Antikoagulation betagter Patienten

University of Zurich
Zurich Open Repository and Archive
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CH-8057 Zurich
http://www.zora.uzh.ch
Year: 2009
Antikoagulation betagter Patienten - Der schmale Grat zwischen
Nutzen und Risiko
Steffel, J; Lüscher, T F
Steffel, J; Lüscher, T F (2009). Antikoagulation betagter Patienten - Der schmale Grat zwischen Nutzen und Risiko.
MMW-Fortschritte der Medizin, 151(16):33-36.
Postprint available at:
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Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich.
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Originally published at:
MMW-Fortschritte der Medizin 2009, 151(16):33-36.
MMW Fortschritte der Medizin 2009
Antikoagulation betagter Patienten –
Der Schmale Grat zwischen
Nutzen und Risiko
Jan Steffel und Thomas F. Lüscher
Herzkreislaufzentrum, Klinik für Kardiologie, UniversitätsSpital Zürich und
Kardiovaskuläre Forschung, Institut für Physiologie, Universität Zürich
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Thomas F. Lüscher
Direktor, Klinik für Kardiologie, Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100; 8091 Zürich
Tel: +41-44-255 2121; Fax: +41-44-255 4251
E-mail: [email protected]
Steffel & Lüscher: OAK im Alter
MMW Fortschritte der Medizin 2009
KEY WORDS
Orale Antikoagulation, Thromboembolie, Vorhofflimmern, Schlaganfall, Geriatrie
ENGLISH TITLE
Anticoagulation in the elderly – The thin line between benefit and risk
ENGLISCHE KEYWORDS
anticoagulation, elderly, coumadin, atrial fibrillation, stroke, thromboembolism
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Steffel & Lüscher: OAK im Alter
MMW Fortschritte der Medizin 2009
Einleitung
Indikationen für die orale Antikoagulation
Die orale Antikoagulation (OAK) nimmt einen wichtigen Stellenwert in der Therapie
und Prophylaxe thromboembolischer Erkrankungen ein. In Anbetracht der zunehmend
alternden Gesellschaft steigt die Prävalenz betagter Patienten unter oraler Antikoagulation.
Bei der Entscheidung für oder gegen eine Antikoagulation dieser Patienten ergeben sich
zahlreiche Probleme, welche relevant für die Praxis sind. In diesem Artikel soll ein Überblick
über die Antikoagulation geriatrischer Patienten für die drei häufigsten in der Praxis
vorkommenden
Indikationen
Sekundärprophylaxe
nach
(Schlaganfallprophylaxe
thromboembolischen
beim
Ereignis,
Vorhofflimmern,
Prophylaxe
eines
thromboembolischen Ereignisses nach Herzklappenimplantation) gegeben werden. Weitere,
seltenere Indikationen für eine OAK (wie z.B. linksventrikulärer Thrombus bei
Vorderwandaneurysma oder angeborene Thrombophilie) werden hierbei ausgeklammert,
wobei festgehalten werden kann, dass die Datenlage bei eben diesen Indikationen in der
geriatrischen Population ohnehin äusserst dürftig ist.
Wirkmechanismus der Coumarine, Monitoring
Vitamin-K Antagonisten wie Phenprocoumon (Marcoumar®), Acenocoumarol
(Sintrom®) oder Warfarin (Coumadin®) hemmen die Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII,
IX und X sowie der antikoagulatorischen Proteine Protein C und S; die einzelnen Präparate
unterscheiden sich dabei in erster Linie in ihrer Halbwertszeit. Als Folge dieser Hemmung
wird die Gerinnbarkeit des Blutes reduziert, was in vitro mittels einer Verlängerung der
Prothombinzeit (PT, „Quick“) gemessen werden kann. Da der Quick Wert ein und des selben
Patienten von Labor zu Labor aufgrund der verwendeten Reagenzien teilweise erheblich
variierte, wurde Anfang der 80er Jahre die INR (International Normalized Ratio) zur
Monitorisierung antikoagulierter Patienten eingeführt, in der diese Variabilität durch
Normalisierung der erhaltenen Quickwerte eliminiert wurde.
