Gemeinsam für die Bilateralen weil wir mitten in Europa sind! 2`000

Gemeinsam für die Bilateralen
weil wir mitten in Europa sind!
Generalversammlung der Zürcher Handelskammer, 2. Juli 2015;
Präsidialansprache von Dr. Karin Lenzlinger
2‘000; 9‘500; 43‘000; 290‘000; 440‘000
Nein sie haben sich nicht an eine Auktion verirrt, denn:
fast 2000 Flüge überqueren die Schweiz täglich
9500 Lastwagen passieren täglich die Grenze ins Inland
43‘000 Tonnen Güter werden täglich in die EU exportiert
290‘000 Grenzgänger gehen in der Schweiz einer Arbeit nach
440‘000 Schweizer wohnen in einem EU-Land.
Dies sind nur einige wenige Fakten, aber sie sind repräsentativ für die
Wirklichkeit, in der wir leben und arbeiten.
Stellen Sie sich nun vor, die Schweiz hätte keine bilateralen Verträge mit
der EU abgeschlossen. Dann würde für uns die gleiche Situation bestehen wie z.B. für Singapur. Ein kleines, modernes Land mit einem Freihandelsabkommen mit der EU. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die Schweiz liegt mitten in Europa und teilt die Landesgrenzen
mit Mitgliedstaaten der EU.
Lastwagen auf dem Weg von Amsterdam nach Italien überqueren diese
Grenzen täglich – dafür braucht es Regeln.
Flugzeuge aus EU-Mitgliedländern überfliegen unser Land, das muss
geregelt werden.
1 In der Schweiz produzierte Medikamente sollen im ganzen EU-Raum
verkauft werden: Es gelten Vorschriften, die Pharmaunternehmen beachten müssten.
Für alle diese täglichen Selbstverständlichkeiten braucht es Regeln.
Ohne bilaterale Verträge wären wir angesichts der geographischen Lage
gezwungen, jede einzelne Frage mit der EU zu regeln. Diesen faktischen
Bezugspunkten mit unseren Nachbarn können wir nicht ausweichen!
Machen wir doch einfach den „Reality-Check“ aufgrund unserer täglichen
Erfahrung im Geschäfts- und Privatleben!
Ist es angesichts der Lebenswirklichkeit unseres Landes nicht einfacher
und sicherer, wenn wir auf ein Regelwerk bauen, das uns seit rund dreizehn Jahren gute Dienste leistet? Die bilateralen Verträge mit der EU?
Aus meiner Sicht, aus der Sicht der Zürcher Handelskammer, ist die Unterstützung der bilateralen Verträge keine akademische Frage – sondern
viel mehr eine Forderung! Wir dürfen die bilateralen Verträge nicht aufs
Spiel setzen! Sie bilden einen Teil der Erfolgsgeschichte der Schweiz;
wir alle haben in grossem Masse davon profitiert. Werfen wir doch einen
kurzen Blick zurück: Während der 90er Jahre waren wir mit Rezession
und Arbeitslosigkeit konfrontiert; die öffentlichen Haushalte schrieben
hohe Defizite. Man sprach von der längsten Krise seit den 30er Jahren.
In den 2000er Jahren hat die Schweiz eine spektakuläre Kehrtwende
geschafft. Dazu liefere ich Ihnen gerne einige Zahlen:
• 2014 haben Schweizer Firmen Waren im Wert von 128 Mrd Fr. in
die EU verkauft; noch 2001 betrugen die Exporte dorthin lediglich
87 Mrd. Fr.
• In den 90er Jahren betrug das durchschnittliche BIP-Wachstum pro
Kopf jährlich nur 0.7%, wodurch die Schweiz im internationalen
Vergleich mit anderen industrialisierten Ländern das Schlusslicht
bildete. Seit Inkrafttreten der Bilateralen betrug das durchschnittliche Wachstum rund 1.3 % pro Jahr; dieses Wachstum bringt die
2 Schweiz an die dritte Stelle - gleich hinter Schweden und Deutschland.
• Ein gleiches Bild zeigt ein Blick auf die Direktinvestitionen - sowohl
der europäischen Länder in der Schweiz, als auch umgekehrt. Die
Zahl dieser Direktinvestitionen macht klar, wie sehr sich die
Schweizer Wirtschaft immer stärker in den europäischen Binnenmarkt integriert.
• Wie erfolgreich unsere Wirtschaft seit Einführung der Bilateralen
war, belegt auch die Arbeitslosenquote: Während der zehn Jahre
vor dem Inkrafttreten der Bilateralen betrug die Arbeitslosenquote
durchschnittlich 3.4 Prozent - während der letzten zwölf Jahre hingegen 3 Prozent. Diese Kennzahl kann als Ausdruck für den Wohlstand eines Landes genommen werden. Eine gut funktionierende
Wirtschaft schafft Arbeitsplätze und damit Einkommen für die Menschen.
