Christian Reich: Predigt zu Lukas 22, 47-53 am 8. März 2015 (3. Sonntag der Passionszeit: Okuli) in der Bethlehemkapelle 0ranienburg und der Dorfkirche Germendorf „Das Wort Gottes kommt zu uns als Predigt: Trost zu erwecken dem Glauben, Gericht zu sprechen dem Aberglauben, aufzuerwecken den ermüdeten Glauben.“1 Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde, innerhalb des Kirchenjahres trägt der heutige dritte Sonntag in der Passionszeit den Namen „Okuli“. „Okuli“ ist das erste Wort des 15. Verses von Psalm 25 in einer lateinischen Bibelübersetzung, der so genannten Vulgata: „oculi mei semper ad Dominum“,2 zu Deutsch: „Meine Augen sehen stets auf den HERRN“. Wir können körperlich gesunde Augen haben oder auch mit einer teuren Brille die Oberfläche unserer Umwelt deutlich wahrnehmen, und trotzdem blind sein: blind in Hinsicht auf das, was wir nicht sehen wollen und deshalb entweder verdrängen oder aber schön bzw. schlecht reden, blind in Hinsicht auf unsere Mitmenschen und blind in Hinsicht auf Gott, wobei die zuletzt genannte Blindheit die zuvor genannten Blindheiten nach sich zieht. Wer in Hinsicht auf Gott blind ist, nimmt nur die Oberfläche der Welt wahr und ist deshalb auch blind in Hinsicht auf seine Mitmenschen. Und blind in Hinsicht auf 1 Bernhard von Issendorff, Gnadenzusage (für den 17. Sonntag nach Trinitatis: Glauben und Unglauben), in: Erhard Domay (Hg.), Neue Gottesdienstgebete. Gebete für alle Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres, Gütersloh 2005, S. 112. 2 Genauer: Psalm 25, 15 entspricht der Zählung der Lutherbibel (entsprechend der Biblia Hebraica); in der Vulgata (= „die Allgemeine“) handelt es sich (entsprechend der griechischen Septuaginta) um Psalm 24, 15. 1 Gott sind wir auch deshalb, weil wir oftmals blind in Hinsicht auf die Bibel sind. So wären wir z.B. blind, wenn wir die Passionserzählungen der vier Evangelien nur als vergangene Berichte lesen würden, denn sie sind keine Berichte, weshalb sie auch nicht nur von Vergangenem erzählen. Markus, Matthäus, Lukas und Johannes erzählen zu unterschiedlichen Zeiten in vier unterschiedlichen literarischen Kompositionen3 unterschiedlich von Jesus, von Petrus, Judas und den übrigen Jüngern, von den Schriftgelehrten und den Pharisäern, von Herodes, Pilatus sowie von den anderen namentlich und ohne Namen Genannten. Die vier Evangelien sind vergleichbar mit vier dramatischen Theaterinszenierungen, in denen der jeweilige Regisseur jeweils seine eigene Interpretation ein und desselben Geschehens zum Ausdruck bringt und dadurch die jeweiligen Zuschauerrinnen und Zuschauer zur eigenen Auseinandersetzung mit den handelnden Personen und zu einer entsprechenden Stellungnahme ermuntert.4 Die vier Evangelien stellen ihren Leserinnen und Lesern die Frage, wo sie selbst in den Geschichten vorkommen, d.h. sie stellen uns heute die Frage, wo wir in ihnen vorkommen. Mit welcher Person wollen wir uns identifizieren? Mit welcher Person können oder müssen wir uns identifizieren? Wo erkennen wir das Gesicht unserer Gesellschaft, wo das Gesicht unserer Kirche? 5 3 Vgl. Martin Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns (Biblische Gestalten, Band 10), Leipzig 2004, S. 21: „Erzählende Texte sind Texte, die von Anfang bis Ende durchkomponiert sind und mit dem Anfang beginnend gelesen werden sollen.“ 4 Vgl. Martin Meiser, S. 22: „Ferner will die Autorin bzw. der Autor erreichen, dass die Leserinnen und Leser zu den im Text erwähnten Personen und Geschehnissen Stellung beziehen. Neuere Forschung fragt deshalb im Einzelnen, wie die Autoren diese Stellungnahme zu beeinflussen suchen.“ 5 Vgl. Fulbert Steffensky, Meditation: Gesichter der Passion, in: Dorothee Sölle / Fulbert Steffensky, Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit. Predigten, Stuttgart 2004, S. 145: „Die Frage ist, wo wir unser eigenes Gesicht erkennen, das Gesicht unserer Kirche, unserer Stadt, unserer Gesellschaft. Wo kommen wir vor?