9 Unterschiede in der Gesprächsführung bei Patienten mit chronischen und akuten gesundheitlichen Problemen WALTER BURGER Professionelle ärztliche Kommunikation unterscheidet sich von der Alltagskommunikation vor allem dadurch, dass sie immer darauf ausgerichtet ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dies kann die Anamneseerhebung oder die Informationsvermittlung über diagnostische oder therapeutische Maßnahmen sein, aber auch das Erarbeiten gemeinsamer therapeutischer Ziele und die Motivation des Patienten zu derer Umsetzung. Sie ist weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass der Arzt dabei auf erlernte Techniken zurückgreift. Der Begriff »Technik« darf aber nicht missverstanden werden. Es handelt sich nicht um möglichst emotionslos gehandhabte Fertigkeiten, wie dies etwa für Operationsverfahren gilt, sondern um struktu- rierte Vorgehensweisen, die nicht nur die Gesamtsituation, sondern ebenso die eigene Gefühlswelt und die des Patienten reflektierend einbezieht. Diese Techniken sollten, wie das medizinisch-fachliche Wissen in der beruflichen Tätigkeit, ständiger Gegenstand kritischer Reflexion und kontinuierlicher Fortbildung sein. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten aus verschiedenen Perspektiven theoretische und praktische Aspekte ärztlicher Kommunikationsfertigkeiten. Dieses Kapitel beschäftigt sich nicht mit solchen Fertigkeiten, sondern mit der Frage, welche Bedeutung Krankheitskonzepte für die professionelle Kommunikation haben. Es geht um eine kritische Betrachtung der Sicht von Krankheit und Gesundheit, die – meist nur implizit – von der ärztli- 109 chen Seite in die Arzt-Patient-Kommunikation eingebracht werden. Natürlich sind auch die Patienten nicht unabhängig von den alltäglich präsenten, von der modernen Medizin geprägten Krankheits- und Therapiekonzepten. Sie bringen gebahnte Interpretationsmuster und durch Krankheitserfahrungen geprägte Verhaltensweisen in die Arzt-Patient-Begegnung mit. Die folgenden Ausführungen fußen auf einer mehrere Jahrzehnte umfassenden Erfahrung im Umgang mit chronisch kranken Kindern und Jugendlichen und ihren Familien, vor allem aus dem Gebiet der pädiatrischen Diabetologie. Die daraus erwachsene Grundannahme ist, dass sich akute und chronische Krankheitszustände in so wesentlichen Aspekten voneinander unterscheiden, dass nicht mehr von einem gemeinsamen Krankheitsbegriff ausgegangen werden kann, der etwa für die Diagnosen »Lobärpneumonie« und »Diabetes mellitus« gleichermaßen sinnvoll ist. Dies hat, so eine weitere Grundannahme, Auswirkungen auf die Kommunikation. Ärztliches Handeln und der damit verbundene Kommunikationsstil sind traditionell vor allem auf die Situation akuter Gesundheitsstörungen ausgerichtet und werden in diesen Bereichen auch oft als effektiv und befriedigend erlebt. Beim Umgang mit chronisch kranken Patienten gelingt aber häufig keine befriedigende Kommunikation, da das auf dem akuten Krankheitskonzept beruhende Kommunikationsmuster nicht adäquat ist. So kommt es zu typischen Konflikten und Störungen, die für den Arzt ebenso wie für den Patienten quälend sein können. Deren Ursache und Überwindung ist dann nicht allein aus der Analyse etwaiger individueller Kommunikationsschwächen zu entwickeln – obwohl diese natürlich hinzukommen können –, sondern aus der kritischen Betrachtung des der Interaktion zugrunde gelegten Krankheitskonzeptes. Im Folgenden werden grundlegende Unterschiede zwischen einem Krankheitskonzept für akute und für chronische Krankheiten herausgearbeitet. Die Bedeutung der Thematik ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass chronische Gesundheitsstörungen inzwischen der weitaus häufigste Anlass für Arzt-PatientKontakte sind, in der Aus- und der meist klinikzentrierten Weiterbildung aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Grundlegende Unterschiede zwischen akuten und chronischen