebordosa C, Lee PC, Olsen J: Acetaminophen use during pregnancy, behavioral problems, and hyperkinetic disorders. JAMA Pediatr 2014; 168(4): 313–20 KVH aktuell 2|2015 V Metamizol GYN-SPECIAL Zu diesem Pyrazolonderivat sind die Erfahrungen in der Schwangerschaft nicht ausreichend. In einer Fall-Kontroll-Studie aus Brasilien wurde eine Assoziation zwischen Metamizol-Einnahme während der Schwangerschaft und dem Auftreten von Wilms-Tumoren bei den Kindern gefunden.1 Eine Kausalbeziehung wurde daraus nicht abgeleitet. Ein vorzeitiger Schluss des Ductus arteriosus (Botalli) ist nicht auszuschließen, sodass eine Einnahme im letzten Trimenon vermieden werden sollte. Eine Fall-Kontroll-Studie ergab ein Signal für angeborene Zwerchfelldefekte bei Neugeborenen nach oraler Metamizol-Behandlung im zweiten und dritten Schwangerschaftsmonat. Dieses Signal ist möglicherweise zufallsbedingt und bedarf weiterer Untersuchungen.2 Quellen: 1. Sharpe CR, Franco EL: Use of dipyrone during pregnancy and risk of Wilms' tumor. Brazilian Wilms' Tumor Study Group. Epidemiology 1996; 7: 533–5 2. Bánhidy F, Ács N, Puhó E, Czeizel AE: A populationbased case-control teratologic study of oral dipyrone treatment during pregnancy. Drug Safety 2007; 30: 59–70 Codein In norwegischen Register-Daten wurden keine Auswirkungen einer Codein-Verwendung auf Schwangerschaftsverlauf und Fehlbildungsrate gefunden.1 Arzneimittelgruppe Bei der Verwendung unter der Geburt kann Codein – wie auch andere Opioide – Atemdepression verursachen. Es existieren Fallberichte über ein Entzugssyndrom bei Neugeborenen, deren Mütter in den Wochen vor der Entbindung hohe Codein-Dosen eingenommen hatten.2 Es gibt Befunde, die dafür sprechen, dass während der Schwangerschaft die Aktivität des polymorphen Enzyms CYP2D6 zunimmt.3 Keine Untersuchungen liegen bislang zu der Frage vor, welche Implikationen dies für die Codein-Anwendung und -Dosierung während der Schwangerschaft haben könnte. Wichtig ist diese Frage insofern, als Codein zu etwa 10 Prozent der Dosis zu Morphin metabolisiert wird, wobei CYP2D6 das für diese Umwandlung wesentliche Enzym ist.4 In diesem Zusammenhang ist ein Fallbericht bemerkenswert, nach dem es nach der Geburt bei einem Ultrarapid-Metabolizer-Genotyp der Mutter für CYP2D6 unter mehrtägiger Codein-Verwendung zu einer Morphin-Intoxikation des Neugeborenen über die Brustmilch kam, die tödlich verlief.5 Zusammengefasst darf Codein als Analgetikum in der Schwangerschaft – außer für die Subpartu-Situation – verwendet werden, wenn Paracetamol allein nicht ausreicht. Auch als Antitussivum ist Codein, wenn indiziert, erlaubt. In der Stillzeit soll Codein nur in Einzeldosen verwendet werden. Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Analgetika Paracetamol (1. Wahl). Ibuprofen (1. Wahl) nur bis zur 28. Woche, maximale Tagesdosis 1.600 mg. Bei Bedarf kurzfristiger Einsatz von Opioidanalgetika (z. B. Tramadol oder Codein, cave: vor der Entbindung, sub partu und speziell Codein in der Stillzeit). In der Stillzeit gehören Ibuprofen bis maximal 1.600 mg/d und Paracetamol zu den Mitteln der Wahl. Opioid-Analgetika sollten in der Stillzeit möglichst nur in Einzeldosen bzw. für maximal 2–3 Tage angewendet werden. Bei Kindern mit Apnoe-Neigung ist besondere Vorsicht geboten. Unter diesen Voraussetzungen ist die Gabe von Morphin, Hydromorphon oder Tramadol möglich, wenn Ibuprofen und/oder Paracetamol nicht ausreichen. VI KVH aktuell 2|2015 Quellen: Morphin Berichte über einen Zusammenhang zwischen Morphin und einer erhöhten Fehlbildungsrate liegen nicht vor. Beim Neugeborenen ist eine Atemdepression möglich. Tramadol Es liegen keine Hinweise auf ein teratogenes Risiko vor. Formal gesehen ist die Datenlage für dieses Opioid allerdings unzureichend. Über ein Entzugssyndrom beim Neugeborenen nach mütterlicher Tramadol-Anwendung wurde berichtet.1 Quellen: 1. Hartenstein S, Proquitté H, Bauer S, Bamberg C, Roehr CC: Neonatal abstinence syndrome (NAS) after intrauterine exposure to tramadol. J Perinat Med 2010; 38(6): 695–6 Antiasthmatika und Antiallergika Für viele Mittel zur Behandlung allergischer Erkrankungen und des Asthma bronchiale gibt es keine relevanten Sicherheitsbedenken für die Schwangerschaft. Das Thema der medikamentösen Behandlung von Asthma und Allergien in der Schwangerschaft wird in einer hilfreichen Übersichtsarbeit1 behandelt. Unter den H1-Antihistaminika sind für die Anwendung in der Schwangerschaft Loratadin, Cetirizin oder Clemastin am besten untersucht und sollten bevorzugt werden.2 Zum Management des Asthma bronchiale betont die „Nationale Versorgungsleitlinie Asthma“, dass bei einer guten Kontrolle des Asthmas während des gesamten Schwangerschaftsverlaufs kein relevantes Risiko mütterlicher oder fetaler Komplikationen besteht und im Allgemeinen die zur Behandlung eines Asthmas eingesetzten Medikamente in der Schwangerschaft sicher sind.3 Bei der inhalativen Verwendung bleibt die systemische Dosis zu niedrig, um eine Gefährdung des Embryos oder Fetus zu bewirken. Inhalative Corticosteroide gelten als sicher bezüglich der fetalen Entwicklung.4 Die Risiken schweren, unkontrollierten Asthmas legen nahe, dass orale Corticosteroide, wenn sie indiziert sind, beim Management des schweren Asthmas auch in der Schwangerschaft eingesetzt werden sollten.5 Zu inhalativen Beta-2-Adenozeptoren-Agonisten erläutert die „Nationale Versorgungsleitlinie Asthma“3, dass sie in der Schwangerschaft wie gewohnt einzusetzen sind. Auch zu Ipratropiumbromid, einem inhalativen Anticholinergikum, gibt es keine Hinweise auf teratogene oder embryotoxische Wirkungen. GYN-SPECIAL 1. Nezvalová-Henriksen K, Spigset O, Nordeng H: Effects of codeine on pregnancy outcome: results from a large population-based cohort study. Eur J Clin Pharmacol 2011; 67(12): 1253–61 2. Khan K, Chang J: Neonatal abstinence syndrome due to codeine. Arch Dis Child 1997; 76: F59–60 3. Wadelius M, Darj E, Frenne G, Rane A: Induction of CYP2D6 in pregnancy. Clin Pharmacol Ther 1997; 62(4): 400–7 4. Crews KR, Gaedigk A, Dunnenberger HM, Leeder JS, Klein TE, Caudle KE, Haidar CE, Shen DD, Callaghan JT, Sadhasivam S, Prows CA, Kharasch ED, Skaar TC: Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium Guidelines for cytochrome P450 2D6 genotype and codeine therapy: 2014 update. Clin Pharmacol Ther 2014; 95(4): 376–82 5. Koren G, Cairns J, Chitayat D, Gaedigk A, Leeder SJ: Pharmacogenetics of morphine poisoning in a breastfed neonate of a codeine-prescribed mother. Lancet 2006; 368: 704 Quellen: 1. Helbling A: Allergie und Asthma: Welche Medikamente können in der Schwangerschaft rezeptiert werden? Schweiz Med Wochenschr 2000; 130: 551–7 2. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl.; München: Urban & Fischer (Elsevier); 2012 3. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): Nationale Versorgungsleitlinie Asthma – Langfassung, 2. Aufl., Version 5, 2009, zuletzt geändert: August 2013. www.versorgungsleitlinien. de/themen/asthma (Zugriff: 18.03.2014); DOI: 10.6101/ AZQ/000163. www.versorgungsleitlinien.de, www.awmf.org, www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/nvl002l_S3_Asthma_2013-09.pdf 4. Worth H: Asthma und Schwangerschaft. Pneumologe 2013; 10: 409–17 5. Dombrowski MP, Huff R, Lipkowitz M, Schatz M for the American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) and the American College of Allergy, Asthma and Immunology (ACAAI): The use of newer asthma and allergy medications during pregnancy. Ann Allergy Asthma Immunol 2000; 84: 475–80 Cromoglicinsäure Aus den bisherigen Berichten hat sich kein Anhalt für ein teratogenes Risiko ergeben.1 Quellen: 1. Briggs GG, Freeman RK, Yaffe SJ: Drugs in Pregnancy and Lactation. 9th ed. Philadelphia, PA: Wolters Kluwer, Lippincott Williams & Wilkins; 2011 Cetirizin Cetirizin gehört zu den in der Schwangerschaft gut untersuchten Antihistaminika. Hinweise auf ein teratogenes Risiko liegen nicht vor.1 Quellen: 1. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl.; München: Urban & Fischer (Elsevier); 2012 KVH aktuell 2|2015 VII Fexofenadin GYN-SPECIAL Studien, die eine Bewertung über den Einsatz der Substanz während der Schwangerschaft erlauben würden, liegen nicht vor. wenn sie vor der Schwangerschaft zu einem günstigen Therapieerfolg geführt haben.1,2 Quellen: Loratadin ist mit vielen Tausend Schwangerschaften das am besten untersuchte nicht sedierende Antihistaminikum. Hinweise auf ein teratogenes Risiko liegen nicht vor.1 1. Dombrowski MP, Huff R, Lipkowitz M, Schatz M for the American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) and the American College of Allergy, Asthma and Immunology (ACAAI): The use of newer asthma and allergy medications during pregnancy. Ann Allergy Asthma Immunol 2000; 84: 475–80 2. Schembri S, Schatz M, Dombrowski MP: Asthma in pregnancy. N Engl J Med 2009; 361(5): 535–6 Quellen: Theophyllin 1. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. München; 8. Aufl.; Urban & Fischer (Elsevier); 2012 Die Anwendung von Theophyllin in der Schwangerschaft ist etabliert und gilt als sicher. Wegen der Nebenwirkungen, die ungeachtet einer Schwangerschaft für Theophyllin bekannt sind, hat es jedoch den Charakter eines Ausweichpräparats.1 Loratadin Montelukast Tierversuche geben keinen Anlass zur Besorgnis. Ausreichende Erfahrungen bei Schwangeren liegen bislang nicht vor. Zur allgemeinen Anwendung in der Schwangerschaft können LeukotrienAntagonisten nicht empfohlen werden. Dennoch können sie im Einzelfall bei Patientinnen mit hartnäckigem Asthma in Betracht gezogen werden, Arzneimittelgruppe Quellen: 1. Helbling A: Allergie und Asthma: Welche Medikamente können in der Schwangerschaft rezeptiert werden? Schweiz Med Wochenschr 2000; 130: 551–7 Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Antiasthmatika und Cromoglicinsäure, Loratadin, Clemastin. Antiallergika Inhalative Glukokortikoide (z. B. Budesonid). Systemische Glukokortikoide (Prednisolon) bei Notwendigkeit, inhalative Beta-2-Sympathomimetika (z. B. Salbutamol, Fenoterol). Antibiotika Betalactam-Antibiotika Zur Behandlung bakterieller Infektionen in der Schwangerschaft sind Betalactam-Antibiotika die Mittel der ersten Wahl. Altbekannte Wirkstoffe sollten bevorzugt werden. Unter den Betalactam-Antibiotika sind die Penicilline die am besten untersuchte Gruppe von Antibiotika und gehören zu den Antibiotika der ersten Wahl in der Schwangerschaft.1 Hinweise auf Teratogenität haben sich nicht ergeben. Die Anwendung der Penicilline ist in der Schwangerschaft möglich. Die Clearance von Betalactam-Antibiotika und Betalactamase-Inhibitoren kann in der Schwangerschaft erhöht sein.1 VIII KVH aktuell 2|2015 Cephalosporine gehören wie die Penicilline zu den Antibiotika der ersten Wahl in der Schwangerschaft und Stillzeit.1 Quellen: 1. Padberg S: Anti-infective Agents. In: Schaefer C, Peters PWJ, Miller R (eds). Drugs during pregnancy and lactation. Treatment options and risk assessment. 