Immer neue Hindernisse für Tunesien

LE MONDE diplomatique, Jänner 2016
Immer neue Hindernisse für Tunesien
von Thierry Brésillon
So einen milden und freundlichen Winteranfang hat es in Tunis schon lange nicht
mehr gegeben. Trotzdem ist die Stimmung spürbar gedrückt. Das Land hat ein
schweres Jahr hinter sich: Es wurde von drei großen Anschlägen des „Islamischen
Staats“ (IS) erschüttert, die sich vor allem gegen den Tourismus richteten.1 Zwischen
Januar und November gingen die Besucherzahlen dramatisch zurück. Im Vergleich
zum Vorjahr sind die Einnahmen in der Tourismusbranche um mehr als 33 Prozent
gesunken. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird 2015 wohl fast bei
null liegen. Und für 2016 deutet nichts auf eine Konjunkturbelebung hin.
Die größten Sorgen bereitet jedoch die Entwicklung in Libyen. Niemand weiß, wie der
nationale Dialog zwischen den beiden libyschen Regierungen in Tobruk und Tripolis
ausgehen wird2 und ob es zur Bildung einer Einheitsregierung kommt. Unabhängig
davon scheinen sich die Pläne zu konkretisieren, die Basen des IS rund um die
libysche Küstenstadt Syrte von außen anzugreifen. Für die tunesische Regierung wäre
es ein Albtraum, wenn abgesehen von den sozialen Protesten im Süden des Landes
auch noch IS-Kämpfer über die Grenze kämen und mit den Schmugglernetzen
gemeinsame Sache machten.
Seit Juli 2015 ist Tunesien offiziell strategischer Partner der Nato. Als solcher in die
Pflicht genommen, stünde es im Fall von Vergeltungsschlägen des IS an vorderster
Front. In einer etwas ungeschickten Dramatik, die tatsächlich nur bloßlegt, wie
besorgt man an der Spitze des Staats ist, erklärte Präsident Béji Caïd Essebsi nach
dem Attentat von Sousse am 26. Juni: „Wenn es noch einen dritten Anschlag gibt,
wird der Staat zusammenbrechen.“ Der Staat hat das dritte Attentat vom 24.
November mitten in der Hauptstadt überlebt. Fraglich ist jedoch, ob das durch die
Wahlen Ende 2014 festgelegte Machtgefüge den absehbaren Erschütterungen des
Jahres 2016 standhalten wird.
Mit Blick auf die drohenden Turbulenzen hatten Tunesiens internationale Partner
(USA, Europa, Algerien) die zwei gegnerischen Lager zu einem Bündnis gedrängt. Auf
der einen Seite steht die Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens), die sich als
Bewahrerin des Erbes von Habib Bourguiba sieht und seit ihrer Gründung 2012 vom
Willen beseelt war, der Hegemonie der Islamisten entgegenzutreten.
Auf der anderen Seite steht die islamistische Partei Ennahda (Wiedergeburt),
Wahlsiegerin von 2011, die nach der Krise Ende 2013 die Macht abgeben musste. Im
Februar 2015 bildeten die zuvor verfeindeten Lager eine Koalitionsregierung. Diese
Entscheidung kam nicht überraschend. Denn aufgrund der Parlamentsarithmetik lag
diese Lösung auf der Hand: Nidaa Tounes errang 86 und die Ennahda 69 der
insgesamt 217 Parlamentssitze.
Aber kann das Gespann aus Krisenzeiten seine Versprechen halten? Trotz der
komfortablen Mehrheit steht die Koalition auf tönernen Füßen. „Die einzige Basis
dieser Regierung ist ein politischer Kompromiss zwischen den Parteien, kein
demokratisches und soziales Reformprogramm“, sagt der Politologe Larbi Chouikha.3
Nach ihrem Machtantritt hat die Koalition ein halbes Jahr gebraucht, um sich für die
kommenden fünf Jahre auf einen Aktionsplan zu einigen.