Gesundheitsstörungen Es gibt natürlich nicht »die« chronische Krankheit an sich. Eine chronische Krankheit manifestiert sich vielmehr immer konkret, zum Beispiel als Diabetes mellitus, Hämophilie, zystische Fibrose oder Epilepsie etc. und steht somit für jeweils unterschiedliche Therapieanforderungen, Belastungen und Verläufe. Obwohl sich die einzelnen Erkrankungen daher einer direkten Vergleichbarkeit entziehen, gibt es doch einige grundlegende Merkmale, die unabhängig von der speziellen Situation wesentliche Fragen der Definition von Krankheit und Gesundheit berühren und erheblichen Einfluss auf die Interaktion zwischen Betroffenen und Therapeuten haben. In dieser Hinsicht liegt ein erhebliches Reflexionsdefizit der Medizin vor. Bei chronischer Krankheit wird besonders deutlich, dass die genaue Kenntnis pathophysiologischer Vorgänge und der daraus abgeleiteten Therapie zwar eine unverzichtbare, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung für eine qualifizierte und im weitesten Sinne »humane« Betreuung chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen ist. Eine adäquate Versorgung erfordert vielmehr eine Erweiterung des medizinischen Modells und einen multidisziplinären Ansatz, in dem keineswegs immer der Arzt die zentrale Rolle spielt. 110 Abb. 6 Therapieverlauf bei akuten Erkrankungen Akute Erkrankung Erkrankung (Diagnostik) Therapie Gesundheit Abb. 7 Krankheitsbewältigungsprozess bei akuten Erkrankungen Akute Erkrankung Erkrankung Bewältigung Gesundheit Akute Erkrankung Die Behandlung einer akuten Erkrankung zeichnet sich – idealisiert – dadurch aus, dass Beginn (Diagnose) und Ende der Behandlung, nämlich die Wiederherstellung der Gesundheit, klar definierbar sind (Abb. 6). Die Prognose bei unbehandeltem Verlauf, Therapierisiken und -prognose können nach dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft klar definiert werden und bilden die Basis des Arzt-Patient-Vertrags, der überhaupt erst ärztliches Handeln legitimiert. Das Erreichen des Ziels lässt sich an der Rückbildung der Symptomatik und/oder der Normalisierung der initial pathologischen Befunde überprüfen und hängt vor allem von Art und Qualität der ärztlichen Therapie ab, der sich der Patient mehr oder weni- ger passiv unterzieht. Nach Abschluss der Behandlung (und dank der modernen medizinischen Möglichkeiten häufig der Wiederherstellung der Gesundheit) endet üblicherweise der Arzt-Patient-Kontakt. Die Bewältigungsaufgaben für die Patienten sind zeitlich begrenzt und eher durch ein passives Aushalten gekennzeichnet (Abb. 7). Chronische Krankheit Die Verhältnisse bei chronischen Erkrankungen unterscheiden sich davon wesentlich. Die »Chronizität« (die grundsätzliche oder jedenfalls für absehbare Zeit bestehende 111 »Nichtheilbarkeit«) hat zur Folge, dass die Krankheit langfristig Einfluss auf das tägliche Leben sowie die Zukunftsperspektive nehmen und eine ständige, immer wieder neu zu erbringende Anpassungsleistung des Patienten und seiner Familie erfordert. Aufgrund der Chronizität und meistens sogar der Progredienz ist eine Wiederherstellung von Gesundheit – und sei es nur Symptomfreiheit oder »laborchemische Gesundheit« durch Normalisierung pathologisch veränderter Stoffwechselparameter – bei den meisten Erkrankungen kaum längerfristig erreichbar. Klinische oder laborchemische »Gesundheit« ist also weniger ein realistisches Ziel als eine Orientierungsmarke. Da es an eindeutig oder gar »objektiv« formulierbaren Erfolgsparametern fehlt, ist im Gegensatz zu akuten Erkrankungen das Therapieziel nicht leicht zu definieren. Jedes Behandlungsergebnis könnte prinzipiell noch besser sein. Ob dies realisierbar ist, entscheiden aber die individuellen Umstände. Auch ist der Verlauf sehr viel schwerer abzuschätzen als bei akuten Erkrankungen. Dies wirft die Frage auf, w o r ü b e r eigentlich ein Arzt-Patient-Vertrag existiert. Für welches Therapieziel