3rd ed. New York: Academic Press/Elsevier; 2015. S. 116–77 Makrolid-Antibiotika Makrolid-Antibiotika können in der Schwangerschaft gegeben werden. Erythromycin(succinat) ist das für die Schwangerschaft am besten untersuchte Mittel dieser Gruppe. Ein Verdacht auf teratogene oder embryotoxische Eigenschaften Arzneimittelgruppe Quellen: 1. Bar-Oz B, Weber-Schoendorfer C, Berlin M, Clementi M, Di Gianantonio E, de Vries L, De Santis M, Merlob P, Stahl B, Eleftheriou G, Maňáková E, HubiĉkováHeringová L, Youngster I, Berkovitch M: The outcomes of pregnancy in women exposed to the new macrolides in the first trimester: a prospective, multicentre, observational study. Drug Saf 2012; 35(7): 589–98 2. Padberg S. Anti-infective Agents. In: Schaefer C, Peters PWJ, Miller R (eds). Drugs during pregnancy and lactation. Treatment options and risk assessment. 3rd ed. New York: Academic Press/Elsevier; 2015. S. 116–77 GYN-SPECIAL beim Menschen hat sich bislang nicht ergeben. Ein kontrovers diskutierter Verdacht eines Zusammenhangs mit hypertropher Pylorusstenose gilt als spekulativ.1,2 Für die Stillzeit gehören Makrolide neben Penicillinen und Cephalosporinen zu den Mitteln der Wahl. Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Antibiotika Penicilline und Cephalosporine, Reserve: Makrolidantibiotika Antidepressiva Von den trizyklischen Antidepressiva wurden Amitriptylin und Nortriptylin am besten untersucht, und es liegen viele Einzelfallbeschreibungen und einige kleine Serien vor. Hieraus ergaben sich keine Hinweise auf Embryotoxizität. Für alle anderen tri- und tetrazyklischen Antidepressiva ist die Datenbasis kleiner. Insgesamt gibt es aber keine Hinweise auf Embryotoxizität für die trizyklischen Antidepressiva. In der Stillzeit soll Doxepin gemieden werden, da wiederholt Symptome beim Säugling berichtet wurden. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Ein nennenswertes teratogenes Risiko scheint nicht zu bestehen. Jedoch soll Paroxetin in der Schwangerschaft gemieden werden, denn für Paroxetin-Exposition im ersten Trimenon wurde eine Assoziation mit kardialen Fehlbildungen beschrieben.1,2 Dies sollte für Paroxetin auch in der Stillzeit im Hinblick auf eine gegebenenfalls nachfolgende Schwangerschaft bedacht werden. Eine Zunahme des Risikos einer persistierenden pulmonalen Hypertonie des Neugeborenen (PPHN) wird für SSRI kontrovers diskutiert.3–6 Das absolute Risiko einer PPHN bleibt niedrig. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Dauer einer SSRI-Exposition während der Schwangerschaft mit niedrigerem Geburtsgewicht, Respiratory Distress und reduzierter Schwangerschaftslänge wurde in einer Studie gefunden. Die Schwere der mütterlichen Erkrankung erklärte teilweise diese Ergebnisse.7 Die Entscheidung, ob eine SSRIBehandlung während der Schwangerschaft be- gonnen oder beendet werden soll, sollte auf individueller Basis getroffen werden.7 Dass SSRI die Risiken von niedrigem Geburtsgewicht, Frühgeburt, Fruchttod und neonatalen Krampfanfällen erhöhen können, war das Ergebnis einer Kohortenstudie.8 Keine signifikante Assoziation zwischen SSRI-Verwendung und dem Risiko für Totgeburt, Neugeborenenmortalität oder postneonataler Mortalität bei Einlingsgeburten wurde gefunden.9 Eine Datenbankanalyse ergab eine Assoziation zwischen der Verwendung von Antidepressiva (inkl. SSRI, SNRI und Trizyklika) in zeitlicher Nähe zum Entbindungstermin und einem 1,4- bis 1,9-fach erhöhten Risiko für postpartale Blutungen.10 Dagegen wurde in einer älteren Untersuchung kein erhöhtes Risiko postpartaler Blutungen für SSRI gefunden.11 Möglicherweise ist die Verwendung von Antidepressiva mit einem erhöhten Risiko schwangerschaftsinduzierter Hypertonie assoziiert.12 Eine Datenbankanalyse ergab ein erhöhtes Risiko (etwa 1,5-fach) für Präeklampsie bei Schwangeren, die im zweiten Trimenon oder in der ersten Hälfte des dritten Trimenons Antidepressiva vom Typ der SNRI oder Trizyklika verwendeten.13 Bei einer Gruppe von Neugeborenen, die in utero zum Zeitpunkt der Entbindung gegenüber SSRI oder Venlafaxin exponiert waren, waren häufig (bei mehr als der Hälfte) vorübergehende Symptome zentralnervöser oder respiratorischer Art zu beobachten. Diese traten am ersten Lebenstag auf; die Dauer betrug im Median drei Tage.14 Für eine Autismus-Spektrum-Störung nach SSRIExposition in der Schwangerschaft wurde in Ge- KVH aktuell 2|2015 IX GYN-SPECIAL burtsregisterdaten kein erhöhtes Risiko gefunden (adjustierte Rate Ratio 1,20; 95-%-Konfidenzintervall 0,90–1,61).15 Eine Fall-Kontroll-Studie16 ergab eine solche Assoziation. Eine Vorgeschichte mütterlicher Depression war mit einem erhöhten Risiko einer Autismus-Spektrum-Störung bei den Nachkommen assoziiert (adjustierte Odds Ratio 1,49; 95-%-Konfidenzintervall 1,08–2,08). Diese Assoziation war auf die Frauen mit Antidepressiva-Verwendung beschränkt (3,34; 95-%-Konfidenzintervall 1,50–7,47; p = 0,003), ungeachtet dessen, ob sie mit SSRI oder Trizyklika behandelt wurden. Ob diese Assoziation auf einer Kausalbeziehung beruht oder das Risiko aufgrund mütterlicher Grunderkrankung (schwere Depression) widerspiegelt, bedarf weiterer Forschung. Wird jedoch eine Kausalität angenommen, ist ein signifikanter Beitrag des Antidepressiva-Gebrauchs während der Schwangerschaft zum starken Anstieg des Risikos für Autismus-Spektrum-Störungen unwahrscheinlich und erklärt weniger als 1 % der Fälle.16 Eine retrospektive Analyse der Elektrokardiogramme von 52 Neugeborenen mit vorgeburtlicher SSRI-Exposition ergab im Vergleich zu Kontrollen ein längeres QTc-Intervall; fünf dieser exponierten Neugeborenen hatten ein deutlich verlängertes QTc-Intervall (> 460 ms).17 Hierzu sind weitere Untersuchungen erforderlich. Fluoxetin ist ungünstig, besonders auch für die Stillzeit. Die Eliminationshalbwertszeit ist lang. Wegen der insgesamt geringen Erfahrung und des Risikos hypertensiver Effekte sollten die MAOHemmer Moclobemid und Tranylcypromin in der Schwangerschaft nicht angewandt werden. Für Venlafaxin scheint auf der Basis von über 2.000 Schwangerschaften kein erhöhtes Fehlbildungsrisiko zu bestehen. Nach mütterlicher Behandlung mit Venlafaxin in der sensiblen Phase der Organdifferenzierung (erstes Trimenon) beobachtete man im schwedischen Schwangerschaftsregister unter 505 Neugeborenen keine Zunahme angeborener Anomalien.18 Jedoch wurde Venlafaxin – ähnlich wie SSRI – mit Spontanaborten, niedrigem Geburtsgewicht, Frühgeburten, neonatalem Serotonin-Syndrom und Entzugssymptomen (inklusive neonataler Krampfanfälle) in Verbindung gebracht.19 Arzneimittelgruppe Quellen: 1. Bérard A, Ramos E, Rey E, Blais L, St-André M, Oraichi D: First trimester exposure to paroxetine and risk of cardiac malformations in infants: the importance of dosage. Birth Defects Res B Dev Reprod Toxicol 2007; 80: 18–27 2. Bar-Oz B, Einarson T, Einarson A, Boskovic R, O‘Brien L, Malm H, Bérard A, Koren G: Paroxetine and congenital malformations: Metaanalysis and consideration of potential confounding factors. Clin Ther 2007; 29, 918–26 3. Chambers CD, Hernández-Díaz S, Van Marter LJ, Werler MM, Louik C, Jones KL, Mitchell AA: Selective serotonin reuptake inhibitors and risk of persistent pulmonary hypertension of the newborn. N Engl J Med 2006; 354: 579–87 4. Mills JL: Depressing observations on the use of selective serotonin reuptake inhibitors during pregnancy. N Engl J Med 2006; 354: 636–8 5. Grigoriadis S, Vonderporten EH, Mamisashvili L, Tomlinson G, Dennis CL, Koren G, Steiner M, Mousmanis P, Cheung A, Ross LE: Prenatal exposure to antidepressants and persistent pulmonary hypertension of the newborn: systematic review and meta-analysis. BMJ 2014; 348: f6932 6. Kieler H, Artama M, Engeland A, Ericsson O, Furu K, Gissler M, Nielsen RB, Nørgaard M, Stephansson O, Valdimarsdóttir U, Zoega H, Haglund B: Selective serotonin reuptake inhibitors during pregnancy and risk of persistent pulmonary hypertension in the newborn: population based cohort study from the five Nordic countries. BMJ 2012; 344: d8012 7. Oberlander TF, Warburton W, Misri S, Aghajanian J, Hertzman C: Effects of timing and duration of gestational exposure to serotonin reuptake inhibitor antidepressants: population-based study. Br J Psychiatry 2008; 192: 338–43 8. Wen SW, Yang Q, Garner P, Fraser W, Olatunbosun O, Nimrod C, Walker M: Selective serotonin reuptake inhibitors and adverse pregnancy outcomes. Am J Obstetr Gynecol 2006; 194: 961–6 9. Stephansson O, Kieler H, Haglund B, Artama M, Engeland A, Furu K, Gissler M, Nørgaard M, Nielsen RB, Zoega H, Valdimarsdóttir U: Selective serotonin reuptake inhibitors during pregnancy and risk of stillbirth and infant mortality. JAMA 2013; 309(1): 48–54 10. Palmsten K, Hernández-Díaz S, Huybrechts KF, Williams PL, Michels KB, Achtyes ED, Mogun H, Setoguchi S: Use of antidepressants near delivery and risk of postpartum hemorrhage: cohort study of low income women in the United States. BMJ 2013; 347: f4877 11. Salkeld E, Ferris LE, Juurlink DN: The risk of postpartum hemorrhage with selective serotonin reuptake inhibitors and other antidepressants. J Clin Psychopharmacol 2008; 28: 230–4 12. De Vera MA, Bérard A: Antidepressant use during pregnancy and the risk of pregnancy-induced hypertension. Br J Clin Pharmacol 2012; 74(2): 362–9 13. Palmsten K, Huybrechts KF, Michels KB, Williams PL, Mogun H, Setoguchi S, Hernández-Díaz S: Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Antidepressiva Schwangerschaft: Sertralin, Citalopram, Amitriptylin, Imipramin, Nortriptylin. Stillzeit: Bei einer Neueinstellung sind Sertralin und Amitriptylin Antidepressiva der ersten Wahl. X KVH aktuell 2|2015 17. Dubnov-Raz G, Juurlink DN, Fogelman R, Merlob P, Ito S, Koren G, Finkelstein Y: Antenatal use of selective serotonin-reuptake inhibitors and QT interval prolongation in newborns. Pediatrics 2008; 122, e710–5 18. Lennestål R, Källén B: Delivery outcome in relation to maternal use of some recently introduced antidepressants. J Clin Psychopharmacol 2007; 27(6): 607–13 19. Einarson A, Fatoye B, Sarkar M, Lavinge SV, Brochu J, Chambers C, Mastroiacovo P, Addis A, Matsui D, Schuler L, Einarson TR, Koren G: Pregnancy outcome following gestational exposure to venlafaxine: A multicenter prospective controlled study. Am J Psychiatry 2001; 158: 1728–30 GYN-SPECIAL Antidepressant use and risk for preeclampsia. Epidemiology 2013; 24(5): 682–91 14. Ferreira E, Carceller AM, Agogué C, Martin BZ, St-André M, Francoeur D, Bérard A: Effects of selective serotonin reuptake inhibitors and venlafaxine during pregnancy in term and preterm neonates. Pediatrics 2007; 119: 52–9 15. Hviid A, Melbye M, Pasternak B: Use of selective serotonin reuptake inhibitors during pregnancy and risk of autism. N Engl J Med 2013; 369(25): 2406–15 16. Rai D, Lee BK, Dalman C, Golding J, Lewis G, Magnusson C: Parental depression, maternal antidepressant use during pregnancy, and risk of autism spectrum disorders: population based case-control study. BMJ 2013; 346: f2059 Antiemetika Ältere Antihistaminika wie Dimenhydrinat, Diphenhydramin und Doxylamin werden zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft eingesetzt.1–3 Dimenhydrinat und Diphenhydramin sollen allerdings nicht bei drohender Frühgeburt verwendet werden, da diesen unterstellt wird, Wehen zu fördern. Auch Ingwerpräparate können, falls ausreichend wirksam, verwendet werden. Metoclopramid kann ebenfalls eingesetzt werden. Gleichwohl sollte mit Sorgfalt entschieden werden, ob die Anwendung dieser Wirkstoffe in der