Das Drama der Neuen Sachlichkeit Bertolt Brecht: Trommeln in der

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Das Drama der Neuen Sachlichkeit
Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht
Die Tendenzen der Neuen Sachlichkeit kann man kaum verstehen, wenn man
sie nicht vor dem Hintergrund des Expressionismus betrachtet. Deshalb
soll diese Phase der Literatur zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn
der Weimarer Republik hier kurz skizziert werden.
In den expressionistischen Gedichten und Dramen wird mit revolutionärem
Pathos die Forderung nach Welterlösung vorgetragen. Die Autoren glauben an
die Möglichkeit des Menschen, eine neue, solidarische Gemeinschaft aufzubauen. Sie fordern, dass jeder Einzelne sich wandeln müsse; erst dann könne er
auch die Gesellschaft und seine Umwelt verändern.
Vorbildhaft lassen die Expressionisten diese Wandlung – so der Titel von Ernst
Tollers Erstlingsdrama aus den Jahren 1917/18 – auf der Bühne sichtbar werden. Die Personen der Stücke sind daher häufig idealtypische Gestalten, flache
Ideenträger ohne individuelle Motivation. Sie bleiben meist auch namenlos
(Der Sohn, Der Vater …) und unterstreichen so das Modellhafte von Gestalt
und Handlung. In ekstatisch mitreißenden Monologen fordern die Handelnden die Zuschauer zur Änderung ihrer Einstellung auf. Sie sind Propagandisten
der Idee, dass eine allgemeine Menschheitsverbrüderung die große gesellschaftliche Revolution bewirken könne. Aus diesen Stücken spricht viel Idealismus, der sich aber vielfach in hohlem Pathos und weihevollen Posen erschöpft. Das trifft in der Umbruchsituation am Ende des Ersten Weltkriegs auf
Verständnis, fällt hier doch tatsächlich die ganze Welt des Wilhelminismus in
sich zusammen und wird die Revolution zur realen Erfahrung. Vor allem die
expressionistischen Dramen sind daher kurz vor und nach der Novemberrevolution 1919 auf den deutschen Bühnen populär. Die Werke können sich aber
nur wenige Jahre im Theaterrepertoire halten.
Zu Beginn der Zwanzigerjahre wird ein neues Verhältnis der Künstler zur Realität erkennbar. Diese Richtung wird nach dem Titel einer Ausstellung in der
Mannheimer Kunsthalle 1925 unter der Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“
zusammengefasst. Ihre Werke bilden einen Gegenimpuls zum Expressionismus, indem sie Abstand von dessen extremem Idealismus nehmen. Gefordert
wird ein bescheidenerer Zugriff auf die Wirklichkeit. In den Texten, die in die-
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sen Jahren entstehen, wird nicht mehr der Alltag zugunsten einer sehnsüchtig
erwarteten Utopie gemieden, geht es nicht mehr um eine Typisierung der
Figuren, die den Einzelnen zum Menschen schlechthin ausweitet. Im Gegenteil:
den Träumen der Expressionisten steht eine desillusionierte Kühle in der
Darstellung, ein Gefühl für das Machbare und Alltägliche gegenüber. Die Menschen sind präzise in ihren sozialen Merkmalen erfasst.
Auf dem Theater wird Pathos jetzt entlarvt. Das Publikum soll erkennen, wie
leicht die im Expressionismus vorgetragenen hohen Werte dazu missbraucht
werden können, materielle Interessen zu verschleiern. Alltagserfahrungen werden vorgeführt; die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen werden zum Stoff der Bühnenhandlung. Um diesen Vorführeffekt
zu verstärken, greift Bertolt Brecht schon in seinen frühen Stücken auf Techniken zurück, die ein genießendes Zurücklehnen der Zuschauer unmöglich
machen.
Brechts Trommeln in der Nacht, inszeniert von Tobias Lenel am Staatstheater Darmstadt (1996).
Szene mit der Prostituierten Auguste (Monika Dortschy), dem Journalisten Babusch (Helmut
Zhuber), Andreas Kragler (Jens Schäfer), dem Verlobten von Auguste Friedrich Murk (Timo Berndt),
Karl Balicke (Jo Kärn), der Prostituierten Marie (Claudia Fenner) sowie Anna Balicke (Katharina
Hofmann). Foto: Barbara Aumüller
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Brecht will das Publikum provozieren, vor den Kopf stoßen und zum Nachdenken zwingen. Der Autor betont damit die aufklärerische, politische Funktion des Theaters. Er fordert, dass die Menschen auf der Bühne ihre eigene
Wirklichkeit entdecken und über Lösungen nachdenken, die sie in ihrem Alltag umsetzen können.
Dafür erprobt er Verfremdungstechniken, die ihn von den herkömmlichen
Maßstäben realistischer Gestaltung weit abbringen. Trommeln in der Nacht
zeigt Brecht als virtuosen Jongleur, der mit Versatzstücken der unterschiedlichsten Genres spielt. An Carl Sternheims (1878 –1942) Dramen „aus dem
bürgerlichen Heldenleben“ erinnern die abgehackten Dialoge, die Verbindung
von offen ausgesprochener Interessenpolitik und vorgespielter Familiengemütlichkeit sowie die Verweigerung von Identifikationsfiguren; an die Stummfilme von Charlie Chaplin und an Kabarettstücke von Karl Valentin einige slapstickartige Szenen. In diesem Stück ist bereits der lakonische, von Sarkasmus
getränkte Ausdruck vorhanden, der für die Werke Brechts kennzeichnend
bleiben wird.
Drama der Neuen Sachlichkeit
Autoren
Bertolt Brecht (1898 –1956)
Ödön von Horváth (1901–1938)
Grundverständnis
Bertolt Brecht: „Glotzt nicht so romantisch“
Themen
• Revolution und Wirtschaftskrise
• Das Bürgertum als Kriegsgewinnler
• materielle Werte und sexuelle Lust prägen den
Menschen, ideelle Werte werden nur vorgetäuscht
Merkmale des Dramas
• Illusionslos-nüchterne Darstellung
• Verfremdungseffekte, die das Publikum zu einer
kritischen Position führen
• Impulse vom Varieté, vom Musical und von Sportveranstaltungen
• Ausrichtung an Massenmedien
Werke
• Brecht
Trommeln in der Nacht (1922)
Die Dreigroschenoper (1928)
• Horváth
Geschichten aus dem Wiener Wald (1931)