Brief-Szene der Tatjana in Peter Iljitsch Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“1 Musik ist keine Illusion, sie ist Offenbarung und darin besteht Ihre sieghafte Kraft […].2 Leben und Wirken von Peter Iljitsch Tschaikowsky Peter Iljitsch Tschaikowsky wurde im Frühling des Jahres 1840 in Wotkinsk, einer Bergbaustadt im westlichen Ural, geboren. Peter Iljitsch3 hatte insgesamt sechs Geschwister. Die Familie war von der Mutterseite stark französisch geprägt. In seiner Kindheit lernte er gründlich die Sprache seines Urgroßvaters Michel Marquis d’Assière und spielte gerne stundenlang Klavier. Dank seiner Gouvernante wissen wir vom besonders sensiblen und verwundbaren Charakter des Kindes. Nach ihren Erzählungen „[…] ging etwas Zauberhaftes von ihm aus.“4 Der Elternentscheidung entsprechend musste er mit neunzehn Jahren die Schule für Rechtswissenschaft absolvieren und wurde im Justizministerium angestellt. Diese Beschäftigung bereitete ihm nur wenig Freude. Seine Bedürfnisse nach Musik führten ihn in der Folge doch ins Petersburger Konservatorium, welches er nach drei Jahren mit einer Silbermedaille absolvierte. Aus diesen Jahren stammte seine Bekanntschaft zu Nikolaj Rubinstein, die ihn dann nach Moskau lenkte. Dort unterrichtete er zwölf Jahre lang Musiktheorie am Moskauer Konservatorium und erhielt eine Dozentur. Seine ihm bewusste Homosexualität, für die er in der damaligen Welt 1 Es wird in dieser Arbeit auf russische Originaltexte in kyrillischer Schreibung verzichtet. Sämtliche Übersetzungen sind – soweit nicht anders gekennzeichnet – von der Autorin. Benutzt wurden folgender Klavierauszug: „Eugene Onegin. Lyric Scenes in three Acts und seven Scenes. Libretto by Konstantin Shilovsky and Pytor Tchaikovsky“, hg. von David Lloyd-Jones, London 1993 und aus den Gesammelten Werken Alexander Sergejewitsch Puschkins folgender Band: СОЧИНЕНИЯ том третий, „Евгений Онегин“,„ Романы и повести“, „Путешествие в Азрум“, Москва 1962. Die Transkription russischer Namen und Titel ins Deutsche hält sich an die jüngst erschienene Monographie von Constantin Floros, „Peter Tschaikowsky“, Reinbek bei Hamburg 2006. 2 Tschaikowsky in einem Brief an Nadeschda von Meck, 5. Dezember 1877, zitiert nach Floros, S.44. 3 Im Russischen ist es üblich die Menschen mit den beiden Vornamen zu nennen. 4 Zitiert nach Floros, S.12. 1 auf kein Verständnis hoffen durfte, machte ihn ausgesprochen menschenscheu und oft einsam. In der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte weder von einer Freiheit der Gedanken noch von einer sexuellen Freiheit die Rede sein. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, war absolut undenkbar. Beispielweise wurden im Jahre 1849 unter der Regierung von Zar Nikolaus dem Ersten die Lehrfächer Philosophie, Staatsrecht, Volkswirtschaftslehre verboten mit der Begründung, dass sie den Staat gefährdeten. 1861 unter dessen Sohn Zar Alexander dem Zweiten gab es zwar die so genannte „Bauernbefreiung“, aber Homosexualität blieb weiterhin ein Tabu. Im § 995 des Russischen Strafgesetz von 1857 hieß es: „Wer des widernatürlichen Lasters der Päderastie überführt wurde, geht dafür aller Rechte seiner sozialen Stellung verlustig und wird zwecks Zwangsansiedlung nach Sibirien verbannt.“5 Diese soziale Ächtung war sicherlich der Grund für Tschaikowskys Lebensentschluss, um jeden Preis zu heiraten: „Das ist unvermeidbar.“ schrieb er seinem ebenso homosexuellen Bruder Modest; „Ich muss es tun und zwar nicht für mich, sondern auch für Dich und für Tolja und für Sascha und für alle die ich liebe.“6 Das Schicksal bot ihm bald eine Gelegenheit. Im selben Frühjahr als er an „Eugen Onegin“ arbeitete, erhielt er eine schriftliche Liebeserklärung von der Musikstudentin Antonina Iwanowna Miljukowa. Genau wie in Puschkins Roman7 antwortete er darauf, dass er zwar die Offenheit ihrer reinen Seele ehren würde, sie aber nicht heiraten könnte, da er zur Ehe nicht taugte. Einige Monate später sagte er doch zu. Die Hochzeit fand am 6. Juli 1877 statt. Seine rationale Entscheidung sollte er bald bereuen. Die Ehe wurde von Anfang an zu einer ungeheuren Last. Häufig schrieb Tschaikowsky in Briefen zu dieser Zeit von Selbstmordgedanken. Nach einem missglückten Suizidversuch erlitt er einen schweren Nervenzusammenbruch. Die körperliche und seelische Quälerei endete mit der Trennung der Ehepartner, doch ließ Tschaikowsky sich nie scheiden. Die wahrscheinlich wichtigste Beziehung führte Tschaikowsky in einer 14jährigen Briefkorrespondenz mit seiner Mäzenin Nadeschda von Meck. Dank 5 Zitiert nach Floros, S.37; im slawischen Kulturkreis bedeutet Päderastie – im Unterschied zu den westlichen Kulturen – Homosexualität. 6 Brief an Modest Tschaikowsky vom 19. August 1876, zitiert nach Floros, S.33. 7 Siehe Anmerkung 1. 