Schwangerschaft wirklich begründet ist oder inwieweit nichtmedikamentöse Maßnahmen ausreichen. Ondansetron sollte nicht als First-Line-Antiemetikum in der Schwangerschaft angesehen werden. Für Aprepitant, Betahistin, Cinnarizin, Domperidon, Flunarizin und Sulpirid fehlen hinreichende Daten zur Sicherheit in der Schwangerschaft, und diese Mittel sollten daher nicht angewandt werden. Ingwer wird kontrovers beurteilt. dungen, niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburt oder perinatale Sterblichkeit.2 Eine signifikant höhere Rate von Frühgeburten (8,1 %) gegenüber einer Kontrollgruppe (2,4 %) wurde von anderen Autoren gefunden; die Rate grobstruktureller Fehlbildungen war in dieser multinationalen Studie gleich.3 Eine Analyse von Verschreibungsdaten mit Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Verschreibungen in der Schwangerschaft ergab keine signifikanten Unterschiede für Geburtsgewicht, Häufigkeit von Missbildungen oder Frühgeburt.4 Einen definierten Stellenwert hat Metoclopramid in einem kanadischen Behandlungsalgorithmus für Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft: Wenn Vitamin B6, auch in Kombination mit Doxylamin, nicht ausreichend wirksam ist, wird zunächst Dimenhydrinat versucht. Als nächste Alternativen werden gleichberechtigt Metoclopramid, Ondansetron, Prochlorperazin oder Promethazin genannt.5 Bei Dimenhydrinat in der Stillzeit wurden gelegentlich leichte Unruhe, Sedierung oder Trinkschwäche beim Säugling beschrieben. Quellen: Quellen: 1. Mylonas I, Gingelmaier A, Kainer F: Erbrechen in der Schwangerschaft. Dt Ärztebl 2007; 104: A1821–6 2. Jarvis S, Nelson-Piercy C: Management of nausea and vomiting in pregnancy. BMJ 2011; 342: d3606. Correction: BMJ 2011; 342: d4018 3. Magee LA, Mazzotta P, Koren G: Evidence-based view of safety and effectiveness of pharmacologic therapy for nausea and vomiting of pregnancy. Am J Obstet Gynecol 2002; 186: S256–61 1. Pasternak B, Svanström H, Mølgaard-Nielsen D, Melbye M, Hviid A: Metoclopramide in pregnancy and risk of major congenital malformations and fetal death. JAMA 2013; 310(15): 1601–11 2. Matok I, Gorodischer R, Koren G, Sheiner E, Wiznitzer A, Levy A: The safety of metoclopramide use in the first trimester of pregnancy. N Engl J Med 2009; 360(24): 2528–35 3. Berkovitch M, Mazzota P, Greenberg R, Elbirt D, Addis A, Schuler- Faccini L, Merlob P, Arnon J, Stahl B, Magee L, Moretti M, Ornoy A: Metoclopramide for nausea and vomiting of pregnancy: a prospective multicenter international study. Am J Perinatol 2002; 19: 311–6 4. Sørensen HT, Nielsen GL, Christensen K, Tage-Jensen U, Ekbom A, Baron J, and the Euromap study group: Birth outcome following maternal use of metoclopramide. Br J Clin Pharmacol 2000; 49: 264–8 5. Koren G, Levichek Z: The teratogenicity of drugs for nausea and vomiting of pregnancy: Perceived versus true risk. Am J Obstet Gynecol 2002; 186: S248–52 Metoclopramid Eine größere Studie aus Dänemark zur Metoclopramid-Exposition im ersten Trimenon der Schwangerschaft hat keinen Anhalt für kindliche Schäden ergeben1 Eine große israelische Kohortenstudie, die 3.458 Geburten mit Metoclopramid-Exposition im ersten Trimenon umfasste, ergab im Vergleich zur Nichtexposition kein signifikant erhöhtes Risiko für grobstrukturelle Fehlbil- KVH aktuell 2|2015 XI Ondansetron GYN-SPECIAL Aus der Gruppe der Serotonin-Antagonisten liegen für Ondansetron die meisten Informationen zur Schwangerschaft vor. Aus Fallberichten (z. B. 1., 2.) ergaben sich keine Hinweise auf Probleme. In einer Untersuchung bei einer Gruppe von 175 Schwangeren mit Ondansetron-Exposition fand sich keine erhöhte Rate grobstruktureller Fehlbildungen im Vergleich zu Kontrollgruppen (Exposition gegenüber anderen Antiemetika oder Exposition gegenüber Nicht-Teratogenen).3 Keine Assoziation zwischen der Verwendung von Ondansetron und erhöhten Fehlbildungsraten wurde in einer dänischen Untersuchung gefunden.4 In einem Kongressbeitrag – ebenfalls zu dänischen Registerdaten – wurde dagegen über ein zweifach erhöhtes Risiko für kardiale Fehlbildungen berichtet.5 Vor diesem Hintergrund wird dazu geraten, Ondansetron derzeit nicht als First-Line- Arzneimittelgruppe Antiemetikum bei Schwangerschaftsübelkeit anzusehen.5 Auch sind mögliche schwangerschaftsunabhängige Risiken (z. B. QT-Verlängerung, Serotonin-Syndrom) zu bedenken. Quellen: 1. Briggs GG, Freeman RK, Yaffe SJ: Drugs in Pregnancy and Lactation. 9th ed. Philadelphia, PA: Wolters Kluwer, Lippincott Williams & Wilkins; 2011 2. Siu SSN, Yip SK, Cheung CW, Lau TK: Treatment of intractable hyperemesis gravidarum by ondansetron. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2002; 105: 73–4 3. Einarson A, Maltepe C, Navioz Y, Kennedy D, Tan MP, Koren G: The safety of ondansetron for nausea and vomiting of pregnancy: a prospective comparative study. BJOG 2004; 111(9): 940–3 4. Pasternak B, Svanström H, Hviid A: Ondansetron in pregnancy and risk of adverse fetal outcomes. N Engl J Med 2013; 368(9): 814–23. Erratum in N Engl J Med 2013; 368(22): 2146 5. Koren G: Scary science: Ondansetron safety in pregnancy – two opposing results from the same Danish registry. Ther Drug Monit 2014 Jan 9. [Epub ahead of print] Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Antiemetika Dimenhydrinat, Doxylamin, Metoclopramid. Antiepileptika Valproinsäure ist ein bekanntes Teratogen. Auch für andere klassische Antiepileptika (z. B. Phenytoin, Carbamazepin, Phenobarbital) sind schädliche Wirkungen in der Schwangerschaft beschrieben.1 Das zu einigen neueren Antiepileptika bislang verfügbare Datenmaterial zur Sicherheit in der Schwangerschaft ist weniger umfangreich, mit Ausnahme von Lamotrigin und Levetiracetam, zu denen insgesamt keine ernsthaften Verdachtsmomente bezüglich Teratogenität vorliegen. Für andere neuere Antiepileptika (z. B. Felbamat, Lacosamid, Pregabalin, Sultiam, Tiagabin, Vigabatrin) ist die Erfahrung unzureichend und erlaubt derzeit keine Empfehlungen. Bei manchen Wirkstoffen (z. B. Topiramat, Zonisamid) sind zudem Befunde aufgetreten, die zu Bedenken Anlass geben und weitere Untersuchungen erfordern. Die Frage nach der Beeinflussung der neurologischen und kognitiven Entwicklung der Kinder nach In-utero-Antiepileptika-Exposition wird seit Langem diskutiert. Valproinsäure ist offenbar ungünstiger als andere Antiepileptika.2–4 Eine Assoziation zwischen Valproinsäure-Exposition während der Schwangerschaft und signifikant reduzierter Intelligenz der Kinder5 bzw. signifikant erhöhtem Risiko für eine Autismus-Spektrum-Störung und XII KVH aktuell 2|2015 kindlichen Autismus wurden beschrieben.6 Ein kürzlich erschienener Rote-Hand-Brief hat das Risiko für schwerwiegende Entwicklungsstörungen (in bis zu 30–40 % der Fälle) und/oder angeborene Missbildungen (in circa 10 % der Fälle) bestätigt.7 Die pharmakokinetischen Eigenschaften einiger Antiepileptika können sich während der Schwangerschaft in individuell unterschiedlichem Ausmaß ändern. Mit Plasmaspiegeluntersuchungen können diese Änderungen erfasst werden. Daraus ergeben sich Änderungen des Dosisbedarfs während der Schwangerschaft sowie in umgekehrter Richtung nach der Entbindung. Dies betrifft unter anderem Lamotrigin und Levetiracetam. Empfehlungen für die perikonzeptionelle Folsäure- und für die Vitamin-K-Prophylaxe beim Neugeborenen sollten beachtet werden. In der Betreuung von Epilepsie-Patientinnen, die schwanger werden können oder wollen, kommt der interdisziplinären Zusammenarbeit (Gynäkologie, Neurologie, Hausarzt) unter Einbeziehung einer Beratungsstelle für Embryonaltoxikologie hohe Bedeutung zu. Die Aufnahme der Schwangeren in ein entsprechendes Register ist wichtig. Lamotrigin ist für die Stillzeit nur bedingt akzeptabel. Mit der Muttermilch können erhebliche Mengen zum Säugling übergehen.8 1. Tomson T, Battino D: Teratogenic effects of antiepileptic drugs. Lancet Neurol 2012; 11(9): 803–13 2. Vinten J, Adab N, Kini U, Gorry J, Gregg J, Baker GA; Liverpool and Manchester Neurodevelopment Study Group: Neuropsychological effects of exposure to anticonvulsant medication in utero. Neurology 2005; 64: 949–54 3. Meador KJ, Baker GA, Browning N, Clayton-Smith J, Combs-Cantrell DT, Cohen M, Kalayjian LA, Kanner A, Liporace JD, Pennel PB, Privitera M, Loring DW, for the NEAD Study Group; Cognitive function at 3 years of age after fetal exposure to antiepileptic drugs. N Engl J Med 2009; 360: 1597–605 4. Meador KJ, Baker GA, Browning N, Cohen MJ, Bromley RL, Clayton-Smith J, Kalayjian LA, Kanner A, Arzneimittelgruppe GYN-SPECIAL Quellen: Liporace JD, Pennell PB, Privitera M, Loring DW; NEAD Study Group: Fetal antiepileptic drug exposure and cognitive outcomes at age 6 years (NEAD Study): a prospective observational study. Lancet Neurol 2013; 12(3): 244–52 5. Banach R, Boskovic R, Einarson T, Koren G: Longterm developmental outcome of children of women with epilepsy, unexposed or exposed prenatally to antiepileptic drugs: a meta-analysis of cohort studies. Drug Saf 2010; 33(1): 73–9 6. Christensen J, Grønborg TK, Sørensen MJ, Schendel D, Parner ET, Pedersen LH, Vestergaard M: Prenatal valproate exposure and risk of autism spectrum disorders and childhood autism. JAMA 2013; 309(16): 1696703 7. Rote-Hand-Brief. Arzneimittel, die Valproat und verwandte Substanzen enthalten: Risiko für Anomalien des Neugeborenen. Dezember 2014. http://www. akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/ Archiv/ 2014/20141212.pdf (Zugriff 07.01.2015) 8. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl.; München: Urban & Fischer (Elsevier); 2012 Arzneimittel der Wahl in Schwangerschaft und Stillzeit (zu Einschränkungen und Erläuterungen siehe Text und Quellen) Antiepileptika Schwangerschaft: Möglichst niedrig dosierte Monotherapie im ersten Trimenon unter Folsäuresubstitution (v. a. bei Carbamazepin) mit erprobten Substanzen (bei Primidon, Phenobarbital und Phenytoin peripartale Vitamin-K-Gabe) unter Meidung von Valproinsäure (weist die höchste Teratogenität auf). Eventuell Lamotrigin. Stillen ist bei Monotherapie akzeptabel. Bei Lamotrigin in der Stillzeit ggf. Spiegelkontrolle beim Kind. Methylphenidat Raucherentwöhnungsmittel Für eine Risikoabschätzung für die Anwendung in der Schwangerschaft liegen zu wenige Daten vor.1 Methylphenidat sollte in der Schwangerschaft nicht angewandt werden. Übersichten von 180 beziehungsweise 222 Schwangerschaften mit Methylphenidat-Exposition im ersten Trimenon ergaben kein substanziell erhöhtes Risiko für grobstrukturelle Fehlbildungen.2–3 Für die Stillzeit existieren keine Angaben zu Langzeitauswirkungen auf die Kinder. Der Nutzen einer überwachten Nicotin-Ersatztherapie in der Schwangerschaft scheint gegenüber den Risiken einer Fortsetzung des Rauchens zu überwiegen, zumindest bei starken Raucherinnen. Nicotin-Ersatztherapie ist die einzige Pharmakotherapie zur Beendigung des Rauchens, zu der randomisierte klinische Studien in der Schwangerschaft durchgeführt wurden.1 Unzureichend ist die Datenlage für die Entscheidung, ob die Nicotin-Ersatztherapie zur Förderung der Beendigung des Rauchens in der Schwangerschaft wirksam und sicher ist.1 Enttäuschend bezüglich der Effektivität waren die Ergebnisse einer randomisierten placebokontrollierten