Großes Kino von Anja Melzer In Südtirol entsteht Europas neue Filmhochburg. Das hat vor allem mit einem geschickten Förderungssystem zu tun. Die Kulissen sind manchmal absurd. Zum Beispiel, wenn das Wiener Kriegsende inmitten der Südtiroler Bergidylle inszeniert wird. Cohn bekommt einen Pappbecher mit Kaffee in die Hand gedrückt, schüttet sechs Ladungen Zucker hinein, zupft einen grünen Stängel von einem Strauch, rührt um, setzt sich in den Klappstuhl, trinkt. Dann, natürlich, raucht er eine Zigarette. Schweigend starrt er auf einen imaginären Punkt vor sich, um ihn herum wuselt das Team, er versteht kein Wort. Sie haben nur ein paar Augenblicke, nicht ganz eine Zigarettenlänge. Der hagere Russe wankt zurück ins Lusthaus neben der großen Villa, zurück ins Jahr 1945. Die Rote Armee belagert Wien. Und Wien wurde in die Südtiroler Berglandschaften verlegt. Kamera läuft. Cohn, der eigentlich Konstantin Khabensky heißt, ist aus Moskau angereist. 2.600 Kilometer für eine Filmrolle in einer österreichischen Produktion – in Südtirol. Es ist nicht die einzige mit einem Budget in Millionenhöhe, die hier in der Alpenprovinz verwirklicht wird. Internationale Filmteams, eines nach dem anderen und manchmal mehrere gleichzeitig, wandern seit einigen Monaten über die Alpen in die mehrsprachige Provinz. Ein Hype ist ausgebrochen. Seit Tagen brennt die Sonne auf Tscherms, eine 1.400-Einwohner-Gemeinde nahe Meran. Hier am Hang steht Schloss Baslan, ein Palais aus dem 13. Jahrhundert, eingekesselt von Bergen und Apfelfeldern. Die Russen waren schon einmal hier, als Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg. Jetzt dient das noch bewohnte Anwesen als Kulisse für „Maikäfer flieg!“. Verfilmt wird der vor 43 Jahren erschienene Kinderbuchklassiker der österreichischen Autorin Christine Nöstlinger. Vierzig Grad liegen in der Luft, vierzig Personen tropft der Schweiß von der Stirn. Vor allem denjenigen in Kostüm und Uniform. Zeit für Pause ist kaum, Drehminuten sind teuer, die Tage sind lang. Sobald die Kamera läuft, verharren alle in ihrer Bewegung. Nur die beiden russischen Schauspieler, Cohn und ein Offizier, brüllen im Lusthaus. Lautlos folgt ihnen Kamera. Später werden Untertitel eingeblendet werden. Die Regisseurin gibt das Kommando, die Schlussklappe für die Szene fällt, das Team bewegt sich wieder. Wie ein Wimmelspiel, stop and go. Die Sonne brennt weiter, Cohn zieht bereits an der nächsten Zigarette. Alle wollen hier drehen. „Kommissar Rex“ – kennt jedes Kind. Til Schweigers „Honig im Kopf“, erfolgreichster deutscher Kinofilm 2014. Das Münchener Drama „Elser“, Anfang des Jahres mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. „Das Finstere Tal“, Absahner in acht Kategorien bei der Verleihung des Österreichischen Filmpreises, acht Lolas in Berlin. Das 3D-Spektakel „Everest“ mit Jake Gyllenhaal, Robin Wright und Keira Knightley, Kinostart im Herbst. In nicht einmal fünf Jahren hat sich Südtirol zu einem der Film-Hotspots in Europa entwickelt. Was ist passiert? Es ist noch nicht lange her, da sieht es hier ganz anders aus: Wer kann, geht ins Ausland. Das Filmgeschäft ähnelt Anfang der Nullerjahre einer Filmeinöde, klein und überschaubar. Filmförderungen gibt es keine, auch die etablierten Fonds in Rest-Italien sind miserabel. Bis im Frühjahr 2010 ein alter Bekannter die Bühne betritt und die Szene aufmischt. Es ist die Geburtsstunde des Südtiroler Filmstolzes. Wenn die Südtiroler heute, fünf Jahre später, von der italienischen Fernsehserie „Un