„Eugen Onegin“1

Brief-Szene der Tatjana in
Peter Iljitsch Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“1
Musik ist keine Illusion, sie ist Offenbarung
und darin besteht Ihre sieghafte Kraft […].2
Leben und Wirken von Peter Iljitsch Tschaikowsky
Peter Iljitsch Tschaikowsky wurde im Frühling des Jahres 1840 in Wotkinsk,
einer Bergbaustadt im westlichen Ural, geboren. Peter Iljitsch3 hatte insgesamt
sechs Geschwister. Die Familie war von der Mutterseite stark französisch
geprägt. In seiner Kindheit lernte er gründlich die Sprache seines Urgroßvaters
Michel Marquis d’Assière und spielte gerne stundenlang Klavier. Dank seiner
Gouvernante wissen wir vom besonders sensiblen und verwundbaren
Charakter des Kindes. Nach ihren Erzählungen „[…] ging etwas Zauberhaftes
von ihm aus.“4 Der Elternentscheidung entsprechend musste er mit neunzehn
Jahren die Schule für Rechtswissenschaft absolvieren und wurde im
Justizministerium angestellt. Diese Beschäftigung bereitete ihm nur wenig
Freude. Seine Bedürfnisse nach Musik führten ihn in der Folge doch ins
Petersburger Konservatorium, welches er nach drei Jahren mit einer
Silbermedaille absolvierte. Aus diesen Jahren stammte seine Bekanntschaft zu
Nikolaj Rubinstein, die ihn dann nach Moskau lenkte. Dort unterrichtete er zwölf
Jahre lang Musiktheorie am Moskauer Konservatorium und erhielt eine
Dozentur. Seine ihm bewusste Homosexualität, für die er in der damaligen Welt
1
Es wird in dieser Arbeit auf russische Originaltexte in kyrillischer Schreibung verzichtet.
Sämtliche Übersetzungen sind – soweit nicht anders gekennzeichnet – von der Autorin. Benutzt
wurden folgender Klavierauszug: „Eugene Onegin. Lyric Scenes in three Acts und seven
Scenes. Libretto by Konstantin Shilovsky and Pytor Tchaikovsky“, hg. von David Lloyd-Jones,
London 1993 und aus den Gesammelten Werken Alexander Sergejewitsch Puschkins folgender
Band: СОЧИНЕНИЯ том третий, „Евгений Онегин“,„ Романы и повести“, „Путешествие в
Азрум“, Москва 1962.
Die Transkription russischer Namen und Titel ins Deutsche hält sich an die jüngst erschienene
Monographie von Constantin Floros, „Peter Tschaikowsky“, Reinbek bei Hamburg 2006.
2
Tschaikowsky in einem Brief an Nadeschda von Meck, 5. Dezember 1877, zitiert nach Floros,
S.44.
3
Im Russischen ist es üblich die Menschen mit den beiden Vornamen zu nennen.
4
Zitiert nach Floros, S.12.
1
auf kein Verständnis hoffen durfte, machte ihn ausgesprochen menschenscheu
und oft einsam. In der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konnte
weder von einer Freiheit der Gedanken noch von einer sexuellen Freiheit die
Rede sein. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, war absolut
undenkbar. Beispielweise wurden im Jahre 1849 unter der Regierung von Zar
Nikolaus
dem
Ersten
die
Lehrfächer
Philosophie,
Staatsrecht,
Volkswirtschaftslehre verboten mit der Begründung, dass sie den Staat
gefährdeten. 1861 unter dessen Sohn Zar Alexander dem Zweiten gab es zwar
die so genannte „Bauernbefreiung“, aber Homosexualität blieb weiterhin ein
Tabu. Im § 995 des Russischen Strafgesetz von 1857 hieß es: „Wer des
widernatürlichen Lasters der Päderastie überführt wurde, geht dafür aller
Rechte seiner sozialen Stellung verlustig und wird zwecks Zwangsansiedlung
nach Sibirien verbannt.“5 Diese soziale Ächtung war sicherlich der Grund für
Tschaikowskys Lebensentschluss, um jeden Preis zu heiraten: „Das ist
unvermeidbar.“ schrieb er seinem ebenso homosexuellen Bruder Modest; „Ich
muss es tun und zwar nicht für mich, sondern auch für Dich und für Tolja und
für Sascha und für alle die ich liebe.“6 Das Schicksal bot ihm bald eine
Gelegenheit. Im selben Frühjahr als er an „Eugen Onegin“ arbeitete, erhielt er
eine schriftliche Liebeserklärung von der Musikstudentin Antonina Iwanowna
Miljukowa. Genau wie in Puschkins Roman7 antwortete er darauf, dass er zwar
die Offenheit ihrer reinen Seele ehren würde, sie aber nicht heiraten könnte, da
er zur Ehe nicht taugte. Einige Monate später sagte er doch zu. Die Hochzeit
fand am 6. Juli 1877 statt. Seine rationale Entscheidung sollte er bald bereuen.
Die Ehe wurde von Anfang an zu einer ungeheuren Last. Häufig schrieb
Tschaikowsky in Briefen zu dieser Zeit von Selbstmordgedanken. Nach einem
missglückten Suizidversuch erlitt er einen schweren Nervenzusammenbruch.
Die körperliche und seelische Quälerei endete mit der Trennung der
Ehepartner, doch ließ Tschaikowsky sich nie scheiden.
Die wahrscheinlich wichtigste Beziehung führte Tschaikowsky in einer
14jährigen Briefkorrespondenz mit seiner Mäzenin Nadeschda von Meck. Dank
5
Zitiert nach Floros, S.37; im slawischen Kulturkreis bedeutet Päderastie – im Unterschied zu
den westlichen Kulturen – Homosexualität.
6
Brief an Modest Tschaikowsky vom 19. August 1876, zitiert nach Floros, S.33.
7
Siehe Anmerkung 1.
2
ihrer bedeutenden finanziellen Unterstützung konnte sich der junge Peter Iljitsch
fast ausschließlich seinen Kompositionen widmen. Die reiche Witwe entschloss
sich dazu, ohne ihn je persönlich kennen gelernt zu haben. Sie kannte seine
Musik, seine Briefe und das reichte für ihre Entscheidung, die von enormer
musikgeschichtlicher Bedeutung ist.8
Die Gesamtausgabe von Tschaikowskys Kompositionen umfasst 63
Bände. Die Mehrzahl seiner Werke wurde von literarischen Werken inspiriert.
Als erstes Orchesterstück schrieb er die Ouvertüre „Das Gewitter“, gefolgt von
mehreren
Suiten,
Kammermusiken,
Märschen,
Klavier-
Phantasien,
und
Capricci.
Violinkonzerte,
Dazu
auch
schrieb
er
Kirchenmusiken.