“ Christian Reich: Predigt zu Lukas 22, 47-53 am 8. März 2015 (3. Sonntag der Passionszeit: Okuli) in der Bethlehemkapelle 0ranienburg und der Dorfkirche Germendorf Hören wir die Geschichte von der Verhaftung Jesu, wie sie der Evangelist Lukas erzählt. Wir erinnern uns: Jesus hatte sich nach dem gemeinsamen Abendmahl mit seinen Jüngern an einen ruhigen Ort zurückgezogen, um im Gebet mit seinem Schicksal zu hadern, um sich auf das ihm bevorstehende Martyrium vorzubereiten.6 Und während er buchstäblich Blut schwitzte,7 schliefen seine Jünger, weshalb Jesus sie nun weckt und zu beten ermahnt: „Steht auf und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallt!“ 8 Es ist die Nacht, in der er verraten wird. Ich lese aus dem 22. Kapitel des Lukasevangeliums die Verse 47-53:9 47 Als er aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich zu Jesus, um ihn zu küssen. 48 Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? 49 Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? 50 Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 51 Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. 52 Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen. 53 Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. I. Liebe Gemeinde, was damals genau geschehen ist, wissen wir nicht. Wie gesagt: Die vier Evangelien sind vergleichbar mit vier dramatischen Theaterinszenierungen. Wer die Texte gründlicht liest, stolpert über ihre Unterschiede:10 Während in der ältesten Jesus-Geschichte, dem Markusevangelium, Jesu Jünger bei seiner Gefangennahme fliehen, ist davon bei Lukas nicht die Rede. Während es in der jüngsten Jesus-Geschichte, dem Johannesevangelium, Simon Petrus ist, der mit seinem Schwert einem Knecht des Hohenpriesters das rechte Ohr abschlägt, wird bei Markus, Matthäus und Lukas der betreffende Jünger nicht namentlich genannt. Bei Markus und Matthäus kommt es erst nach Jesu Verhaftung zum Waffeneinsatz; es ist also der Versuch, Jesus zu befreien. Bei Lukas und Johannes kommt es bereits vor Jesu Verhaftung zum Waffeneinsatz; hier ist es also der Versuch, Jesus zu verteidigen. „Nur bei Lukas wird der Verwundete wieder geheilt.“11 Während bei Markus und Matthäus der Verräter Judas Jesu Verhaftung durch einen Kuss einleitet, ist davon bei Johannes überhaupt nicht die Rede, und bei Lukas kommt es gar nicht zu dem von Judas geplanten Kuss. Nun ist es aber gerade dieser Kuss des Judas, der „als Symbol schlimmsten Vertrauensbruchs“12 in die Geschichte eingegangen ist und bei Nennung seines Namens bis heute negative Assoziationen weckt. Judas gilt als Prototyp des Verräters, und unzählige Menschen nach ihm wurden mit ihm verglichen. Dabei gilt auch von Judas, was 10 6 Vgl. Markus 14, 32-42; Matthäus 26, 36-46; Lukas 22, 39-46. 7 Vgl. Lukas 22, 44. 8 Lukas 22, 46. 9 Dieser Predigttext ist der Vorschlag im Entwurf einer Perikopenrevision für die Predigtreihe V am Sonntag Okuli. Siehe Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte. Entwurf zur Erprobung im Auftrag von EKD, UEK und VELKD, Hannover 2014, S. 178. 2 Vgl. Markus 14, 43-52; Matthäus 26, 47-56; Johannes 18, 1-12. Siehe dazu bereits Kurt Lüthi, Das Problem des Judas Iskariot – neu untersucht, in: Evangelische Theologie, 16. Jahrgang (1956), Heft 2/3, S. 114 (5. These): „ Die Frage nach den Differenzen und Tendenzen der einzelnen Evangelisten ist genau zu prüfen. Die Spannung zwischen Stoff und Form ist zeugnishaft zu verstehen und auszuwerten.“ 11 Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Band 3), Berlin 1988, S. 380. 