besteht eine Legitimierung für ärztliche Interventionen? Meist ist dies nicht explizit definiert. Während etwa der Jugendliche mit Diabetes mellitus zufrieden ist, wenn er keine Symptome spürt, zielt der Arzt auf eine Optimierung des Stoffwechsels zur Vermeidung von Folgeschäden. Der Behandlungserfolg hängt ungleich stärker als bei akuten Erkrankungen von der aktiven Mitarbeit des Patienten ab, da er die therapeutischen Maßnahmen überwiegend selbst durchführt. Nicht der Arzt führt die Blutzuckerkontrollen durch, hält die Kostempfehlung ein, nimmt die vorgeschriebenen Medikamente, macht die empfohlene Krankengymnastik etc., sondern der Patient. Anders als bei akuten Erkrankungen, bei denen es nur bei unvorhergesehenem Verlauf zu Therapieanpassungen kommt, ist bei chronischen Erkrankungen eine ständige Veränderung und Adaptierung der Therapie die Regel. Dies gilt vor allem im Kindes- und Jugendalter, in dem zum Beispiel medikamentöse Behandlungen oder Kostempfehlungen dem Wachstum und der Entwicklung angepasst werden müssen. Zusätzlich können die Krankheitsprogredienz oder das Auftreten von Komplikationen die Therapieziele erweitern. So muss etwa ein Patient mit zunehmender Blasenentleerungsstörung lernen, seine Harnblase selbst zu katheterisieren, ein Hypertonus muss mit zusätzlichen Medikamenten behandelt werden, sekundäre hormonale Störungen oder eine Kardiomyopathie in Verbindung mit einer Organsiderose bei einem Patienten mit -Thalassämie erfordern zusätzliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Dies sind nur einige Beispiele unter vielen möglichen. Während bei akuten Krankheiten fortschrittsbedingte Änderungen der Therapieempfehlungen sich in der Regel nicht während der Therapie vollziehen, muss bei chronischen Erkrankungen dagegen während der Betreuung desselben Patienten immer wieder neu geprüft werden, ob sich neue, Erfolg versprechende Therapieansätze ergeben haben, und ob diese neuen Entwicklungen gegebenenfalls dem Patienten nahe gebracht und in die Therapie eingebaut werden müssen. Weiterhin werden die Betreuer, gerade bei Erkrankungen mit schlechter Prognose, mit oftmals auch wechselnden alternativen Heilmethoden konfrontiert, auf die die Patienten ihre Hoffnung setzen. Der Krankheitsverlauf bei chronischen Erkrankungen ist folglich nicht linear, sondern durch einen zirkulären, sich ständig weiter entwickelnden Ablauf zu charakterisieren, in dem Therapie und Therapieergebnis einem wechselseitigen 112 Diagnostisch-therapeutischer Prozess bei chronischer Krankheit Bewältigungsprozess bei chronischer Krankheit Therapie Coping apie Ther nose Diag ng Copi nose Diag apie Ther nose Diag ng Copi nose Diag apie Ther nose Diag ng Copi nose D i ag apie Ther nose Diag ng Copi nose D i ag apie Ther nose Diag ng Copi nose D i ag Diagnose Diagnose Abb. 8 Verlauf der Therapie bei chronischen Erkrankungen Abb. 9 Verlauf der Krankheitsbewältigung (»Coping«) bei chronischen Erkrankungen Einfluss unterliegen (Abb. 8) und an oft nicht vorhersehbare Entwicklungen angepasst werden müssen. weitere Therapieplanung einzubeziehen sind. Für den Patienten und seine Familie erhöht sich damit die Zahl medizinischer Ansprechpartner, die nicht selten räumlich getrennt tätig sind. Dies spiegelt sich auch in der Krankheitsbewältigung wider (Abb. 9). Diese Dynamik bedeutet nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Betroffenen eine ständige, zur Auseinandersetzung zwingende Unsicherheit. Treten zusätzliche Komplikationen auf, muss nicht nur dieser Aspekt verarbeitet werden, sondern in der Regel auch, dass neue Therapeuten als Spezialisten für die jeweilige Komplikation hinzugezogen und in die Es müssen möglicherweise sehr unterschiedliche Therapieanforderungen miteinander koordiniert werden, und es kann geschehen, dass die im Verlauf der Erkrankung eingetretene Komplikation so gravierend ist, dass für den Patienten die eigentliche Grundkrankheit