Die internationalen Geldgeber forderten von Tunesien eine Reform des
Bankensektors (beschlossen im Juli 2015), neue Investitions-, Verwaltungs- und
Steuergesetze und die Einführung öffentlich-privater Partnerschaften (beschlossen
im Dezember 2015).
Hin- und hergerissen zwischen dem Drängen des Auslands, die Märkte zu öffnen,
sozialen Zwängen und den Interessen der Clans, die zudem die wirtschaftspolitischen
Entscheidungsgremien dominieren, tritt die Reform auf der Stelle. Nach einer
aktuellen Studie des Finanzministeriums erwirtschaftet der informelle Sektor
inzwischen 53 Prozent des tunesischen BIPs.
Der Präsidentschaft ist es zudem nicht gelungen, ihr Projekt der „ökonomischen
Versöhnung“ durchzusetzen, das politisch schwer zu verteidigen und juristisch
angreifbar war. Dessen Ziel bestand darin, Geschäftsleute und Beamte, die in Fälle
von Korruption oder Unterschlagung öffentlicher Mittel verwickelt sind, durch ein
Schiedsgericht vor Strafverfolgung zu bewahren.
Starke Clans, ohnmächtige Parlamentarier
Durch die Koalition mit Ennahda hat Nidaa Tounes außerdem die laizistischen
„modernistischen“ Kreise vor den Kopf gestoßen. Unter anderem musste
Justizminister Mohammed Salah Ben Aïssa, ein Vertreter der „Modernisten“, im
Oktober seinen Hut nehmen. Er hatte sich für eine Aufhebung des Artikels 230 im
tunesischen Strafgesetzbuch ausgesprochen, der homosexuelle Handlungen unter
Strafe stellt. Erst vor wenigen Wochen wurden sechs Studenten aus Kairouan wegen
Homosexualität zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
Der einzige Fortschritt: Eine Mutter darf heute mit ihren Kindern ohne Erlaubnis des
Vaters reisen. Von der vom Kandidaten Essebsi versprochenen Entkriminalisierung
des Cannabiskonsums ist keine Rede mehr. Das Cannabisverbot nutzt die Polizei vor
allem, um Druck auf Jugendliche aus den ärmeren Vierteln auszuüben, von denen
alljährlich Tausende ins Gefängnis wandern. Es gibt auch keinen Zeitplan, um das
Strafgesetz in Bereichen wie Diskriminierung und Umweltschutz an die Normen der
neuen Verfassung anzupassen.4
Das Versagen der Sicherheitsdienste beim Anschlag von Sousse hat gezeigt, dass das
gefürchtete Innenministerium eine schwache Institution ist. Die miteinander
rivalisierenden Clans haben es regelrecht untereinander aufgeteilt. Zudem fehlt es
immer noch an einem Regelwerk für interne Disziplinarmaßnahmen, um polizeiliche
Übergriffe zu ahnden. Die Methoden erinnern an den alten Polizeistaat:
Misshandlungen, Folter und Erpressung sind nach wie vor an der Tagesordnung.5
Zudem hat der Kampf gegen den Dschihadismus den Polizeibeamten wieder neue
Freiheiten ermöglicht. Für viele Ordnungshüter sind „Revolution“, „Demokratie“ und
„Freiheit“ Synonyme für „Terrorismus“. Nachdem sie jahrelang in der Kritik standen,
wittern sie jetzt ihre Chance auf Revanche.
