Referat

Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz
«Offene Türen für eine offene Schweiz»
Dienstag, 17. November 2015
Es gilt das gesprochene Wort
Stark und vernetzt: Die Zukunft der Schweiz in Europa
Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung economiesuisse
Sehr geehrte Damen und Herren
Auf welchem Kontinent liegt die Schweiz? Die Antwort, bis vor kurzem noch völlig banal und selbstverständlich, scheint heute manchen Personen und Parteien Mühe zu bereiten. Zwar negiert niemand,
dass unser Land geografisch mitten in Europa zu finden ist. Dass die Schweiz aber auch wirtschaftlich,
kulturell und – ja, auch politisch – zu diesem Kontinent gehört, wird immer öfter ausgeblendet oder
sogar vehement bestritten. In einem Wahljahr, das auch noch mit grossen Schlachtenjubiläen zusammenfällt – die Schlacht am Morgarten feierte gerade vor zwei Tagen ihr 700-jähriges Jubiläum –
fordern dieselben Stimmen nachdrücklich eine Rückbesinnung auf Schweizer Stärken und Werte. Und
werden nicht müde zu betonen, wie weit unsere Nachbarn von diesen Werten entfernt seien. Um es
gleich klar zu sagen: Eine solche Sichtweise halte ich für falsch und gefährlich.
Auch ich bin stolz auf die Schweiz und alles, was wir in diesem Land erreicht haben. Doch scheint es
mir nicht sehr sinnvoll, unser Verhältnis zu Europa vor allem über Gegensätze zu definieren. So finde
ich es zwar richtig, sich mit Morgarten und Marignano auseinanderzusetzen. Aber nicht, um damit ein
Bild der Schweiz als wehrhafte Insel zu zementieren, die alles Fremde von sich fernhält. Vielmehr
zeigen uns diese Ereignisse doch, wie stark wir seit jeher in die Geschehnisse der europäischen
Geschichte verstrickt waren und immer wieder neue Rezepte suchen müssen, um unseren Platz darin
zu behaupten. Bis heute hat die Schweiz dies mit grossem Geschick getan. Als Diplomatin und
Wirtschaftsvertreterin wage ich zu behaupten, dass Verhandlungen und intensive Handelbeziehungen
dabei eine mindestens ebenso wichtige Rolle gespielt haben wie die erwähnten Waffengänge.
Heute, in der Schweiz des Jahres 2015, sind Armbrust und Hellebarde erst recht keine geeigneten
Mittel mehr, um unseren Interessen in Europa Geltung zu verschaffen. In den letzten Jahrzehnten ist
die Schweiz auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil sie sich vernetzt und ihre Stärken erfolgreich in
die Welt hinausgetragen hat. Diese Entwicklung wurde durch Abkommen mit Ländern auf allen
Kontinenten unterstützt und abgesichert. Und weil die Beziehungen mit den unmittelbaren Nachbarn
naturgemäss besonders intensiv sind, wurde dafür auch ein besonderes Vertragspaket geschnürt: die
bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Sie haben stark dazu beigetragen, dass unsere
Wirtschaft nach der lähmenden Krise der 1990er-Jahre wieder Tritt fassen konnte und seither alle
Krisen gut überstanden hat. Das brachte uns höhere Exporte, wichtige Forschungsprojekte,
Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand, Arbeitsplätze – und infolgedessen auch mehr Zuwanderung.
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Titel des Anlasses
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Seit rund zwei Jahren spricht man fast ausnahmslos über Letzteres. Und um hier einen Riegel zu
schieben, sind gewisse Kreise offenbar bereit, all die anderen Vorteile über Bord zu werfen. Denn
nichts anderes tut, wer die EU zum Feind erklärt und auf einer dogmatischen Umsetzung der
Masseneinwanderungsinitiative beharrt. Dem Bundesrat wird empfohlen, gegenüber Brüssel hart zu
bleiben und die Muskeln spielen zu lassen, schliesslich könne die Schweiz auch ohne die Bilateralen
existieren. Dabei wird gerne ausgeblendet, dass in dieser Debatte viel mehr auf dem Spiel steht als ein
paar Verträge. Letztlich geht es um die Frage, ob wir unserer Rolle in Europa und der Welt in Zukunft
noch gerecht werden wollen oder nicht. Ich möchte klar betonen, dass ein Beitritt zur Europäischen
Union kein Thema ist. Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht ist das kein erstrebenswertes Ziel: In vielen
Bereichen fahren wir mit dem heutigen Modell bedeutend besser. Aber auch als überzeugtes Nicht-EUMitglied war und ist die Schweiz ein wichtiger Knotenpunkt im europäischen Netzwerk.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist das besonders augenfällig. Seit der Antike haben die Menschen in der
Schweiz mit ganz Europa Handelsbeziehungen gepflegt. Die Passstrasse und die mittlerweile
zahlreichen Tunnels am Gotthard sind eindrückliche Zeugen unserer wichtigen Rolle als Transitland für
den europäischen Handelsverkehr. Und wir sind stolz darauf, dass wir den Norden und den Süden
miteinander verbinden. Entsprechend emotionsgeladen gehen wir auch mit jeder Debatte rund um das
Thema um – so auch jetzt, im Hinblick auf die Abstimmung im kommenden Februar. Seit wir am
europäischen Binnenmarkt teilnehmen, hat die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn eine nie
dagewesene Dimension erreicht. Waren im Wert von mehr als 320 Millionen Franken verlassen heute
täglich die Schweiz in Richtung EU, Importe für über 360 Millionen fliessen gleichzeitig in die andere
Richtung. Besonders intensiv ist dieser Austausch mit angrenzenden Regionen wie Bayern, BadenWürttemberg, der Lombardei oder Savoyen. Und dabei geht es längst nicht nur um anonyme Pakete,
sondern ebenso um Arbeitskräfte, Kooperationen und viel Knowhow.