Symphonien komponierte er sein ganzes Leben lang. Die letzte, die Sechste
Symphonie, vollendete er 1893. Tschaikowsky beschränkte sich nie. Der
Umfang und die Vielgestaltigkeit seines Schaffens sind enorm. Er hat uns
Romanzen,
Lieder,
Duette,
Klaviermusik,
Gesänge
und
zahlreiche
Bühnenwerke vererbt. Seiner Schöpfung entsprangen die wahrscheinlich
berühmtesten
Ballette
aller
Zeiten
„Schwanensee“,
„Nussknacker“,
„Dornröschen“. Er komponierte auch eine Schauspielmusik zu Shakespeares
„Hamlet“.
Das Musiktheater war seine größte Leidenschaft, er schrieb nicht
weniger als zehn Opern. Seine frühen Opern „Der Wojewode“, „Undine“, sowie
„Der Opritschnik“ und „Der Schmied Wakula“ entstanden zwischen 1867 und
1874 und werden heute wenig gespielt. Tschaikowsky kannte die Musikliteratur
ganz
Europas
und
die
Werke
seiner
Vorgänger.
Sein
erklärter
Lieblingskomponist war Mozart: „Ihm verdanke ich, dass ich mein Leben der
Musik widmete.“9 „Don Giovanni“ war für Tschaikowsky die Krone der gesamten
Opernliteratur. Die populärsten Opern Tschaikowskys sind „Eugen Onegin“
(1877/78), „Dame Pique“ (1890) und „Mazeppa“ (1881/83). Alle drei gehen auf
Schöpfungen des großen russischen Dichters Alexander Puschkin zurück. „Die
Jungfrau von Orleans“ (1878/1879) schrieb Tschaikowsky nach dem Schauspiel
Friedrich Schillers. Die späten Opern „Pantoffelchen“ (1885), „Die Zauberin“
8
Nadeshda von Meck zahlte Tschaikowsky „ […] eine jährliche Apanage von 6000 Rubel – der
Betrag überstieg sein Gehalt am Moskauer Konservatorium um ein Vielfaches […], Floros, S.42.
9
Brief an Nadeshda von Meck vom 16. März 1878, zitiert nach Floros, S. 135.
3
(1885/87) und „Jolanthe“ (1891) werden heute ebenso selten aufgeführt wie die
frühen.
Peter Iljitsch Tschaikowsky starb am 26. Oktober 1893 in St. Petersburg. Die
Umstände seines Todes sind nie wirklich geklärt worden.10
Das Besondere an Peter Iljitsch war wohl, dass er neben seiner musikalischen
auch eine außergewöhnliche literarische Begabung besaß und Poesie
wortwörtlich und sinnbildlich in Musik übersetzen konnte. Seine Opern zeigen,
dass für ihn der Fluss der emotionalen Logik ebenso bedeutend war wie die
dramaturgische Form eines Werkes. Die Frage, ob eine Komposition von einem
echten Gefühl beseelt sei, machte er zum Kriterium seiner Ästhetik.
La, sotto i giorni nubilosi e brevi,
Nasce una gente a cui l’ morir non dole.11
Alexander Sergejewitsch Puschkin
Der Autor des Versopus „Eugen Onegin“ wurde am 26. Mai 1799 des
Julianischen Kalenders in Moskau geboren. Väterlicherseits stammte er aus
einem alten Adelsgeschlecht. Mütterlicherseits war sein Urgroßvater ein
äthiopischer Sklave, der dem Zaren Peter dem Großen geschenkt und sein
Patenkind wurde. Noch in seiner Jugend wurde Puschkin zum ständigen
Theaterbesucher, er liebte das Drama leidenschaftlich. Die frühe Poesie des
Dichters strahlt seine unstillbare Lebenslust aus, in ihr steckt viel Humor und
Theatralik. Ein Beispiel dafür ist sein Versepos „Ruslan und Ljudmila“ von 1820,
das später als Grundlage der gleichnamigen Oper von Michail Glinka diente.
Wegen des besonderen Melos und der exzellenten Singbarkeit der Texte
wurden viele seiner Verserzählungen und Dramen vertont. Als Mensch der
Freiheit und ausgesprochener Rebell, erlaubte sich Puschkin in seinen
10
Die gängige These ist Selbstmord durch absichtliche Infizierung mit Cholera.
11
„Da, in den nebligen und kurzen Tagen wurden Menschen geboren, denen Sterben kein
Leiden bedeutet.“ Francesco Petrarca, Canzoniere XXVIII, 49, 51; dieses Zitat setzt Puschkin
dem sechsten Kapitel seines „Onegin“ voran.
4
Gedichten mal den Kriegsminister mal den Bildungsminister scharf zu
kritisieren. Mit 21 Jahren musste er sich für einige seiner Spottgedichte
verantworten. Sein bedeutendstes Werk, das von Tschaikowsky vertonte
Versepos „Eugen Onegin“ schrieb er zwischen 1823 und 1830. Zu dieser Zeit
unterlag er der strengen Zensur Nikolaus I. Puschkin reiste viel. Bis 1824 lebte
er an verschiedenen Orten im Süden Russlands, u.a. in Odessa und Chişinău.
Einige Jahre war er bei seinem noch aus Petersburg stammenden Freund,
General Rajewskij, und verliebte sich in dessen Tochter Maria. In dieser Zeit
forderte er 28 Duelle heraus. 1831 heiratete er Natalja Gontscharowa. Im
Winter des Jahres 1836/37 duellierte er sich in Folge einer Intrige mit dem
französischen Gardeoffizier Georges-Charles d'Anthès und wurde dabei durch
einen Bauchschuss schwer verletzt. Zwei Tage später, am 29. Januar 1837
starb er in Sankt Petersburg.
Die berühmtesten Werke Puschkins erleben wir heute häufiger auf der
Opernbühne als im Sprechtheater. Zu seinem Drama „Boris Godunow“
komponierte Mussorgski eine brilliante Opernmusik. Rimski-Korsakow vertonte
„Zar Saltan“, „Das Märchen vom goldenen Hahn“ und das historische Drama
„Mozart und Salieri“; Alexander Sergejewitsch Dargomyschski komponierte die
Oper „Die Meerjungfrau“ nach Puschkins gleichnamigen Drama sowie „Der
steinerne Gast“; „Mazeppa“, „Pique Dame“ und „Eugen Onegin“ brachten
Tschaikowsky Weltruhm.
Puschkin gilt für die meisten seiner Landsleute als d e r russische
Nationaldichter. Bis zum Einmarsch Napoleons in Moskau 1812 sprach die
russische Oberschicht Französisch. Nach dem darauf folgenden Brand
Moskaus fragte man sich, warum man eigentlich die Sprache des Feindes
spräche. Puschkin bereitete in seinen Gedichten, Dramen und Erzählungen der
Verwendung der Muttersprache den Weg; er schuf einen erzählerischen Stil,
der Drama, Romantik und Satire mischte – einen Stil, der seitdem untrennbar
mit der russischen Literatur verbunden ist.