Grundsätzliche Herausforderungen der oralen Antikoagulation bei betagten Patienten
Die orale Antikoagulation mittels Vitamin K Antagonisten stellt aufgrund des engen
therapeutischen
Bereichs
bereits
im
normalen
internistischen
Krankengut
eine
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Steffel & Lüscher: OAK im Alter
MMW Fortschritte der Medizin 2009
Herausforderung dar. Bei der geriatrischen Patientenpopulation kommen zusätzliche
Probleme sowohl in der Indikationsstellung (Risiko-Nutzen Analyse, s.u.), als auch in der
praktischen Durchführung hinzu. Zum einen steigt die Prävalenz von Erkrankungen, welche
mittels OAK behandelt werden, mit zunehmendem Alter an. Dies gilt sowohl für venöse
Thromboembolien, als auch speziell für die Prävalenz des Vorhofflimmerns sowie des
Risikos eines thromboembolisch bedingten Schlaganfalls, welcher besonders im Alter mit
einer erheblichen Morbidität und Mortalität assoziiert ist.1 Auf der anderen Seite gehört das
fortgeschrittene Alter erwiesenermassen zu den Risikofaktoren für eine Blutungskomplikation
unter OAK,2-5 unter anderem deshalb, weil ältere Patienten leichter überantikoaguliert werden
und länger brauchen, um wieder in den Zielbereich zurückzukehren.3, 6 Bei betagten Patienten
besteht somit grundsätzlich das therapeutische Dilemma, dass sowohl eine Antikoagulation
als auch das Unterlassen einer Antikoagulation mit einem höheren Risiko für Komplikationen
vergesellschaftet ist, als in der „Normalbevölkerung“.
Darüber hinaus spielen Komorbiditäten älterer Patienten und die hiermit verbundenen
Komedikationen eine wichtige Rolle, da Interaktionen mit den oralen Antikoagulantien häufig
sind. Insbesondere nicht-steroidale Antirheumatika, welche aufgrund der hohen Prävalenz der
Osteoarthritis und Osteoporose mit entsprechenden Schmerzen im Bewegungsapparat in
dieser Bevölkerungsgruppe häufig eingesetzt werden, sind von Bedeutung, da sie sowohl mit
der
Proteinbindung
und
der
cytochromalen
Metabolisierung
von
Phenprocoumon
interagieren, als auch selber die Thrombozytenaggregation hemmen und so die
Blutungsneigung weiter verstärken können. Zahlreiche weitere Präparate, welche in dieser
Altersklasse regelmässig zum Einsatz kommen (z.B. Antibiotika, trizyklische Antidepressiva,
Kortikoide, Diuretika und andere) führen ebenfalls zu signifikanten Interaktionen.
Oralen Antikoagulation zur Thromboembolieprophylaxe beim Vorhofflimmern
Aktuelle Guidelines
Durch den Stillstand der Vorhofwände und der dadurch resultierenden Blutstase im
linken Vorhof bestehen beim Vorhofflimmern optimale Voraussetzungen für die Bildung
atrialer fibrin-abhängigen Thromben, welche in der Folge zu systemischen arteriellen
Thromboembolien
(inklusive
zerebrovaskulärem
Insult)
führen
können.
Die
Hauptrisikofaktoren für einen Schlaganfall beim Vorhofflimmern sind Alter > 75 Jahre,
Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, sowie ein vorangegangener Schlaganfall
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MMW Fortschritte der Medizin 2009
oder TIA. Mit Hilfe des CHADS2-Scores (Tab 1A), welche auf diesen Risikofaktoren fusst,
kann sowohl das jährliche Risiko für einen Schlaganfall, als auch die hieran angepasste
Therapieempfehlung hergeleitet werden (Tab. 1B).7 Grundsätzlich ist eine OAK bei einem
CHADS2 Wert von ≥ 2 aufgrund des hier deutlich erhöhten Schlaganfallrisikos indiziert,
während bei einem CHADS2 = 1 mit OAK oder Aspirin, und bei Fehler dieser Risikofaktoren
(„low risk“ Population) mit Aspirin alleine behandelt werden kann.7,
8
Die Indikation zur
OAK ist dabei unabhängig vom Auftreten des Vorhofflimmerns (paroxysmal vs. permanent);
lediglich bei sog. „sekundären“ Vorhofflimmern nach eindeutig auslösendem Ereignis (z.B.