12 Martin Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns, S. 11. Christian Reich: Predigt zu Lukas 22, 47-53 am 8. März 2015 (3. Sonntag der Passionszeit: Okuli) in der Bethlehemkapelle 0ranienburg und der Dorfkirche Germendorf wir eben bereits für die gesamte Verhaftungsszene festgestellt haben: Genaues wissen wir nicht, weder über seine Person und Persönlichkeit noch über die Motive seines Verhaltens gegenüber Jesu.13 Die vier Evangelisten bringen nur wenige Informationen mit wiederum unterschiedlichen Interpretationen.14 Ein wichtiges theologisches Lexikon aus dem Jahr 1929 bezeichnet Judas als „wohl die rätselhafteste Gestalt der evangelischen. Geschichte“,15 und in der letzten Nachfolge-Ausgabe dieses Lexikons aus dem Jahr 2001 heißt es dann hinsichtlich des Motivs seines Verrates: „Letztlich bleibt die Tat des Judas ein Rätsel, das von den Evangelien nicht aufgelöst wird.“16 II. Schauen wir uns den Anfang der Verhaftungsszene, wie sie Lukas erzählt, genauer an. Während Jesus nach seinem verzweifelten Gebet noch mit den anwesenden Jüngern sprach, „kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich zu Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ Dass der geplante Kuss des Judas ein Zeichen für diejenigen ist, die zur Verhaftung Jesu angerückt sind, wissen wir aus dem Markus- und dem Matthäusevangelium.17 Hier – bei Lukas – ist davon nicht die 3 Rede, kommt aber durch die Frage Jesu dennoch deutlich zum Ausdruck: „Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ Dass Judas ein „Verräter“ sei bzw. zu einem „Verräter“ werden würde, erzählt Lukas bereits im ersten Teil seines Evangeliums, nämlich an der Stelle, wo Jesus seine zwölf Jünger beruft. Was nun aber das Motiv des Judas für seinen Verrat Jesu besteht, darüber gibt der griechische Urtext besser Auskunft als die Mehrheit seiner deutschen Übersetzungen.18 „Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ – so oder ähnlich übersetzen sie, einschließlich der letzten überarbeiteten Fassung der Lutherbibel. Genauer und – wie ich meine – inhaltlich angemessener ist diese Übersetzung: „Judas, übergibst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ 19 Die Elberfelder Bibel übersetzt: „Judas, überlieferst du den Sohn des Menschen mit einem Kuss?“ An anderen Stellen der aktuellen sowie in älteren Fassungen der Lutherbibel wird das betreffende griechische Verb auch mit „überantworten“ wiedergegeben: „Judas, überantwortest du den Menschensohn mit einem Kuss?“ Liebe Gemeinde! Wer einen Menschen übergibt, gibt ihn in fremde Hände. Wer einen Menschen überliefert, liefert ihn jemandem aus.20 Wer einen Menschen überantwortet, entzieht sich der eigenen Verantwortung für dessen Schicksal.21 Und genau darin besteht der Verrat des Judas gegenüber Jesu: Judas entlässt Jesus aus der eigenen Verantwortung, indem er ihn den Hohenpriestern übergibt. Diese wiederum werden Jesus Pilatus und Pilatus schließlich Jesus seinen 13 Vgl. Martin Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns, S. 27 f. Eine Zusammenstellung der betreffenden biblischen Zeugnisse findet sich bei Martin Meiser, S. 20. 15 Roland Schütz, Judas 5. Ischarioth, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Zweite Auflage, Band III, Tübingen 1929, Sp. 461. 16 Thomas Söding, Judas Iskarioth I. Historische Rückfrage, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Vierte Auflage, Band 4, Tübingen 2001, Sp. 600. 17 Siehe dazu Martin Meiser, S. 85 ff. 14 18 Siehe dazu Martin Meiser, S. 44. Vgl. Wiard Popkes, paradidōmi übergeben, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), Band III, Stuttgart/Berlin/Köln 21992, Sp. 42-48. 19 So übersetzt Martin Meiser, S. 93. 20 Vgl. die entsprechende Übersetzung von Wolfgang Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, S. 379: „Judas, mit einem Kuß lieferst du den Menschensohn aus?