5
Lieben macht uns mutig,
geliebt werden, macht uns stark.12
„Eugen Onegin“
„Eugen Onegin“ ist Tschaikowskys meistgespielte Oper. Bezaubert vom
gleichnamigen Versroman Puschkins und vor allem von der reinen Seele der
jungen schwärmerischen Tatjana, entschließt er sich im Jahre 1877 einige
Szenen des Romans musikalisch zu illustrieren. In einer schlaflosen Nacht
entwirft er die Grundlage für das spätere Libretto, welches der Dichter
Konstantin Schilowsky einrichten sollte. Tschaikowsky beginnt zu komponieren,
obwohl die Endfassung des Textes noch gar nicht fertig ist. Zuerst schreibt er
die musikalisch wichtigste Szene, die Brief-Szene der Tatjana, die ihn auch im
Versopus von Puschkin am meisten fasziniert. Sie sollte als Zweites Bild der
dramaturgische Gipfelpunkt des Ersten Aktes werden. Sie enthält eine
vollständige Charakteristik der Figur. Tschaikowsky streicht nur wenige Zeilen
der Puschkinschen Originalverse. Dadurch dauert die Szene fast eine
Viertelstunde und wirkt wie eine unteilbare Einheit, deren Fluss einfach aus
dem seelischen Zustand des Mädchens entsteht. Tschaikowsky folgt hier der
Logik der poetischen Emotion und schreibt eine Szene, dessen ungewöhnliche
Struktur eine neue opernästhetische Form für das gesamte Werk entwirft.
In „Eugen Onegin“ findet eigentlich keine dramatische Handlung statt,
vielmehr erfahren wir eine komponierte Poesie, „lyrische Szenen“ – wie es
letztlich
in
der
Gattungsbezeichnung
heißt13
–
tiefster
Offenbarung.
Tschaikowsky ging es immer darum, menschliche Konflikte darzustellen, die er
selbst erlebt oder beobachtet hatte. „Ich suche ein intimes, aber starkes Drama,
das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich
im Innersten berühren können.“14
12
Sprichwort.
13
Siehe unten, S.6.
14
Brief an Sergej Tanejew vom 2. Januar 1878, zitiert nach „Peter Tschaikowsky. Eugen
Onegin. Texte, Materialien, Kommentare “ hg. von Attila Csampai und Dietmar Holland,
Reinbek bei Hamburg 1985, S.10.
6
Durch die Korrespondenzen des Komponisten erfahren wir viel über
seine Ansprüche oder Vorstellungen den „Onegin“ betreffend. Er legte
besonders großen Wert darauf, dass die Uraufführungsbesetzung aus jungen
Sängerinnen und Sängern – Studenten vom Konservatorium – bestand. Er
wollte
unbedingt
Schüler,
Jugendliche: „[…],
sie
werden nicht
diese
abscheuliche banale Routine haben, die ich für meine neue Oper am meisten
fürchte.“ Er behauptete das Stück für das Konservatorium geschrieben zu
haben, weil er keine große Bühne wollte. „[…] ich brauche mittlere Sänger, die
gut gedrillt und sicher sind, die zugleich einfach aber gut spielen werden […],
man braucht keine aufwendige Inszenierung und der Kapellmeister soll keine
Maschine sein! […] Ich gebe meinen ‚Onegin’ für keine Güter weder der
Petersburger, noch der Moskauer Direktion, und wenn er am Konservatorium
nicht gegeben wird, dann wird er nirgends gegeben!“.15 Und er setzte diesen
Willen durch. Die Uraufführung von „Eugen Onegin“ fand am 17. März 1879 im
Moskauer Maly-Theater unter der Direktion seines Freundes Nikolaj Rubinstein
statt. Trotz des großen Interesses, hatte die Oper zunächst nur wenig Erfolg.
Die Kritik war nicht begeistert. Die Operngeschichte kannte kein Vorbild für
einen derartigen Wechsel der musikdramatischen Perspektive innerhalb eines
Stückes. Die damals herrschende dramaturgische Form erlaubte eine
Geschichte mit einem Höhepunkt – Anfang und Ende. „Eugen Onegin“ besteht
tatsächlich aus drei kleinen Opern, die sich zu einer fügen. Die Aufzüge sind
ziemlich unabhängig von einander. Jeder einzelne Akt stellt ein kleines
abgeschlossenes Drama für sich dar und im Mittelpunkt der Handlung steht
jeweils eine andere Person. Im Zentrum des Ersten Aktes ist es das
Seelenleben Tatjanas, gefolgt von der Tragödie des Dichters Wladimir Lensky
im Zweiten und von den ausbrechenden Leidenschaften Onegins im letzten Akt.
Dazu kam für die Kritik, dass die Komposition nicht dem italienischen Beispiel
glanzvoller Knalleffekte folgte. Die Handlung ist ungewöhnlich simpel gebaut:
keine ägyptische Prinzessin, kein prächtiger Zar, keine Intrigen, Schlachten
oder Volkaufstände gibt es hier. Und das sollte eine Oper sein? – unerhört! „Ich
pfeife auf Effekte!“, verteidigte sich Tschaikowsky gegen die berühmte Kritik
15
Brief an Konstantin Albrecht vom 3. Dezember 1877, zitiert nach Csampai, S.122ff.
7
Tanejews, „[…] weil ich Menschen brauche und keine Puppen.“16 Er verteidigte
kompromisslos seine Entscheidung, die alltäglichen, einfachen, allgemein
menschlichen Empfindungen auf die Bühne zu stellen. „Möge der ‚Onegin’ eine
sehr langweilige Vorstellung mit einer aus dem Herzen geschriebenen Musik
sein, – das ist alles, was ich wünsche.“17 Nach der Moskauer Premiere am 11.
Januar 1881 in Bolschoi-Theater behaupteten die Zeitungen, die Partie der
Tatjana wäre farblos und trocken. Mehrmals wurde der Komponist wegen der
dramatischen Form angegriffen: Ein Stück mit solcher Struktur verdiente
keineswegs den Namen „Oper“! In die Ecke getrieben, entschied sich
Tschaikowsky letztlich, um die Streitsituation zu beruhigen, seinem Werk den
Untertitel „Lyrische Szenen“ zu geben.
Tatsächlich hatte „Eugen Onegin“ mit dem Begriff „Oper“ des 19.