2 ihrer bedeutenden finanziellen Unterstützung konnte sich der junge Peter Iljitsch fast ausschließlich seinen Kompositionen widmen. Die reiche Witwe entschloss sich dazu, ohne ihn je persönlich kennen gelernt zu haben. Sie kannte seine Musik, seine Briefe und das reichte für ihre Entscheidung, die von enormer musikgeschichtlicher Bedeutung ist.8 Die Gesamtausgabe von Tschaikowskys Kompositionen umfasst 63 Bände. Die Mehrzahl seiner Werke wurde von literarischen Werken inspiriert. Als erstes Orchesterstück schrieb er die Ouvertüre „Das Gewitter“, gefolgt von mehreren Suiten, Kammermusiken, Märschen, Klavier- Phantasien, und Capricci. Violinkonzerte, Dazu auch schrieb er Kirchenmusiken. Symphonien komponierte er sein ganzes Leben lang. Die letzte, die Sechste Symphonie, vollendete er 1893. Tschaikowsky beschränkte sich nie. Der Umfang und die Vielgestaltigkeit seines Schaffens sind enorm. Er hat uns Romanzen, Lieder, Duette, Klaviermusik, Gesänge und zahlreiche Bühnenwerke vererbt. Seiner Schöpfung entsprangen die wahrscheinlich berühmtesten Ballette aller Zeiten „Schwanensee“, „Nussknacker“, „Dornröschen“. Er komponierte auch eine Schauspielmusik zu Shakespeares „Hamlet“. Das Musiktheater war seine größte Leidenschaft, er schrieb nicht weniger als zehn Opern. Seine frühen Opern „Der Wojewode“, „Undine“, sowie „Der Opritschnik“ und „Der Schmied Wakula“ entstanden zwischen 1867 und 1874 und werden heute wenig gespielt. Tschaikowsky kannte die Musikliteratur ganz Europas und die Werke seiner Vorgänger. Sein erklärter Lieblingskomponist war Mozart: „Ihm verdanke ich, dass ich mein Leben der Musik widmete.“9 „Don Giovanni“ war für Tschaikowsky die Krone der gesamten Opernliteratur. Die populärsten Opern Tschaikowskys sind „Eugen Onegin“ (1877/78), „Dame Pique“ (1890) und „Mazeppa“ (1881/83). Alle drei gehen auf Schöpfungen des großen russischen Dichters Alexander Puschkin zurück. „Die Jungfrau von Orleans“ (1878/1879) schrieb Tschaikowsky nach dem Schauspiel Friedrich Schillers. Die späten Opern „Pantoffelchen“ (1885), „Die Zauberin“ 8 Nadeshda von Meck zahlte Tschaikowsky „ […] eine jährliche Apanage von 6000 Rubel – der Betrag überstieg sein Gehalt am Moskauer Konservatorium um ein Vielfaches […], Floros, S.42. 9 Brief an Nadeshda von Meck vom 16. März 1878, zitiert nach Floros, S. 135. 3 (1885/87) und „Jolanthe“ (1891) werden heute ebenso selten aufgeführt wie die frühen. Peter Iljitsch Tschaikowsky starb am 26. Oktober 1893 in St. Petersburg. Die Umstände seines Todes sind nie wirklich geklärt worden.10 Das Besondere an Peter Iljitsch war wohl, dass er neben seiner musikalischen auch eine außergewöhnliche literarische Begabung besaß und Poesie wortwörtlich und sinnbildlich in Musik übersetzen konnte. Seine Opern zeigen, dass für ihn der Fluss der emotionalen Logik ebenso bedeutend war wie die dramaturgische Form eines Werkes. Die Frage, ob eine Komposition von einem echten Gefühl beseelt sei, machte er zum Kriterium seiner Ästhetik. La, sotto i giorni nubilosi e brevi, Nasce una gente a cui l’ morir non dole.11 Alexander Sergejewitsch Puschkin Der Autor des Versopus „Eugen Onegin“ wurde am 26. Mai 1799 des Julianischen Kalenders in Moskau geboren. Väterlicherseits stammte er aus einem alten Adelsgeschlecht. Mütterlicherseits war sein Urgroßvater ein äthiopischer Sklave, der dem Zaren Peter dem Großen geschenkt und sein Patenkind wurde. Noch in seiner Jugend wurde Puschkin zum ständigen Theaterbesucher, er liebte das Drama leidenschaftlich. Die frühe Poesie des Dichters strahlt seine unstillbare Lebenslust aus, in ihr steckt viel Humor und Theatralik. Ein Beispiel dafür ist sein Versepos „Ruslan und Ljudmila“ von 1820, das später als Grundlage der gleichnamigen Oper von Michail Glinka diente. Wegen des besonderen Melos und der exzellenten Singbarkeit der Texte wurden viele seiner Verserzählungen und Dramen vertont. Als Mensch der Freiheit und ausgesprochener Rebell, erlaubte sich Puschkin in seinen 10 Die gängige These ist Selbstmord durch absichtliche Infizierung mit Cholera. 11 „Da, in den nebligen und kurzen Tagen wurden Menschen geboren, denen Sterben kein Leiden bedeutet.“ Francesco Petrarca, Canzoniere XXVIII, 49, 51; dieses Zitat setzt Puschkin dem sechsten Kapitel seines „Onegin“ voran. 4 Gedichten mal den Kriegsminister mal den Bildungsminister scharf zu kritisieren. Mit 21 Jahren musste er sich für einige seiner Spottgedichte verantworten. Sein bedeutendstes Werk, das von Tschaikowsky vertonte Versepos „Eugen Onegin“ schrieb er zwischen 1823 und 1830. Zu dieser Zeit unterlag er der strengen Zensur Nikolaus I. Puschkin reiste viel. Bis 1824 lebte er an verschiedenen Orten im Süden Russlands, u.a. in Odessa und Chişinău. Einige Jahre war er bei seinem noch aus Petersburg stammenden Freund, General Rajewskij, und verliebte sich in dessen Tochter Maria. In dieser Zeit forderte er 28 Duelle heraus. 1831 heiratete er Natalja Gontscharowa. Im Winter des Jahres 1836/37 duellierte er sich in Folge einer Intrige mit dem französischen Gardeoffizier Georges-Charles d'Anthès und wurde dabei durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Zwei Tage später, am 29. Januar 1837 starb er in Sankt Petersburg. Die berühmtesten Werke Puschkins erleben wir heute häufiger auf der Opernbühne als im Sprechtheater. Zu seinem Drama „Boris Godunow“ komponierte Mussorgski eine brilliante Opernmusik. Rimski-Korsakow vertonte „Zar Saltan“, „Das Märchen vom goldenen Hahn“ und das historische Drama „Mozart und Salieri“; Alexander Sergejewitsch Dargomyschski komponierte die Oper „Die Meerjungfrau“ nach Puschkins gleichnamigen Drama sowie „Der steinerne Gast“; „Mazeppa“, „Pique Dame“ und „Eugen Onegin“ brachten Tschaikowsky Weltruhm. Puschkin gilt für die meisten seiner Landsleute als d e r russische Nationaldichter. Bis zum Einmarsch Napoleons in Moskau 1812 sprach die russische Oberschicht Französisch. Nach dem darauf folgenden Brand Moskaus fragte man sich, warum man eigentlich die Sprache des Feindes spräche. Puschkin bereitete in seinen Gedichten, Dramen und Erzählungen der Verwendung der Muttersprache den Weg; er