schwerer Infekt, postoperativ, im Rahmen einer Elektrolytentgleisung u.a.m.) wird ein
abwartendes Vorgehen mit regelmässigen Rhythmuskontrollen empfohlen. Die Guidelines für
die Antikoagulation beim Vorhofflattern entsprechen im Wesentlichen denen des
Vorhofflimmerns (bei insgesamt jedoch eher schwächerer Datenlage).7
Orale Antikoagulation bei Vorhofflimmern bei betagten Patienten
Geriatrische Patienten haben alleine aufgrund ihres Alters (Alter > 75 = 1 CHADSPunkt) bereits mindestens ein moderates Risiko für einen Schlaganfall, und qualifizieren
häufig aufgrund anderer Komorbiditäten (CHADS2 ≥ 2) für eine OAK. Im Unterschied zur
Sekundärprophylaxe bei venöser Thromboembolie (s.u.) liegen einige Studien zur Sicherheit
und Effektivität der OAK bei diesen Patienten vor. Am wichtigsten erscheint hierbei die
kürzlich publizierte BAFTA-Studie, in welcher bei knapp tausend geriatrischen Patienten
(mittleres Alter 81.5 Jahre) mittels OAK (Ziel INR 2.0-3.0) eine relative Risikoreduktion aller
Schlaganfälle (inklusive intrazerebraler Blutung) von 48% verglichen mit Aspirin erreicht
werden konnte – ohne, dass das Risiko schwerer Blutungen anstieg.9 Die aktuellen (2008)
Guidelines des American College of Chest Physicians machen, speziell aufgrund dieser
Studie, bezüglich Indikationsstellung oder Intensität der Antikoagulation bei Vorhofflimmern
keinen Unterschied zwischen der „Normalbevölkerung“ und der geriatrischen Population.10
Dies erscheint umso wichtiger, da diese Therapie weiterhin einem grossen Prozentsatz älterer
Patienten mit Vorhofflimmern aus Angst vor Blutungskomplikationen vorenthalten wird,
obwohl die Kriterien für eine OAK erfüllt wären, und der Benefit erwiesen ist.11
Oralen Antikoagulation zur Sekundärprävention der tiefen Beinvenenthrombose und
Lungenembolie
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Aktuelle Guidelines
Die Behandlung sowie Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien, also einer
tiefen Beinvenenthrombose oder einer Lungenembolie, erfolgt in der Regel mittels OAK. Zur
Initialtherapie kommt zumeist unfraktioniertes oder nierdermolekulares Heparin zum Einsatz,
wobei im Rahmen der Therapie der Lungenembolie ein aggressiveres Vorgehen von Nöten
sein kann (inklusive Einsatz von Thrombolytika u.a.m.).12 Die Langzeitbehandlung der beiden
Erkrankungen mittels OAK ist jedoch praktisch identisch, was darauf zurückzuführen ist, dass
eine tiefe Beinvenenthrombose bzw. Lungenembolie als unterschiedliche Manifestationen ein
und der selben Erkrankung angesehen werden.12 Entsprechend wird aktuell für eine
provozierte
venöse
Thromboembolie,
also
einer
tiefen
Beinvenenthrombose
oder
Lungenembolie im Rahmen eines reversiblen, transienten Risikofaktors (z.B. Immobilisation
nach orthopädischem Eingriff, Flugreise etc.), eine OAK für 3 Monate empfohlen. Hiernach
sollte
eine
Nutzen-Risiko
Abschätzung
erfolgen
(je
nach
dem
inklusive
Thrombophilieabklärung), wonach das weitere Prozedere bestimmt wird.13 Bei Anwesenheit
eines malignen Tumorleidens wird eine Therapie mittels niedermolekularen Heparinen
empfohlen, welche nach 3-6 Monate auf eine OAK umgestellt werden kann, und entweder
zeitlebens oder bis zur Heilung des Tumorleidens durchgeführt wird. Die Ziel INR zur
Sekundärprophylaxe thromboembolischer Ereignisse liegt, im wesentlichen unabhängig von
der Indikation, bei 2.0 – 3.0, da hier das beste Verhältnis von Nutzen und Risiko (speziell
Blutungsrisiko) besteht.12
Oralen Antikoagulation zur Sekundärprophylaxe der venösen Thromboembolie bei betagten
Patienten
Der Mangel an klinischen Studien, in welchen spezifisch Risiko und Nutzen einer
OAK zur Sekundärprophalyxe von venösen Thromboembolien in betagten Patienten
untersucht wurde, stellt ein grundsätzliches Problem in der evidenz-basierten Behandlung
dieser Patienten dar. In den neuesten Guidelines des American College of Chest Physicians
werden
demzufolge
auch
praktisch
keine
spezifischen
Empfehlungen
für
diese
Patientenpopulation abgegeben, weder bezüglich Dauer noch hinsichtlich Intensität (Ziel
INR) der Antikoagulation. Lediglich eine niedrigere Dosierung der OAK wird bei älteren
Patienten empfohlen.3,
12
Eine individualisierte Risiko-Nutzen Abwägung erscheint somit
umso wichtiger. Evidenz für eine grundsätzlich andere Indikationsstellung oder INRZielwerte gibt es (aus Mangel an entsprechenden Daten) nicht.