Das alles fördert ein tiefes Unbehagen, und die Tunesier wissen nicht, wen sie dafür
verantwortlich machen sollen. Das Vorgehen der Behörden macht den Eindruck, als
sei eine diffuse Macht ohne echtes Zentrum am Werk. Offiziell herrscht in Tunesien
ein aufgeklärtes parlamentarisches System. Doch das Erbe der präsidentiellen, wenn
nicht gar autokratischen Tradition wiegt schwer. Die Versammlung der
Volksvertreter habe genauso wenig Macht wie in einer Diktatur, lautet das harte
Urteil von Ons Ben Abdelkarim, Leiterin der NGO Al Bawsala (Kompass), die die
Arbeit des Parlaments beobachtet. „Es gibt nicht genug Räume für die Ausschüsse
und keinerlei technische Unterstützung für die Abgeordneten. Das Parlament hat
auch kein Initiativrecht. Als es den Gesetzentwurf über Informationszugang mit
weniger Einschränkungen versehen wollte, hat die Regierung den Entwurf
zurückgezogen und dann in seiner ursprünglichen Fassung erneut vorgelegt.“
Zu dieser institutionellen Unschärfe kommt noch die mühsame Neuausrichtung der
beiden Parteien, auf denen die Koalition beruht. Nidaa Tounes steckt in einer tiefen
Krise und zerfleischt sich vor den Augen einer entsetzten Öffentlichkeit. Die Partei
wurde gleichsam als Wahlmaschine ohne Programm gegründet. Nachdem ihr
Gründungsvorsitzender Caïd Essebsi nun an der Macht ist und sie das unrealistische
Ziel aufgegeben hat, Ennahda zu bekämpfen, fehlt der Partei eine politische Linie; sie
ist den Machtspielen rivalisierender Flügel ausgeliefert. Keine Kraft in dieser noch
jungen Organisation scheint in der Lage zu sein, die inneren Widersprüche
einzuhegen.
Generalsekretär Mohsen Marzouk, der eine Zeit lang als Kronprinz galt, ist in
Ungnade gefallen und erklärte im Dezember seinen Austritt aus der Partei. Dafür
wird nun Hafedh Caïd Essebsi, der Sohn des Staatspräsidenten, von dessen engsten
Beratern, den regionalen Koordinatoren und früheren Kadern der einstigen
Regimepartei RCD unterstützt.
Auf Marzouks Seite stehen ungefähr 30 Nidaa-Tounes-Abgeordnete, die seine
Rehabilitierung fordern. Sie wollen den ursprünglichen Geist der Partei bewahren,
wie die bekannte Anwältin für Frauenrechte Bochra Belhadj Hamida erklärt: „Die
anderen wollen eine konservative Partei, wir wollen eine progressive Partei. Sie
wollen mit der Unterstützung Ennahdas das gleiche Parteiensystem wie früher
aufbauen; auf Basis einer historischen Versöhnung, um sich den Staat und die
Wirtschaft unter den Nagel zu reißen.“
Misstrauische Wähler, ehrgeizige Islamisten
Die Ennahda präsentiert sich der Öffentlichkeit dagegen als ausgeglichener Verein.
Interne Diskussionen werden von einem routinierten Parteiapparat aus gelenkt, der
weiß, wie man die breite Basis erreicht. Die Loyalität zur Partei verhindert, dass ein
Dissens nach außen dringt. Zurzeit bereitet sich die Ennahda auf ihren 10. Parteitag
vor, der im März 2016 stattfinden soll. Auf dem Programm steht nichts weniger als
die inhaltliche und strategische Neuausrichtung.
„Ennahda macht einen tiefgreifenden Wandel durch“, erklärt Abdelhamid Jelassi,
Leiter des Schura-Rats, des wichtigsten Entscheidungsgremiums der Partei. „Wir
brauchen Zeit, um eine Protestpartei, die früher verboten war und unterdrückt
wurde, in eine Regierungspartei umzuwandeln. Nach vierzig Jahren Auseinandersetzung mit dem ‚tiefen Staat‘, Gefängnis und Folter haben unsere Anhänger
einen gewissen Argwohn entwickelt. Aber jetzt geht es um Zusammenarbeit. Wir
müssen an diesen Verhaltensmustern arbeiten und unsere Theorie der neuen Realität
anpassen.“
Trotz ihrer uneingeschränkten Loyalität gegenüber der Regierung und ihrem
sichtbaren Bemühen, sich der neuen Situation anzupassen, schafft es die
islamistische Partei nicht, das Misstrauen ihrer politischen Gegner zu zerstreuen.