schuf einen erzählerischen Stil, der Drama, Romantik und Satire mischte – einen Stil, der seitdem untrennbar mit der russischen Literatur verbunden ist. 5 Lieben macht uns mutig, geliebt werden, macht uns stark.12 „Eugen Onegin“ „Eugen Onegin“ ist Tschaikowskys meistgespielte Oper. Bezaubert vom gleichnamigen Versroman Puschkins und vor allem von der reinen Seele der jungen schwärmerischen Tatjana, entschließt er sich im Jahre 1877 einige Szenen des Romans musikalisch zu illustrieren. In einer schlaflosen Nacht entwirft er die Grundlage für das spätere Libretto, welches der Dichter Konstantin Schilowsky einrichten sollte. Tschaikowsky beginnt zu komponieren, obwohl die Endfassung des Textes noch gar nicht fertig ist. Zuerst schreibt er die musikalisch wichtigste Szene, die Brief-Szene der Tatjana, die ihn auch im Versopus von Puschkin am meisten fasziniert. Sie sollte als Zweites Bild der dramaturgische Gipfelpunkt des Ersten Aktes werden. Sie enthält eine vollständige Charakteristik der Figur. Tschaikowsky streicht nur wenige Zeilen der Puschkinschen Originalverse. Dadurch dauert die Szene fast eine Viertelstunde und wirkt wie eine unteilbare Einheit, deren Fluss einfach aus dem seelischen Zustand des Mädchens entsteht. Tschaikowsky folgt hier der Logik der poetischen Emotion und schreibt eine Szene, dessen ungewöhnliche Struktur eine neue opernästhetische Form für das gesamte Werk entwirft. In „Eugen Onegin“ findet eigentlich keine dramatische Handlung statt, vielmehr erfahren wir eine komponierte Poesie, „lyrische Szenen“ – wie es letztlich in der Gattungsbezeichnung heißt13 – tiefster Offenbarung. Tschaikowsky ging es immer darum, menschliche Konflikte darzustellen, die er selbst erlebt oder beobachtet hatte. „Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.“14 12 Sprichwort. 13 Siehe unten, S.6. 14 Brief an Sergej Tanejew vom 2. Januar 1878, zitiert nach „Peter Tschaikowsky. Eugen Onegin. Texte, Materialien, Kommentare “ hg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1985, S.10. 6 Durch die Korrespondenzen des Komponisten erfahren wir viel über seine Ansprüche oder Vorstellungen den „Onegin“ betreffend. Er legte besonders großen Wert darauf, dass die Uraufführungsbesetzung aus jungen Sängerinnen und Sängern – Studenten vom Konservatorium – bestand. Er wollte unbedingt Schüler, Jugendliche: „[…], sie werden nicht diese abscheuliche banale Routine haben, die ich für meine neue Oper am meisten fürchte.“ Er behauptete das Stück für das Konservatorium geschrieben zu haben, weil er keine große Bühne wollte. „[…] ich brauche mittlere Sänger, die gut gedrillt und sicher sind, die zugleich einfach aber gut spielen werden […], man braucht keine aufwendige Inszenierung und der Kapellmeister soll keine Maschine sein! […] Ich gebe meinen ‚Onegin’ für keine Güter weder der Petersburger, noch der Moskauer Direktion, und wenn er am Konservatorium nicht gegeben wird, dann wird er nirgends gegeben!“.15 Und er setzte diesen Willen durch. Die Uraufführung von „Eugen Onegin“ fand am 17. März 1879 im Moskauer Maly-Theater unter der Direktion seines Freundes Nikolaj Rubinstein statt. Trotz des großen Interesses, hatte die Oper zunächst nur wenig Erfolg. Die Kritik war nicht begeistert. Die Operngeschichte kannte kein Vorbild für einen derartigen Wechsel der musikdramatischen Perspektive innerhalb eines Stückes. Die damals herrschende dramaturgische Form erlaubte eine Geschichte mit einem Höhepunkt – Anfang und Ende. „Eugen Onegin“ besteht tatsächlich aus drei kleinen Opern, die sich zu einer fügen. Die Aufzüge sind ziemlich unabhängig von einander. Jeder einzelne Akt stellt ein kleines abgeschlossenes Drama für sich dar und im Mittelpunkt der Handlung steht jeweils eine andere Person. Im Zentrum des Ersten Aktes ist es das Seelenleben Tatjanas, gefolgt von der Tragödie des Dichters Wladimir Lensky im Zweiten und von den ausbrechenden Leidenschaften Onegins im letzten Akt. Dazu kam für die Kritik, dass die Komposition nicht dem italienischen Beispiel glanzvoller Knalleffekte folgte. Die Handlung ist ungewöhnlich simpel gebaut: keine ägyptische Prinzessin, kein prächtiger Zar, keine Intrigen, Schlachten oder Volkaufstände gibt es hier. Und das sollte eine Oper sein? – unerhört! „Ich pfeife auf Effekte!“, verteidigte sich Tschaikowsky gegen die berühmte Kritik 15 Brief an Konstantin Albrecht vom 3. Dezember 1877, zitiert nach Csampai, S.122ff. 7 Tanejews, „[…] weil ich Menschen brauche und keine Puppen.“16 Er verteidigte kompromisslos seine Entscheidung, die alltäglichen, einfachen, allgemein menschlichen Empfindungen auf die Bühne zu stellen. „Möge der ‚Onegin’ eine sehr langweilige Vorstellung mit einer aus dem Herzen geschriebenen Musik sein, – das ist alles, was ich wünsche.