SWR2 OPER Moderationsmanuskript von Ulla Zierau Peter Tschaikowsky: „Eugen Onegin“ Sonntag, 10.04.2016, 20.03 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. 1 Heute Abend sind wir zu Gast im Königlichen Opernhaus Covent Garden in London und zugleich in Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wir begleiten einen jungen Adligen, einen verwöhnten Dandy durchs gesellschaftliche Leben. Eugen Onegin. Das gleichnamige Versepos des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin hat Peter Tschaikowsky als lyrische Szenen in drei Akten vertont. Das Bühnenwerk gilt bis heute als seine populärste und meist gespielte Oper, ein Meilenstein im russischen Musiktheater. Am 2. Januar dieses Jahres wurde „Eugen Onegin“ an der Königlichen Oper Covent Garden in London gegeben. In den Hauptrollen Nicole Car als Tatjana, Oksana Volkova als Olga, Dmitri Hvorostovsky als Eugen Onegin und Michael Fabiano als Lenski. Die musikalische Leitung hat Semyon Bychkov. Wir senden in SWR2 einen Live-Mitschnitt. Der junge Eugen Onegin führt in St. Petersburg um 1830 das Leben eines Dandys: Bälle, Vergnügungen, Glücksspiele und Frauen. Dann erbt er unerwartet das Landgut seines Onkels und zieht sich aus der Petersburger Schickeria zurück. Auf dem Land spielt er Billard, liest am liebsten Byron, flaniert, zeichnet und trinkt leidenschaftlich gern Champagner. Unter seinen Nachbarn lernt er den Dichter Vladimir Lenski kennen. Die beiden freunden sich an. Lenski nimmt Onegin mit zu seiner Verlobten Olga und deren Familie, die auf einem ländlichen Anwesen nach alter russischer Tradition lebt. Die Töchter Olga und Tatjana sind begeistert von dem Neuankömmling. Die schüchterne, verträumte, ja ein wenig melancholische Tatjana verliebt sich in Onegin, bewundert ihn, himmelt ihn an. In einem romantischen Brief gesteht sie ihm ihre Liebe. Dieser Brief ist einer der Höhepunkte des Romans, überhaupt einer der Höhepunkte des Puschkin‘schen Werks, angeblich soll jedes Schulkind in Russland diesen Text auswendig können. Und diese Briefszene ist auch lyrisches Glanzlicht in Tschaikowskys Oper, die rund 50 Jahre nach dem Roman entstanden ist. Über Tatjana, der sich Tschaikowsky seelenverwandt fühlt, schreibt der Komponist: „Puschkin hat die Kraft dieser jungfräulichen Liebe mit einer Genialität geschildert, dass ich – schon von Kindheit an – stets bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele gerührt wurde. Wenn wirklich das Feuer der Inspiration in mir brannte, als ich die Briefszene komponierte, so hat Puschkin dieses Feuer angezündet, und ich will Ihnen offen, ohne jede übertriebene Bescheidenheit und bei vollem Bewusstsein sagen, dass ich zufrieden und stolz wäre, wenn in meiner Musik auch nur ein Zehntel der im Sujet selbst enthaltenen Schönheit läge“, so Tschaikowsky über Tatjanas Briefszene im zweiten Bild des ersten Aktes seiner Oper, tatsächlich eine seiner ergreifendsten, emotionalsten, ja schönsten Opernmomente. In unserer Aufnahme aus dem Royal Opera House Covent Garden singt die junge australische Sopranistin Nicole Car die Tatjana, ihr zur Seite ihre Schwester Olga, Oksana Volkova und die Amme Filippewna, gesungen von Catherine Wyn-Rogers und wie bitter ist dann am Ende des ersten Aktes die Enttäuschung, als Eugen Onegin Tatjanas Gefühle kühl zurückweist und sie vor weiteren Gefühlsäußerungen warnt. Für die junge Frau bricht eine Welt zusammen. „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowsky, der erste Akt in SWR2 Opernabend. (über dem Auftritts-Beifall nennt die englische Moderatorin den Dirigenten…) „Eugen Onegin“, 1. Akt = 71‘03“ „Eugen Onegin“, Lyrische Szenen in 3 Akten und 7 Bildern von Peter Tschaikowsky mit einem Libretto von Konstantin Stepanowitsch Schilowski nach dem Roman von Alexander Puschkin. Wir senden in SWR2 einen live-Mitschnitt vom 2. Januar dieses Jahres aus dem Opernhaus Covent Garden in London. Dort ging es ohne Pause gleich mit dem zweiten Akt weiter, 2 deswegen auch kein Beifall an dieser Stelle. Wir schauen kurz auf die weiteren inhaltlichen Ereignisse: Hoffnungsvoll hat Tatjana Onegin in dem berühmten Brief ihre Liebe gestanden und was macht er, nachdem er die Zeilen gelesen hat, er gibt ihr kaltherzig einen Korb. Er sei nicht bereit für eine tiefere Beziehung und sie solle sich nicht zu