Jahrhunderts wenig Gemeinsames. Erst die Aufführung im Marinskij-Theater in
St. Petersburg am 19. Oktober 1884 brachte dem Stück die Begeisterung des
Publikums. Durch die steigende Popularität erreichte die Oper endlich die
verdiente Anerkennung. Die deutsche (und deutschsprachige) Erstaufführung
fand am 19. Januar 1892 im Hamburger Stadttheater statt, unter der Leitung
von Gustav Mahler. Heute wird Tschaikowskys „Eugen Onegin“ auf der ganzen
Welt gespielt. Die Oper hat die Popularität des Romans mehrfach übertroffen.
Elle était fille, elle était amoureuse.18
Tatjana Dmitrijewa Larina – Brief-Szene
Die Offenbarung einer Seele
Tatjana war nie ein lustiges verspieltes Mädchen. Eigentlich sind bei ihr
Kindheit
und
Jugend
kaum auseinander zu
halten.
Nach Puschkins
Beschreibungen war sie ein äußerst verschlossenes Kind. Sie lachte nie laut
und spielte nicht beim ,Fangen’ mit. Die Puppen langweilten sie, so wie später
auch die Stadtmode, „[…] sie saß den ganzen Tag schweigend allein am
16
Brief an Sergej Tanejew vom 2. Januar 1878, zitiert nach Csampai, S.125.
17
Brief an Sergej Tanejew vom 24. Januar 1878, zitiert nach Csampai, S.129.
18
„Sie war Mädchen, sie war verliebt.“ Malfilâtre; dieses Zitat setzt Puschkin dem Dritten Kapitel
seines „Onegin“ voran.
8
Fenster.“19 In Tschaikowskys Oper erleben wir einen Teil ihrer Jugend. Die
Figur ist, mit Blick auf Puschkins Roman, von den Textkürzungen, die
Tschaikowsky und Schilowsky vornehmen, am Geringsten betroffen. Tatjanas
Erscheinung in den „Lyrischen Szenen“ entspricht ziemlich genau der
literarischen Vorlage Puschkins. Dort findet man eher seltener konkrete
Angaben, vieles ist der schöpferischen Kraft unserer Phantasie überlassen. Die
„Beschreibungen“ im Roman von Puschkin sind erstaunlich. Sie funktionieren
nach dem Prinzip „Ich sage es euch nicht, ich male es mit Worten und ihr könnt
es sehen“. Er stellt dem Leser seine Protagonisten spontan vor, in dem er über
ihre Interessen, Gesichtszüge, Charaktereigenschaften, Temperamente und
Gewohnheiten humorvoll erzählt. Durch seine außergewöhnliche poetische
Gabe zeichnet er uns die Aura der Menschen. Beispielsweise erzählt er uns
nie, ob Olga groß oder klein ist, ob sie zehn oder zwölf Jahre alt ist, er sagt uns:
Olga war „fröhlich wie ein Morgen […], lieb wie ein Kuss […], alles in ihr
erzählte von Liebesromanen […], aber beschäftigen wir uns mit ihren älteren
Schwester. Sie hieß Tatjana […]“.20 Tschaikowsky vertont dieses Bild
wunderbar: Olga erzählt von sich in ihrer Arie, und sie vergleicht sich mit
Tatjana: „Ah Tanja, Tanja, du träumst immer, ich bin ganz anders – bin lustig
wenn ich die Gesänge höre [...]“.21 Genau so lernen wir auch Tanja kennen.
Verträumt, immer mit einem Roman in der Hand, ihre Teenagerwelt sind
die Bücher. Die Liebesromane sind für sie die reinste Quelle der ersehnten
Heldenromantik, die sie im Alltag vermisst. Sie vertieft sich in die
Liebeskummergeschichten über Sehnsüchte, Leidenschaften und Schmerzen
der Protagonisten, um sie selbst zu erleben. Davon kann sie gar nicht genug
bekommen. Ihre Traumsucht kennt keine Grenzen. Aber man kann Tanja durch
ihre schwärmerische Natur nur oberflächlich charakterisieren, denn die
Lebensrealität ist letztlich ein ebenso wichtiger Faktor, der ihre Persönlichkeit
mitbestimmt. Träume hin und her, „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“22
Tanjas Sein ist eben von allen Seiten geschützt und schon immer gewesen. Sie
19
Siehe Anmerkung 1; Puschkin, „Eugen Onegin“, Kapitel 2, Ende Strophe XXV.
20
Puschkin, „Eugen Onegin“, Kapitel 2, Strophe XXIII.
21
Arie der Olga, Erster Akt, Nr. 3.
22
Sentenz, Karl Marx.
9
hat praktisch kaum die Gelegenheit gehabt, sich mit alltäglichen Problemen
auseinanderzusetzen. Tanja arbeitet nicht, sie ist sehr blass, bewegt sich kaum.
Im Ersten und Zweiten Akt ist sie offenbar sehr jung, vielleicht vierzehn,
vielleicht siebzehn Jahre alt, und das Lesen ist ihre einzige Beschäftigung. Von
weiteren Pflichten erfährt man jedenfalls nichts, weder im Roman noch in den
Lyrischen Szenen. Tanja ist auf dem Land, im Dorf aufgewachsen. Um die
damalige Realität zu vergegenwärtigen: Jede Reise in die Stadt dauerte
ungefähr zwei Wochen – mit der Pferdekutsche. Das Erste Bild der Oper zeigt
uns realistisch fern von jeder Tragik und Theatralik das einfache alltägliche
Leben ihrer Familie. Diese gehört zur mittleren Schicht der russischen
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – zu den so genannten Gutsbesitzern.
Neben dem Haus verfügt die Familie üblicherweise über eine bestimmte Zahl
von Bauern, die zu diesem Gut, beziehungsweise Dmitrij Larin23 gehören und
für ihn lebenslänglich arbeiten. Der Vater Olgas und Tanjas ist dem Roman
nach eine eher unbedeutende Persönlichkeit: Ein Ehemann, der lang schlief
und ungern las, zu den Töchtern hatte er jedenfalls kein besonderes Verhältnis.
Er starb eine gewisse Zeit vor Beginn der Handlung des Opernstückes und
spielt in den Lyrischen Szenen keine Rolle im Gegensatz zu seiner Frau – der
Mutter Larina. Während der Hausarbeit singt sie mit der Amme Filipjewna von
den Zeiten ihrer Jugend, von einem schönen Gardeoffizier, den sie liebte und
wollte, aber doch Dmitrij heiraten und aufs Dorf umziehen musste. „Ah, wie
weinte ich am Anfang, ich habe mich fast scheiden lassen, nahm mich dann
des Haushalts an und gewöhnte mich daran. Ich wurde mit der Zeit zufrieden –
Gott sei Dank!“. Filipjewna kennt und bestätigt ihre Geschichte. Die beiden
beschließen das Thema mit dem Denkspruch „Die Gewöhnung hat uns Gott
gegeben,
sie
ersetzt
das
Glück
im
Leben.“24
Mit
dieser
traurigen
Lebensphilosophie wächst Tatjana auf und übernimmt sie bewusst oder nicht in
ihrem späteren Leben. Diese Einstellung bleibt auch ihr einziger Trost für die
verantwortungsvollen Entscheidungen, die sie als erwachsene Frau im letzten
Aufzug für sich treffen wird. In dem Sinne haben die Erziehung und die
Verhältnisse in ihrer Familie doch gewisse Auswirkungen auf ihren Lebensweg.