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Orale Antikoagulation bei mechanischen Herzklappen
Aktuelle Guidelines
Nach Herzklappenersatz richtet sich die Dauer der Antikoagulation in erster Linie
nach dem verwendeten Klappentyp. Nach Implantation einer biologischen Herzklappe oder
nach Reparatur des Mitralklappenapparates kann die OAK in der Regel auf 3 Monate
beschränkt werden, während eine lebenslange OAK nach mechanischem Herzklappenersatz
indiziert ist. Die Zielwerte der OAK richten sich dabei nach dem verwendeten Klappentyp
und eventuell vorhandenen Komorbiditäten (Tab. 2).14
Oralen Antikoagulation bei mechanischen Herzklappen in betagten Patienten
Als Folge der gestiegenen Lebenserwartung sowie technischem Fortschritt auf dem
Gebiet der Herzklappenchirurgie werden zunehmend ältere Patienten Herzklappenoperationen
unterzogen. Der Unterschied zum Vorhofflimmern oder venöser thromboembolischer
Erkrankungen liegt grundsätzlich darin, dass eine Herzklappenoperation in der Regel im
Voraus geplant und den individuellen Bedürfnissen des Patienten angepasst werden kann.
Ältere Patienten mit einer geringeren Lebenserwartung können somit eher mit einer
biologischen Herzklappe versorgt werden, wenn deren Haltbarkeit (in der Regel 12-15 Jahre)
die Lebenserwartung des Patienten übersteigt. Seit neuestem steht darüber hinaus für diese
Patienten der perkutane Aortenklappenersatz zur Verfügung,15 wonach in der Regel nur eine
doppelte Plättchenhemmung (Aspirin und Clopidogrel) nötig ist. Bei gesunden, biologisch
jüngeren Patienten kann hingegen die Implantation einer mechanischen Klappe erwogen
werden. In diesem Fall muss jedoch aufgrund der hohen Thrombogenität mechanischer
Klappen
(insbesondere
nach
Implantation
einer
mechanischen
Mitralklappe)
die
Antikoagulation mit der üblichen Intensität durchgeführt werden (Tab. 2).14 Eine kürzlich
publizierte Studie deutet darauf hin, dass dieses Prozedere jedoch grundsätzlich sicher zu sein
scheint.16 Bei Patienten mit anhaltenden Mikroembolien oder gleichzeitig bestehendem
Vorhofflimmern nach mechanischem Klappenersatz wurde die Kombination von oraler
Antikoagulation und Aspirin randomisiert verglichen;17 dabei zeigte sich eine Reduktion
weiterer klinischer Ereignisse in der Kombinationstherapiegruppe. Allerdings zeigte sich
ebenfalls eine Erhöhung des Blutungsrisikos, was wahrscheinlich bei älteren Patienten
besonders relevant sein dürfte.