“17 Nach der Moskauer Premiere am 11. Januar 1881 in Bolschoi-Theater behaupteten die Zeitungen, die Partie der Tatjana wäre farblos und trocken. Mehrmals wurde der Komponist wegen der dramatischen Form angegriffen: Ein Stück mit solcher Struktur verdiente keineswegs den Namen „Oper“! In die Ecke getrieben, entschied sich Tschaikowsky letztlich, um die Streitsituation zu beruhigen, seinem Werk den Untertitel „Lyrische Szenen“ zu geben. Tatsächlich hatte „Eugen Onegin“ mit dem Begriff „Oper“ des 19. Jahrhunderts wenig Gemeinsames. Erst die Aufführung im Marinskij-Theater in St. Petersburg am 19. Oktober 1884 brachte dem Stück die Begeisterung des Publikums. Durch die steigende Popularität erreichte die Oper endlich die verdiente Anerkennung. Die deutsche (und deutschsprachige) Erstaufführung fand am 19. Januar 1892 im Hamburger Stadttheater statt, unter der Leitung von Gustav Mahler. Heute wird Tschaikowskys „Eugen Onegin“ auf der ganzen Welt gespielt. Die Oper hat die Popularität des Romans mehrfach übertroffen. Elle était fille, elle était amoureuse.18 Tatjana Dmitrijewa Larina – Brief-Szene Die Offenbarung einer Seele Tatjana war nie ein lustiges verspieltes Mädchen. Eigentlich sind bei ihr Kindheit und Jugend kaum auseinander zu halten. Nach Puschkins Beschreibungen war sie ein äußerst verschlossenes Kind. Sie lachte nie laut und spielte nicht beim ,Fangen’ mit. Die Puppen langweilten sie, so wie später auch die Stadtmode, „[…] sie saß den ganzen Tag schweigend allein am 16 Brief an Sergej Tanejew vom 2. Januar 1878, zitiert nach Csampai, S.125. 17 Brief an Sergej Tanejew vom 24. Januar 1878, zitiert nach Csampai, S.129. 18 „Sie war Mädchen, sie war verliebt.“ Malfilâtre; dieses Zitat setzt Puschkin dem Dritten Kapitel seines „Onegin“ voran. 8 Fenster.“19 In Tschaikowskys Oper erleben wir einen Teil ihrer Jugend. Die Figur ist, mit Blick auf Puschkins Roman, von den Textkürzungen, die Tschaikowsky und Schilowsky vornehmen, am Geringsten betroffen. Tatjanas Erscheinung in den „Lyrischen Szenen“ entspricht ziemlich genau der literarischen Vorlage Puschkins. Dort findet man eher seltener konkrete Angaben, vieles ist der schöpferischen Kraft unserer Phantasie überlassen. Die „Beschreibungen“ im Roman von Puschkin sind erstaunlich. Sie funktionieren nach dem Prinzip „Ich sage es euch nicht, ich male es mit Worten und ihr könnt es sehen“. Er stellt dem Leser seine Protagonisten spontan vor, in dem er über ihre Interessen, Gesichtszüge, Charaktereigenschaften, Temperamente und Gewohnheiten humorvoll erzählt. Durch seine außergewöhnliche poetische Gabe zeichnet er uns die Aura der Menschen. Beispielsweise erzählt er uns nie, ob Olga groß oder klein ist, ob sie zehn oder zwölf Jahre alt ist, er sagt uns: Olga war „fröhlich wie ein Morgen […], lieb wie ein Kuss […], alles in ihr erzählte von Liebesromanen […], aber beschäftigen wir uns mit ihren älteren Schwester. Sie hieß Tatjana […]“.20 Tschaikowsky vertont dieses Bild wunderbar: Olga erzählt von sich in ihrer Arie, und sie vergleicht sich mit Tatjana: „Ah Tanja, Tanja, du träumst immer, ich bin ganz anders – bin lustig wenn ich die Gesänge höre [...]“.21 Genau so lernen wir auch Tanja kennen. Verträumt, immer mit einem Roman in der Hand, ihre Teenagerwelt sind die Bücher. Die Liebesromane sind für sie die reinste Quelle der ersehnten Heldenromantik, die sie im Alltag vermisst. Sie vertieft sich in die Liebeskummergeschichten über Sehnsüchte, Leidenschaften und Schmerzen der Protagonisten, um sie selbst zu erleben. Davon kann sie gar nicht genug bekommen. Ihre Traumsucht kennt keine Grenzen. Aber man kann Tanja durch ihre schwärmerische Natur nur oberflächlich charakterisieren, denn die Lebensrealität ist letztlich ein ebenso wichtiger Faktor, der ihre Persönlichkeit mitbestimmt. Träume hin und her, „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“22 Tanjas Sein ist eben von allen Seiten geschützt und schon immer gewesen. Sie 19 Siehe Anmerkung 1; Puschkin, „Eugen Onegin“, Kapitel 2, Ende Strophe XXV. 20 Puschkin, „Eugen Onegin“, Kapitel 2, Strophe XXIII. 21 Arie der Olga, Erster Akt, Nr. 3. 22 Sentenz, Karl Marx. 9 hat praktisch kaum die Gelegenheit gehabt, sich mit alltäglichen Problemen auseinanderzusetzen. Tanja arbeitet nicht, sie ist sehr blass, bewegt sich kaum. Im Ersten und Zweiten Akt ist sie offenbar sehr jung, vielleicht vierzehn, vielleicht siebzehn Jahre alt, und das Lesen ist ihre einzige Beschäftigung. Von weiteren Pflichten erfährt man jedenfalls nichts, weder im Roman noch in den Lyrischen Szenen. Tanja ist auf dem Land, im Dorf aufgewachsen. Um die damalige Realität zu vergegenwärtigen: Jede Reise in die Stadt dauerte ungefähr zwei Wochen – mit der Pferdekutsche. Das Erste Bild der Oper zeigt uns realistisch fern von jeder Tragik und Theatralik das einfache alltägliche Leben ihrer Familie. Diese gehört zur mittleren Schicht der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – zu den so genannten Gutsbesitzern. Neben dem Haus verfügt die Familie üblicherweise über eine bestimmte Zahl von Bauern, die zu diesem Gut, beziehungsweise Dmitrij Larin23 gehören und für ihn lebenslänglich arbeiten. Der Vater Olgas und Tanjas ist dem Roman nach eine eher unbedeutende Persönlichkeit: Ein Ehemann, der lang schlief und ungern las, zu den Töchtern hatte er jedenfalls kein besonderes Verhältnis. Er starb eine gewisse Zeit vor Beginn der Handlung des Opernstückes und spielt in den Lyrischen Szenen keine Rolle im Gegensatz zu seiner Frau – der Mutter Larina. Während der Hausarbeit singt sie mit der Amme Filipjewna von den Zeiten ihrer Jugend, von einem schönen Gardeoffizier, den sie liebte und wollte, aber doch Dmitrij heiraten und aufs Dorf umziehen musste. „Ah, wie weinte ich am Anfang, ich habe mich fast scheiden lassen, nahm mich dann des Haushalts an und gewöhnte mich daran. Ich wurde mit der Zeit zufrieden – Gott sei Dank!“. Filipjewna kennt und bestätigt ihre Geschichte. Die beiden beschließen das Thema mit dem Denkspruch „Die Gewöhnung hat uns Gott gegeben, sie ersetzt das Glück im Leben.