23
Bei Puschkin der Vater Tatjanas.
24
Erster Akt, Erstes Bild.
10
Sie ist mit endlos viel Liebe großgezogen worden. Man erkennt das an der Art
und Weise, wie die Frauen der Familie miteinander umgehen. Die Zärtlichkeit,
die Sorge umkreist Tanja in jeder Sekunde, klingt in jeder Silbe und Phrase.
„Mein Täubchen, das Köpfchen gesenkt, warum ist dein Blick zur Erde […]“,
sagt die Amme.25 Dieses Gefühl akkumuliert sich über Jahre in Tatjana und
verbindet
sich
mit
ihren
romantischen
Phantasien
vom
ersehnten
Märchenprinzen. Sie liebt ihn längst bevor er im Ersten Bild erscheint, nur hat
sie ihn nie gesehen. Und jetzt ist er plötzlich da, ihr Herz erkennt ihn sofort.
Lensky stellt den beiden Schwestern seinen Nachbarn Eugen Onegin vor.
Tanja ist von ihm endlos tief überwältigt und verliebt sich blind. Er ist das lang
gesuchte Ideal, der Held ihrer Träume. In Ihrer Unerfahrenheit ist sie auch so
gut wie gar nicht in der Lage wahrzunehmen, dass sie diesen Mann noch nicht
kennt. Eugen findet das junge Mädchen interessant und unterhält sich mit ihr. In
diesem einzigen Gespräch zwischen den beiden sagt sie ihm: „Die
Nachdenklichkeit ist meine Freundin, seit meiner frühsten Kindheit noch.“ Eine
entscheidende Rolle spielt der Eindruck, dass er das kennt: „Verstehe, Sie sind
furchtbar verträumt, ich war auch ebenso.“26 Nach dem Treffen vertieft sie sich
wieder in Gedanken. Alles zieht sie zu ihm. Auf ihn hat sie solange gewartet!
Sie muss Onegin wieder sehen.
Das Zweite Bild beginnt in ihrem Schlafzimmer – dramaturgisch, im
Raum totaler Offenheit und Ehrlichkeit. Unmittelbar vor der Brief-Szene spricht
das Mädchen mit der Amme. Es ähnelt einem Gespräch zwischen Mutter und
Tochter – gewöhnlich hatten die Kinder damals ein besonders enges Verhältnis
zu ihren Ammen. Tanja weiß, sie kann ihr alles anvertrauen, sogar das
Geheimnis ihrer Liebe und fragt verzweifelt nach den Erfahrungen der Amme.
Filipjiewna hatte nie in ihrem Leben die Chance, über ihre Liebe frei zu
entscheiden. Mit dreizehn musste sie den von ihrem Vater vorbestimmten
Bräutigam heiraten. Sie verabschiedet sich und lässt Tanja mit ihren Gedanken
allein im Zimmer.
Die von Tschaikowsky für Orchester komponierte Einleitung der BriefSzene beschreibt besser als Worte die erschütternde Kraft der Sehnsucht
25
Erster Akt, Ende des Ersten Bildes.
26
Erster Akt, Erstes Bild.
11
Tatjanas. Jetzt ist sie allein mit ihrer Liebe. Die ersten 3/4-Takte zeigen, dass die
innere Unruhe und Glut in ihr unbegreiflich stark sind. Gedanken und Gefühle
fließen ineinander. Nach kurzer Überlegung kristallisiert sich leise mit dem
Tempowechsel ihre Idee. Die Steigerung der Emotionen beginnt im 4/4-Takt. Die
Sequenz entwickelt sich stürmisch durch das poco stringendo mit einem
starken crescendo bis hin zu einem fortefortissimo. Die wichtigste Entscheidung
im Stück ist getroffen. Tatjana wird Onegin in einem Brief ihre Gefühle erklären!
Das ist es, und so wird sie es machen. Die Aufregung ist zu stark für das junge
Mädchen. Ihre Emotionen würden sie ersticken, wenn sie sie nicht
aussprechen würde: „Mag sein, dass ich zu Grunde geh, aber zuvor werde ich
das Glück des Lebens kennen lernen, ich werde hoffen, diese dunkle
Glückseligkeit zu erleben! Ich trinke das Zaubergift des Wunsches, die Träume
verfolgen mich und deine Gestalt ist immer, überall vor meinen Augen!“27 Kein
Zweifel ist mehr da – sie wird um ihre Liebe kämpfen. Hier ist die spezifische
Wellenform der Phrase schon deutlich zu erkennen. Jeder musikalische
Gedanken schwingt wie eine Welle bis zum einem Höhepunkt und fließt wieder
zurück. Die Wellen werden immer größer und höher. Im konkreten Fall erhebt
sich die Intonation der Gesangsstimme bis es2, e2, dann bis f2 und kulminiert bei
as2.28 Das ritenuto molto steht auch für das Orchester, aber kein col canto. Die
Singstimme bei Tschaikowsky wird keinesfalls durch ein col canto bei jeder
Kulmination hervorgehoben. Anders als in der italienischen Musik sind hier
Orchester und Sänger gleichberechtigt. Über allen herrscht allein der Sinn der
gesamten Musik.
Jetzt ist es endlich raus, und Tatjana kann besser ihre Vernunft
sammeln, um die Entscheidung zu verwirklichen. Ja, sie will den Brief
schreiben, doch wie genau, weiß sie nicht. Die Musik beruhigt sich langsam und
wird sachlich, Tanja geht zum Schreibtisch, setzt sich hin und fängt an. In der
Oboe ertönt die melancholische d-moll-Melodie des „Schreibens“, nach einer
Weile wird sie plötzlich unterbrochen durch einen Stimmungswechsel nach ADur29: Der Anfang stimmt nicht, und sie zerreißt das Blatt, um neu anzufangen,
27
Zweites Bild, Nr. 9, Allegro non troppo, Buchstabe E.
28
Letzte Takte vor Buchstabe F.
29
Buchstabe F, Takt 9.