in den Hintergrund tritt. Im Unterschied zum Arzt, der typische Komplikationen als Bestandteil der Grunderkrankung zu betrachten 113 gelernt hat, für den sich also unter seiner Sicht der »Diagnose« grundsätzlich nichts geändert hat, sehen sich Patient und seine Familie plötzlich einer »neuen« Erkrankung gegenüber, welche neue Anpassungsleistungen erfordert. Gerade in einer solchen Situation droht dem Patienten durch neue Bezugspersonen ein Verlust seiner festen und vertrauten Arztbeziehung. Die Koordination unterschiedlicher medizinischer Belange stellt folglich nicht nur hohe Anforderungen an die fachliche Kompetenz, sondern auch an die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Betreuer. Chronische Erkrankungen verlangen also allen Beteiligten – und nicht nur den Patienten – vielfältige Anpassungsleistungen ab. Die medizinischen Betreuer sind dabei mit ihren eigenen Empfindungen und Reaktionen selbst Teil dieses Anpassungsprozesses (»Coping«). In ihrer Eigenschaft als professionelle Helfer haben sie die Aufgabe, den Patienten bei seinen Anpassungsbemühungen zu unterstützen. Gleichzeitig müssen sie aber persönlich ertragen, dass chronische, »unheilbare« Krankheiten die Grenzen medizinischen Könnens unmissverständlich aufzeigen und sie mit einer Rolle konfrontieren, auf die sie in ihrer Ausbildung kaum vorbereitet wurden, nämlich nicht heilen zu können und ungünstige Verläufe begleiten zu müssen. Dies enthält kränkende Momente, aus denen unbewusste und aggressive (auch autoaggressive) Emotionen entstehen können. Anzeichen dafür finden sich durchaus im medizinischen Alltagsjargon, etwa wenn in Zusammenhang mit Diätunregelmäßigkeiten bei Patienten mit Diabetes der Begriff »Fressen« auftaucht oder wenn Patienten als »dumm«, »renitent«, »nicht behandelbar« bzw. »non-compliant« bezeichnet werden, weil sie die ärztlichen Verordnungen nicht einhalten wollen oder können. Die aktuelle Stigmatisierung fettleibiger Personen hat unverkennbar aggressive und strafende Züge. Aus diesen Überlegungen folgt, dass der Krankheitsbewältigungsprozess des Patienten von den Helfern nur dann adäquat unterstützt werden kann, wenn sie sich ihrer eigenen Einstellungen und Empfindungen bewusst und bereit sind, diese kritisch zu reflektieren. Die Bedeutung der Krankheitsbewältigung bei chronischen Erkrankungen Da die Therapie chronischer Erkrankungen entscheidend von der aktiven Mitarbeit des Patienten abhängt, ist die Akzeptanz der Erkrankung und der mit ihr verbundenen Belastungen die Voraussetzung für die Therapiemotivation und somit den Therapieerfolg. Es gibt viel Literatur zum Ablauf von Bewältigungsprozessen und zu ihrem Einfluss auf den Krankheitsverlauf (1–5). Die zum Teil sehr unterschiedlichen Studienergebnisse machen aber deutlich, wie schwer es ist, individuelle Verhaltensweisen standardisiert zu erfassen und zu bewerten. Schon die Sicht- und Herangehensweise des Untersuchers lässt jeweils andere Aspekte hervortreten. Die Diskussion des Begriffes »Lebensqualität« zeigt (6, 7), wie schwierig es ist, subjektive Einstellungen zu erfassen und sie mit medizinisch definierten Therapiezielen in Beziehung zu setzen. Jeder, der mit einer chronischen Erkrankung konfrontiert ist, also der Betroffene selbst, die Familie, die Freunde, der Therapeut etc., sieht die Erkrankung anders. Objektivität kann es dabei nicht geben. Die von akuten Erkrankungen hergeleitete Vorstellung, Krankheit sei durch medizinische Parameter »objektiv« und für Therapeuten und Patienten gleichermaßen verbindlich definierbar, ist bei chronischen Krankheiten ein verbreitetes Missverständnis zwischen Therapeuten und Patienten und hat einen wesentlichen Anteil an Therapiemisserfolgen (8, 9). 