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Gründe der Untertherapie betagter Patienten
Geriatrischen Patienten, speziell solchen mit Vorhofflimmern, werden häufig nicht
adäquat antikoaguliert, obwohl die Indikation für eine orale Antikoagulation gegeben ist.11
Sowohl Subgruppenanalysen älterer, als auch insbesondere die Daten neuer Studien (s.o.)
deuten hingegen darauf hin, dass die OAK bei geriatrischen Patienten nicht nur sicher ist,
sondern auch einen realen Benefit mit sich bringt. Während das Risiko einer Blutung (und
speziell einer intrakraniellen Blutung) zwar immer vorhanden ist, wird das insgesamt grössere
Risiko eines erneuten Schlaganfalls häufig unterschätzt.
Daneben sind eine Reihe anderer Ursachen massgeblich für der restriktiven
Indikationsstellung für eine OAK bei älteren Patienten verantwortlich, inklusive der Angst
vor einem erhöhten Sturzrisiko, sowie das häufigere Vorkommen von „verwirrten“ oder
dementen Patienten in dieser Altersklasse. Hinweise mehren sich, dass ein erhöhtes
„Sturzrisiko“ alleine keinen Grund darstellen sollte, einem Patienten eine grundsätzlich
indizierte OAK zu verweigern, da bei guter Einstellung der Nutzen dem Risiko überwiegt.18
Auch intermittierende oder leichte „Verwirrung“ oder Demenz stellen per se keine absolute
Kontraindikation dar, so lange eine regelmässige Medikamenteneinnahme, eine gleichmässige
Ernährung, und regelmässiges Monitoring gewährleistet werden kann; insbesondere ist es
nachvollziehbar, dass durch die Verhinderung rezidivierender zerebraler Mikroembolien eine
vaskuläre
Demenz
durchaus
positiv
beeinflusst
werden
kann.
Auch
logistische
Schwierigkeiten des Monitorings sollten, so lange nicht wirklich unbehebbar, keinen
Hinderungsgrund für eine indizierte OAK darstellen. Im Gegenteil kann speziell die
Unterrichtung und eine Einweisung des Patienten (und ggf. seiner Umgebung) über Sinn und
Zweck der OAK, sowie in die hiermit verbundenen Risiken das Blutungsrisiko deutlich
senken;18 in besonderen Fällen kann sogar ein Selbstmonitoring (inkl. selbstständiges
Anpassen der Therapie) in Erwägung gezogen werden.
Zusammenfassung
Die orale Antikoagulation betagter Patienten stellt ein Dilemma dar, da mit
steigendem Alter sowohl das Risiko einer Thromboembolie zunimmt (mit entsprechend
assoziierter Morbidität und Mortalität), als auch das Blutungsrisiko unter OAK. Die Angst vor
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Komplikationen führt dabei jedoch häufig dazu, dass betagte Patienten a priori von einer
OAK ausgeschlossen werden, ohne dass eine entsprechende Risiko-Nutzen Analyse
überhaupt stattfindet. Bei geriatrischen Patienten mit Vorhofflimmern liegen darüber hinaus
zunehmend Studien vor, nach denen eine orale Antikoagulation dieser Patienten sowohl
sicher, als auch effektiv ist; es bleibt abzuwarten, ob diese Ergebnisse auch auf andere
Indikationen (wie z.B. der Sekundärprophylaxe nach thromboembolischem Ereignis)
übertragen werden können. Zahlreiche praktische Aspekte der OAK bei älteren Patienten
bedürfen spezieller Beachtung (welches sowohl ärztlich-therapeutische, als auch praktische
Elemente einschliesst), bei deren Beachtung die Sicherheit der OAK in der geriatrischen
Population weiter erhöht werden kann (Tab. 3). Im Endeffekt muss die Entscheidung zur
OAK bei betagten Patienten (noch mehr als ohnehin schon) immer individualisiert und an die
Bedürfnisse, Lebensumstände, und andere individuelle Faktoren angepasst werden.
Ausblick: Neue Antikoagulantien
Neue orale Antikoagulantien, inklusive den direkten Thrombinhemmern (z.B.