12
er muss anders sein. Ihr blasses Gesicht brennt, sie staunt selbst über diese
außergewöhnliche Aufregung und versucht wieder zu beginnen. Diesmal lässt
Tschaikowsky den Fluss ihrer Gedanken ununterbrochenen. Die Brief-Szene
kann als Beispiel reinsten Opernrealismus’ aufgefasst werden. „Das Schreiben“
ist so bildhaft komponiert – jede Zeile ist klar erkennbar, dieselbe Musik
wiederholt sich sogar wenn das Mädchen den Text vorliest. Keine Spur von
Selbstschutz ist in ihrer Liebeserklärung zu finden. Tanjas Offenheit kennt keine
Reserven, das ist eben, was sie so außergewöhnlich macht und bei Onegin
später eine respektvolle Antwort auslöst. In ihrer Jugend und Unerfahrenheit
legt sie einfach alle Karten auf den Tisch. Diese Tat fasziniert das Publikum
heute immer noch, da man zunehmend gewöhnt wird, sich diplomatisch durch
die Welt zu schlängeln und ohne Selbstschutz vollkommen hilflos ist. Die vom
Onegin so bezeichnete „Liebeserklärung ohne Kunst“30 ist nun zu echter
Seltenheit geworden. In unserer heutigen Zeit, dem Zeitalter der digitalen
Kommunikation, trifft man immer seltener Menschen, die mit solcher
faszinierenden Offenheit einem gegenüber auftreten. Und noch seltener findet
sich eine so reine unbefleckte Teenagerseele, die auch noch den Mut besitzt,
auf diese feinsinnige Art jemandem zu sagen: „Jetzt weiß ich, es liegt in Ihrer
Hand, mich mit Verachtung zu bestrafen, doch wenn Sie einen Tropfen Mitleid
mit mir haben, lassen Sie mich nicht im Stich! Erst wollte ich es verschweigen,
glauben Sie mir, Sie hätten es überhaupt nie erfahren […].“31 Für uns,
Menschen des 21. Jahrhunderts klingt das sehr idealistisch, unüberlegt,
verrückt. Wir würden es gar nicht ernst nehmen wollen – oder doch?, Tatjana
aber meint es ernst. Und diese ergreifende Ehrlichkeit strömt durch ihre Musik,
die Gedanken sind so spontan komponiert, als ob sie gerade entstehen würden.
Nach diesen ersten Zeilen legt Tatjana den Brief zur Seite. Ein fließender
Übergang zum accompagnato illustriert auch musikalisch ihre Selbstreflexion.
„Oh ja, ich schwor das Geheimnis meiner Leidenschaft zu bewahren, aber
leider kann ich nicht über meine Seele herrschen! Geschehe mit mir, was mir
30
Erster Akt, Drittes Bild, Nr. 12, Buchstabe W.
31
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe G, Takte 15-24.
13
geschrieben steht, nur Mut, er wird alles erfahren!“32 Sensibel bringt uns
Tschaikowsky zurück zur Melodie des Schreibens. Das schon bekannte
Schreibmotiv erscheint erst unverändert in d-moll, wie am Anfang des Briefes
bei Moderato assai quasi Andante. „Warum, warum haben Sie uns besucht? In
der Einsamkeit des vergessenen Dorfes hätte ich Sie sonst nie kennen gelernt
[…]“.33 Tanja geht in ihren Vermutungen noch weiter: „Wahrscheinlich hätte ich
gelernt, die Erregungen meiner unerfahrenen Seele zu beherrschen, wer weiß?
Mein Herz fände einen Anderen vielleicht, ich wäre seine treue Frau und Mutter
seiner Kinder …“.34 Jetzt spürt sie, dass sie eine Spur zu weit gegangen ist, ihr
ganzes Wesen wehrt sich gegen den verräterischen Gedanken: „einen
Anderen!“. Die Wiederholung ähnelt einem Schrei vor Wut. Sie steht auf, weil
sie sich instinktiv davon distanzieren muss, sie will nie mehr daran denken. Im
folgenden Moderato-Teil ist sie kategorisch. Sie kann keinen Anderen auf der
Welt lieben, der Himmel hat es vorbestimmt, sie gehört Onegin. „Mein ganzes
Leben ist das Pfand dafür, dass ich Dich wieder sehe, Gott hat Dich zu mir
geschickt, mich bis zum Grabe zu beschützen!“.35 Tanja glaubt fest an jedes
Wort, was sie schreibt. Sie wirkt auf uns derartig überzeugend, man könnte
glauben, sie kenne Eugen seit mehreren Jahren. In gewissem Sinne ist es auch
so – sie kennt den Mann ihrer Träume, er lebt schon lange in ihrem
Bewusstsein. Sie nimmt Eugen gar nicht wahr, so wie er ist, nämlich als einen
unbekannter Mann. Sie glaubt vielmehr ihr Ideal endlich gefunden zu haben,
den lange gesuchten Held der Romane.
Im Grunde kann in der Brief-Szene von wahrer Liebe keine Rede sein,
dort klingen ihre Fantasien: „Du bist in meinem Traum erschienen, Du warst mir
lieb, unter Deinem wundervollen Blick wurde ich schwach, in meiner Seelentiefe
klang Deine Stimme!“36 Im piano verbindet Tschaikowsky diese Traumbilder
durch märchenhafte Zauberklänge in Ges-Dur. Das besondere Melos der
32
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Ende Buchstabe G.
33
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe H.
34
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe H-J.
35
Erster Akt, Zweites Bild, Nr .9, Buchstabe J.
36
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe J.
14
russischen Sprache lebt in jeder Phrase. Poesie und Musik verschmelzen zu
einer
Einheit.
Die
Logik
in
Tschaikowskys
Musik
ist
dermaßen
selbstverständlich, dass man sich lediglich in eine einfache Form der Analyse
vertiefen muss, um festzustellen, dass die natürliche Intonation der Dichtung
durch Tempowechsel und
dynamische Differenzierungen
bewusst
und
meisterhaft komponiert worden ist. Der Komponist unterscheidet Realität von
Vision durch einen weichen Tonartenwechsel und dynamischen Kontrast.37 Wie
ein Blitz begreift Tatjana: Diese Bilder sind doch kein Traum, sondern eine
Prophezeiung gewesen. Anschließend ist es ja genau so gekommen: „Im
Augenblick Deiner Erscheinung, habe ich es gewusst, eine Glut durchströmte
mich, ich dachte: das ist er! DAS IST ER!“38 Sie kannte und trug diese Gestalt
der Traumliebe schon immer mit sich – im Alltag, wenn sie betete oder den
Armen half – immer. Das konnte doch nicht nur eine Einbildung von ihr sein,
das musste Onegin sein. Tatjana versucht, sich selbst zu überreden, dass ihre
Fantasien der Wahrheit tatsächlich entsprechen, dass e r sie gewiss verstehen
und diese bestätigen wird. Der Rhythmus der Verse wird in der Musik
übernommen, die Länge der musikalischen Wellen und die Intonation
entsprechen genau den Gedanken und dem Fluss einer rezitierenden
Sprechstimme. Bei aller Überzeugung endet Tanjas Aufregung trotzdem mit
einer Frage „Warst du es nicht, der freudevoll und liebend mir die Worte der
Hoffnung ins Ohr flüsterte?“39 Das Ende der Phrase ist ritenuto, mit einer
Fermate auf dem letzten Ton und bleibt unorchestriert in der Luft hängen. Die
Zukunft wird darauf antworten. Und wenn er sie nicht liebt? … an dieser Stelle
vermutet man eine große Generalpause – notiert ist aber keine, notiert ist das
stumme Einverständnis von Sängerin und Dirigent.