Studie bei über 1.000 schwangeren Raucherinnen in England. Die Zugabe eines Nicotin-Pflasters (15 mg pro 16 Stunden) zu verhaltenstherapeutischer Unterstützung ergab keinen signifikanten Anstieg der Rate von Abstinenz bis zur Entbindung. Die Raten ungünstiger Schwangerschafts- und Geburtsausgänge waren in beiden Gruppen ähnlich. Niedrige ComplianceRaten schränkten die Beurteilbarkeit der Sicherheit jedoch deutlich ein.2 Quellen: 1. Bolea-Alamanac BM, Green A, Verma G, Maxwell P, Davies SJ: Methylphenidate use in pregnancy and lactation: a systematic review of evidence. Br J Clin Pharmacol 2014; 77(1): 96–101 2. Dideriksen D, Pottegård A, Hallas J, Aagaard L, Damkier P: First trimester in utero exposure to methylphenidate. Basic Clin Pharmacol Toxicol 2013; 112(2): 73–6 3. Pottegård A, Hallas J, Andersen JT, Løkkegaard EC, Dideriksen D, Aagaard L, Damkier P: First-trimester exposure to methylphenidate: a population-based cohort study. J Clin Psychiatry 2014; 75(1): e88–93 KVH aktuell 2|2015 XIII GYN-SPECIAL Bei Verwendung von Nicotin-Pflastern der Stärke 21 mg in der Stillzeit befanden sich die NicotinBrustmilchkonzentrationen in ähnlichem Bereich wie bei Raucherinnen, die im Mittel 17 Zigaretten konsumieren; bei Pflastern geringerer Stärke waren sie entsprechend niedriger.3 Vorrangige Bedeutung haben verhaltenstherapeutische Maßnahmen bei der Raucherentwöhnung Schwangerer. Von Interesse ist ferner, dass gesetzgeberische Maßnahmen zur Rauchfreiheit mit einem deutlichen Rückgang von Frühgeburten assoziiert waren.4 Zur Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit von Vareniclin5,6 und Bupropion in der Raucherentwöhnung Schwangerer und Stillender reichen die bislang verfügbaren Daten nicht aus, und eine entsprechende Empfehlung kann nicht gegeben werden. Quellen: 1. Coleman T, Chamberlain C, Davey MA, Cooper SE, Leonardi-Bee J: Pharmacological interventions for promoting smoking cessation during pregnancy. Cochrane Database Syst Rev 2012; 9: CD010078 2. Coleman T, Cooper S, Thornton JG, Grainge MJ, Watts K, Britton J, Lewis S; Smoking, Nicotine, and Pregnancy (SNAP) Trial Team: A randomized trial of nicotine-replacement therapy patches in pregnancy. N Engl J Med 2012; 366(9): 808–18 3. Ilett KF, Hale TW, Page-Sharp M, Kristensen JH, Kohan R, Hackett LP: Use of nicotine patches in breast-feeding mothers: transfer of nicotine and cotinine into human milk. Clin Pharmacol Ther 2003; 74(6): 516–24 4. Been JV, Nurmatov UB, Cox B, Nawrot TS, van Schayck CP, Sheikh A: Effect of smoke-free legislation on perinatal and child health: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2014; 383(9928): 1549–60 5. Harrison-Woolrych M, Paterson H, Tan M: Exposure to the smoking cessation medicine varenicline during pregnancy: a prospective nationwide cohort study. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2013; 22(10): 1086–92 6. Kaplan YC, Olgac Dündar N, Kasap B, Karadas B: Pregnancy outcome after varenicline exposure in the first trimester. Case Rep Obstet Gynecol 2014; 2014: 26398 Glossar der Abkürzungen ACE Angiotensin Converting Enzym ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung COX-2 Cyclooxygenase 2 CYP2D6 Cytochrom P450 2D6 NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika PPHN Persistierende pulmonale Hypertonie des Neugeborenen SNRI Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer SSRI Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Literatur Verordnungsforum 32 Januar 2015 Herausgeber KVBW Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg Albstadtweg 11 70567 Stuttgart Text Prof. Dr. med. Klaus Mörike, Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Abteilung Klinische Pharmakologie XIV KVH aktuell 2|2015 Bücher Übersichtsarbeiten und Buchkapitel ■ Schaefer C, Peters P, Miller RKM: Drugs during pregnancy and lactation, 3. Aufl.; London: Elsevier/Academic Press; 2015 ■ Paulus WE, Lauritzen C: Medikamente und Schadstoffe in Schwangerschaft und Stillzeit. 22. Aufl.; Balingen: Spitta- Verlag; 2014 ■ Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, WeberSchöndorfer C: Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl.; München: Urban & Fischer (Elsevier); 2012 ■ Briggs GG, Freeman RK, Yaffe SJ: Drugs in Pregnancy and Lactation. 9. Aufl.; Philadelphia: Wolters Kluwer, Lippincott Williams & Wilkins; 2011 ■ Friese K, Mörike K, Neumann G, Windorfer A: Arzneimittel in der Schwangerschaft und Stillzeit. Ein Leitfaden für Ärzte und Apotheker. 7. Aufl.; Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2009 ■ Schaefer C, Weber-Schöndorfer C: Aktuelle Aspekte zum Arzneimitteleinsatz in Schwangerschaft und Stillzeit. Arzneimitteltherapie 2012; 30(12): 383–90 ■ Paulus WE: Pharmakotherapie in der Schwangerschaft. In: Wehling M (Hrsg.): Klinische Pharmakologie. 2. Aufl.; Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2011 ■ Schaefer C, Weber-Schöndorfer C: Pharmakotherapie in der Schwangerschaft. Internist 2009; 50: 455–66 ■ Paulus W: Krank in der Schwangerschaft und Stillzeit. Welche Medikamente dürfen Sie verschreiben? MMW Fortschr Med 2005; 147(16): 1–8 ANTIHYPERTENSIVA IN DER SCHWANGERSCHAFT GYN-SPECIAL Was empfehlen die Leitlinien? Soll eine medikamentöse Senkung erfolgen, so gilt alphaMethyldopa als Wirkstoff der ersten Wahl. Kontraindiziert sind ACE-Hemmer und Sartane. Atenolol sollte gemieden werden. Empfohlen werden außerdem Nifedipin, Metoprolol und Hydralazin (Stillzeit). Auf Diuretika sollte aus physiologischen Überlegungen eher verzichtet werden. DR. MED. STEFAN GRENZ Die Datenlage zu arzneimittelinduzierten Fruchtschäden ist (auch) für Antihypertensiva schlecht. Die verfügbaren Empfehlungen orientieren sich am empirischen „Grad an Sicherheit“.1 Dieser ist für viele Antihypertensiva gering. Sichere Beweise für eine Unschädlichkeit im 1. Trimenon liegen naturgemäß auch für die empfohlenen Wirkstoffe nicht vor.2,3 Eine arterielle Blutdruckerhöhung in der Schwangerschaft (SS) ist:4 ■ schwangerschaftsunabhängig (vorbestehende Hypertonie oder Blutdruckerhöhung vor der 20. Schwangerschaftswoche [SSW]) oder ■ schwangerschaftsbedingt (wenn sich die Blutdruckerhöhung nach der 20. SSW entwickelt). Prognostisch ungünstig ist die Entwicklung einer Proteinurie (insbesondere bei Eiweißausscheidung von > 300 mg/24 h):4 ■ als Präeklampsie (Gestose) bei schwangerschaftsbedingter Hypertonie oder ■ als Pfropfpräeklampsie (Pfropfgestose) bei schwangerschaftsunabhängiger Hypertonie. ■ Ödeme gelten nicht mehr als Diagnosekriterium einer Präeklampsie. Die Rationale für eine medikamentöse Blutdrucksenkung in der Schwangerschaft ist die Progressionsvermeidung von hypertensiven Endorganschäden der 6-8% BLUTDRUCK BEI SCHWANGERSCHAFTEN Ein erhöhter arterieller Blutdruck (über erhöhter arterieller Blutdruck bei Schwangerschaften 140/90 mmHg) ist in etwa 6 bis 8 Prozent aller Schwangerschaften nachweisbar. Ob und mit welchen Medikamenten eine Blutdrucksenkung erfolgen soll, hängt vom individuellen Risiko für die Schwangere und das ungeborene Kind ab. KVH aktuell 2|2015 XV GYN-SPECIAL Die Leitlinie der Deutschen Hochdruckliga (DHL) ist formal abgelaufen und befindet sich zurzeit in Überarbeitung. Aktuell ist die Pocket Guideline der European Society of Cardiology (ESC). PDF zum Download unter: kvh.link/1502007 HINTERGRUND XVI KVH aktuell 2|2015 Mutter und/oder die Risikoreduktion einer Präeklampsie mit Gefahr für Mutter und Kind. Empfohlen wird die Option „keine Antihypertensiva“ nur für vormals gesunde Schwangere mit stabilen Blutdruckwerten unter 150 mmHg systolisch bzw. 100 mmHg diastolisch – regelmäßige Selbstkontrollen vorausgesetzt.3–5 Begründung: Ohne Antihypertensiva sei in dieser Gruppe der Nutzen (Vermeidung von arzneimittelverursachten Fruchtschäden oder uteroplazentaren Minderperfusionen) für das Kind höher als das (geringe kardiovaskuläre) Risiko für die Mutter.4 Die Option „keine Antihypertensiva“ gilt somit auch bei vorbestehender Hypertonie: Die Entscheidung, ob eine Hypertonie „vorbestehend“ oder „schwangerschaftsbedingt“ ist, sei in der Praxis nicht immer leistbar.5 Eine begleitende Kochsalzreduktion wird nicht empfohlen.4 Sollte in der SS die vorbestehende Medikation weitergeführt werden, dürfen keine ACE-Hemmer und Sartane oder Atenolol genommen werden. Im Falle des Neubeginns einer antihypertensiven Medikation in der SS ist alpha-Methyldopa das Mittel der Wahl (cave: kurze Halbwertszeit von 1,8 h). Auch Metoprolol oder retardiertes Nifedipin seien sicher (Labetalol wird ebenfalls empfohlen, ist aber hierzulande nicht gelistet).3–5 Für Aliskiren, Amlodipin, Clonidin, Prazosin, Moxonidin sei der Grad an Sicherheit zu gering: Daher haben sie keinen Platz in SS oder Stillzeit.1 Zur Akut-Behandlung von Blutdruckwerten über 170 mmHg systolisch bzw. über 110 mmHg diastolisch werden Methyldopa, nichtretardiertes Nifedipin und Urapidil i. v. empfohlen. Hydralazin i. v. wird nicht (mehr) empfohlen. Natriumnitroprussid i. v. nur, wenn das Leben der Mutter gefährdet sei.2,4,5 Während der Stillperiode werden alpha-Methyldopa und Dihydralazin als Mittel der Wahl, daneben (retardiertes) Nifedipin und Metoprolol gemäß DHL-Leitlinie empfohlen.4 Englands NICE bewertet zudem Enalapril, Captopril oder Atenolol als unschädlich für den Säugling.3 Dagegen werden alle restlichen ACE-Hemmer, alle Sartane und auch Amlodipin für die Stillzeit nicht empfohlen.3 Nicht Gegenstand dieser Kurzübersicht sind Besonderheiten der antihypertensiven Behandlung bei Eklampsie bzw. schwerem vorbestehendem Hochdruck. Ebenso ist der Hinweis wichtig, dass die zitierte DHL-Leitlinie4 formal abgelaufen ist. Sie soll derzeit in Überarbeitung sein. Die Pharmakovigilanz-Datenbank EMBRYOTOX der Charité ermöglicht eine rasche OnlineRecherche zu den gängigen Substanzen.1 ■ Quellen: 1. www.embryotox.de 2. Der Arzneimittelbrief. Behandlung der Hypertonie in Schwangerschaft und Stillzeit. AMB 2011; 45: 06 3. NHS National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE). Hypertension in pregnancy: The management of hypertensive disorders during pregnancy (Guideline 107). NICE 2011; http://www.nice.org.uk/guidance/cg107 4. Deutsche Hochdruckliga (DHL). Leitlinie zur Behandlung der arteriellen Hypertonie. AWMF 2008; http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 046-001_S2_Behandlung_der_arteriellen_ Hypertonie_abgelaufen.pdf 5. Zamorski MA, Green LA. NHBPEP Report on High Blood Pressure in Pregnancy: A Summary for Family Physicians. Am Fam Physician 2001; 64(2): 263–70 ✓ Interessenkonflikte: keine STANDPUNKT Chinin ist seit April 2015 verschreibungspflichtig – damit auch verordnungsfähig? Chinin zur Behandlung nächtlicher Wadenkrämpfe ist seit Neuestem verschreibungspflichtig geworden. Nachfolgend stellen wir relevante Nebenwirkungen vor, fassen kurz die aktuelle Leitlinie zur Behandlung nächtlicher Wadenkrämpfe zusammen und beleuchten die zukünftige Verordnungsfähigkeit chininhaltiger Präparate. DR. MED. MICHAEL VIAPIANO C hinin ist ein Alkaloid des Chinarindenbaums, das über antipyretische, analgetische, lokal anästhesierende und peripher muskelrelaxierende Wirkungen verfügt. 