Dabigatran) oder den direkten Faktor-Xa Antagonisten (z.B. Rivaroxaban, Apixaban) könnten
in Zukunft die Vitamin-K Antagonisten in ihren bisherigen Standardindikationen verdrängen,
da sie ein günstigeres Risiko-Nebenwirkungsprofil zu besitzen scheinen. Darüber hinaus
bestehen offenbar weniger Interaktionen mit anderen in dieser Altersgruppe häufig
verwendeten Medikamenten.19 Ob sich diese positiven Daten in weiteren grossen,
randomisierten Studien bestätigen, und speziell auch auf betagte Patienten zutreffen bleibt
abzuwarten.
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MMW Fortschritte der Medizin 2009
LEGENDEN
Tabelle 1: CHADS2 Score zur Schlaganfall Risikostratifizierung bei Vorhofflimmern,
sowie die hieran angelehnten Therapieempfehlungen
Siehe Text für Details.
* Zahlenmässig unterrepräsentiert in den zugrundeliegenden Studien.
Modifiziert nach 7, 8
Tabelle 2: INR Zielwerte nach mechanischem Herzklappenersatz
Die INR-Zielwerte richten sich nach dem implantierten Herzklappentyp sowie dem
Vorhandensein oder Fehlen von Risikofaktoren.
1 - Niedrig: Medtronic Hall, St Jude Medical (ohne Silzone), Carbomedics
Aortenklappenersatz, Bioklappen (3 Monate)
2 - Mittel: Zwei-Flügelklappen (mit ungenügenden Daten), Bjork-Shiley Klappen
3 - Hoch: Lillehei Kaster, Omniscience, Starr Edwards
Modifiziert nach 8, 14
Tabelle 3: Wichtige praktische Aspekte der oralen Antikoagulation bei geriatrischen
Patienten
Siehe Text für Details.
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TABELLEN
Tabelle 1:
A)
Risikofaktor (CHADS2)
Punkte
Herzinsuffizienz (CHF)
1
Alter > 75 years
1
Hypertonus
1
Diabetes mellitus
1
Z.n. Schlaganfall oder TIA
2
B)
Jährliches CVI Risiko
20 %
18.2%*
15 %
12.8%*
10 %
8.5%
5.9%
5%
CHADS2 Score
Behandlung
4.0%
1.9%
2.8%
0
1
ASS
ASS /
OAK
2
3
4
5
6
OAK
11 / 16
3.0 (2.5 - 3.5)
3.5 (3.0 - 4.0)
Mittel2
3
Hoch
2.5 (2.0 - 3.0)
Niedrig1
4.0 (3.5 - 4.5)
3.5 (3.0 - 4.0)
3.0 (2.5 - 3.5)
Vorhofflimmern
Linker Vorhof > 50mm
Gradient über Mitralklappe
EF < 35%
Spontaner Echokontrast
Mitral-, Trikuspidal-, Pulmonalklappenersatz
Mit Risikofaktoren
1 - Niedrig: Medtronic Hall, St Jude Medical (ohne Silzone), Carbomedics Aortenklappenersatz, Bioklappen (3 Monate)
2 - Mittel: Zwei-Flügelklappen (mit ungenügenden Daten), Bjork-Shiley Klappen
3 - Hoch: Lillehei Kaster, Omniscience, Starr Edwards
"Prothesenthrombogenenität" (bestimmt durch
Thromboserate der
entsprechenden Klappen)
Sinusrhythmus
Linker Vorhof < 50mm
Kein Gradient über Mitralklappe
EF erhalten
Kein spontaner Echokontrast
Aortenklappenersatz
Ohne Risikofaktoren
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Tabelle 2:
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Tabelle 3:
Therapeutische Aspekte




Regelmässiges Monitoring
Anpassung nach Ansetzen / Absetzen von Medikamenten
Periodische Re-Evaluation der Indikation / Kontraindikationen
Anpassung an akute Erkrankungen (kardiale Dekompensation, Infekt etc.)
Praktische Aspekte







Sicherstellung der Compliance
Sicherstellung regelmässiger Kontrollen
Regelmässige, gleichmässige Ernährung (speziell Gemüse)
Beurteilung der häuslichen Situation, speziell Beseitigung von Sturzrisiken
Unterrichtung und Einweisung des Patienten (und seiner Umgebung)
Sensibilisierung auf Blutungsstigmata (Meläna, roter Urin etc.)
Evtl. Selbstmonitoring
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