114 Chronische Krankheit muss in besonderer Weise in die persönliche Lebenssituation (10, 11) eingearbeitet werden. »Für die Person ist ihre persönliche Situation, die sich über einer sie relativ tragenden persönlichen leiblichen Disposition entwickelt, zugleich Hülle und Partner: Hülle als Domäne des Eigenen, in der sie sich entwickeln und wechselnd oder gleichzeitig viele Niveaus personaler Emanzipation und personaler Regression einnehmen kann, Partner als Orakel, das sie befragen muss, um zu wissen, was sie will.« (11). Die Krankheit wird als ständiger Lebensbegleiter ein neuer Partner des Lebens (12). Dabei ist »… das Verhalten des betroffenen Menschen, seine Stellungnahme, seine Gestaltung, unabziehbar beteiligt. Eine glatte Übertragung der sozialen Einwirkung von der Ursache auf den Empfänger wird dadurch ausgeschlossen. Alles kommt darauf an, was dieser daraus macht. Noch so schlimme Zustände und Ereignisse in seiner Umgebung können in seine persönliche Situation so einheilen, dass sich ein Zuwachs an Lebensfülle und Gestaltungskraft – wenn auch auf Umwegen – ergibt; andererseits kann ein Hauch getrübter Atmosphäre des Zusammenlebens das Fortkommen vergiften« (12). Es gibt unterschiedliche Vorstellungen oder »Modelle«, wie Krankheitsbewältigungsvorgänge ablaufen. Am bekanntesten ist das Phasenmodell, von ELISABETH KÜBLER-ROSS in Anlehnung an Erfahrungen mit Sterbenden entwickelt und von SCHUCHARDT (13) an die Verhältnisse bei chronischer Krankheit angepasst. Danach kommt es über die Phasen »Ungewissheit«, »Gewissheit«, »Aggression«, »Verhandlung«, sowie »Depression« zur aktiven Akzeptanz. Die Kenntnis dieser Abläufe ist für die Betreuer für das Verständnis der Reaktionen der Patienten hilfreich. So wäre es zum Beispiel nicht sinnvoll, im Stadium der Krankheitsverleugnung mit einer Schulung zu beginnen, da keine Bereitschaft besteht, Informationen über die noch verleugnete Erkrankung aufzunehmen. In dieser Situation ist eine verständnisvolle Hilfe bei der Verarbeitung der Diagnose sinnvoller. Dies gilt ebenso für die Phasen der Aggression und Verhandlung, in der viele Patienten im Bestreben, die neue Situation zu bewältigen, Verhaltensweisen zeigen, die einer inneren Logik (Abwehr, Verdrängung, Leugnung) folgen, die sich nach außen aber in vermeintlich unvernünftigen, aggressiven, fordernden oder auch querulantischen Verhaltensweisen darstellt. Dies führt nicht selten dazu, dass diese Patienten abgelehnt und mit dem Attribut »schwierig« belegt werden, womit oft eine lang dauernde Karriere als »schwieriger Patient« begründet wird. Kenntnis über die innere Dynamik dieser Adaptationsprozesse sollten alle Betreuer, die Menschen mit schweren und chronischen Erkrankungen begleiten, haben. Der Prozess der Krankheitsakzeptanz sollte aber nicht als zeitlich begrenzt angesehen werden. Keineswegs alle Patienten und ihre Familien erreichen die Stufe der Akzeptanz und aktiven Mitarbeit und bleiben dabei. Chronische Krankheiten sind eher dadurch gekennzeichnet, dass immer wieder Krisen auftreten, die erneut in einen Verarbeitungsprozess münden, der durchaus wieder mit einem Rückfall in vorangegangene Verarbeitungsstufen einhergehen kann. Die Krankheitsbewältigung ist komplex und wird von vielen unterschiedlichen, miteinander verknüpften Faktoren beeinflusst. Eine entscheidende Variable ist die »psychosoziale Grundausstattung« eines Patienten und seines Umfeldes, in die frühere Krankheitserfahrungen, Muster der Bewältigungsstrategie, Lebensziele und -planung sowie aktuelle, krankheitsspezifische Belastungen eingehen. Weitere Faktoren sind im »health-belief-model« (14) enthalten, das entwickelt wurde, um Gesundheitsverhalten verstehen und voraussagen zu können. 