In diesem einzigen Augenblick der Brief-Szene begreift Tanja, was sie
alles riskiert. Die Liebe beflügelt sie, gibt ihr Mut und Hoffnungen und
gleichzeitig verspricht sie ihr keinen Schutz. Sie kann keineswegs sicher sein,
wie Eugen auf das Schreiben reagieren wird. Was weiß sie denn von ihm? Wer
ist er? Wird er ihre Gefühle verstehen können oder sie ausnützen …? Sie legt
37
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe K.
38
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, Buchstabe L.
39
Buchstabe L, Andante.
15
den Brief wieder bei Seite, um die verunsichernden Fragen und düstren
Vermutungen auszusprechen „Wer bist Du – mein Schutzengel, oder
heimtückischer Verführer? Löse meine Zweifel! Vielleicht ist das alles ein
Unsinn, ein Irrtum meiner unerfahrenen Seele, und es ist ganz anders
vorbestimmt …?“40; vielleicht ist es so, antwortet wie ein Echo allein die
abklingende Orchestermelodie.
Das anschließende Molto piu mosso verkündet die tapfere Bereitschaft,
zu ihrer Entscheidung zu stehen. Damit beginnt auch die größte musikalische
Welle – die Kulmination der ganzen Szene.41 Für Tatjana gibt es kein Zurück
mehr, jetzt überlässt sie alles Onegin: „So soll es sein, ich lege mein Schicksal
in Deine Hand, ich weine vor dir und fleh dich an, mich zu beschützen!“; im
Tempo I steigert sich ihr Flehen. Er ist ja der erste Mensch, der von ihr etwas
verstanden hat, also, glaubt sie, kann sie ihm alles vertrauen. Mit
erschütternder Offenheit, ohne Grenzen, sie schreibt von ihrer Welt: „Stell dir
vor ich bin hier allein und keiner versteht mich, mein Verstand schafft es nicht
mehr! Ich erwarte Dich, ICH ERWARTE DICH! Belebe mit einem Wort die
Hoffnung meines Herzens oder beende diesen schweren Traum mit dem
verdienten Vorwurf!“ Die Phrase kulminiert mehrfach in ihrer Fortschreitung,
nach einem Höhepunkt folgt eine weitere Entwicklung der Emotion, bei Tempo I
beginnt die Steigerung ins Più mosso, das noch mal zusätzlich akzeleriert wird.
Diese enorme Welle löst sich in der tiefen Sopranlage auf mit den grausamen
Gedanken an einen verdienten Vorwurf des unerlaubten Liebesgeständnisses.
Mit gewaltiger Kraft wiederholt sich das Thema im Tutti-Orchester.42 Die
Orchestrierung erreicht ihre Grenzen. Die immer sich wieder aufbauende Welle
bricht hier und entlädt ungeheure Energien und natürlich klingen diese nicht so
schnell ab, Tschaikowsky verwandelt sie allmählich in sachliche Akkorde in
nüchterndem A-Dur. Mit dem Ertönen dieser Tonart ist der Brief vollendet.
Tatjana steht auf und faltet ihn. Beim Gedanken, was sie gerade geschrieben
hat, traut sie sich nicht, den Brief nochmals zu lesen. „[…] aber ich verlasse
mich auf seine Ehre und mutig vertraue ich ihr alles!“ Hier endet die Brief40
Erster Akt, Zweites Bild, Nr. 9, letzte Takte vor M.
41
M bis N.
42
Die ersten 21 Takte Buchstabe N, Tempo I, Orchester allein.
16
Szene und die Nacht ist vorbei. Durchs Fenster lächeln die erste Strahlen der
Morgensonne. Tanja hat die Zeit nicht gespürt. Wahnsinnig aufgeregt übergibt
sie den Brief ihrer Amme, sie soll ihn weiterleiten. Filipjewna staunt über Tanjas
Auftrag, aber noch mehr über ihr Gesicht. Sie ist nicht mehr so blass, die Augen
strahlen, so schön ist sie nie gewesen!
Die alltäglichen Volksszenen und festlichen Gesänge im Dritten Bild des
Ersten Aktes erinnern uns wieder an Tatjanas Umgebung. Die vergehende Zeit
ist für sie mit Hoffnungen aber auch mit schwarzen Ängsten erfüllt. Was wird er
sagen? Die Antwort folgt sogleich in diesem letzten Bild des Ersten Aktes. Die
schlimmste Furcht des Mädchens ist, ausgelacht zu werden, doch das passiert
ihr nicht. Onegin erklärt ihr respektvoll seine Gefühle und Gedanken auf Grund
seiner Lebenserfahrung. Wenn er heiraten würde, wünschte er sich eine Frau
wie Tatjana Larina, doch er wäre nicht für die Ehe gemacht und das
gemeinsame Leben würde zu Qual. Mit ihm würde sie nie glücklich. Sein
Ratschlag lautet: „Lernen sie sich zu beherrschen, nicht jeder wird sie so
verstehen
und
aus
Unerfahrenheit,
kann
leicht
etwas
Gefährliches
43
geschehen.“
Für ein junges verliebtes Mädchen kann es gar nicht peinlicher sein. Er
weiß jetzt alles, hat ihren Brief gelesen und erwidert ihre Gefühle nicht. Seine
Antwort ist keinesfalls entwürdigend; Onegins Erklärung klingt sogar ziemlich
nachvollziehbar, aber Tatjana hört nur die Absage: Er will sie nicht, aus welchen
Gründen auch immer. Es ist so beleidigend, so schmerzhaft, sie fühlt sich
miserabel. Sie ist sprachlos.
Die Ohrfeige ist heftig, als Eugen – im Zweiten Akt – an ihrem
Namenstag erscheint, kann sie ihm nicht in die Augen schauen. Höflich bedankt
sie sich bei allen für die netten Geschenke, aber die ganze Aufmerksamkeit
kann ihr die ersehnte Liebe nicht ersetzen. Sie muss nun beobachten wie
Eugen mit ihrer Schwester flirtet. Sie versteht ihn nicht mehr, warum verletzt er
seinen Freund Lensky? Dieser kann seine Eifersucht nicht mehr beherrschen,
sie bringt ihm schließlich den Tod im Duell mit Onegin.
