Das Gesicht der Dummheit

Das Gesicht der Dummheit
»On n’est pas quelqu’un quand on est inutile aux autres
et à soi même. Un homme doit remplir une fonction.«
»Une fonction, j’en ai une«, repond Jacques.
»Laquelle?«
»Inspecteur des bêtises humaines, et je ne connais pas
d’homme aussi occupé que moi.«
Eugène Nus, Nos bêtises () *
Auf der Suche nach den Quellen, die Musil herangezogen hatte, stieß ich
auf eine Reihe hochseriöser, oft unfreiwillig komischer Studien über die
Dummheit, aus der Feder unter anderen von Theologen, Philosophen,
Soziologen oder Psychologen. Die gesammelten Bücher bildeten bald
eine kleine Bibliothek. Ich kartierte alle Definitionen der Dummheit
und stellte zu meinem Erstaunen fest, daß sie im allgemeinen nicht als
Mangel, sondern als eigenständige Macht charakterisiert wurde.
Bestätigt wurde dieses Bild darüber hinaus durch Dutzende von
Allegorien aus der Druckgraphik des Mittelalters und der Renaissance,
in der die Dummheit (Stultitia) einen eigenen Platz neben den anderen
Eigenschaften einnimmt. So sehen wir eine Frau mit entblößtem Busen
und einem ins Haar geflochtenen Narzissenkranz. Sie lehnt sich an eine
Ziege, die das Kraut Eryngium kaut. Die Narzissen verweisen auf das
griechische Wort narkè, das »Betäubung« bedeutet (»Narkose«). Laut
Plinius rührt sich die Ziege nach dem Genuß von Mannstreu nicht mehr
vom Fleck. Die nackten Brüste deuten auf Schamlosigkeit hin. In dieser
Allegorie * * aus H.K. Poots Groot Natuur- en Zedenkundigh Werelttoneel
(»Großes natur- und sittenkundliches Welttheater«, ) sehen wir drei
Aspekte der Dummheit prägnant beleuchtet: Dumpfheit, Starrsinn und
Schamlosigkeit.
Ein Stich aus Jacob Cats’ Emblembuch Silenus Alcibiades sive Proteus
(Zinne- en minnebeelden, ) bildet dazu ein Pendant. Wir sehen eine
Frau mit Adlerflügeln und einem Eulenkopf. Ihre Kleidung ist mit
Narrenschellen behängt, und in der Hand hält sie einen »Slapstick«, ein
* Übersetzung der fremdsprachigen Stellen S.  ff.
* * Siehe Titelblatt

Die schwarze Fahne
Allegorie der Dummheit
Aus: Jacob Cats,
Zinne- en minnebeelden,
Amsterdam 
Narrenzepter mit einem Erbsensäckchen zum Watschen. Die Eule ist
in Westeuropa ein Symbol der Dummheit, da das Tier tagsüber blind
und hilflos ist. Man denke an den Ausdruck »komischer Kauz« und die
Redensart: »Jeder sieht seine Eule für eine Nachtigall an.« In diesem
Bild wird die Dummheit nicht durch Trägheit, sondern durch voreiliges
Handeln gekennzeichnet. Die Weisheit dagegen eilt mit Weile.
Kurzum, Dummheit wird mit sinnfälligen Extremen assoziiert: Sie
ist entweder zu träge oder zu schnell. Seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts verschiebt sich der Schwerpunkt jedoch zunehmend auf
die Dummheit des grauen Mittelmaßes. Nicht nur in der Druckgraphik,
sondern auch in der Literatur tritt der dumme Bürger in den Vordergrund. Man denke an Chrysostomus Matanasius, Monsieur Prudhomme,
Tribulat Bonhomet, Bouvard, Pécuchet und Batavus Droogstoppel.
Im Gegensatz zu den Narren der mittelalterlichen Satire, die die
Laster des Kollektivs exemplarisch verkörpern, symbolisiert der Bürger
jetzt die engstirnige Tugendhaftigkeit der Masse. Der Philister sündigt,
Die schwarze Fahne

Reine und unreine Vögel
Holzschnitt von Erhard
Schön (ca. )
»Die Nachtewl bey dem
tag ist blindt / Also auch
alle menschen kindt /
Erblinden vo(n) dem
Gottes Wort / Werden
durch ir vernufft bedort«
Max Geisberg, Walter
Leopold Strauss, The
German single-leaf woodcut. ‒, 
Übergangsperiode gleich, einem fortwährenden Interregnum. Die Hinnahme dieser immanenten Unmöglichkeit ist charakteristisch für die
Demokratie. Das Wahlergebnis berechtigt einen Untertan, die Macht auf
Zeit auszuüben, als Stellvertreter eines unmöglichen Herrschers. Er hat
den Status eines Bevollmächtigten. (Claude Lefort, L’ Invention démocratique, Paris )
Damit die Minister nicht an ihren Sesseln kleben bleiben, sprechen
wir voller Geringschätzung über die Raffkes in Berlin, Den Haag oder
Paris, über die hauptstädtische Arroganz, die hohen Herren usw. So erinnern wir uns selbst und die Regierenden an den Abgrund, der sie vom
Ort der Macht trennt.
Weil niemand die unmittelbare Verkörperung des Volkes sein kann,
muß der Ort der Macht leer bleiben. Die Herrscher auf Zeit besetzen
bloß die Leerstelle einer unmöglichen Souveränität.
Der Ort der Macht hat rein symbolischen Charakter; er kann nicht
von einer realexistierenden politischen Machtfigur besetzt werden, ohne
die Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln. Erfolgreiche Politiker
stellen die größte Gefahr für die Demokratie dar!
Der Terror
Wir müssen uns um die Demokratie bemühen –
und verhindern, daß sie sich verwirklicht.
Fallor, frei nach Robert Musil
Robespierre guillotiniert
den Henker, nachdem
er alle Franzosen hat
guillotinieren lassen.
Auf karikaturistische Weise wird das Paradox der Demokratie von den
Jakobinern zu Zeiten der Französischen Revolution veranschaulicht. Der
Terror beruhte auf der Illusion einer radikalen Vernichtung der korrupten feudalen Tradition und der Erschaffung eines Neuen Menschen
ex nihilo. Daß es sich um eine Illusion handelt, geht aus dem Zirkelschluß hervor: Das Volk bürdet dem Nationalkonvent (den Vertretern
des Volkes) die Aufgabe auf, das Volk zu konstituieren. Die Illusion sollte
verhüllen, daß das Volk nicht das Produkt einer Vernunftentscheidung,
sondern von irrationaler Gewalt ist. Keinem war dies so sehr bewußt wie
den Jakobinern selbst.

Die Dummheit der konstitutionellen Monarchie
Anonym ()
Die verbrecherische
Kehrseite des Gesetzes
kommt zum Ausdruck
in dem Witz: »Gibt es
hier noch Henker?
Nein, den letzten haben
wir gestern geköpft.«
Auch Robespierre sollte
schließlich unter dem
Fallbeil sterben.
Der Wahn der Wahl