1978 erhielt es in Deutschland die Zulassung zur Behandlung der Malaria sowie, in geringerer Dosierung, zur Behandlung nächtlicher Wadenkrämpfe. Ob der risikoreichen Nebenwirkungen hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Chinin zur Behandlung der Malaria bereits 1994 in die Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) aufgenommen. Das BfArM hat zwischenzeitlich ein Stufenplanverfahren zur Neubewertung chininhaltiger Präparate initiiert, mit einem Sachverständigenausschuss beraten und die Empfehlung der grundsätzlichen Verschreibungspflicht ausgesprochen.1,2 Dem hat sich das BMG nun angeschlossen und im Zuge der neuen AMVV Chinin zum 1. April 2015 zur Anwendung beim Menschen verschreibungspflichtig gemacht.3 tomatik der Salicylatvergiftung ähnelt.4 Die Thrombozytopenie ist unter den unerwünschten Wirkungen hervorzuheben, da sie dosisunabhängig auftreten kann. Der Patient bemerkt diese Nebenwirkung eventuell erst, wenn schon Blutungen eintreten. Ein weiteres Gefahrenpotenzial lässt sich aus den Gegenanzeigen ablesen: Patienten mit kardialen Erkrankungen oder Risikofaktoren (QT-Verlängerung in der Vorgeschichte oder aufgrund QTverlängernder Arzneimittel, Herzinsuffizienz, Elektrolytstörungen) können eine Torsade-de-PointesTachykardie entwickeln, die unbehandelt zum plötzlichen Herztod führen kann. Diese beiden potenziell letalen Nebenwirkungen sind nach Meinung des Sachverständigenausschusses nur durch ärztliche Anamnese und Überwachung einzudämmen, woraus die Empfehlung zur Verschreibungspflicht resultierte. Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung der Kassenärztlichen Vereinigung BadenWürttemberg aus dem Verordnungsforum 34, Juni 2015, übernommen. Leitlinienkonform?5 Nebenwirkungen Zur Behandlung nächtlicher Wadenkrämpfe ist aktuell nur ein Präparat auf dem deutschen Markt zugelassen, das eine Dosierung von max. 400 mg Chinin/Tag für einen Zeitraum von max. fünf Wochen (Ausnahme: Dialysepatienten) angibt. Als Nebenwirkungen sind Hautreaktionen, Blutbildveränderungen, gastrointestinale Störungen sowie Tinnitus und Hörstörungen genannt. Bei chronischer Einnahme oder Überdosierung kann es zum Cinchonismus kommen, der in der Symp- Beim Auftreten von Muskelkrämpfen müssen zunächst Differenzialdiagnosen wie Restless-LegsSyndrom oder Myotonien abgegrenzt werden. Zur Basisdiagnostik gehört die Anamnese der Provokationssituation, Familie, Medikamente, neurologischer Status, Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte, Blutzucker sowie Schilddrüsenhormone. Die erste Therapieoption bei unkompliziertem Muskelkrampf ist die Dehnung der Wade/Kontraktion des Gegenmuskels, regelmäßige Dehnübungen sollen bei häufiger auftretenden Beschwerden KVH aktuell 2|2015 15 Quellen: STANDPUNKT 1. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und Paul-Ehrlich-Institut (Ausgabe 1/ März 2014): Bulletin zur Arzneimittelsicherheit – Informationen aus BfArM und PEI 2. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2014): Voten des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht nach § 53 AMG, 71. Sitzung 3. Bundesgesetzblatt (2014): Verordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung, Apothekenbetriebsordnung, der Verordnung über apothekenpflichtige, freiverkäufliche Arzneimittel und der Medizinprodukte-Abgabeverordnung 2014, Teil I, Nr. 62 4. cassella med (April 2015): Fachinformation Limptar® N 200 mg Filmtabletten 5. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2012): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie – Crampi/ Muskelkrampf 6. Gibt es eine wirksame Therapie bei Muskelkrämpfen in den Beinen? AMB 2013; 47: 89 durchgeführt werden. Pharmakotherapeutisch wird in erster Linie Magnesium empfohlen, auch in der Schwangerschaft. Die Evidenz dieser Maßnahmen ist jedoch sehr begrenzt.6 Die Wirksamkeit von Chinin in der Prophylaxe und Therapie nächtlicher Wadenkrämpfe gilt als belegt. Allerdings ist das Ausmaß der Wirkung im Vergleich zu Placebo moderat.4 Wegen der potenziell schwerwiegenden Nebenwirkungen wird Chinin jedoch nur als Second-Line-Therapie empfohlen und auch nur bei schweren Verläufen. Sollten sich die Krampfstärke oder -häufigkeit nach vier Wochen nicht bessern, ist die Behandlung abzubrechen. Verordnungsfähigkeit In der aktuellen Arzneimittelrichtlinie (AM-RL) Anlage III sind Muskelrelaxantien nur in fixer Kombination mit anderen Wirkstoffen von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen. Das bedeutet, dass chininhaltige Monopräparate ab 1. April 2015 auch in der Indikation des nächtlichen Wadenkrampfs zulasten der GKV verordnet werden können. Bislang hat sich unserer Kenntnis nach der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) noch nicht zu einer Änderung entschlossen. Wir raten jedoch trotzdem zu einem restriktiven Einsatz dieses Präparats wegen beschriebener Nebenwirkungen, Gegenanzeigen und möglicher Interaktionen. ■ ✓ Interessenkonflikte: keine FAZIT • Infolge der neuen Verschreibungspflicht von Chinin besteht formal die Möglichkeit, das Arzneimittel zur Behandlung nächtlicher Wadenkrämpfe zulasten der GKV zu verordnen. • Aufgrund des Risikopotenzials von Chinin raten wir jedoch zu einem restriktiven Einsatz dieses Präparats. • Magnesium (Verordnung auf grünes Rezept) und physiotherapeutische Maßnahmen sind alternative Optionen, wenngleich mit begrenzter Evidenz. KOMMENTAR Brauchen wir Chinin für die Behandlung von Wadenkrämpfen? DR. MED. JOACHIM SEFFRIN N ach Aussage des arznei-telegramm®1 sieht die FDA Chinin weder als ausreichend wirksam noch als sicher an. Sie warnt vor dessen Einnahme.2 Der Stoff sei in den USA deshalb nicht zugelassen. Der Arzneimittelbrief warnte schon 2004 vor dem 16 KVH aktuell 2|2015 Risiko der QT-Verlängerung3 und riet 2013 wegen vielfältiger Nebenwirkungsrisiken und nicht zuverlässiger Wirksamkeitsnachweisen von der Nutzung von Chinin ab.4 Nun hat das BfArM nach rund fünf Jahren (oder noch länger?) des Abwägens nen. Mit der Entscheidung der Behörde müssen wir davon ausgehen, dass weiterhin Menschen bei der Behandlung von Wadenkrämpfen aufgrund von Nebenwirkungen von Chinin sterben werden. Nebenbei wird damit zu rechnen sein, dass die verschreibenden Ärzte beim Auftreten von Komplikationen später vor Gericht nachweisen müssen, dass sie den Patienten über die möglichen Nebenwirkungen ausreichend aufgeklärt haben. Gewissermaßen ein Kollateralschaden. Und welcher Arzt kennt sämtliche Nebenwirkungsrisiken oder stellt sie dem Patienten alle ausführlich dar? Im realen deutschen Praxisalltag mit der irre hohen Zahl an Patientenkontakten ein Ding der Unmöglichkeit, wohl eine Vorstellung von Nach meinem Eindruck Juristen, unrealistisch, nicht mach- haben wir hier erneut bar – und wahrscheinlich jeder auden Nachweis, dass in ßer den Richtern weiß das. Wir haben hier erneut ein Bei- unserem Land weiterhin spiel für das Versagen dieser Be- finanzielle Interessen hörde. Deren Mitarbeiter mögen Vorrang vor dem Schutz im Rahmen ihrer rechtlichen und organisatorischen Möglichkeiten der Gesundheit der ordentlich gearbeitet haben. Bürger haben. Wenn man dies voraussetzt, müssen die Optionen und Freiheitsgrade für Entscheidungen dieses Hauses entsprechend erweitert werden. Die Prämisse aller Verfügungen dieser Behörde muss sein, die Menschen in unserem Land vor unnötigen Arzneimittelrisiken zu schützen. Der Gesetzgeber ist gefordert, die Arbeitsgrundlagen der Verwaltung im oben beschrie- Quellen: benen Sinne zu ändern und die Mitarbeiter ent- 1. a-t 2014;1 sprechend zu unterstützen und vor Widerständen 2. a-t 2010; 9 3. AMB 2004; 38: 49 der Industrie zu schützen. ■ 4. AMB 2013; 47: 89 ✓ Interessenkonflikte: keine STANDPUNKT entschieden, den Wirkstoff unter die Rezeptpflicht zu stellen. Vermutlich um wirtschaftlichen Schaden für den Unternehmer abzuwenden, gestand die Behörde den freien Abverkauf bis Ende März 2015 zu.5 Ob auch an mögliche Schäden der Patienten gedacht wurde? Wie viele Menschen in den Jahren der behördlichen Überprüfung ihr Leben verloren oder Komplikationen erlitten haben, indem sie ihre Wadenkrämpfe mit Chinin behandelten, weiß niemand. Offensichtlich ist anerkannter Wissensstand, dass die Wirkung von Chinin bei Wadenkrämpfen nicht ausreichend belegt ist und dass Chinin in diesen Fällen kaum, wenn überhaupt, einen nennenswerten Nutzen hat. Aus unserer täglichen Erfahrung als Ärzte wissen wir, welch riesige Nachfrage bei den Patienten besteht. Bis vor Kurzem konnte der unbedarfte Bürger das Medikament frei in der Apotheke erstehen, im Vertrauen darauf, dass es für den unbeschränkten Verkauf zugelassen und somit risikoarm oder gar ohne Risiko sei. Die jetzt installierte Hürde der Rezeptpflicht stellt aus meiner Sicht keinen nennenswert besseren Schutz unserer Patienten dar. Hier steht auf der einen Seite eine harmlose, wenn auch außerordentlich unangenehme Beschwerde, nämlich nächtliche Wadenkrämpfe, und auf der anderen Seite eine medikamentöse Behandlung, die in einzelnen Fällen mit gefährlichen, teils lebensbedrohlichen beziehungsweise tödlichen Nebenwirkungen einhergeht. Zu dumm, wenn man einer der wenigen Betroffenen ist. Der Hersteller würde dann vielleicht sagen: eben Pech gehabt. Der Einsatz des Wirkstoffs ist sicher gerechtfertigt, wenn es darum geht, eine lebensbedrohliche Erkrankung wie Malaria zu behandeln, falls die Alternativen nicht gewirkt haben. Ist es aber tatsächlich verantwortbar, für eine Bagatellerkrankung einen potenziell tödlichen Wirkstoff einzusetzen? Noch merkwürdiger wird es, wenn Chinin als Geschmacksstoff für Limonaden verwendet wird. Dies wäre aber ein weiteres, eigenes Thema. Auch wenn die pharmakologische Dosis gering sein mag, ist das Allergenpotenzial nicht zu vernachlässigen. Ich darf hier erwähnen, dass mein Schwiegervater in den Sechzigerjahren beinahe an einer dramatischen allergischen Reaktion auf Chinin gestorben wäre und nur mit großem Glück überlebt hat. Mit der Rezeptpflicht geht das juristische Risiko einmal mehr auf den rezeptierenden Arzt über. Wir dürfen davon ausgehen, dass sich nicht jeder Arzt der gesamten Palette der teils bedrohlichen Nebenwirkungen dieses Mittels bewusst ist. Ebenso wissen wir, dass der Arzt bestrebt ist, seinen Patienten zu helfen, Beschwerden zu lindern, und somit geneigt ist, das gewünschte Medikament zu verord- 5. a-t 2015; 2 IHRE MEINUNG Wie sehen Sie die Sachlage? Haben Sie vielleicht gute oder gar schlechte Erfahrungen mit Chinin bei Wadenkrämpfen gemacht? Rechtfertigt die Indikation die möglichen Risiken? Reichen die Maßnahmen, reichen die Möglichkeiten des BfArM aus? Schreiben Sie uns Ihre Meinung an [email protected] KVH aktuell 2|2015 17 ANGABEN ZUR HÄUFIGKEIT VON UAW NACHRICHTEN Nur Schätzwerte Quelle: Rheinisches Ärzteblatt Quelle: Dr. Alexander Liesenfeld In einem Brief an die Redaktion der Berliner Ärzte spricht sich eine Leserin dafür aus, dass bei Angaben zur Häufigkeit des Auftretens unerwünschter Wirkungen (UAW) immer die obere und untere Grenze angegeben werden sollten. Hierzu ist festzustellen: 1. Die Häufigkeitsangaben sind nur ungenaue Zahlen. In den offiziellen Fachinformationen werden diese Angaben in Abstimmung mit den jeweiligen Herstellern festgelegt. 