passo dal cielo“ („Nur ein Schritt bis zum Himmel“) sprechen, nennen sie ihn sofort im selben Atemzug: Terence Hill. Und dann suchen sie unauffällig nach dem kurzen Aufleuchten in den Augen ihres Gegenübers. Denn der König des Italowestern höchstpersönlich spielt die Hauptrolle. Nicht als charmanter Kumpan des bärbeißigen Prügel-Cowboys Bud Spencer – dafür wäre Mario Girotti, wie der Venezianer bürgerlich heißt, mit inzwischen weit über 70 Jahren wahrscheinlich auch zu alt. Sondern – sei’s drum – als Förster. Er schafft es, den damaligen Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder für die Serien-Idee zu gewinnen. Oder monetär ausgedrückt: 1,5 Millionen Euro Zuschuss an Land zu ziehen. Wenig später steht Hill in grüner Förstermontur vor der Kamera: am Pragser Wildsee, mitten im Hochpustertal. Die Serie erreicht auf dem italienischen Sender RAI1 sensationelle Einschaltquoten, zur dritten Staffel verfolgen 7,5 Millionen Menschen die kleinen Kriminalgeschichten. Und dann geht alles ganz schnell. Im rechten Moment schießt eine StandortAgentur samt Filmkommission aus dem Boden. Bald sollte die Business Location Südtirol, kurz BLS, alle Fäden in der Hand halten. Sie untersteht dem Wirtschaftsressort der Landesregierung. In der europäischen Filmszene macht die Neuigkeit rasch die Runde. Südtirol, ein Film-Eldorado? Vorsichtig schielen ausländische Firmen auf den Landstrich jenseits der Dolomiten. Dort ist das Lusthaus gerade völlig verwüstet, Cohn raucht wieder. Zerbrochene Eier liegen herum, der Boden ist mit Nudelsuppe überflutet. Vor jeder neuen Einstellung muss sie mit einem Wischer herausgeschwemmt werden. Dann kippt der Requisiteur mit einer Schöpfkelle frische Brühe nach. Dampfen muss sie, bis russische Militärstiefel sie gleich wieder platt treten. So will es das Drehbuch. Cohn nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette, schmeißt seinen Kaffeebecher weg. Alles noch einmal von vorne. Die Förderung in der norditalienischen Provinz fällt unerwartet hoch aus. Obwohl Südtirol selbst gerade einmal eine halbe Million Einwohner hat, stellt die BLS seit 2011 knapp fünf Millionen Euro jährlich bereit – unter einer Bedingung. Und die heißt „Südtirol-Effekt“. Dieser lässt sich genau beziffern. Denn die BLS untersteht dem Wirtschaftsressort der Landesregierung. Wer Summen aus dem Alto Adige bekommt, verpflichtet sich, mindestens das Eineinhalbfache vor Ort wieder auszugeben. Am Ende gelangt mehr Geld ins Land, als hinausströmt. „In Wien hätten wir diese Location nirgends gefunden“, antwortet die Produktionsleiterin Stephanie Wagner auf die Frage, ob das nicht grotesk sei: Die österreichische Hauptstadt, inszeniert mitten in Südtirol. „Das Viertel, in dem die Geschichte spielt, sieht heute ganz anders aus als 1945.“ Die Österreicherin sitzt barfuß im Garten von Schloss Baslan, der Filmkulisse. Sie sagt, dass sie dieses Haus vom ersten Moment an wollte, und dass es hier keine Palmen gibt. Dass das perfekt sei, dass in zu vielen Südtiroler Villengärten Palmen stünden, nur in diesem nicht. Im Nachkriegs-Wien gab es keine Palmen. Wagner zupft ein paar Grashalme ab, zögert, bevor sie gen Himmel blickt. „Aber ja, Film ist käuflich.“ Mit 550.000 Euro ist „Maikäfer flieg!