“ 21 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Predigt am Sonntag Judika über Judas (14. März 1937), in: Gesammelte Schriften (hg. v. Eberhard Bethge), Band IV: Auslegungen – Predigten (1933 bis 1944), München 1961, S. 407 f. Christian Reich: Predigt zu Lukas 22, 47-53 am 8. März 2015 (3. Sonntag der Passionszeit: Okuli) in der Bethlehemkapelle 0ranienburg und der Dorfkirche Germendorf Soldaten zur Kreuzigung übergeben.22 Gehen wir diese Kette der Verantwortlichkeiten zurück, könnten und würden die Soldaten sagen: „Wir haben auf Befehl des Pilatus gehandelt.“ Pilatus könnte und würde sagen: „Die Hohenpriester haben von mir erwartet, Jesus beseitigen zu lassen.“ Und schließlich könnten und würden die Hohenpriester sagen können: „Judas hat Jesus angezeigt, weshalb wir handeln mussten.“ Wenn wir nun noch bedenken, dass in der Passionserzählung des Lukas auch noch der Satan auftritt, von dem es heißt, dass er über Judas Macht gewann,23 dann könnte Judas mit gutem gewissen sagen: „Ich war nicht der Herr meiner selbst, als ich Jesus verriet. Der Satan war in mich gefahren.“ Und wenn wir nun endlich in Erwägung ziehen, dass in der Bibel der Satan als Gott untergeordnet gilt und „so etwas wie der himmlische Staatsanwalt“ ist,24 könnte schließlich das Verhalten des Judas gegenüber Jesus auf Gott selbst zurückgeführt werden. Was hier geschieht bzw. als Geschehen von Lukas erzählt wird, erinnert an die alttestamentliche poetische Erzählung vom so genannten Sündenfall:25 Von Gott nach der Übertretung seines Gebotes gefragt, schiebt Adam seine Schuld auf die Frau, die Gott ihm „zugesellt“ hat, und die Frau schiebt ihre Schuld wiederum auf die Schlange, welche ein Geschöpf Gottes im Paradies ist.26 Die 22 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Band II, 2: Die Lehre von Gott, Zürich 1942, S. 510. 23 Vgl. Lukas 22, 3. Siehe Martin Meiser, Judas Iskariot. Einer von uns, S. 64-67. 24 Uta Ranke-Heinemann, Nein und Amen. Anleitung zum Glaubenszweifel, (Hamburg 1992) München 1994 (Knaur-Taschenbuch), S. 76 = Uta RankeHeinemann, Nein und Amen. Mein Abschied vom traditionellen Christentum, München 52002 (Heyne Sachbuch 19/817: Ergänzte Neuausgabe), S. 85. Vgl. Hiob 1, 6. 25 1. Mose / Genesis 2, 11-13. 26 Siehe dazu Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Band I: Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, Paderborn (1977) 61987 (Sonderausgabe 1988), S. 82 ff. 4 Weitergabe eigener Schuld an unsere Nächsten bis hin zur Anklage Gottes ist die Struktur der Sünde. Und »Sünde« ist das Gegenteil von »Glauben«, also Misstrauen gegenüber Gott. III. Ich vermute, dass Judas Jesus nicht mehr vertraute. Jesus sprach und handelte zwar im Namen Gottes, und als „Heiland“ und „Retter“ heilte und rettete er einzelne Menschen an wenigen Orten. Aber am Großen und Ganzen, an den politischen und sozialen Verhältnissen insgesamt, änderte Jesus nichts. Ich vermute, Judas erwartete im Sinne jüdischer Messiasvorstellungen einen mächtigen Gott, der durch ein gewalttätiges Eingreifen das Reich Gottes zunächst im von den Römern besetzten und unterdrückten Israel, dann auf der ganzen geschundenen Erde herbei führen würde. Jesu Zuwendung galt aber einzelnen Menschen, und seine programmatischen Aussagen waren Angebote, deren Wesen es widersprochen hätte, sie mit Gewalt zu erzwingen. Insofern hatte Judas eine Vorstellung von Gott, der Jesus nicht entsprach. Ich vermute, Judas ging es um eine »gute Sache«, und um dieser »guten Sache« willen war er bereit, Jesus aus dem Verantwortungsbereich seiner Jünger zu entlassen, ihn seinem Schicksal zu überlassen, ihn denjenigen zu übergeben, die die Sache Gottes offiziell vertraten. Ich vermute, dass Judas, als er Jesus an seine Gegner überantwortete, davon ausging, dass die »Sache Jesu« sich zum Guten wenden würde. Mit Jesu Kreuzigung rechnete er nicht, aber