“24 Mit dieser traurigen Lebensphilosophie wächst Tatjana auf und übernimmt sie bewusst oder nicht in ihrem späteren Leben. Diese Einstellung bleibt auch ihr einziger Trost für die verantwortungsvollen Entscheidungen, die sie als erwachsene Frau im letzten Aufzug für sich treffen wird. In dem Sinne haben die Erziehung und die Verhältnisse in ihrer Familie doch gewisse Auswirkungen auf ihren Lebensweg. 23 Bei Puschkin der Vater Tatjanas. 24 Erster Akt, Erstes Bild. 10 Sie ist mit endlos viel Liebe großgezogen worden. Man erkennt das an der Art und Weise, wie die Frauen der Familie miteinander umgehen. Die Zärtlichkeit, die Sorge umkreist Tanja in jeder Sekunde, klingt in jeder Silbe und Phrase. „Mein Täubchen, das Köpfchen gesenkt, warum ist dein Blick zur Erde […]“, sagt die Amme.25 Dieses Gefühl akkumuliert sich über Jahre in Tatjana und verbindet sich mit ihren romantischen Phantasien vom ersehnten Märchenprinzen. Sie liebt ihn längst bevor er im Ersten Bild erscheint, nur hat sie ihn nie gesehen. Und jetzt ist er plötzlich da, ihr Herz erkennt ihn sofort. Lensky stellt den beiden Schwestern seinen Nachbarn Eugen Onegin vor. Tanja ist von ihm endlos tief überwältigt und verliebt sich blind. Er ist das lang gesuchte Ideal, der Held ihrer Träume. In Ihrer Unerfahrenheit ist sie auch so gut wie gar nicht in der Lage wahrzunehmen, dass sie diesen Mann noch nicht kennt. Eugen findet das junge Mädchen interessant und unterhält sich mit ihr. In diesem einzigen Gespräch zwischen den beiden sagt sie ihm: „Die Nachdenklichkeit ist meine Freundin, seit meiner frühsten Kindheit noch.“ Eine entscheidende Rolle spielt der Eindruck, dass er das kennt: „Verstehe, Sie sind furchtbar verträumt, ich war auch ebenso.“26 Nach dem Treffen vertieft sie sich wieder in Gedanken. Alles zieht sie zu ihm. Auf ihn hat sie solange gewartet! Sie muss Onegin wieder sehen. Das Zweite Bild beginnt in ihrem Schlafzimmer – dramaturgisch, im Raum totaler Offenheit und Ehrlichkeit. Unmittelbar vor der Brief-Szene spricht das Mädchen mit der Amme. Es ähnelt einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter – gewöhnlich hatten die Kinder damals ein besonders enges Verhältnis zu ihren Ammen. Tanja weiß, sie kann ihr alles anvertrauen, sogar das Geheimnis ihrer Liebe und fragt verzweifelt nach den Erfahrungen der Amme. Filipjiewna hatte nie in ihrem Leben die Chance, über ihre Liebe frei zu entscheiden. Mit dreizehn musste sie den von ihrem Vater vorbestimmten Bräutigam heiraten. Sie verabschiedet sich und lässt Tanja mit ihren Gedanken allein im Zimmer. Die von Tschaikowsky für Orchester komponierte Einleitung der BriefSzene beschreibt besser als Worte die erschütternde Kraft der Sehnsucht 25 Erster Akt, Ende des Ersten Bildes. 26 Erster Akt, Erstes Bild. 11 Tatjanas. Jetzt ist sie allein mit ihrer Liebe. Die ersten 3/4-Takte zeigen, dass die innere Unruhe und Glut in ihr unbegreiflich stark sind. Gedanken und Gefühle fließen ineinander. Nach kurzer Überlegung kristallisiert sich leise mit dem Tempowechsel ihre Idee. Die Steigerung der Emotionen beginnt im 4/4-Takt. Die Sequenz entwickelt sich stürmisch durch das poco stringendo mit einem starken crescendo bis hin zu einem fortefortissimo. Die wichtigste Entscheidung im Stück ist getroffen. Tatjana wird Onegin in einem Brief ihre Gefühle erklären! Das ist es, und so wird sie es machen. Die Aufregung ist zu stark für das junge Mädchen. Ihre Emotionen würden sie ersticken, wenn sie sie nicht aussprechen würde: „Mag sein, dass ich zu Grunde geh, aber zuvor werde ich das Glück des Lebens kennen lernen, ich werde hoffen, diese dunkle Glückseligkeit zu erleben! Ich trinke das Zaubergift des Wunsches, die Träume verfolgen mich und deine Gestalt ist immer, überall vor meinen Augen!“27 Kein Zweifel ist mehr da – sie wird um ihre Liebe kämpfen. Hier ist die spezifische Wellenform der Phrase schon deutlich zu erkennen. Jeder musikalische Gedanken schwingt wie eine Welle bis zum einem Höhepunkt und fließt wieder zurück. Die Wellen werden immer größer und höher. Im konkreten Fall erhebt sich die Intonation der Gesangsstimme bis es2, e2, dann bis f2 und kulminiert bei as2.28 Das ritenuto molto steht auch für das Orchester, aber kein col canto. Die Singstimme bei Tschaikowsky wird keinesfalls durch ein col canto bei jeder Kulmination hervorgehoben. Anders als in der italienischen Musik sind hier Orchester und Sänger gleichberechtigt. Über allen herrscht allein der Sinn der gesamten Musik. Jetzt ist es endlich raus, und Tatjana kann besser ihre Vernunft sammeln, um die Entscheidung zu verwirklichen. Ja, sie will den Brief schreiben, doch wie genau, weiß sie nicht. Die Musik beruhigt sich langsam und wird sachlich, Tanja geht zum Schreibtisch, setzt sich hin und fängt an. In der Oboe ertönt die melancholische d-moll-Melodie des „Schreibens“, nach einer Weile wird sie plötzlich unterbrochen durch einen Stimmungswechsel nach ADur29: Der Anfang stimmt nicht, und sie zerreißt das Blatt, um neu anzufangen, 27 Zweites Bild, Nr. 9, Allegro non troppo, Buchstabe E. 28 Letzte Takte vor Buchstabe F. 29 Buchstabe F, Takt 9. 