Zwischen den Aufzügen zwei und drei der Oper geschieht in Puschkins
Versroman einiges, was auf Tatjanas Figur im letzten Akt eine besondere
43
Buchstabe Z.
17
Auswirkung hat. Nach dem Duell mit Lensky verlässt Onegin das Dorfleben und
macht sich auf den Weg, um die traurigen Ereignisse zu vergessen. Tatjana
besucht mehrmals das Haus, in dem er gewohnt hat. Die Möglichkeit über ihn
etwas zu erfahren, gibt ihr einen Teil des verlorenen Traums zurück. Sie sitzt
stundenlang in seinem Zimmer, liest seine Bücher und Notizen – daher ihr
selbstbewusstes Auftreten im letzten Akt. Die über Jahre gesammelten
Lebenserfahrungen sind nicht der einzige Grund dafür. Sie kennt Eugen Onegin
ziemlich gut. Sie hat „seine“ Welt kennen gelernt, noch mehr, sie hat bewiesen,
dass sie sich da einleben kann. Die Mädchenträume sind ausgeträumt. Tatjana
rechnet nicht damit, den Helden ihrer Jugend wieder zu treffen. Nach Lenskys
Tot vermählt sich ihre Schwester Olga und verabschiedet sich von der Familie.
Die Mutter Larina verlässt ihr Gut und verreist mit ihrer Tochter Tanja nach
Moskau, denn auch sie muss ihren Weg im Leben finden.
Im Opernstück entwickelt sich die Geschichte in St. Petersburg weiter.
Dort trifft Tanja den Fürsten Gremin und wird seine Frau. Dadurch erkämpft sie
sich eine bedeutende Position im höchsten Milieu der aristokratischen
Gesellschaft. Doch wirklich glücklich ist sie nicht. Wie ihre Mutter im Ersten Bild
singt: „Die Gewöhnung hat uns Gott gegeben, sie ersetzt das Glück im
Leben.“44 Im letzten Akt der Lyrischen Szenen führt das Schicksal Tatjana und
Eugen wieder zusammen, bei einem Ball in St. Petersburg. Das mutige
Mädchen hat sich in eine umwerfend schöne Frau verwandelt. Tatjana
beherrscht sich und zeigt keinerlei Erregung beim Wiedersehen. Eugen verliebt
sich in die königliche Ausstrahlung der jungen Frau, jetzt will er sie, doch sie
gehört dem Fürsten. Eugen muss sich dessen Begeisterung anhören, Gremin
liebt und verehrt seine Frau, er ist wahnsinnig stolz auf sie. Dazu kommt ihre
Missachtung: Tatjana erblickt Onegin ruhig und begrüßt ihn höflich. Nach
einigen unbedeutenden Fragen und Antworten verabschiedet sie sich, ohne
weiteres Interesse für ihn zu zeigen. Zutiefst ergriffen entscheidet Eugen, um
sie zu kämpfen. Ehrgeiz und Begeisterung brennen in seinem Herz. Er bereut
alles und erklärt ihr offen seine Gefühle. „Ah“, sagt sie, „das Glück war greifbar,
so nah bei uns!“45 Tatjana liebt ihn noch, doch es ist zu spät, sie ist verheiratet,
44
Siehe Anmerkung 24.
45
Klavierauszug, Dritter Akt, letztes Bild, Buchstabe L.
18
sie wird treu bleiben „mein Schicksal ist schon entschieden, ich bitte sie, sie
müssen mich ich Ruhe lassen!“46 Sie verlangt von ihm, auf die unmögliche
Liebe zu verzichten. Auch als er ihre Knie umarmt, bleibt Tatjana unerbittlich.
Sie verabschiedet sich und lässt Onegin keine andere Wahl, als ihre endgültige
Entscheidung zu akzeptieren.
Hier endet Puschkins Erzählung vom Seelenleben eines Mädchens, das
sich in eine junge Frau verwandelt. Ursprünglich wollte Tschaikowsky die Oper
anders enden lassen47, doch letztlich entschließt er sich, Puschkins
Originalschluss zu belassen. Tatjana Larina verkörpert für ihn das eigene
Streben nach der nie erlebten, doch so sehr ersehnten Liebe. Ähnlich wie sie,
entschied sich Peter Iljitsch für die Gewöhnung – ein Ersatz des Glückes.
Ausgehend von Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ habe ich versucht
zu beschreiben, dass Tschaikowsky in der berühmten Brief-Szene der Tatjana
eine sehr individuelle, differenzierende Kompositionsweise anwandte, die mit
traditionellen Formen wenig gemein hat, die eng an die literarische Vorlage
gebunden ist und den ständig wechselnden Gedanken und Gefühlen Tatjanas
gerecht wird. Für die sensible, gefühlvolle Darstellung dieser Musik braucht jede
Sängerin die gesamte Farbpalette ihrer Stimme, ihre ganze emotionale
Intelligenz und vor allem ein großes Herz.
46
Klavierauszug, Dritter Akt , letztes Bild, Buchstabe L.
47
Siehe Csampai, S. 116: Tatjana gibt nach und fällt Onegin in die Arme. Fürst Gremin tritt ein.
Als ihn Tatjana sieht, fällt sie mit einem Schrei ohnmächtig in dessen Arme. Der Fürst macht
Onegin ein gebieterisches Zeichen sich zu entfernen.
19
Nachweise
A
Quellen
Peter Tschaikowsky, „Eugene Onegin. Lyric Scenes in three Acts und seven
Scenes. Libretto by Konstantin Shilovsky and Pytor Tchaikovsky“, hg. von David
Lloyd-Jones, London 1993.
Alexander Sergejewitsch Puschkin, СОЧИНЕНИЯ том третий, „Евгений
Онегин“,„ Романы и повести“, „Путешествие в Азрум“, Москва 1962.
Alexander S. Puschkin, “Eugen Onegin. Ein Roman in Versen“, Übersetzung
und Nachwort von Kay Borowsky, Stuttgart 1972.
B
Sekundärliteratur
„dtv-Atlas zur Weltgschichte. Karten und chronologischer Abriss. Von der
Französischen Revolution bis zur Gegenwart“, Band 2, München 1991.
Iwan Knorr, „Peter Iljitsch Tschaikowsky“, Berlin 1900.
„Peter Tschaikowsky. Eugen Onegin. Texte. Materialien, Kommentare“, hg. von
Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1985.
Constantin Floros, „Peter Tschaikowsky“, Reinbek bei Hamburg 2006.
C
Diskographie
„Tchaikovsky. Eugene Onegin“, CD, Dirigent: Emil Tchakarov, Sofia, Sony
Classical GmbH 1990.
„Eugene Onegin“, DVD, Dirigent: Gennadi Rozhdestvensky, Baden-Baden,
Arthaus 1998.
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