115 Nach diesem Modell ist das Gesundheitsverhalten eines Menschen Ergebnis einer individuellen (meist nicht bewusst vollzogenen) Kosten-Nutzen-Analyse, in welche folgende Kriterien eingehen: 䡩 Die subjektiv empfundene Krankheitsbedrohung; 䡩 die Vorstellung von Krankheit allgemein; 䡩 die Einschätzung der mit den therapeutischen Anforderungen verbundenen Einschränkungen; 䡩 persönliche und familiäre Krankheitserfahrungen; 䡩 bereits eingeübte Verhaltensweisen. Zum besseren Verständnis des Gesundheitsverhaltens ist es zusätzlich sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass Gesundheit nicht nur somatische, sondern auch psychische und soziale Elemente umfasst. Diese können durchaus in bestimmten Situationen im Widerspruch zueinander stehen. Ein unauffälliges Verhalten in der Gruppe der Gleichaltrigen (»peer group«), das ein aus somatischer Sicht ungesundes Verhalten erfordert, kann sozial stabilisierend, insofern »gesundheitserhaltend« sein und damit die Selbstsicherheit schaffen, die langfristig wiederum die Voraussetzung für eine unter somatischem Aspekt sinnvolle Therapieführung ist. Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, so sind Therapieabweichungen besser verständlich. Hat ein Jugendlicher mit Diabetes familiäre Schwierigkeiten oder keine Aussicht auf eine Lehrstelle – für welche Zukunft soll er denn in der Gegenwart Entbehrungen auf sich nehmen? Warum soll er Komplikationen vermeiden, die er sich gar nicht vorstellen kann oder will? Nicht der wiederholte Hinweis auf drohende gesundheitliche Gefahren, sondern eine Unterstützung bei der Lösung seiner basalen, im psychosozialen Bereich liegenden Probleme könnte ihm eine Basis für eine positive Kosten-Nutzen-Analyse geben. Trotz der mit chronischer Erkrankung unzweifelhaft verbundenen Belastung soll aber betont werden, dass eine chronische Erkrankung nicht per se psychosoziale Therapiebedürftigkeit bedeutet. Sie kann auch als Herausforderung erlebt werden und die Bewältigungskräfte des Patienten und seiner Familie stimulieren. Chronische Erkrankung – Krankheit oder »bedingte« Gesundheit? Der Umgang mit chronischer Krankheit ist auch deshalb oft so kompliziert, weil Chronische Krankheit aus Sicht der Betroffenen Chronische Krankheit Akute Erkrankung Bedrohliche Verschlechterung Behinderung Dauerhafte Beeinträchtigung Gesundheit Wohlbefinden, Entscheidungsfreiheit Abb. 10 Verschiedene Aspekte chronischer Krankheit aus Sicht des Betroffenen 116 Abb. 11 Verschiedene Aspekte chronischer Krankheit aus Sicht der Betreuer Chronische Krankheit aus Sicht der Therapeuten Akute Erkrankung Chronische Krankheit Akuter Handlungsbedarf Behinderung Überwiegend Beratung Gesundheit Primär keine Zuständigkeit sie Elemente verschiedener, teilweise widersprüchlicher Befindlichkeiten enthält (Abb. 10). Bei akuter Verschlechterung trägt die chronische Erkrankung den Charakter einer akuten Erkrankung, in der der Betroffene aus dem täglichen Leben herausgerissen wird und ärztlicher Hilfe bedarf, wie etwa bei einem akuten Asthmaanfall oder einer schweren Stoffwechselentgleisung bei Diabetes mellitus. Diese Gefahr wird von vielen Betroffenen als permanente Bedrohung erlebt – mit der Folge, dass sie sich auch bei Symptomfreiheit nicht als völlig gesund erleben können. Auch die bei den meisten chronischen Erkrankungen möglichen Folgeschädigungen können als Bedrohung wahrgenommen werden, zudem deren Vermeidung in der Regel direkten Therapieansätzen nicht zugänglich ist. Ein wesentlicher Aspekt ist aber auch der Zustand der s u b j e k t i v e n G e s u n d h e i t. Dieser ist ja das eigentliche Therapieziel, also der angestrebte Normalzustand. Gesundheit wiederum wird üblicherweise mit der Möglichkeit assoziiert, sich ungestört von gesundheitlichen Einschränkungen in freier Entscheidung verhalten zu können. Diese Freiheit kann es aber bei chronischer Krankheit nicht geben. So erweist sich die erreichbare Gesundheit als eine nur scheinbare, da chronische Erkrankungen zu ihrer Behandlung bestimmte Unterlassungen, besondere Anstrengungen, eine bestimmte Ernährung und/oder andere therapeutische Maßnahmen erfordern. Die Bewältigung einer chronischen Erkrankung bedeutet also nicht nur, zu lernen, mit den spezifischen Therapieanforderungen und körperlichen Beeinträchtigungen