12 er muss anders sein. Ihr blasses Gesicht brennt, sie staunt selbst über diese außergewöhnliche Aufregung und versucht wieder zu beginnen. Diesmal lässt Tschaikowsky den Fluss ihrer Gedanken ununterbrochenen. Die Brief-Szene kann als Beispiel reinsten Opernrealismus’ aufgefasst werden. „Das Schreiben“ ist so bildhaft komponiert – jede Zeile ist klar erkennbar, dieselbe Musik wiederholt sich sogar wenn das Mädchen den Text vorliest. Keine Spur von Selbstschutz ist in ihrer Liebeserklärung zu finden. Tanjas Offenheit kennt keine Reserven, das ist eben, was sie so außergewöhnlich macht und bei Onegin später eine respektvolle Antwort auslöst. In ihrer Jugend und Unerfahrenheit legt sie einfach alle Karten auf den Tisch. Diese Tat fasziniert das Publikum heute immer noch, da man zunehmend gewöhnt wird, sich diplomatisch durch die Welt zu schlängeln und ohne Selbstschutz vollkommen hilflos ist. Die vom Onegin so bezeichnete „Liebeserklärung ohne Kunst“30 ist nun zu echter Seltenheit geworden. In unserer heutigen Zeit, dem Zeitalter der digitalen Kommunikation, trifft man immer seltener Menschen, die mit solcher faszinierenden Offenheit einem gegenüber auftreten. Und noch seltener findet sich eine so reine unbefleckte Teenagerseele, die auch noch den Mut besitzt, auf diese feinsinnige Art jemandem zu sagen: „Jetzt weiß ich, es liegt in Ihrer Hand, mich mit Verachtung zu bestrafen, doch wenn Sie einen Tropfen Mitleid mit mir haben, lassen Sie mich nicht im Stich! Erst wollte ich es verschweigen, glauben Sie mir, Sie hätten es überhaupt nie erfahren […].“31 Für uns, Menschen des 21. Jahrhunderts klingt das sehr idealistisch, unüberlegt, verrückt. Wir würden es gar nicht ernst nehmen wollen – oder doch?, Tatjana aber meint es ernst. Und diese ergreifende Ehrlichkeit strömt durch ihre Musik, die Gedanken sind so spontan komponiert, als ob sie gerade entstehen würden. Nach diesen ersten Zeilen legt Tatjana den Brief zur Seite. Ein fließender Übergang zum accompagnato illustriert auch musikalisch ihre Selbstreflexion. „Oh ja, ich schwor das Geheimnis meiner Leidenschaft zu bewahren, aber leider kann ich nicht über meine Seele herrschen! Geschehe mit mir, was mir 30 Erster Akt, Drittes Bild, Nr. 12, Buchstabe W. 31 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe G, Takte 15-24. 13 geschrieben steht, nur Mut, er wird alles erfahren!“32 Sensibel bringt uns Tschaikowsky zurück zur Melodie des Schreibens. Das schon bekannte Schreibmotiv erscheint erst unverändert in d-moll, wie am Anfang des Briefes bei Moderato assai quasi Andante. „Warum, warum haben Sie uns besucht? In der Einsamkeit des vergessenen Dorfes hätte ich Sie sonst nie kennen gelernt […]“.33 Tanja geht in ihren Vermutungen noch weiter: „Wahrscheinlich hätte ich gelernt, die Erregungen meiner unerfahrenen Seele zu beherrschen, wer weiß? Mein Herz fände einen Anderen vielleicht, ich wäre seine treue Frau und Mutter seiner Kinder …“.34 Jetzt spürt sie, dass sie eine Spur zu weit gegangen ist, ihr ganzes Wesen wehrt sich gegen den verräterischen Gedanken: „einen Anderen!“. Die Wiederholung ähnelt einem Schrei vor Wut. Sie steht auf, weil sie sich instinktiv davon distanzieren muss, sie will nie mehr daran denken. Im folgenden Moderato-Teil ist sie kategorisch. Sie kann keinen Anderen auf der Welt lieben, der Himmel hat es vorbestimmt, sie gehört Onegin. „Mein ganzes Leben ist das Pfand dafür, dass ich Dich wieder sehe, Gott hat Dich zu mir geschickt, mich bis zum Grabe zu beschützen!“.35 Tanja glaubt fest an jedes Wort, was sie schreibt. Sie wirkt auf uns derartig überzeugend, man könnte glauben, sie kenne Eugen seit mehreren Jahren. In gewissem Sinne ist es auch so – sie kennt den Mann ihrer Träume, er lebt schon lange in ihrem Bewusstsein. Sie nimmt Eugen gar nicht wahr, so wie er ist, nämlich als einen unbekannter Mann. Sie glaubt vielmehr ihr Ideal endlich gefunden zu haben, den lange gesuchten Held der Romane. Im Grunde kann in der Brief-Szene von wahrer Liebe keine Rede sein, dort klingen ihre Fantasien: „Du bist in meinem Traum erschienen, Du warst mir lieb, unter Deinem wundervollen Blick wurde ich schwach, in meiner Seelentiefe klang Deine Stimme!“36 Im piano verbindet Tschaikowsky diese Traumbilder durch märchenhafte Zauberklänge in Ges-Dur. Das besondere Melos der 32 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Ende Buchstabe G. 33 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe H. 34 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe H-J. 35 Erster Akt, Zweites Bild, Nr .9, Buchstabe J. 36 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe J. 14 russischen Sprache lebt in jeder Phrase. Poesie und Musik verschmelzen zu einer Einheit. Die Logik in Tschaikowskys Musik ist dermaßen selbstverständlich, dass man sich lediglich in eine einfache Form der Analyse vertiefen muss, um festzustellen, dass die natürliche Intonation der Dichtung durch Tempowechsel und dynamische Differenzierungen bewusst und meisterhaft komponiert worden ist. Der Komponist unterscheidet Realität von Vision durch einen weichen Tonartenwechsel und dynamischen Kontrast.37 Wie ein Blitz begreift Tatjana: Diese Bilder sind doch kein Traum, sondern eine Prophezeiung gewesen. Anschließend ist es ja genau so gekommen: „Im Augenblick Deiner Erscheinung, habe ich es gewusst, eine Glut durchströmte mich, ich dachte: das ist er! DAS IST ER!“38 Sie kannte und trug diese Gestalt der Traumliebe schon immer mit sich – im Alltag, wenn sie betete oder den Armen half – immer. Das konnte doch nicht nur eine Einbildung von ihr sein, das musste Onegin sein. Tatjana versucht, sich selbst zu überreden, dass ihre Fantasien der Wahrheit tatsächlich entsprechen, dass e r sie gewiss verstehen und diese bestätigen wird. Der Rhythmus der Verse wird in der Musik übernommen, die Länge der musikalischen Wellen und die Intonation entsprechen genau den Gedanken und dem Fluss einer rezitierenden Sprechstimme. Bei aller Überzeugung endet Tanjas Aufregung trotzdem mit einer Frage „Warst du es nicht, der freudevoll und liebend mir die Worte der Hoffnung ins Ohr flüsterte?