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ls John Crankos Onegin, basierend auf Alexander Puschkins Versepos, zu einer von Kurt-Heinz Stolze arrangierten Musik aus Kompositionen Peter Iljitsch Tschaikowskys 1965 in Stuttgart uraufgeführt wurde, war nicht absehbar, dass dieses Ballett ein halbes Jahrhundert später als
exemplarisches Meisterwerk des Handlungsballetts im 20.
Jahrhundert gelten würde. Cranko revidierte seine Choreografie mehrmals, bis schließlich 1967 jene Fassung entstand, die
sich im Repertoire vieler bedeutender Ballettcompagnien etablieren konnte. Im Februar und März wird Onegin vom Wiener
Staatsballett in der Wiener Staatsoper wieder aufgenommen.
Das Ballett steht und fällt mit seinen fünf Protagonisten,
auch wenn darüber hinaus das Ensemble in Szenen auf dem
Land und in der Stadt in unterschiedlichen Stilen gefordert ist.
Der Spielraum für persönliche Rolleninterpretationen ist groß.
Nicht zuletzt dadurch ist es möglich, dass viele Choreografien
des 1973 mit nur 45 Jahren verstorbenen John Cranko bis
heute so frisch wirken.
Opernfreunde mag zudem interessieren, dass Cranko, der
bereits 1952 die Tanzeinlagen zu Tschaikowskys Oper Eugen
Onegin choreografierte und schon damals an ein eigenes Bal-
lett dachte, manche Aspekte aus Puschkins literarischer Vorlage in ein neues Licht rückte. Lenski wird aufgewertet, Olga
und Tatjana kommen als Zeugen zum Duell, bei dem Onegin
seinen Freund Lenski erschießt. Interessant ist auch, dass
Cranko keine Musik aus Tschaikowskys Oper wählte, sondern
hauptsächlich Klavierstücke sowie Ausschnitte aus den beiden
Orchesterfantasien Francesca da Rimini und Romeo und Julia.
Im Mittelpunkt stehen Tatjana und Onegin. Tatjana lebt
auf dem Land und verliebt sich in den aus der Stadt kommenden Mann. In der berühmten Briefszene gesteht sie ihm ihre
Zuneigung, die er brüsk zurückweist. Jahre später begegnen
sie sich wieder. Tatjana ist mittlerweile mit dem angesehenen
Fürsten Gremin verheiratet, den bei der Wiederaufnahme in
der Staatsoper Kirill Kourlaev tanzen wird. Diesmal ist sie es,
die Onegin zurückweist, der sie mit seiner Liebe bedrängt.
Diese Umkehrung der Gefühle vermittelt Cranko in den beiden Pas de deux am Ende des ersten und dritten Aktes besonders eindringlich. Im ersten Pas de deux träumt Tatjana von
der Erfüllung ihrer Liebe, gibt sich ihren Emotionen und Illusionen hin, während am Ende ihre Vernunft über ihre Leidenschaft siegt.
FOTO: WIENER STAATSOPER / MICHAEL PÖHN
WIENER STAATSOPER
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Unerfüllte Leidenschaften
ONEGIN. John Crankos Ballett nach Puschkin ist
wieder in der Wiener Staatsoper zu sehen.
Das Wiener Staatsballett verfügt über Tänzerpersönlichkeiten, die Onegin nicht nur ausgezeichnet zu tanzen verstehen,
sondern auch darstellerisch viel zu bieten haben. Nina Poláková: „Tatjana zählt zu meinen Lieblingsrollen. Das großartige
Ballett zeigt eine ganze Reihe von Emotionen und eine äußerst
dramatische Geschichte.“ Wer ist Onegin in den Augen Tatjanas? „Der Held ihrer Lieblingsromane, die ihrem monotonen
Leben auf dem Lande Farbe verleihen.“
Den stolzen und selbstgefälligen Onegin tanzt Roman Lazik: „Onegin ist eine Traumrolle für jeden Tänzer, eine Liebesge-
ONEGIN: Roman Lazik als
Onegin und Nina
Poláková als Tatjana in John Crankos Choreografie.
schichte voller Leidenschaft und Schmerz. Wann immer ich
diese Rolle tanze, lebe ich all diese Emotionen voll aus. Das Gefühl am Ende der Vorstellung ist in seiner Intensität nahezu unbeschreiblich.“
Diesem Paar, das nicht zueinander finden kann, stehen Onegins Freund Lenski und dessen Verlobte Olga,Tatjanas Schwester, zunächst als unbeschwerte, glückliche, in der Wirklichkeit
verwurzelte Liebende gegenüber. Ein Gegenmodell also, das
Cranko choreografisch deutlich von Tatjana und Onegin unterscheidet. Doch Onegin stört auch deren Glück. Er flirtet mit
Olga und wird vom brüskierten Lenski zum Duell gefordert. Kiyoka Hashimoto über Olga: „Es gefällt Olga, unbeschwert mit
Onegin zu tanzen, wie ein unschuldiges Kind. Erst nachdem
Lenski von Onegin erschossen wurde, erkennt sie die Tiefe der
Beziehung. Ihr Herz ist von Trauer und großem Schmerz erfüllt.“ Lenskis Tod verändert alles. Ab nun wird das Ballett von
einer melancholischen Grundstimmung durchzogen.
Eine besondere Beziehung zur Rolle des Lenski hat der aus
Donezk in der Ukraine stammende Denys Cherevychko: „Für
mich ist Lenski ein junger, talentierter, gebildeter, romantischer
Dichter, dessen Emotionen für Olga so stark sind, dass sie ihm
letzten Endes den Tod bringen. Ich bin davon überzeugt, dass
diese Rolle perfekt zu mir passt. Das Innenleben Lenskis, seine
Fähigkeit zur Liebe, seine Bereitschaft sich zu öffnen und mit
anderen zu empfinden – das ist mir sehr ähnlich.“
Natürlich ist sich Cherevychko bewusst, dass Onegin das 19.
Jahrhundert widerspiegelt: „Das Meisterwerk malt Gefühle in
schillernden Farben, die wir heute unglücklicherweise gar
nicht mehr in dieser Tiefe erfahren können.“ Cherevychko ist
mit dem Klassiker der russischen Literatur seit seiner Kindheit
vertraut. Auch er lobt die Qualität von Crankos Choreografie,
die so unterschiedliche Rollen treffend charakterisiert. „Ich
möchte auch ergänzen, dass meine Choreografie für Lenski
schwer zu tanzen ist. Aber gerade diese Schwierigkeiten fordern mich heraus, sie machen den Lernprozess an der Rolle
umso interessanter und das Tanzen auf der Bühne richtig spannend. Ein Balletttänzer tanzt schließlich nicht nur, führt nicht
nur eine Choreografie auf, sondern zeigt auch den Geist, der
hinter der Rolle steht, teilt seine Gefühle und Leidenschaften
mit dem Publikum.“
Auch für Ballettdirektor Manuel Legris ist Crankos Ballett
„eines der schönsten und faszinierendsten des 20. Jahrhunderts. John Cranko gab den Tänzerinnen und Tänzern darin die
Möglichkeit, schauspielerisch und tänzerisch zu bestehen. Ein
B
wahres Ballett!“
SILVIA KARGL
John Cranko: Onegin; Wiener Staatsoper, Sa., 6., Sa., 27. Februar,
20.00, Mo., 8. Februar, 19.00, Do., 11. Februar, 19.30 Uhr
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