sie entsprach auch nicht seiner Vorstellung von einem mächtigen Gott und dessen Messias. Christian Reich: Predigt zu Lukas 22, 47-53 am 8. März 2015 (3. Sonntag der Passionszeit: Okuli) in der Bethlehemkapelle 0ranienburg und der Dorfkirche Germendorf Als literarische Gestalt verkörpert Judas damit all diejenigen Gottgläubigen, die von Gott anderes und mehr erwarten, als Gott selbst bereit oder auch fähig ist, zu geben. Als literarische Gestalt verkörpert Judas aber auch all diejenigen, die ihre »gute Sache« über das Leben eines einzelnen Menschen zu stellen bereit sind. Die menschliche Geschichte ist voll der Beispiele, wo eine vermeintlich gute Weltanschauung unzähligen Menschen das Leben kostete oder zumindest erschwerte. Und auch in unserem persönlichen Umfeld werden nicht selten einzelne Menschen um einer vermeintlich guten Sache willen geopfert, oftmals z.B. um eines familiären oder auch kirchlichen Harmoniebedürfnisses willen. IV. Judas wurde wie Petrus von Jesus selbst zu seinem Jünger erwählt. Beide – Judas und Petrus – haben Jesus dann auf je eigene Weise verraten. Auch Paulus war zunächst ein Verfolger der Christen, bevor er zum Apostel wurde.27 Jesus Christus beruft offensichtlich Menschen wie dich und mich zu seinem Dienst, Menschen, die ihn immer wieder verraten, sei es aus Angst, wie Petrus, sei es aus Unverständnis und Eifer, wie Paulus, sei es durch die Übergabe der Verantwortung, wie Judas. Petrus und Paulus waren offensichtlich bereit, ihre jeweilige Vorstellung von Gott zu ändern und somit sich selbst von Gott verändern zu lassen. Beide endeten als Märtyrer. 27 Vgl. Helmut Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München (1970) 31971, S. 272 f.: „Judas Ischarioth hat zentrale Bedeutung, weil seine Tat ihn von den übrigen nicht absolut unterscheidet; mit dem, was sie getan haben, sind sie ihm alle nah. Sie sitzen alle au einer Bank: die Jünger, die fliehen, Petrus, der sich lossagt, Saulus-Paulus, der verfolgt, die pietistischen Pharisäer, die Priester, die Eliten, die Plebs […].“ 5 Judas scheiterte an seiner Gottesvorstellung, indem er seine Verantwortung für Jesus Jesu Gegnern übergab. Als Christinnen und Christen werden wir uns mit einer dieser Personen – mehr oder weniger – identifizieren. Sind wir bereit, unsere Vorstellungen von Gott durch Jesus Christus – wie Petrus und Paulus – wieder und immer wieder verändern zu lassen und dafür auch gegebenenfalls von der Welt »gekreuzigt« zu werden? Oder übergeben wir Jesus, nachdem wir ihn kennen gelernt haben, seinen Gegnern, um uns selbst der Verantwortung zu entziehen? Praktischer ausgedrückt: Sind wir bereit, einen einzelnen Menschen entweder um einer »guten Sache« willen oder gar aus eigener Bequemlichkeit zu verraten? Bei einer solchen Frage und Überlegung steht mir persönlich immer wieder die Erzählung „Vom Weltgericht“ im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums vor Augen, wo Jesus Christus als „der Menschensohn“28 unmissverständlich urteilt: „Was ihr getan habt einem von diesen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“29 Oder negativ ausgedrückt: „Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“30 Mit anderen Worten: Wer einen einzelnen Menschen um einer »guten Sache« willen oder gar aus eigener Bequemlichkeit verrät oder gar opfert, verrät oder opfert möglicherweise Jesus Christus selbst. Ich bin zwar nicht sicher, ob die Entscheidung für einen dieser beiden Wege wirklich bei uns liegt, aber ich bin gewiss, dass es für Christinnen und Christen keinen dritten Weg gibt und sich letztlich nur der erste Weg, der des Petrus und Paulus, als wirklich christlich erweist. Deshalb möge sich Gott unser erbarmen! Amen. 28 Matthäus 25, 31. Matthäus 25, 40. 30 Matthäus 25, 45. 29
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