“ die bisher am höchsten bezuschusste Produktion im aktuellen Drehjahr. Vom Gesamtbudget von 3,4 Millionen Euro macht die Förderung zwar nur einen Bruchteil aus. Trotzdem verbringt die Crew 30 ihrer 34 Drehtage in Südtirol. Denn hohe Förderungen reduzieren die Zahl der Drehorte. „Wenn man von überall kleine Summen bekommt und die Locations irgendwann nur noch zusammenstückeln muss, wird man zum Wanderzirkus“, sagt Wagner. Mehr Reisetage, mehr Kosten, mehr Stress. Südtirol macht es den Filmproduktionen bequem. Möglicherweise zu bequem? Das findet jedenfalls Andreas Pöder. Normalerweise beschäftigt sich der Abgeordnete von der rechtspopulistischen BürgerUnion mit Haushalts- und Finanzpolitik. Doch beim Film macht er eine Ausnahme. Eine Landtagssitzung in Bozen ist gerade in vollem Gange, als er sich unauffällig rausschleicht, um über die Südtiroler Filmwirtschaft zu sprechen. Ein paar Tage zuvor stellte er hier einen Antrag: Die BLS solle abgeschafft werden, die Gelder ersatzlos dem Kulturressort übertragen werden. Damit gefördert wird, was gefördert gehört. „Wie viele all dieser ausländischen Filme haben wirklich einen Südtirol-Bezug?“, fragt er, und er redet immer schneller. „Südtirol ist zwar dauernd im Bild, aber für das internationale Kinopublikum überhaupt nicht sichtbar!“ Das stört ihn. Und dann schwärmt er von der Südtiroler Geschichte, seiner Landwirtschaft und den Bergen. Pöders Vorstellung: Südtiroler Kreative sollten mit Südtiroler Geld echte Südtiroler Geschichten realisieren. Auch in Bozen brütet die Hitze. Sie dehnt sich in den Gassen aus, drückt sich gegen die Hauswände. Busse zwängen sich durch die engen Straßen, nur wenige Menschen sind an diesem Nachmittag überhaupt draußen. In einem kühlen Altbau, direkt im Zentrum, beugt sich Andreas Pichler über sein Macbook. Er trägt enge Jeans und sieht jünger aus als seine 48 Jahre. Seine Brille, wie auch die Ledercouch in seinem Büro, ist knallorange. Pichler gehört zu den Südtiroler Dokumentarfilmgrößen, für „Call me Babylon“ wurde der Regisseur mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er ist ein stiller Typ, spricht mit leiser Stimme. Immer wieder fährt er sich durch die Haare, zaust sie von links nach rechts. „Manche haben gerade Fantasievorstellungen, nur weil sie Südtiroler sind“, sagt er. Und: Der Südtiroler Filmbranche fehle es noch immer an genügend Knowhow, selbst große Produktionen auf die Beine zu stellen. „Da gibt es vielleicht zwei, drei Leute, die das könnten.“ Genau dieses cineastische Wissen, das südlich des Brenners bis vor kurzem noch gar nicht existierte, werde nun von außen ins Land getragen. Die Profession greift Stück für Stück um sich. Maskenbildner, Lichttechniker, Location Scouts oder Requisiteure – neue Berufsbilder entstehen. Weil sie gebraucht werden. Eine ganze Szene erschafft sich neu. Nur ein paar Steinwürfe entfernt, hinter dem Alten Rathaus. Hier sitzt einer von denen, die den richtigen Riecher zur richtigen Zeit hatten: Georg Zeller, gelernter Kameramann. „Früher kannten sich hier alle, man trat sich gegenseitig nicht auf die Füße, jeder hatte seine Nische. Endlich sind wir aus der geschlossenen Gesellschaft herausgekommen.“ Der 42-Jährige trinkt Spuma, die norditalienische Bionade-Version. Noch so ein Junggebliebener. Der geborene Stuttgarter spricht in waschechtem Schwäbisch. Er kam zum Studium nach Bozen – und blieb. „Wenn man bedenkt, wie viele Filmminuten hier pro Einwohner gedreht werden, ist Südtirol definitiv gerade der Place-to-be.