umzugehen, sondern auch situationsspezifisch mit den widersprüchlichen Aspekten von akuter Symptomatik, Gefahr von Behinderung oder Gesundheit. Chronische Krankheit zwingt den Betroffenen, sich ständig aktiv mit der Erhaltung seiner Gesundheit auseinanderzusetzen und sie damit in einem unlöslichen Paradoxon in gewissem Sinne wieder aufzulösen. Gesundheit – »Das große Wunder der Gesundheit, das wir alle leben und das uns alle mit dem Glück des Vergessens, dem Glück des Wohlseins und der Leichtigkeit des Lebens immer wieder beschenkt« (15) – liegt nämlich, wie der Philosoph GADAMER herausgearbeitet hat, i m Ve r b o r g e - 117 n e n. Je mehr wir der Gesundheit auf der Spur sind, desto mehr verschwindet ihre unbewusste Selbstverständlichkeit, die ihren Wesenskern ausmacht. »Aber Gesundheit ist etwas, das all dem auf eigentümliche Weise entzogen ist. Gesundheit ist nicht etwas, das sich als solches bei der Untersuchung zeigt, sondern etwas, das gerade dadurch ist, dass es sich entzieht. Gesundheit ist uns also nicht ständig bewusst und begleitet uns nicht besorgt wie die Krankheit. Es ist nicht etwas, das uns zur ständigen Selbstbehandlung einlädt oder mahnt. Sie gehört zu dem Wunder der Selbstvergessenheit.« (15). Diese unterschiedlichen Aspekte chronischer Krankheit finden sich komplementär in den Anforderungen an die Betreuer wieder (Abb. 11). Auch Therapeuten müssen situationsbezogen entscheiden, ob wegen akuter gesundheitlicher Bedrohung akuter Handlungsbedarf besteht, hinsichtlich dauer- Arzt akut hafter Beeinträchtigungen eher eine beratende Funktion angemessen ist oder ob sie gar nicht gefragt sind und der Patient selbstständig entscheidend sein Leben gestaltet. Diese Flexibilität erfordert mehr als üblicherweise dem Arzt im Rahmen seiner Ausbildung vermittelt wird. Entsprechend dem traditionellen Rollenbild des akut und wirksam helfenden und die gesamte Verantwortung tragenden Arztes ist die Versuchung sehr groß, sich weitgehend auf diese Rolle zu beschränken und sich nur den akuten oder vermeintlich akuten gesundheitlichen Problemen zuzuwenden. Eine chronische Erkrankung kann so als eine unendliche Kette kleinerer »akuter« gesundheitlicher Probleme missverstanden werden, auf die dann jeweils durch eine situationsbezogene Intervention reagiert, der Chronizität des Prozesses aber nicht gerecht wird. Allerdings kann das Festschreiben in der Rolle des Kranken und das Sich-Ausliefern an medizinische Fachleute dem Pa- Verantwortungsverteilung zwischen Arzt und Patient Patient Charakter der Erkrankung 118 chronisch Abb. 12 Verteilung von Therapieverantwortung bei chronischer Krankheit in Abhängigkeit von Präsenz und Bedeutung a k u t e r medizinischer Probleme tienten auch ein Gefühl der Sicherheit geben, indem er sich vor allem über seine Erkrankung als »Diabetiker«, »Asthmatiker«, »Epileptiker« etc. beschreibt und begreift. Diese Einstellung behindert aber die Entwicklung von Selbstständigkeit, die wiederum Voraussetzung für ein aktives Integrieren der Erkrankung in den eigenen Lebensentwurf und somit einer erfolgreichen Therapie ist. Hier offenbart sich deutlich, dass chronische Krankheit eine Erweiterung der üblichen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit erfordert. Die immer wieder erhobene Forderung nach dem »mündigen« Patienten läuft möglicherweise auch deshalb so oft ins Leere, weil das unausgesprochene und meist auch unbewusste Selbstverständnis von Therapeuten und Patienten ihre Verwirklichung behindert, und weil dem Arzt das professionelle Verhaltensrepertoire fehlt, mit einem wirklich mündigen Patienten umzugehen. Für Arzt wie Patienten bedeutet dies, dass sowohl der Betroffene wie auch der Therapeut situationsbezogen flexibel Therapieverantwortung annehmen, aber auch abgeben kann (Abb. 12). Je akuter die gesundheitliche Störung ist, desto mehr wird der Patient (sinnvollerweise) bereit sein, die