Apropos Knowhow: Die intensive Vernetzung mit Europa hat auch dazu geführt, dass sich die Schweiz
heute als das innovativste Land der Welt bezeichnen darf. Nirgendwo sonst werden pro Kopf der
Bevölkerung so viele gute Ideen entwickelt, konkretisiert und auf den Markt gebracht. Noch in den
90er-Jahren konnte davon keine Rede sein. Dank gemeinsamen Forschungs- und Ausbildungsprogrammen mit der EU haben unsere Hochschulen an Statur gewonnen und sind weltweit Spitze.
Gerade vor ein paar Wochen wurde die ETH in einem internationalen Ranking unter die Top 10
weltweit gesetzt – eine grossartige Auszeichnung mit viel Ausstrahlungskraft. Doch damit nicht genug:
Die Schweiz ist heute auch ein attraktiver Standort für Forschungsabteilungen, Labors und innovative
Start-ups.
Die Vernetzung zeigt sich aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. Wo früher Grenzbeamte jeden
Velofahrer kontrollierten, der für einen Tagesausflug mal kurz den Rhein oder den Doubs überqueren
wollte, gilt heute freie Fahrt. In vielen Grenzgemeinden ist die Kooperation mit den direkten
ausländischen Nachbarn heute selbstverständlich und unkompliziert. Und auch der gemeinsame
Kulturraum wurde in den letzten Jahren gestärkt. Dank entsprechender Programme wurden in
deutschen und französischen Kinos mehr Schweizer Filme gezeigt als je zuvor, und umgekehrt.
Ich bin mir bewusst, dass diese aufgezählten Vorteile kaum beanstandet werden. Und doch sollte man
sie sich immer wieder vor Augen führen, wenn man über unsere Beziehungen zu Europa und insbesondere zur EU spricht. Die Bilateralen sind nicht bloss Bundesordner voller Buchstaben, sie sind
ganz konkret fassbar und haben die Schweiz nachhaltig gestärkt. Und zwar nicht nur wirtschaftlich.
Man kann noch so oft drohen, die Schweiz opfere in dieser Beziehung ihre Souveränität – wahrer wird
die Behauptung dadurch nicht. Nach meinem Verständnis ist ein Land dann souverän, wenn es frei
darüber entscheiden kann, wie es seine politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen
optimal durchsetzen kann. Das tut die Schweiz – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – voll und ganz.
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Würde es unseren Interessen nicht dienen, würden wir nicht mit der EU zusammenarbeiten, und es
würde uns auch niemand dazu zwingen. Aber das ist genau der Punkt. Eine rhetorisch mit Armbrust
und Hellebarde geführte Aussenpolitik dient unseren Interessen nicht.
Auch im Hinblick auf die Klärung der sogenannten «institutionellen Fragen» ist schlecht beraten, wer
von Anfang an auf Konfrontation setzt. Nicht nur die EU, sondern auch die Schweiz hat ein Interesse
daran, die Beziehungen langfristig zu sichern und die Verbindlichkeit der Verträge zu verbessern. Das
ist aber nur möglich, wenn es übergeordnete Instanzen gibt, bei denen man im Konfliktfall sein Recht
einfordern kann. Gerade kleinere Staaten profitieren von solchen Institutionen in der Regel stark, weil
ihnen zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen grosse Länder sonst die Mittel fehlen würden. Sie
werden durch die Anerkennung internationaler Gerichte letztlich gestärkt, nicht geschwächt. Das
Völkerrecht garantiert uns nicht nur unsere Souveränität, unsere Grenzen und unsere Neutralität,
sondern auch die Einhaltung bilateraler Abkommen durch die Partnerstaaten.
Selbstverständlich ist auch die Wirtschaft nicht bereit, eine automatische Übernahme von EU-Recht
ohne jede Mitsprachemöglichkeit zu akzeptieren. Und der Idee, die Verträge dem Europäischen
Gerichtshof (EuGH) zu unterstellen, stehen wir auch bei economiesuisse sehr kritisch gegenüber. Doch
die Verhandlungen sind noch keineswegs abgeschlossen. Deshalb ist es kontraproduktiv, wie derzeit
schon landauf, landab die Angst vor angeblich «fremden Richtern» geschürt wird, um diese
Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit zu untergraben. Aus Angst vor einer
Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU sind die Absender der «Selbstbestimmungsinitiative»
sogar bereit, die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Austritt aus dem
Europarat in Kauf zu nehmen. Dabei geht in der Debatte vergessen, dass mit dem Begehren,
Landesrecht in jedem Fall über internationales Recht zu stellen, auch Abkommen gefährdet werden,
die für die Wirtschaft enorm wichtig sind – wie beispielsweise das sorgfältig aufgebaute Netz an
internationalen Handelsbeziehungen weit über Europa hinaus.
Was ich mir für die Schweiz wünsche, ist ein ganz anderer Weg. Was wir heute und in Zukunft
benötigen, ist eine konstruktive Europapolitik, die tragfähige Lösungen sucht, anstatt Brücken
einzureissen. Genau dafür haben wir diesen Sommer die Kampagne «stark + vernetzt» gestartet, der
sich mittlerweile viele grosse Verbände, Parteien, Vereine und über 2500 Privatpersonen
angeschlossen haben. Es würde mich freuen, wenn wir auch auf Sie zählen dürften. Gemeinsam
können wir wieder ein Bewusstsein dafür schaffen, wo die Schweiz wirklich liegt: mitten in Europa.