2. Die Angaben beziehen sich auf alle Patienten. Die Häufigkeit in besonderen Risikogruppen, zum Beispiel Patienten mit Herz- oder Nierenerkrankungen oder alte Patienten, ist nicht eingeschlossen. Bei diesen Gruppen kann die Häufigkeit des Auftretens durchaus um mehrere Zehnerpotenzen erhöht sein. 3. Grundsätzlich gilt: Nur ein kleiner Teil (circa 20 Prozent) aller aufgetretenen UAW wird auch erfasst. 4. Das Auftreten einer UAW im Einzelfall ist nicht vorhersehbar. Es sollten daher alle UAW bedacht werden, insbesondere bei Erstverordnung eines Arzneistoffs und bei möglichen Begleiterkrankungen. 5. Die Angabe von oberen und unteren Häufigkeitsgrenzen erzeugt nur eine Pseudosicherheit und kann allenfalls als grobes Maß für eine Gefährdung der Patienten im Einzelfall gelten. Es genügt daher die Angabe einer oberen Grenze. ■ DR. MED. GÜNTER HOPF ✓ Interessenkonflikte: keine Kategorie Häufigkeit Interpretation sehr häufig > 10 % mindestens jeder 10. hat diese/eine UAW häufig 1–10 % es ist möglich, dass fast jeder 10. eine/diese UAW bekommen kann gelegentlich 0,1–1 % dito bis zu jeder 100. selten 0,01–0,1 % dito bis zu jeder 1.000. sehr selten < 0,01 % dito bis zu jeder 10.000. nicht bekannt nicht abschätzbar SSRI Spermienveränderungen möglich Prospektive Kohortenstudien ergaben nach einer 5-wöchigen bis 24-monatigen Einnahme von SSRI (Escitalopram, Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin) eine erhebliche Änderung der Samenqualität: reduzierte Gesamtzahl, reduzierte Motilität, höhere Anzahl abnormaler Spermien, vermehrte DNAFragmentierungen. Auch Dapoxetin steht wegen seiner chemischen Verwandtschaft mit Fluoxetin unter Verdacht, derartige Veränderungen der 18 KVH aktuell 2|2015 Spermienqualität zu verursachen – in der zugelassenen Indikation „vorzeitiger Samenerguss“ eher von Nachteil. Im Tierversuch zeigten Antidepressiva vom SSRI-Typ eine verzögerte sexuelle Entwicklung und reduzierte Fertilität bei männlichen und weiblichen Tieren. Die Autoren empfehlen, Patienten über diese mögliche unerwünschte Wirkung (UAW) zu informieren, insbesondere bei Kinderwunsch. ■ DR. MED. GÜNTER HOPF ✓ Interessenkonflikte: keine ABSURD Die Placebo-Republik nander verbunden) und der Signaturenlehre (zum Beispiel Pflanzen mit herzförmigen Blättern eignen sich zur Behandlung von Herzkrankheiten) kommen noch besondere Herstellungsverfahren, beispielsweise der Firma Weleda zur Präparation ihres Goldpräparats Neurodoron (spezielle Verfeinerungsverfahren). Gold bleibt Gold, kein Atom unterscheidet sich vom anderen. Insbesondere tragen Atome nicht eine Biografie ihrer Entstehungsgeschichte in sich. In diesem „Arzneimittel“ werden auch noch das senkrechte Weltbild (Sonne/Gold/Herz) und die Signaturenlehre einbezogen (ein Herz ist dehnbar, Gold ist dehnbar). Ein Glück, dass insbesondere Befindlichkeitsstörungen selbstlimitierend sind. ■ DR. MED. GÜNTER HOPF ✓ Interessenkonflikte: keine NACHRICHTEN Die Aussagen von Parallelwissenschaften sind in Deutschland weit verbreitet und werden von großen Teilen der Bevölkerung und der Politik akzeptiert. In einem kritischen Aufsatz über Homöopathie, Anthroposophie und andere alternative Heilverfahren werden die Aussagen ihrer Vertreter mit physikalischen Gesetzen verglichen und ad absurdum geführt. Der Autor verweist auf über 50 Nobelpreise in Medizin, Physik und Chemie, die aufgrund der alternativen „Erkenntnisse“ hätten zuerkannt werden müssen. Selbst Homöopathie-nahe Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass es bisher nicht eindeutig belegt ist, dass sich homöopathische Arzneimittel von Placebo unterscheiden. Zu den physikalisch nicht nachweisbaren Gedanken über ein senkrechtes Weltbild (Planeten, Elemente, Körperteile und Pflanzen werden mitei- Quelle: Versicherungsmed. 2014; 66 (4): 202–06 METFORMIN Auch bei eingeschränkter Nierenfunktion bei Beachtung von Kontraindikationen zugelassen Lange galt die Regel, dass Metformin bei eingeschränkter Nierenfunktion, das heißt bei einer eGFR (estimated glomerular filtration rate) unter 60 ml/min/1,73 m², kontraindiziert sei. In der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Diabetes mellitus von 20131 wird bereits diskutiert, dass auch bei eingeschränkter Funktion unterhalb von 60 ml/min mit reduzierter Dosis behandelt werden könne. Es wird dort berichtet, dass im Ausland niedrigere eGFR-Grenzen gelten. Mit Datum 27. März 2015 verlautbart das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)2, dass die Behandlung bei eingeschränkter Nierenfunktion mit einer eGFR zwischen 45 und 59 ml/min unter Dosisreduktion auf maximal 1.000 mg pro Tag verteilt auf zwei Einzelgaben zulässig ist. Dabei solle die Nierenfunktion engmaschig kontrolliert werden, worunter Abstände von 3 bis 6 Monaten verstanden werden: „Besondere Aufmerksamkeit ist in Situationen erforderlich, in denen sich die Nierenfunktion akut verschlechtern kann, zum Beispiel bei Dehydratation (schwere Diarrhoe oder Erbrechen) oder bei Einleitung einer Therapie mit Antihypertensiva oder Diuretika und zu Beginn einer Therapie mit nicht-steroidalen Antiphlogistika (NSAID).“ Ärzte sollen auch ihre Patienten auf das Risiko und die Symptome einer Laktatazidose (Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Hyperventilation, Unruhe, Verwirrtheit, Müdigkeit und Bewusstseinseintrübung) hinweisen.3 Interessant: Das, was mittlerweile in vielen Ländern Standard zu sein scheint, ist jetzt auch in Deutschland offiziell zugelassen. Nach dem, was in der NVL Diabetes mellitus Typ 2 veröffentlicht ist, scheinen manche Behandler im Ausland die Grenze zur absoluten Kontraindikation sogar erst bei 30 ml/min/1,73 m² anzusiedeln. Aber Vorsicht! Dies ist bis auf Weiteres in Deutschland off label und damit nicht zulässig. Ein Blick in die ausführliche Fachinfo3 ist wegen der vielen Details zu Metformin ratsam. ■ DR. MED. JOACHIM SEFFRIN ✓ Interessenkonflikte: keine Quellen: 1. kvh.link/1502008 2. kvh.link/1502009 (30.3.15) 3. kvh.link/1502010 KVH aktuell 2|2015 19 FORSCHUNG & PRAXIS ISCHÄMISCHER SCHLAGANFALL Lässt sich durch Folsäure das Risiko reduzieren? Seit fast einem halben Jahrhundert sind Zusammenhänge zwischen Schlaganfall und der natürlich vorkommenden Aminosäure Homozystein bekannt. Doch nicht alle Patienten profitieren eindeutig von einer Senkung des Homozystein-Spiegels. Die Supplementierung kann aber auch nicht schaden. PROF. DR. MED. MICHAEL M. KOCHEN, MPH, FRCGP (Aus: Z Allg Med 2015; 91: 244–46) 20 KVH aktuell 2|2015 122.000 L aut dem Robert Koch-Institut ist in Deutschland der Schlaganfall nach der koronaren Herzkrankheit die zweithäufigste Todesursache, obwohl die Mortalitätsrate in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gefallen ist. Die Lebenszeitprävalenz des Schlaganfalls (2008–2011) in der Altersgruppe von 40 bis 79 Jahren beträgt insgesamt 2,9 % – Frauen 2,5 %, Männer 3,3 %. Thrombogenität ist unbestritten Experimentelle Untersuchungen zeigen, dass Homozystein Endothelschäden und vermehrte Thrombogenität verursacht. Epidemiologische Studien weisen eine Assoziation zwischen dem Plasmaspiegel von Homozystein und dem Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen, insbesondere Schlaganfall, nach. Je nach Studie liegt dieses Risiko bei erhöhtem Homozystein-Spiegel zwei- bis vierfach höher als bei Normalwerten. ■ Die tägliche Einnahme von B-Komplex-Vitaminen, insbesondere von Folsäure, kann den Homozystein-Spiegel um ca. 25 % senken. Die Senkung scheint besonders effektiv bei Personen mit einem bestimmten Polymorphismus (MTHFR 677C T) und in Ländern mit niedrigem Folsäurestatus. ■ Die entscheidende Frage auf der Grundlage dieser Erkenntnisse ist, ob man durch tägliche Einnahme von B-Komplex-Vitaminen, insbesondere Folsäure, nicht nur die Senkung des Homozystein-Spiegels, sondern auch eine Reduktion des Schlaganfallrisikos erreichen kann oder nicht. ■ Kontrollierte klinische Studien beziehungsweise Metaanalysen kamen hier zu widersprüchlichen Ergebnissen. Ergebnisse sind nicht eindeutig In den neuesten amerikanischen Leitlinien zur Primärprävention von Schlaganfällen (2014) steht folgender Text: „Die Hyperhomocysteinämie ist mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko vergesellschaftet. Studien zur Risikoreduktion mit BKomplex-Vitaminen sind zu uneinheitlichen Resultaten gekommen.“ FORSCHUNG & PRAXIS SCHLAGANFÄLLE IN DEUTSCHLAND Schlaganfälle ereignen sich in Deutschland jährlich. Knapp 43.000 Menschen sterben daran. (Daten aus 2013) Eine Verminderung von Schlaganfällen konnte in den Arbeiten gezeigt werden, ■ die länger als drei Jahre dauerten, ■ in denen das Plasma-Homozystein um mehr als 20 % reduziert wurde, ■ in denen die rekrutierten Patienten keinen vorherigen Schlaganfall hatten, ■ die Patienten aus Gegenden einschlossen, in denen Lebensmittel nicht mit Folsäure versetzt wurden (in den USA und in Kanada ist seit 1998 ein Folsäurezusatz in Mehl – zur Prävention von Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen – gesetzlich vorgeschrieben; MMK). Sieht man sich alle bislang publizierten Arbeiten zu dieser Thematik genauer an, wird klar, dass sich die negativen Ergebnisse ausschließlich auf die Sekundärprävention beziehen: Bei Patienten mit bereits bestehenden kardiovaskulären Erkrankungen (CVD) wie KHK oder vorangegangenem Myokardinfarkt beziehungsweise Schlaganfall bewirkt die Einnahme von Folsäure also in der Regel keine Risikoverminderung. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. So konnte eine 2006 veröffentlichte DoppelblindStudie aus den USA mit 5.522 kardiovaskulär vorerkrankten Patienten sehr wohl eine signifikante Senkung des Schlaganfallrisikos zeigen: Das relative Risiko (RR) der Interventionsgruppe (tägliche Zufuhr von 2,5 mg Folsäure, 50 mg Vitamin B6 und 1 mg Vitamin B12) betrug im Vergleich zur Placebogruppe 0,75 (95-%-Konfidenzintervall 0,59–0,97).2 In einer 2010 erschienenen Metaanalyse von 13 kontrollierten Studien mit 39.000 Patienten3 konnte Folsäure das CVD-Risiko nicht senken (relatives Risiko [RR] 0,93; 95-%-KI 0,85–1,03; p = 0,16). Wurden allerdings nur die 18.588 „primärpräventiven“ Teilnehmer betrachtet, die bislang keinen zerebralen Insult erlitten hatten, ergab sich eine statistisch signifikante Verminderung des Schlaganfallrisikos (RR 0,89; 95-%-KI 0,79–0,99). Aus der Volksrepublik China kommt jetzt eine methodisch einwandfreie, kontrollierte klinische Studie zur Primärprävention des Schlaganfalls durch die Einnahme von Folsäure (China Stroke B-Komplex-Vitamine können für die Prävention eines ischämischen Schlaganfalls bei Patienten mit erhöhtem Homozystein-Spiegel erwogen werden; die Wirksamkeit ist allerdings nicht gut etabliert (Klasse IIb; Evidenzlevel B). Diese Empfehlung kann in den Leitlinien1 nachgelesen werden (Registrierung erforderlich). kvh.link/1502011 INFO KVH aktuell 2|2015 21 ■ Vorausgegangen war eine dreiwöchige Probephase zur Prüfung der Adhärenz, in der alle Teilnehmer nur Enalapril erhielten. ■ Jegliche Begleitmedikation außer B-Vitaminen war erlaubt, auch andere Hochdruckmedikamente. ■ Primärer Endpunkt war das erstmalige Auftreten eines Schlaganfalls. ■ Sekundäre Endpunkte waren erstmaliger ischämischer Insult, erstmaliger hämorrhagischer Insult, Herzinfarkt bzw. ein aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall und Todesfall jeglicher Ursache zusammengesetzter Index. FORSCHUNG & PRAXIS Primary Prevention Trial [CSPPT]) – soeben online