solchen Emotionen hinreißen lassen. Sagt es, dreht sich um und geht fort, kurz darauf – im zweiten Akt der Oper - flirtet Onegin auf einem Fest im Hause der Familie Larin heftig mit Olga, der Schwester Tatjanas, die aber mit Lenski liiert ist und schon gerät die Männerfreundschaft heftig ins Wanken. Eifersüchtig beobachtet Lenski, wie Olga und Onegin einen Tanz nach dem anderen gemeinsam aufs Parkett legen. Erzürnt stellt Lenski seine Verlobte zur Rede, es kommt zu einem Streit, den der französische Tanzmeister Trike mit einem Lied in gebrochenem Russisch zur allgemeinen Erheiterung unterbricht. Doch Onegin lässt nicht locker, er fordert Olga zum Cotillon auf und es kommt erneut zu Eifersuchtsszenen zwischen ihm und Lenski. In Wut und Rage fordert Lenski Genugtuung und verlässt erbost das Haus. Die vergnügte Stimmung des Festes ist zerstört. An einem frühen Wintermorgen treffen sich die beiden Herren in der Nähe einer abgelegenen Mühle zum Duell. Wehmütig gedenkt Lenski in seiner berühmten Arie seiner geliebten Olga, „Wohin seid ihr entschwunden ... Was wird der nächste Tag mir bringen“, fragt Lenski. Eigentlich ist der Hass zwischen beiden Männern verflogen, dennoch treten sie sich mit Waffen in der Hand gegenüber. Im Duell wird Lenski tödlich verletzt. Dasselbe Schicksal ereilt übrigens auch den Dichter Puschkin. Mit nur 37 Jahren stirbt er nach einem Eifersuchtsdrama an den Folgen eines Bauchschusses. Im SWR2 Opernabend nun der zweite Akt aus Peter Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“ – ein live Mitschnitt aus dem Königlichen Opernhaus Covent Garden. Mit Diana Montague als Gutsbesitzerin Larina, Nicole Car als ihre Tochter, Tatjana, Oksana Volkova als Tatjanas Schwester Olga Dmitri Hvorostovsky als Eugen Onegin: Michael Fabiano als Lenski Jean-Paul Fouchécourt als französischer Tanzmeister Trike Semyon Bychkov leitet Chor und Orchester von Covent Garden. „Eugen Onegin“, 2. Akt = 40‘48“ Peter Tschaikowsky: „Eugen Onegin“ in SWR2 in einem live Mitschnitt aus dem Königlichen Opernhaus Covent Garden in London vom Januar dieses Jahres. Tschaikowsky schreibt die Oper auf dem Zenit seiner kompositorischen Laufbahn. Eine Sängerin hat ihn auf den Stoff des „Eugen Onegin“ aufmerksam gemacht, erst traut er sich gar nicht so recht an Puschkins Roman heran, findet die Idee wahnwitzig, doch dann besorgt er sich den Onegin, „las ihn mit Begeisterung und verbrachte eine völlig schlaflose Nacht“, so erinnert er sich. Puschkin zeichnet in „Eugen Onegin“ ein Gesellschaftsbild des russischen Adels Anfang des 19. Jahrhunderts. Er bildet eine Epoche ab und entwirft dabei charakterstarke Personen. Mit brillanten Versen in einer Sprache zwischen Seriosität und Banalität, so sagen es die russischen Literaturwissenschaftler, verleiht er den Figuren individuelle Züge, verwebt die 3 Situationen und Handlungsmomente spielerisch miteinander. Immer wieder erzeugt er mit Ironie und Selbstironie Raum für distanzierte Betrachtungen. Es ist bemerkenswert, dass Puschkin mit dieser lyrischen, antiquiert wirkenden Versform die Grundlage für die moderne Epik geschaffen hat. Puschkins Zeitgenosse, der Literaturkritiker Belinsky, nennt den Roman „eine Enzyklopädie des russischen Lebens“ – auf den Adel trifft es sicher zu und somit auch auf den jungen Puschkin, der in den Figuren Lenski und Onegin eigene Ansichten, Charaktereigenschaften und Erfahrungen wiedergibt. Bei Tschaikowsky ist es ähnlich, auch er spiegelt sich in den Figuren seiner Oper, wenngleich seine emotionalen Neigungen anders geartet sind. Während Puschkin seine sexuelle Leidenschaft offen, ja geradezu ausufernd auskostet, hält Tschaikowsky seine Gefühle und Bedürfnisse zurück. Zeit seines Lebens leidet er unter seiner homosexuellen Neigung, die er nicht frei äußern kann. Ein Martyrium für den sensiblen Komponisten, der mit der unglücklichen Liebe seiner Protagonisten extrem mitfühlt, nicht nur mit Tatjana, sondern auch mit dem fiebernden Onegin, der nachdem er Tatjana im dritten Akt der Oper auf einem Ball wiedergesehen hat, wie von Sinnen ist. Tschaikowsky wählt für das Libretto nur einen Ausschnitt, eine Ebene aus Puschkins Roman, die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das gesellschaftspolitische Umfeld interessiert ihn weniger. Puschkins Ironie bleibt ihm fremd, aus