Therapieverantwortung zu delegieren. Treten chronische Aspekte der Erkrankung in den Vordergrund, ist der Patient gefordert, Verantwortung und Initiative zu übernehmen. Dies kann nur gelingen, wenn umgekehrt der Arzt bereit ist, Verantwortung abzugeben, nicht nur hinsichtlich der Therapiedurchführung, sondern auch hinsichtlich der Therapiekonzeption. Der ständige Wechsel zwischen Annahme und Abgabe von Verantwortung kann, wie bei der Benutzung einer Schaukel, beiden Partnern Schwindel verursachen und das Bedürfnis hervorrufen, sich in einer stabilen Position zu definieren, dem vom Arzt abhängigen »Asthmatiker«, »Epileptiker«, »Diabetiker« bzw. dem alleinverantwortlichen Arzt. Konsequenzen für die Betreuung Krankheits- und Therapiemodelle, die sich überwiegend an akuten, somatischen Krankheitsbildern orientieren, sind bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen nur begrenzt tauglich. Eine adäquate Therapie setzt eine kritische Reflexion über Therapieziele und Rollenverteilungen voraus (16, 17): 䡩 Medizinisch gut begründbare, an Idealwerten ausgerichtete Ziele können nur als Orientierungshilfe dienen, sind aber meist nicht erreichbar. Welches Ausmaß an Erreichtem als Erfolg zu sehen ist, ist schwer erkennbar. Dies erfordert in der Regel ein Aushandeln zwischen medizinischen Ansprüchen und subjektiver (Ein-) Sicht des Patienten. 䡩 Therapieziele sind daher meist nur genereller Art, in der aktuellen Situation oft unscharf oder nur implizit definiert. Oft sind sie dem Patienten (und Arzt) gar nicht bewusst und müssen erst entwickelt werden. Sie sind abhängig vom Krankheitsverlauf und vom Bewältigungsprozess und insofern instabil. 䡩 Da die Zielsetzung des Therapieprozesses meist nur etappenweise klar formulierbar ist, muss die Kommunikation darauf ausgerichtet sein, flexibel und einfühlsam mit der Situation als Ganzem umzugehen und nur so viel, wie für den erstrebten Vorgang des Therapieprozesses notwendig ist, explizit zu machen. Die persönliche Situation des Patienten ist dabei ein wichtiges Thema. 䡩 Dies schließt nicht aus, dass gelegentlich auch im direktiven Stil Klarheiten über die somatischen Grundlagen und daraus abgeleitete medizinische Folgerungen geschaffen werden müssen. 䡩 Die Verteilung der Verantwortung für den Therapieprozess ist nicht eindeutig festgelegt, sondern (situationsgebunden) ausgesprochen variabel. 119 Praktische Hinweise 䡩 Schwierigkeiten im Umgang mit chronisch kranken Patienten können vermieden oder zumindest besser verstanden werden, wenn Ärzte erkennen, dass sie sich bei chronischen Erkrankungen nach anderen Krankheitsmodellen orientieren müssen und ihre Kommunikation mit den Patienten darauf ausrichten. 䡩 Die nicht vermeidbaren, für das ärztliche professionelle Selbstverständnis ungewohnten Unschärfen erfordern ein Grundrepertoire von Kommunikationstechniken. Diese fallen den meisten Ärzten nicht in den Schoß, sondern müssen, ebenso wie die medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten, systematisch erworben und weiterentwickelt werden (18–20). 䡩 Es ist dringend zu fordern, dass theoretische und praktische Aspekte der Kommunikation obligatorisch und stärker als bisher in der medizinischen Ausbildung verankert werden. 䡩 Für die tägliche Arbeit sollte ein interkollegialer und gegebenenfalls auch interdisziplinärer Gesprächskreis organisiert werden, etwa nach dem Modell der BALINT-Gruppen oder den reflektierten Kasuistiken. Dies kann möglicherweise mit Unterstützung der Landesärztekammern erfolgen. Literatur 1. Muthny FA, Hrsg. Krankheitsverarbeitung. Hindergrundstheorien, klinische Erfassung und empirische Ergebnisse. Heidelberg-New York-Tokio: Springer; 1990. 2. Schüßler G. Bewältigung chronischer Krankheiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1993. 3. Sesterhenn H. Chronische Krankheit im Kindesalter im Kontext der Familie. 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