veröffentlicht im renommierten Journal of the American Medical Association.4 Die Wissenschaftler rekrutierten über fünfeinhalb Jahre 20.702 Erwachsene im Alter zwischen 45 und 75 Jahren mit einem erhöhten Blutdruck über 140/90 mmHg. ■ Die Teilnehmer (rund 40 % Männer) durften keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte haben. ■ 23 % waren Raucher. ■ Der Body-Mass-Index betrug im Mittel 25, ■ der mittlere Blutdruck 164/94 mmHg, ■ das Gesamtcholesterin 213 mg/dl, ■ der Nüchtern-Blutzucker 104 mg/dl, ■ das Plasma-Homozystein 12,5 μmol/l (Normalwert 10,5–15,5), ■ der Plasma-Folsäurespiegel 8,1 ng/ml (Normalwert 4,5–20,0). Die geplante Behandlungsdauer betrug fünf Jahre, wurde aber sechs Monate vorher aufgrund der Ergebnisse abgebrochen. Während dieser viereinhalb Jahre erlitten 2,7 % (n = 282) der Teilnehmer in der Interventionsgruppe und 3,4 % (n = 355) der Kontrollgruppe einen Schlaganfall – ein statistisch signifikanter Unterschied (Hazard Ratio 0,79; 95-%-KI 0,68–0,93). Noch ausgeprägter war der Unterschied in der vorher festgelegten Untergruppe mit dem niedrigsten Plasma-Folsäurewert (< 5,6 ng/ml; n = 5.148). Dort betrug der Unterschied 2,8 % (n = 73) vs. 4,6 % (n = 116), was einer relativen Verminderung um 39 % entspricht (Hazard Ratio 0,61; 95-%-KI 0,45–0,82). Einen Überblick über die Unterschiede bei den primären und sekundären Endpunkten gibt die unten stehende Tabelle. Rund 45 % nahmen Antihypertensiva (meist Calciumantagonisten oder ACE-Hemmer), 0,8 % lipidsenkende Medikamente und rund 3 % Thrombozytenaggregationshemmer ein. Die Randomisierung erfolgte in zwei Gruppen: ■ Die Interventionsgruppe erhielt 10 mg Enalapril und 0,8 mg Folsäure (in einer Pille), die Kontrollgruppe nur 10 mg Enalapril. Hazard Ratios for Primary and Secondary Outcomes [Huo et al. 2015] No. (%) with outcome Outcomes First stoke (primary outcome)c Hazard Ratio P Valueb Enalapril-Folic Acid Enalapril (n = 10.348) (n = 10.354) (95 % CI)a 282 (2.7) 355 (3.4) 0.79 (0.68–0.93)d .003 223 (2.2) 292 (2.8) 0.76 (0.64–0.91) .002 58 (0.56) 62 (0.60) 0.93 (0.65–1.34) .71 324 (3.1) 405 (3.9) 0.80 (0.69–0.92) .002 25 (0.24) 24 (0.23) 1.04 (0.60–1.82) .89 43 (0.4) 43 (0.4) 1.00 (0.66–1.53) >.99 302 (2.9) 320 (3.1) 0.94 (0.81–1.10) .47 Secondary outcomes Ischemic stroke Hemorrhagic stroke Composite of stroke, myocardial infarction, or death due to cardiovascular causes e Myocardial infarction Death due to cardiovascular causes All-cause death f a Estimated using the Cox proportional hazards model. b Derived from the log-rank test. c Two cases with uncertain type of stroke were included in the primary outcome. A total of 28 cases (23 cases with hemorrhagic stroke, 4 cases with ischemic stroke, and 1 case with uncertain type of stroke) were fatal stroke (18 in the enalapril-folic acid group and 10 in the enalapril group). d Adjustment for age, sex, MTHFR C677T polymorphism, systolic and diastolic blood pressure at baseline, mean systolic and diastolic blood pressure over the treatment period, body mass index, study center, baseline vitamin B12, folate, homocysteine, creatinine, total cholesterol, triglycerides, high-density lipoprotein cholesterol, fasting glucose, smoking, and alcohol consumption did not substantially change the results (hazard ratio, 0.80; 95 % CI, 0.68–0.93; P = .005). e A total of 9 cases (5 in the enalapril-folic acid group and 4 in the enalapril group) were fatal myocardial infarctions. f A total of 49 cases (20 in the enalapril-folic acid group and 29 in the enalapril group) were fatal other cardiovascular events. 22 KVH aktuell 2|2015 Reicht unsere Folsäureversorgung? Die entscheidenden Fragen, die sich aus dieser Studie ergeben, wären nach meiner Einschätzung: 1. Sind die Ergebnisse auch auf Deutschland übertragbar? 2. Reichen die Resultate für eine allgemeine Empfehlung aus, täglich Folsäure einzunehmen? 3. Wie sieht die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Folsäure aus? Ich fange einmal mit der letzten Frage an. Deutschland ist offenbar ein „Niedrig-FolsäureLand“, in dem es keine gesetzlich vorgeschriebene Anreicherung von Lebensmitteln gibt. In einem 2007 erschienenen Bericht des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) heißt es: „Die Deutschen sind mit Vitaminen und Mineralstoffen im Allgemeinen gut versorgt. Eine Ergänzung der Nahrung hält das BfR deshalb bei gesunden Menschen mit ausgewogener Ernährung für überflüssig. Eine Ausnahme stellt das Vitamin Folsäure dar. Nur knapp 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland nehmen so viel Folsäure auf, wie von Fachleuten empfohlen wird. Gleiches wird aus anderen Ländern der Europäischen Union berichtet.“ Auch nach einem Bericht des Deutschen Ärzteblatts (2013) liegt die Zufuhr an Folsäure mit im Mittel etwa 200 μg pro Tag unter der empfohlenen Menge. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt für Jugendliche und Erwachsene eine Zufuhr von 300 μg Folat pro Tag. Bei Schwangeren und Stillenden beträgt sie wegen eines erhöhten Bedarfs 550 μg respektive 450 μg Folat pro Tag. Zu den Fragen 1 und 2: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Resultate dieser chinesischen Studie nur für Chinesen und nicht für Europäer gelten würden. Folgt man der Logik der evidenzba- Nur knapp 20 Prozent sierten Medizin, würde man Patien- der Bevölkerung in ten mit kardiovaskulären VorerkranDeutschland nehmen so kungen eher nicht behandeln, weil es wenig bringt (aber auch nicht viel Folsäure auf, wie von schadet). Wenn man den fehlenden Fachleuten empfohlen Schaden auch bei den bereits kardiowird. Gleiches wird aus vaskulär Erkrankten mit einbezieht, würde ich allen Personen, ob mit anderen Ländern oder ohne kardialen Risiken/Erkran- der Europäischen Union kungen, die tägliche Einnahme von berichtet. 0,4 bis 0,8 mg Folsäure empfehlen. Mir ist bewusst, dass ich mir mit dieser Meinung vielleicht den Unmut mancher Leser/innen einhandeln werde … FORSCHUNG & PRAXIS Zu den o. g. Zahlen für Myokardinfarkte und andere kardiovaskuläre Todesursachen muss man anmerken, dass die Studie für diese sekundären Endpunkte natürlich nicht ausreichend gepowert war. Die Berechnung der notwendigen Fallzahl erfolgt zunächst immer für den primären Endpunkt. Was sind meine Argumente? ■ Eine Wiederholung einer so großen Studie z. B. in einem europäischen Land ist unrealistisch und nicht zu erwarten. Wir werden also keine neuen Daten bekommen. ■ Wie die Zahlen und Erfahrungen in den USA zeigen, würde die tägliche Einnahme von Folsäure allein schon die Inzidenz von Neuralrohrdefekten und Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten in Deutschland relevant vermindern. ■ Die Einnahme von Folsäure ist mindestens bis zu einer Tagesdosis von 5 mg sicher (ich rede jetzt nicht davon, dass bei hohen Folsäuredosen ein bestehender Vitamin-B12-Mangel „maskiert“ werden kann, auch nicht von möglichen Wechselwirkungen mit Antiepileptika, Chemotherapeutika und Zytostatika). Quellen: 1. Meschia JF, et al. Guidelines for the primary prevention of stroke: a statement for healthcare professionals from the American Heart Association/ American Stroke Association. Stroke 2014; 45: 3754–3832 2. N Engl J Med. 2006; 354: 1567–77 3. Stroke 2010; 41: 1205–1212 4. Die Originalarbeit aus dem J Amer Med Assoc 2015 ist frei verfügbar unter http://jama.jamanetwork.com/article.as px?articleid=2205876 Folsäure ist billig (in Internetapotheken kosten 240 Kapseln zu 600 μg Folsäure inkl. Versand 14,45 €, also 6 Cent/Tagesdosis. 2,5 mg aus Packungen mit teilbaren 5-mg-Tabletten kosten rund 5 Cent). Als Selbstmedikation belastet Folsäure weder die Solidargemeinschaft der Krankenkassen noch die öffentliche Hand. ■ Unter „Supplemental Content“ finden Interessierte auch noch weitere Daten, z. B. das lediglich 92-seitige Protokoll der Studie. ✓ Interessenkonflikte: keine KVH aktuell 2|2015 23 ENTLASSUNGSMEDIKATION Mein persönlicher Medikamenten-Rekord ■ WS-OPs ■ Herzinsuffizienz ■ zuletzt 2 Monate stationär mit Pneumonie und Endokarditis ■ 2 Wochen darauf mit Bauchschmerzen 4 Tage stationär DIALOG Die Fakten: ■ Patient, männlich, 70 Jahre alt, nierentransplantiert (und immunsupprimiert) ■ HSt und Kreatinin aktuell 1,7 ■ nach MO-Entzug mehrere schwerste epileptische Anfälle ■ Verwachsungsbauch mit rezidivierenden Bauchschmerzen 24 DR. MED. UTA-MARIA WALDMANN Medikament Letzter Eintrag morgens mittags abends vor Bettruhe Bemerkung AMLODIPIN – CT 5 mg N TABL TAB 17.02.2015 1 FUROSEMID 40 1A PHARMA TAB 09.03.2015 ½ LEVETIRACETAM – CT 1.000 mg FTA 19.11.2014 1 METOPROLOL SUCC – CT 95 mg RET 17.02.2015 1 ROCALTROL 0,25 ug WKA 19.11.2014 1 ASS 100 mg 27.02.2015 1 1 CERTICAN 1 mg TAB 17.02.2015 DIPIPERON LSE 17.02.2015 DOMPERIDON ABZ 10 mg FILMTA FTA 04.03.2015 1 ERGENY CHRONO 500 mg 25.08.2014 2 HYDROMORPHON AL 8 mg RET 17.02.2015 1 MIRTAZAPIN – CT 15 mg FILMT TAB 17.02.2015 MYCOPHENOLAT MO ACC 500 mg FTA 17.02.2015 1 NOVAMINSULFON 500 1A PHARMA FTA 17.02.2015 1 PANTOPRAZOL 40 mg 17.02.2015 1 RAMIPRIL – CT 2,5 mg TABL TAB 17.02.2015 1 VIGANTOLETTEN 1000 25.08.2014 1 VITAMIN B12 LOGES ILO AMP 17.02.2015 KVH aktuell 2|2015 1 1 2,5–5 ml bei Unruhe 0 1 2 1 1 1 1 1 1 1 x wöch. s. c. KASUISTIK Marcumar und Doppelherz-Varianten in unregelmäßigen Abständen immer wieder genommen hat. Es handelt sich um Doppelherz aktiv. Hier gibt es zwei verschiedene Präparate: zum einen Calcium und D3 und zum anderen Calcium, D3, Biotin und Folsäure. Im Präparat Doppelherz aktiv mit Calcium und D3 ist zudem Vitamin K enthalten, im anderen nicht. Je nachdem, welches der beiden Präparate die Patientin zusätzlich eingenommen hatte, schwankten die Wochendosen zwischen 1,5 bis 7 Tabletten pro Woche. ■ DR. MED. BETTINA KILB-FESSLER VORHER – NACHHER DIALOG Eine 75-jährige Patientin ist seit 2004 wegen einer künstlichen Herzklappe marcumarisiert. Die Patientin ist sehr verlässlich in der Einnahme ihrer Medikamente. Bis September 2014 war sie mit einer Wochendosis von 2,5 bis 3 Tabletten bei einem INR-Zielwert zwischen 3 und 4 sehr gut eingestellt. Danach traten in den Kontrollmessungen deutliche Schwankungen auf, die trotz intensivster Anamneseerhebung nicht zu erklären waren. Im März 2015 zeigt die Patientin zwei Beipackzettel eines Nahrungsergänzungsmittels, das sie Dies ist ein besonders tückisches Beispiel aus der Praxis. Die Selbstmedikation gerät ja immer mehr in den Fokus bei möglichen Interaktionen, aber dass man auch noch auf verschiedene im Handel befindliche Variationen achten muss, ist uns neu. Die Patientin wollte sich etwas Gutes tun und hat sich darauf verlassen, dass ein solches Mittel nicht schadet. Mit solchen „Querschlägern“ sollte man auch rechnen bei einer schwankenden INR-Einstellung. KOMMENTAR Leitliniengerechte Änderung im Therapieplan der Klinik Eine 74-jährige Diabetikerin wird Anfang 2015 kurzfristig wegen eines Erysipels im Krankenhaus behandelt. Neu sind ASS, Simvastatin, Clindamycin und Omeprazol. Begründet wurden ASS und Simvastatin mit einer beginnenden Makroangiopathie, da die Intima-Media-Dicke der Carotiden rechts mit 0,9 mm als verdickt und links mit 0,7 mm als grenzwertig bezeichnet wurde. Zusätzlich wurde eine subklinische Atherosklerose sowie erhöhtes Herzinfarktrisiko nach UKPDS