Viele Tunesier fragen sich: Verfolgt die Ennahda noch immer den Plan, die
kollektiven Normen zu islamisieren? Und welchen Einfluss behalten die Vertreter der
konservativsten religiösen Strömung? Am unangenehmsten für Ennahda bleibt
jedoch die Frage nach ihrer Verantwortung für das Erstarken des dschihadistischen
Salafismus während ihrer Regierungszeit 2012 und 2013.
Der radikale Flügel der Linken kämpft darum, dass die Verantwortlichen aus jener
Zeit vor Gericht gestellt werden. Ihre Galionsfigur ist Basma Khalfaoui, die Witwe des
linken Politikers Chokri Belaïd, der am 6. Februar 2013 ermordet wurde. Das
Abkommen mit Präsident Essebsi bewahrt Ennahda vor einer solchen Anklage. Doch
je mehr das Vertrauen in die Regierung schwindet und je mehr terroristische
Aktionen antiislamistische Gefühle schüren, desto stärker gerät die Koalition unter
Druck.
Aber gibt es eine Alternative? Eine neue politische Kraft, die ein landesweites Netz
von Aktivisten knüpfen und finanzielle Unterstützung finden könnte, um die Macht
zu erobern? Angesichts des gegenwärtigen Zustands des Landes wäre das
wahrscheinlich keine linke Kraft: „Es waren die Unterdrückten, die uns befreit haben,
aber dann wurden sie an den Rand gedrängt“, sagt Abderrahman Hedili, Koordinator
des Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte. „Die Linke war nicht vorbereitet
und hat die Armenviertel im Stich gelassen. Das haben die Vertreter des alten
Regimes ausgenutzt: Sie haben ihre Plätze in der Politik, in der Verwaltung, in den
Medien wieder eingenommen. Unser Fehler war, dass wir nach dem 14. Januar nicht
sofort einen Konsens über die wichtigsten Reformen gesucht haben, von der Linken
bis zur Ennahda. Wir haben den Moment verstreichen lassen. Und eine weitere
Revolution wird es nicht geben.“
Die allgegenwärtige Apathie macht viele Beobachter ratlos: Ist es stumme
Zustimmung zum Sicherheitspakt? Ausdruck der Abkehr von einem Staat, der
unfähig ist, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, und seine Bürger wenig respektvoll
behandelt? Oder stummer Protest, der sich eines Tages erneut in einen Aufstand
verwandeln wird?
Unterdessen nimmt die Auseinandersetzung mit dem Dschihadismus geradezu
obsessive Formen an. Sollten sich dessen Aktivitäten in Tunesien ausweiten, würde
das günstige Bedingungen für eine autoritäre Restauration schaffen. Nur die
Initiativen in den durch die Revolution geöffneten Räumen verkörpern noch
Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung.
1 Am 18. März 2015 starben 21 Menschen im Bardomuseum in Tunis,39 am 26. Juni
in einem Hotel in Sousse und 12 bei der Explosion eines Busses der Präsidentengarde
am 24. November.
2 Siehe Patrick Haimzadeh, „Libyen, der zweite Bürgerkrieg“, Le Monde
diplomatique, April 2015.
3 Larbi Chouikha und Eric Gobe, „Histoire de la Tunisie depuis l’indépendance“,
Paris (La Découverte) 2015.
4 Siehe „Le travail législatif à l’épreuve de la Constitution tunisienne et des
conventions internationales“, Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), Tunis,
Dezember 2015.
5 Siehe „Réforme et stratégie sécuritaire en Tunisie“, International Crisis Group,
Brüssel, 23. Juli 2015.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Thierry Brésillon ist Journalist.
Le Monde diplomatique vom 07.01.2016, Thierry Brésillon