Vielleicht fragen Sie sich, weshalb ich die bilateralen Verträge zum Thema meiner präsidialen Ansprache mache. Warum es gerechtfertigt ist,
die Frage um die Zukunft dieses Abkommens zu einer derart zentralen
hochzustilisieren? Meine Antwort darauf ist klar und eindeutig: Ich halte
es für dringend notwendig, dass wir als Repräsentanten der Zürcher
Handelskammer, als Wirtschaftsvertreter, in dieser Frage klipp und klar
Stellung nehmen. Meine Damen und Herren, die Schweiz ist nun einmal
keine Insel, und sie befindet sich in Europa – ob uns das passt oder
nicht! Deshalb brauchen wir ein geregeltes Verhältnis zu unseren Nachbarn. Dies liegt im Interesse unserer Wirtschaft und unserer ganzen Gesellschaft. Alle, die Ihnen das Gegenteil verkünden, betreiben Augenwischerei.
Verstehen Sie mich richtig: Hier geht es nicht um ein „idealistisches Bekenntnis“ – hier geht es um Vernunft und Berechenbarkeit. Deshalb ist
für die Zürcher Handelskammer die vorbehaltlose Unterstützung der bilateralen Verträge essentiell. Leider scheint es aber Kräfte in der Schweiz
3 zu geben, welche das Ende der Bilateralen nicht nur in Kauf nehmen,
sondern nachgerade provozieren. Dem müssen wir deutlich entgegentreten: Wirtschaft und weltoffene, lösungsorientierte politische Kreise gemeinsam.
Unsere Wirtschaft erträgt nämlich angesichts der aktuellen Herausforderungen keine weiteren Experimente. Sprechen Sie mit den Kolleginnen
und Kollegen der exportorientierten Wirtschaft – dann werden Sie nachdenklich: Mit dem Januar-Entscheid der Nationalbank sind unsere Produkte gegenüber dem europäischen Ausland auf einen Schlag um 15
Prozent teurer geworden, insbesondere weil immer noch vielerorts die
Erträge in Euro und die Mehrheit der Kosten in Franken anfallen.
Zudem zeigen die Statistiken der Auftragslage für das zweite Halbjahr
schwierige Aussichten. Unternehmer beginnen forciert Pläne zu entwickeln bzw. umzusetzen, wie sie die Kosten dorthin verlagern können, wo
sie tiefer sind als bei uns. Und da muss man heute nicht mehr in exotische Regionen.
Jobs, die einmal verlagert worden sind, kommen nicht zurück. Produktionsstandorte ziehen oft Forschung nach. Müssen wir eventuell vom
Szenario einer Deindustrialisierung der Schweiz sprechen? Keine erbauliche Perspektive! Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen auch in Zukunft gesichert sind: Eine Wirtschaft, die sich
einseitig auf den Dienstleistungssektor stützt, ist risikobehaftet.
Wir brauchen freiheitliche Rahmenbedingungen und an erster Stelle offene Märkte ohne Handelsschranken. Dies gewährleisten die bilateralen
Verträge mit der EU. Deshalb ist der Einsatz dafür so wichtig!
Damit setzen wir uns aber nicht nur für die Konkurrenzfähigkeit der
Schweizer Wirtschaft ein. Die EU und die Schweiz teilen auch wichtige
Werte, für die sie sich auch international gemeinsam einsetzen. Das gilt
insbesondere für die Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte, aber auch für Ziele wie die nachhaltige Entwicklung, den Klima4 schutz und den Erhalt der kulturellen Vielfalt. Und im Prinzip gilt dies
auch für die Demokratie, auch wenn die hier bestehenden Differenzen
zur jetzigen Kluft beitragen. Wir sollten jedoch die Motivation, welche
1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geführt
hat, auch nicht aus den Augen verlieren – auch als Nicht-EU-Mitglied:
„Que la guerre devient non seulement impensable, mais matériellement
impossible“. Dieses Ziel des französischen Aussenministers Robert
Schumann - anfangs der fünfziger Jahre ausgesprochen - hat wohl heute
noch oder wieder seine Bedeutung. Es steht der Schweiz gut an, sich
hier nicht künstlich abzugrenzen.
Einer, dem Europa auch am Herzen lag, indem er sich dafür einsetzte,
dass unabhängige Staaten in einer ideellen Verbundenheit zusammen
eine Gemeinschaft bilden können, war der britische Premier Sir Winston
Churchill, dessen Todestag sich zum 50ten Mal jährt. Unser heutiger Referent hat sich ausführlich mit seiner Biographie befasst. Als Zürcher
Handelskammer ist es uns ein Anliegen, Ihnen einen Blick darauf zu ermöglichen, was dieser singuläre Politiker mit den unverwechselbaren
Markenzeichen erreicht hat. Was macht ihn, gerade für uns Schweizer,
so faszinierend? Können wir aus der Geschichte lernen?
Mit der Beantwortung dieser Fragen müssen Sie sich noch etwas gedulden. Vorerst heisst es für Sie, die mehr oder weniger trockenen statutarischen Geschäfte zu erdulden.
Ich erkläre die 142. Generalversammlung der Zürcher Handelskammer
damit als eröffnet.
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