dem spöttischen, zynischen Onegin des Romans wird ein romantischer Opernheld. Mit viel Empathie wirft sich Tschaikowsky in den Stoff, fühlt mit den Personen, nimmt an deren Schicksal Anteil. Er steckt 1877 selbst mitten in starken Gefühlswallungen. Es ist sein Schicksalsjahr, in dem zwei Frauen sein Leben verändern. Er tritt in den anregenden, intensiven Briefkontakt zu seiner Gönnerin Nadeschda von Meck und er heiratet Antonia Miljukowa. Die junge Antonia macht ihm Avancen, schreibt ihm Briefe, möchte ihn treffen. Tschaikowsky ist verunsichert, weist sie zunächst ab. Doch nach der Lektüre des Eugen Onegin, der literarischen Begegnung mit Tatjana denkt er über seine Beziehung zu Antonia noch einmal nach. Er trifft sich mit ihr, macht ihr klar, dass er sie nicht lieben kann, bietet ihr aber völlig überraschend die Ehe an, allerdings nur auf dem Papier, mehr als eine platonische Beziehung könne es nicht sein. Antonia willigt ein und ist sich sicher, wenn sie erst mal verheiratet ist, ihren Mann doch noch mit Herz und Körper für sich zu gewinnen. Im Juli 1877 heiratet Tschaikowsky Antonia Miljukowa, empfindet aber nichts für sie. Die Vorstellung, mit ihr leben zu müssen, ist ihm ein Gräuel. Dem Wahnsinn nahe, trägt er sich mit Selbstmordgedanken, steigt ins eiskalte Wasser und flieht. Nach wenigen Tagen ist die Ehe, die nie eine war, gescheitert, geschieden wird sie nicht, doch wiedergesehen haben sich die beiden nie mehr. Tschaikowsky hat in „Eugen Onegin“ also nicht nur seine Begeisterung für Puschkins Figuren verarbeitet, sondern auch sein eigenes Seelenleben. Anfangs wird Tschaikowsky Oper von den führenden russischen Theatern abgelehnt. Sie passt nicht ins kaiserliche Konzept, da sie weder historisch noch volkstümlich komisch ist, sondern mitten aus dem Leben gegriffen ist. Zudem bringt sie einen Duelltod auf die Bühne, ein Schicksal, das der Dichter Puschkin selbst erlitten hat, also ein brisantes Thema. Doch allmählich wird der Wert der Oper erkannt, wird sie in ganz Russland gefeiert. Zar Alexander III. kürte „Eugen Onegin“ zu seiner Lieblingsoper, sie wird zur Ikone der neuen, realitätsnahen russischen Oper. 4 Ein Jahr vor seinem Tod erlebt Tschaikowsky die 100. Vorstellung, ein bis dahin unvergleichliches Ereignis und es ist ihm zu verdanken, dass Puschkins Roman über die Grenzen hinaus, weltweit populär geworden ist, wenngleich Oper und Roman nicht allzu viel gemeinsam haben. Dennoch ist es eine geniale Symbiose zwischen dem Dichter und dem Komponisten. Kommen wir in SWR2 zum dritten Akt der Oper. Nach dem Duell, das für Lenski tödlich endet, ist es vorbei mit den gesellschaftlichen Treffen bei den Larins. Von Gewissensbissen geplagt, verlässt Onegin sein Landgut. Tatjana trauert ihm nach, geht in seine Bibliothek, liest in seinen Büchern, sehnt sich ihn herbei. Junge Männer, die an ihr interessiert sind, weist sie ab. Erst auf Druck der Mutter wird sie mit einem älteren General, dem Fürsten Gremin verheiratet, und nimmt die Rolle einer perfekten Gesellschaftsdame ein. Nach Jahren begegnen sich Onegin und Tatjana auf einem Ball im Hause Gremins in Petersburg wieder, mit einer schwungvollen Polonaise beginnt der dritte Akt der Oper. Onegin, nach wie vor orientierungslos, gelangweilt, ein Müßiggänger ist wie verzaubert von ihr. Während eines Gesprächs mit dem Fürsten Gremin äußert der in einer ergreifenden Arie, gesungen von Ferruccio Furlanetto seine tiefe Liebe zu Tatjana. Erst jetzt, als Tatjana die Frau eines anderen geworden ist, erkennt Onegin seine wahren Empfindungen für sie. In einem temperamentvollen Gefühlsausbruch fragt er sich; ist das wirklich dieselbe Tatjana von damals. Er wirbt mächtig um sie, ist verliebt wie ein kleiner Junge, verfolgt sie, schreibt Briefe, die unbeantwortet bleiben. In einem kurzen Moment der Zweisamkeit gestehen sich beide ihre Liebe, schwelgen in Erinnerungen. Es sind flammende Liebesbekenntnisse und eine Achterbahn der Gefühle, dramatischer Höhepunkt und Finale der Oper. Tatjana bleibt standhaft, erinnert Onegin an sein einstiges abweisendes Verhalten und hält ihrem Gatten, dem Grafen Gremin die Treue. Am Ende verlässt sie Onegin und er zergeht vor Schmerz. In höchster Verzweiflung stürzt er davon. „Eugen Onegin“, 3. Akt = 35‘27“ 5
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