“ Er nimmt noch einen Schluck von dem rostfarbenen Getränk. Zeller gründete den ersten Kameraverleih in Südtirol. Es sind seine Kameras, mit denen gerade auf Schloss Baslan gefilmt wird – und mit denen Fördergelder refinanziert werden. Es geht zurück nach Tscherms. In der Ferne schieben sich ein paar Wolken über die Berggipfel heran, doch die Hitze weicht nicht. Vor der Villa lungern russische Soldaten. Zwei haben die Hemden aufgeknöpft, die schweren Militärstiefel kleben an ihren Füßen. Einer sucht hinter dem Panjewagen Schatten, das Pferd schnaubt müde. Sie tippen auf ihren Smartphones. Die Wiener Produktionsleiterin läuft vorbei. Noch während sie weitergeht, sagt sie: „Wir haben irrsinnig gecastet, um Südtiroler Russen zu finden.“ Die Komparsen verkörpern verschiedene Charaktere im Film. Es sind die immer selben Gesichter in austauschbaren Rollen. Aber sie sind wichtig: Je mehr Positionen von Südtirolern besetzt sind, desto höher fällt die Fördersumme aus. Etwa ein Viertel des Teams besteht aus Einheimischen. In den großen ausländischen Produktionen bleiben ihnen meist nur Statistenrollen und Assistentenjobs. Ein Schrei aus dem Lusthaus fährt dazwischen. „Hat noch jemand eine Maschinenpistole?“ Iwan hat eine. Iwan, der eigentlich Geschichtelehrer in Bruneck ist und den seine Schüler als Markus Schwärzer kennen. Ohne den Bart, und ohne die filzigen Wuschelhaare. Der 34-Jährige hat sie, die Chance, hier großes Kino zu machen. Als Newcomer steht er zwischen den österreichischen und russischen Vollprofis, bald wird man ihn in halb Europa auf der Leinwand sehen können. Als einer von zwei Südtirolern hat er es in den Hauptcast geschafft. „Seit Monaten trainiere ich russische Vokabeln, dazwischen übe ich Deutsch mit russischem Akzent zu sprechen.“ Er lacht. Dann beginnt für ihn wieder der Ernst. Iwan lädt sein Gewehr. Bewaffnet und strammen Schrittes betritt er das Lusthaus. Aus der Suppe am Boden fischt er einen Revolver. Ein betrunkener Offizier liegt daneben. Iwan gibt ihm einen Tritt und schreit etwas – auf Russisch. Inzwischen fallen ein paar warme Regentropfen. Hektisch werden Schirme über die Kameras gespannt. Seit über zwölf Stunden ist das Team heute schon am Set. Für die letzte Szene wird der Dreh in die Villa verlegt. Dort herrscht zwischen schmutzigen Matratzen das pure Chaos. Überall stehen Kerzen, Koffer und Taschen, verstreute Schnapsflaschen und halb gefüllte Weingläser. An die Wände wurden russische Städtenamen gekritzelt, „Stalingrad“ und „Leningrad“. Die gesamte Crew quetscht sich in sämtliche Türrahmen und Hinterzimmer. Der Kamera-Akku ist leer, er muss ausgewechselt werden. Dann packen die Besatzer ihre Koffer, sie verlassen Wien. Eilig werden Kisten verschnürt und Möbel verrückt. Der Boden knarzt unter den Militärstiefeln. Die Soldaten tragen dicke Uniformen und Fellmützen, draußen hat es noch immer weit über 30 Grad. Das Drehbuch erlaubt, dass einige rauchen. Es übertüncht den Schweißgeruch. „Wo geht’s ihr hin?“, fragt Christine, das kindliche Ich der Romanautorin Nöstlinger. „Scheiß Deitschland“, sagt eine russische Soldatin. – „Seid’s ihr in Deutschland wieder mit dem Cohn zusammen?“ Die Soldatin zuckt die Achseln. „Kann sein, kann nicht sein.“ Es ist jetzt stockdunkel draußen. Jemand macht die Scheinwerfer aus, die Mücken werden unsichtbar. Plötzlich lässt ein greller Blitz für Sekunden das Bergpanorama hell in Blau erstrahlen. Dann knallt es. Endlich, das Gewitter ist da. Auch das Filmteam ist in Aufbruchsstimmung. Morgen müssen sie weiter. Zum nächsten Drehort, der Förderung hinterher. Cohn ist schon ins Hotel gefahren, er hat Feierabend. Bestimmt zündet er sich gerade eine Zigarette an. KONTAKT Anja Melzer: [email protected]
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