“39 Das Ende der Phrase ist ritenuto, mit einer Fermate auf dem letzten Ton und bleibt unorchestriert in der Luft hängen. Die Zukunft wird darauf antworten. Und wenn er sie nicht liebt? … an dieser Stelle vermutet man eine große Generalpause – notiert ist aber keine, notiert ist das stumme Einverständnis von Sängerin und Dirigent. In diesem einzigen Augenblick der Brief-Szene begreift Tanja, was sie alles riskiert. Die Liebe beflügelt sie, gibt ihr Mut und Hoffnungen und gleichzeitig verspricht sie ihr keinen Schutz. Sie kann keineswegs sicher sein, wie Eugen auf das Schreiben reagieren wird. Was weiß sie denn von ihm? Wer ist er? Wird er ihre Gefühle verstehen können oder sie ausnützen …? Sie legt 37 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe K. 38 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe L. 39 Buchstabe L, Andante. 15 den Brief wieder bei Seite, um die verunsichernden Fragen und düstren Vermutungen auszusprechen „Wer bist Du – mein Schutzengel, oder heimtückischer Verführer? Löse meine Zweifel! Vielleicht ist das alles ein Unsinn, ein Irrtum meiner unerfahrenen Seele, und es ist ganz anders vorbestimmt …?“40; vielleicht ist es so, antwortet wie ein Echo allein die abklingende Orchestermelodie. Das anschließende Molto piu mosso verkündet die tapfere Bereitschaft, zu ihrer Entscheidung zu stehen. Damit beginnt auch die größte musikalische Welle – die Kulmination der ganzen Szene.41 Für Tatjana gibt es kein Zurück mehr, jetzt überlässt sie alles Onegin: „So soll es sein, ich lege mein Schicksal in Deine Hand, ich weine vor dir und fleh dich an, mich zu beschützen!“; im Tempo I steigert sich ihr Flehen. Er ist ja der erste Mensch, der von ihr etwas verstanden hat, also, glaubt sie, kann sie ihm alles vertrauen. Mit erschütternder Offenheit, ohne Grenzen, sie schreibt von ihrer Welt: „Stell dir vor ich bin hier allein und keiner versteht mich, mein Verstand schafft es nicht mehr! Ich erwarte Dich, ICH ERWARTE DICH! Belebe mit einem Wort die Hoffnung meines Herzens oder beende diesen schweren Traum mit dem verdienten Vorwurf!“ Die Phrase kulminiert mehrfach in ihrer Fortschreitung, nach einem Höhepunkt folgt eine weitere Entwicklung der Emotion, bei Tempo I beginnt die Steigerung ins Più mosso, das noch mal zusätzlich akzeleriert wird. Diese enorme Welle löst sich in der tiefen Sopranlage auf mit den grausamen Gedanken an einen verdienten Vorwurf des unerlaubten Liebesgeständnisses. Mit gewaltiger Kraft wiederholt sich das Thema im Tutti-Orchester.42 Die Orchestrierung erreicht ihre Grenzen. Die immer sich wieder aufbauende Welle bricht hier und entlädt ungeheure Energien und natürlich klingen diese nicht so schnell ab, Tschaikowsky verwandelt sie allmählich in sachliche Akkorde in nüchterndem A-Dur. Mit dem Ertönen dieser Tonart ist der Brief vollendet. Tatjana steht auf und faltet ihn. Beim Gedanken, was sie gerade geschrieben hat, traut sie sich nicht, den Brief nochmals zu lesen. „[…] aber ich verlasse mich auf seine Ehre und mutig vertraue ich ihr alles!“ Hier endet die Brief40 Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, letzte Takte vor M. 41 M bis N. 42 Die ersten 21 Takte Buchstabe N, Tempo I, Orchester allein. 16 Szene und die Nacht ist vorbei. Durchs Fenster lächeln die erste Strahlen der Morgensonne. Tanja hat die Zeit nicht gespürt. Wahnsinnig aufgeregt übergibt sie den Brief ihrer Amme, sie soll ihn weiterleiten. Filipjewna staunt über Tanjas Auftrag, aber noch mehr über ihr Gesicht. Sie ist nicht mehr so blass, die Augen strahlen, so schön ist sie nie gewesen! Die alltäglichen Volksszenen und festlichen Gesänge im Dritten Bild des Ersten Aktes erinnern uns wieder an Tatjanas Umgebung. Die vergehende Zeit ist für sie mit Hoffnungen aber auch mit schwarzen Ängsten erfüllt. Was wird er sagen? Die Antwort folgt sogleich in diesem letzten Bild des Ersten Aktes. Die schlimmste Furcht des Mädchens ist, ausgelacht zu werden, doch das passiert ihr nicht. Onegin erklärt ihr respektvoll seine Gefühle und Gedanken auf Grund seiner Lebenserfahrung. Wenn er heiraten würde, wünschte er sich eine Frau wie Tatjana Larina, doch er wäre nicht für die Ehe gemacht und das gemeinsame Leben würde zu Qual. Mit ihm würde sie nie glücklich. Sein Ratschlag lautet: „Lernen sie sich zu beherrschen, nicht jeder wird sie so verstehen und aus Unerfahrenheit, kann leicht etwas Gefährliches 43 geschehen.