diagnostiziert. Omeprazol wurde prophylaktisch wegen ASS und Clindamycin verordnet. Zur Berechnung des 10-Jahres-Risikos eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls hat sich die IMD nicht bewährt, sondern Scores wie arriba®. Bei der Patientin lag der arriba-Score mit 7,4 % unterhalb des Durchschnitts ihres Alters (10,9 %). Wenn wir rational in der Primärprävention vorgehen, gibt es bei einem arriba-Score von 7,4 % keinen Grund, einen CSE-Hemmer zu verordnen. Gemeinsam mit der Patientin wurde beschlossen (siehe auch Leitlinie Multimedikation): ASS und Simvastatin sofort ab und Clindamycin mit Omeprazol nach 4 Tagen. ■ DR. MED. GERT VETTER Vor Krankenhaus Nach Krankenhaus morgens mittags abends vor Bettruhe Ramipril 5 mg Ramipril 5 mg 1 0 1 0 Bisoprolol 2,5 mg Bisoprolol 2,5 mg 1 0 0 0 Mirtazapin 15 mg Mirtazapin 15 mg 0 0 1 0 Methocarbamol Methocarbamol 1 0 1 0 Calcium/D3 Calcium/D3 1 0 0 0 Magnesium diasp Magnesium diasp 1 1 1 0 Metformin 1000 Metformin 1000 1 0 1 0 ASS 100 1 0 0 0 Simvastatin 40 mg 0 0 1 0 Clindamycin 600 1 1 1 0 Omeprazol 20 1 0 1 0 KVH aktuell 2|2015 25 STELLUNGNAHME DIALOG DEGAM-Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen“; Kurzversion; April 2009: Noch einmal: „Antibiotika für weiblichen Harnwegsinfekt bei negativem Urinstreifentest“ Zu unserem Beitrag über die Behandlung von Harnwegsinfekten bei negativem Urinstreifentest bei Frauen mit Antibiotika erhielten wir zwei Leserbriefe. kvh.link/1502012 S3-Leitlinie AWMF „Harnwegsinfektionen – Epidemiologie, Diagnostik, Therapie und Management unkomplizierter bakterieller ambulanter Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten; 17. Juni 2010: In diesen wurde zu Recht beanstandet, dass die vorgestellte Studie aus Neuseeland zu diesem Thema aus dem Jahr 2005 stammt und nicht den derzeitigen Stand des Wissens über die Behandlung von Harnwegsinfekten mit negativem Urinstreifentest bei Frauen wiedergeben würde. Weiterhin lägen bei dieser Studie methodische Mängel vor. Diese Einwände sind richtig und wir entschuldigen uns in aller Form dafür, zu diesem Artikel – der erstmalig im Jahr 2006 in KVH aktuell erschienen ist und wegen der Relevanz des Themas jetzt erneut veröffentlicht wurde – nicht die aktuelle Daten-, Studien- bzw. Leitlinienlage berücksichtigt zu haben. Aktuelle Aussagen zu diesem Thema finden Sie in der DEGAM-Leitlinie „Brennen beim Wasserlassen“ (Kurzversion, April 2009) sowie in der S3-Leitlinie AWMF „Harnwegsinfektionen – Epidemiologie, Diagnostik, Therapie und Management unkomplizierter bakterieller ambulanter Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten“ in der Kurzfassung vom 17.06.2010 mit geplanter Überprüfung im Jahr 2015. Diese beiden Leitlinien geben die weitere Differenzierung bei Diagnostik und Therapie gegenüber dem Stand 2005 wieder und damit die Korrektur der Aussage in dem Beitrag „Antibiotika für weiblichen Harnwegsinfekt bei negativem Urinstreifentest“. ■ DR. MED. WOLFGANG LANGHEINRICH kvh.link/1502013 INFO Wenn Sie diese Ausgabe von KVH aktuell auch auf Ihrem Smartphone oder Tablet lesen möchten, scannen Sie einfach den QR-Code. Sie kommen damit auf unsere Homepage kvhessen.de. kvh.link/1502014 INTERNET 26 KVH aktuell 2|2015 IMPRESSUM Verlag: wdv Gesellschaft für Medien mbH & Co. OHG, Siemensstraße 6, 61352 Bad Homburg. Objektleitung: Karin Oettel; Redaktionskoordination: Dr. med. Detlef v. Meien-Vogeler; Dr. Leonie Stöhr; freie Mitarbeit: Dr. phil. nat. Andreas Häckel; Gestaltung: Steffen Klein; Bildredaktion: Uta Schöninger; Herstellung: Dieter Kempiak; Vertrieb: Michael Dittrich Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt [email protected] | Tel.: 069 79502-580 | Fax Redaktion: 069 79502-501 | www.kvhessen.de Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Petra Bendrich, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld, Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Joachim Seffrin, Dr. med. Gert Vetter, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseigenen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. 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Hausärztinnen und Hausärzten obliegt die Planung und Steuerung eines optimalen Schutzes vor venösen oder arteriellen Thromboembolien einerseits und schweren Blutungen andererseits. Einteilung Autor: Armin Mainz Konzeption und wissenschaftliche Redaktion: M. Scherer, C. Muche-Borowski, A. Wollny Stand 2013 © DEGAM degam-leitlinien.de DEGAM-Leitlinien Hilfen für eine gute Medizin Folgende Eingriffe mit einem niedrigen Blutungsrisiko (< 1,5 %) bedürfen keiner Unterbrechung der Blutgerinnungshemmung: Zahnextraktion (Ausnahme: mehrere Zähne), Magen- oder Darmspiegelungen (ohne Polypektomien), Katarakt-Operationen, Haut-Operationen, Bronchoskopien, Beckenkammpunktionen, Leistenbruch-Operationen; ein INR-Wert um 2 ist ausreichend. Bei Eingriffen mit einem hohen Blutungsrisiko (> 1,5 %) richtet sich das Vorgehen nach der Zugehörigkeit zu drei Risikogruppen mit einem niedrigen, mittleren oder hohen Risiko für eine Thromboembolie (siehe nächste Seite). Für Herzschrittmacher-Implantationen und Arthroskopien existieren keine einheitlichen Risikozuordnungen; bei Ersteren soll jedoch grundsätzlich die Antikoagulation nicht unterbrochen werden. Prognose/Verlauf Aufgrund der therapiebedingten instabilen Blutgerinnung birgt jegliche Änderung an einer laufenden Blutgerinnungshemmung das Risiko, die ursprünglich zu vermeidenden Komplikationen hervorzurufen. Abwendbar gefährliche Verläufe Ein systematisches und kooperatives, d. h. fachübergreifendes Vorgehen kann zur Vermeidung von Thromboembolien und gefährlichen Blutungen beitragen. Diagnostik Gemessen wird die Thromboplastinzeit. Um eine Vergleichbarkeit der Testergebnisse zu ermöglichen, soll statt der Angabe des „Quick“-Wertes der INR-Wert (International Normalized Ratio) verwendet werden. Mit dem CHADS2-Score kann ein Schlaganfallrisiko bei Vorhofflimmern geschätzt werden. Jedes vorhandene Risiko bedeutet einen Punkt, bei einem bereits erlittenen Schlaganfall werden zwei Punkte vergeben. C = Herzinsuffizienz, H = Hypertonie, A = Alter > 75, D = Diabetes, S = Schlaganfall. Therapie In Abstimmung mit den intervenierenden Fachgebieten sollten die Risikogruppe, die Obergrenze des INR-Wertes, ggf. die Heparin-Ersatztherapie (NMH) und die Änderung der Antikoagulation hausärztlicherseits festgelegt werden. Mithilfe des umseitig abgebildeten patientenindividuellen Ablaufplans unterstützen die Medizinischen Fachangestellten die Ärztin/den Arzt bei diesem Vorhaben. Der ausgefüllte Plan wird den Patientinnen und Patienten ausgehändigt und dient auch diesen zur Orientierung über die durchzuführenden Maßnahmen. Achtung: Der Einsatz der NM-Heparine erfolgt bei dieser Indikation „off label“. Bei mäßiger Niereninsuffizienz sollten und bei schwerer Niereninsuffizienz dürfen keine NM-Heparine gegeben werden. DEGAM-Bundesgeschäftsstelle Haus 15, 4. OG, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt Telefon 069 65007245 geschaeftsstelle@ degam.de kvh.link/1502018 INFO KVH aktuell 2|2015 1 Der folgende Algorithmus kann in das praxiseigene EDV-System übernommen und individuell ausgedruckt werden. Zum Ausfüllen von a), b) und c) wird er an die entsprechende Fachdisziplin weitergereicht. VOM HAUSARZT AUSZUFÜLLEN PatientIn: ............................................................................................................................. Risikogruppe hoch Risikogruppe mittel Risikogruppe niedrig (> 10 % Thromboembolien/Jahr) (5–10 % Thromboembolien/Jahr) (< 5 % Thromboembolien/Jahr) • Venenthrombose oder Lungenembolie in den letzten 3 Monaten • Vorhofflimmern und CHADS2 ≥ 4 oder mit Insultereignis in den letzten 3 Monaten • Mitralkunstklappen oder nicht-bikuspidale Aortenkunstklappen oder rheumatische Klappenerkrankungen VOM HAUSARZT AUSZUFÜLLEN VOM HAUSARZT AUSZUFÜLLEN VOM HAUSARZT AUSZUFÜLLEN INTERVENIERENDER ARZT • Schwere Blutgerinnungsstörungen (z. B. homozygote Faktor-V-Leiden-Mutation) • Venenthrombose oder Lungenembolie vor 3 bis 12 Monaten oder wiederholte Thromboembolien • Venenthrombose oder Lungenembolie vor mehr als 12 Monaten • Vorhofflimmern und CHADS2 = 3 oder 4 • Vorhofflimmern und CHADS2 ≤ 2 ohne Insultereignis in der Vorgeschichte • Bikuspidale Aortenkunstklappe und CHADS2 > 0 • Bikuspidale Aortenkunstklappe und CHADS2 = 0 • Tumorerkrankung unter Therapie (Zuordnung nicht einheitlich) • Tumorerkrankung unter Therapie (Zuordnung nicht einheitlich) Vor der geplanten Maßnahme eintragen lassen und wieder zur Hausarztpraxis zurückbringen: a) Eingriff ................................................................................................................................. b) am (Wochentag und Datum) ................................................................................................ c) INR soll sein < ........................................................................................... in der Regel < 1,5 .......................................... (Unterschrift) Ab .................................. , den .................................. mit der Einnahme der Blutgerinnungstabletten pausieren. Ab dem .................................. tägl. Heparinspritze(n) in therapeutischer Dosierung* Ab dem .............................. tägl. Heparinspritze(n) in therapeutischer Dosierung* Außer: hohes individuelles Blutungsrisiko (positive Anamnese, NSAR, Patientenpräferenz) > dann weiter wie bei „Risikogruppe niedrig“ Unterbrechung ohne Bridging! Evtl. 2 Tage (beim Hausbesuch 3 Tage) vor dem Eingriff Blutentnahme, INR-Wert bestimmen lassen und das Ergebnis am Vortag des Eingriffs abholen: ............................................................................................................................................................................ Letzte Heparinspritze in halbtherapeutischer Dosierung* am Morgen des Vortags. Keine Spritzen am Vorabend und am Tag des Eingriffs! Nach dem Eingriff beim intervenierenden Arzt nachfragen und der Praxis mitteilen, ab welchem Tag nach dem Eingriff (ab dem 1. oder ab dem 2. Tag; bei Sphinkterotomien und Polypektomien i. d. Regel erst ab dem 3. Tag) die Heparinspritzen wieder gegeben werden sollen: ............................................................................................................. Am Tag nach dem Eingriff in der Praxis zweimal anrufen: 1.) Frühmorgens den erfolgreich durchgeführten Eingriff bekannt geben. 2.) Mittags nachfragen, wie lange die Spritzen fortzusetzen sind, wie die Blutgerinnungstabletten einzunehmen sind, wann die nächste Blutkontrolle (INR) erfolgen sollte. *Bitte hier die bevorzugte praxiseigene Medikation (NMH) eintragen. 2 geb.: .................................. KVH aktuell 2|2015 Nach dem Eingriff beim intervenierenden Arzt nachfragen und der Praxis mitteilen, ob bereits am Tag des Eingriffs oder erst am Tag danach die Blutgerinnungstabletten wieder eingenommen werden sollen: ................................................. Am Tag nach dem Eingriff in der Praxis anrufen und nachfragen, wie die Blutgerinnungstabletten weiter einzunehmen sind, wann die nächste Blutkontrolle (INR) erfolgen sollte.
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