“ Für ein junges verliebtes Mädchen kann es gar nicht peinlicher sein. Er weiß jetzt alles, hat ihren Brief gelesen und erwidert ihre Gefühle nicht. Seine Antwort ist keinesfalls entwürdigend; Onegins Erklärung klingt sogar ziemlich nachvollziehbar, aber Tatjana hört nur die Absage: Er will sie nicht, aus welchen Gründen auch immer. Es ist so beleidigend, so schmerzhaft, sie fühlt sich miserabel. Sie ist sprachlos. Die Ohrfeige ist heftig, als Eugen – im Zweiten Akt – an ihrem Namenstag erscheint, kann sie ihm nicht in die Augen schauen. Höflich bedankt sie sich bei allen für die netten Geschenke, aber die ganze Aufmerksamkeit kann ihr die ersehnte Liebe nicht ersetzen. Sie muss nun beobachten wie Eugen mit ihrer Schwester flirtet. Sie versteht ihn nicht mehr, warum verletzt er seinen Freund Lensky? Dieser kann seine Eifersucht nicht mehr beherrschen, sie bringt ihm schließlich den Tod im Duell mit Onegin. Zwischen den Aufzügen zwei und drei der Oper geschieht in Puschkins Versroman einiges, was auf Tatjanas Figur im letzten Akt eine besondere 43 Buchstabe Z. 17 Auswirkung hat. Nach dem Duell mit Lensky verlässt Onegin das Dorfleben und macht sich auf den Weg, um die traurigen Ereignisse zu vergessen. Tatjana besucht mehrmals das Haus, in dem er gewohnt hat. Die Möglichkeit über ihn etwas zu erfahren, gibt ihr einen Teil des verlorenen Traums zurück. Sie sitzt stundenlang in seinem Zimmer, liest seine Bücher und Notizen – daher ihr selbstbewusstes Auftreten im letzten Akt. Die über Jahre gesammelten Lebenserfahrungen sind nicht der einzige Grund dafür. Sie kennt Eugen Onegin ziemlich gut. Sie hat „seine“ Welt kennen gelernt, noch mehr, sie hat bewiesen, dass sie sich da einleben kann. Die Mädchenträume sind ausgeträumt. Tatjana rechnet nicht damit, den Helden ihrer Jugend wieder zu treffen. Nach Lenskys Tot vermählt sich ihre Schwester Olga und verabschiedet sich von der Familie. Die Mutter Larina verlässt ihr Gut und verreist mit ihrer Tochter Tanja nach Moskau, denn auch sie muss ihren Weg im Leben finden. Im Opernstück entwickelt sich die Geschichte in St. Petersburg weiter. Dort trifft Tanja den Fürsten Gremin und wird seine Frau. Dadurch erkämpft sie sich eine bedeutende Position im höchsten Milieu der aristokratischen Gesellschaft. Doch wirklich glücklich ist sie nicht. Wie ihre Mutter im Ersten Bild singt: „Die Gewöhnung hat uns Gott gegeben, sie ersetzt das Glück im Leben.“44 Im letzten Akt der Lyrischen Szenen führt das Schicksal Tatjana und Eugen wieder zusammen, bei einem Ball in St. Petersburg. Das mutige Mädchen hat sich in eine umwerfend schöne Frau verwandelt. Tatjana beherrscht sich und zeigt keinerlei Erregung beim Wiedersehen. Eugen verliebt sich in die königliche Ausstrahlung der jungen Frau, jetzt will er sie, doch sie gehört dem Fürsten. Eugen muss sich dessen Begeisterung anhören, Gremin liebt und verehrt seine Frau, er ist wahnsinnig stolz auf sie. Dazu kommt ihre Missachtung: Tatjana erblickt Onegin ruhig und begrüßt ihn höflich. Nach einigen unbedeutenden Fragen und Antworten verabschiedet sie sich, ohne weiteres Interesse für ihn zu zeigen. Zutiefst ergriffen entscheidet Eugen, um sie zu kämpfen. Ehrgeiz und Begeisterung brennen in seinem Herz. Er bereut alles und erklärt ihr offen seine Gefühle. „Ah“, sagt sie, „das Glück war greifbar, so nah bei uns!“45 Tatjana liebt ihn noch, doch es ist zu spät, sie ist verheiratet, 44 Siehe Anmerkung 24. 45 Klavierauszug, Dritter Akt, letztes Bild, Buchstabe L. 18 sie wird treu bleiben „mein Schicksal ist schon entschieden, ich bitte sie, sie müssen mich ich Ruhe lassen!“46 Sie verlangt von ihm, auf die unmögliche Liebe zu verzichten. Auch als er ihre Knie umarmt, bleibt Tatjana unerbittlich. Sie verabschiedet sich und lässt Onegin keine andere Wahl, als ihre endgültige Entscheidung zu akzeptieren. Hier endet Puschkins Erzählung vom Seelenleben eines Mädchens, das sich in eine junge Frau verwandelt. Ursprünglich wollte Tschaikowsky die Oper anders enden lassen47, doch letztlich entschließt er sich, Puschkins Originalschluss zu belassen. Tatjana Larina verkörpert für ihn das eigene Streben nach der nie erlebten, doch so sehr ersehnten Liebe. Ähnlich wie sie, entschied sich Peter Iljitsch für die Gewöhnung – ein Ersatz des Glückes. Ausgehend von Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ habe ich versucht zu beschreiben, dass Tschaikowsky in der berühmten Brief-Szene der Tatjana eine sehr individuelle, differenzierende Kompositionsweise anwandte, die mit traditionellen Formen wenig gemein hat, die eng an die literarische Vorlage gebunden ist und den ständig wechselnden Gedanken und Gefühlen Tatjanas gerecht wird. Für die sensible, gefühlvolle Darstellung dieser Musik braucht jede Sängerin die gesamte Farbpalette ihrer Stimme, ihre ganze emotionale Intelligenz und vor allem ein großes Herz. 46 Klavierauszug, Dritter Akt , letztes Bild, Buchstabe L. 47 Siehe Csampai, S. 116: Tatjana gibt nach und fällt Onegin in die Arme. Fürst Gremin tritt ein. Als ihn Tatjana sieht, fällt sie mit einem Schrei ohnmächtig in dessen Arme. Der Fürst macht Onegin ein gebieterisches Zeichen sich zu entfernen. 19 Nachweise A Quellen Peter Tschaikowsky, „Eugene Onegin. Lyric Scenes in three Acts und seven Scenes. Libretto by Konstantin Shilovsky and Pytor Tchaikovsky“, hg. von David Lloyd-Jones, London 1993. Alexander Sergejewitsch Puschkin, СОЧИНЕНИЯ том третий, „Евгений Онегин“,„ Романы и повести“, „Путешествие в Азрум“, Москва 1962. Alexander S. Puschkin, “Eugen Onegin. Ein Roman in Versen“, Übersetzung und Nachwort von Kay Borowsky, Stuttgart 1972. B Sekundärliteratur „dtv-Atlas zur Weltgschichte. Karten und chronologischer Abriss. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart“, Band 2, München 1991. Iwan Knorr, „Peter Iljitsch Tschaikowsky“, Berlin 1900. „Peter Tschaikowsky. Eugen Onegin. Texte. Materialien, Kommentare“, hg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1985. Constantin Floros, „Peter Tschaikowsky“, Reinbek bei Hamburg 2006. C Diskographie „Tchaikovsky. Eugene Onegin“, CD, Dirigent: Emil Tchakarov, Sofia, Sony Classical GmbH 1990. „Eugene Onegin“, DVD, Dirigent: Gennadi Rozhdestvensky, Baden-Baden, Arthaus 1998. 20
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