PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Simone Gerlitzki, Pastoralreferentin, Frankfurt
Morgenfeier in hr2-kultur / Sonntag, 3. April 2016
(Weißer Sonntag / 2. Sonntag der Osterzeit C Joh 20,19-31)
Zweifeln erlaubt! Der ungläubige Thomas
Auf dem Weg zu einer Beerdigung habe ich letztens eine ehemalige Schülerin von mir
getroffen. Wir kamen schnell ins Gespräch und sie hat angefangen, von der „schönen
alten Zeit“ zu sprechen – wie man die Vergangenheit ja gern mal idealisiert. Sie hat dann
auch von ihrem abwechslungsreichen Leben erzählt und von ihrem Aufenthalt in Amerika.
Dabei hat sie betont, sie wäre mit vielen einflussreichen Menschen zusammengekommen
und hätte mit ihnen auch über den Glauben gesprochen. Vieles aber von dem, was sie
früher in der Schule gelernt hätte, sei bei diesen Gesprächen nicht bestätigt worden. Und
weil gerade Weißer Sonntag war und wir in der Gemeinde wieder Kommunionkinder in
ihren festlichen Kleidern beobachten konnten, hat sie sich an ihre eigene erste heilige
Kommunion erinnert und festgestellt: „Es ist doch schade, dass man mit fortschreitendem
Alter nicht mehr so glauben kann wie früher.“
Der Glaube verändert sich im Laufe des Lebens – meistens kommen Fragen und Zweifel
auf. Das hat auch die Olympiasiegerin im Eisschnelllauf, Claudia Pechstein einmal erzählt.
Sie sagt: „Wenn man den Traum verwirklichen könnte, einen Menschen zurückzuholen,
den man durch den Tod verloren hat, so würde ich das als den lohnendsten Traum des
Lebens bezeichnen. Diese Erfahrung führt mich zu der Frage, die schon tausendmal
gestellt wurde, die alle Menschen irgendwann einmal stellen: Wenn es wirklich einen Gott
gibt, warum verhindert er solche Ereignisse nicht? Mag sein, dass diese Denkweise
blauäugig ist. Aber irgendwo muss doch dieser Gott stecken, dem so viele Leute so viel
Macht und Kraft zusprechen.“ Für mich steckt in diesen Sätzen von Claudia Pechstein der
Wunsch: Gott soll sich doch als mächtiger Gott erweisen. Wie sollen Menschen sonst
ihren Glauben finden? Gott soll sich in dieser Welt als mächtig erweisen, er soll uns
zeigen, wie er Katastrophen, Kriege, Leid und Not verhindert. In einer Zeit, in der
Menschen alles können, soll Gott sich als der beweisen, der noch größer ist. Hätte Gott
die Katastrophe vom 11. September 2001 in New York verhindert, dann hätten wir an ihn
geglaubt. Diese Meinung ist so eingängig, aber sie führt nicht zum Ziel.
In den katholischen Kirchen wird heute das Evangelium vom ungläubigen Thomas
verlesen. Der Apostel hat von Jesus keinen Machterweis gefordert, sondern zu den
anderen Jüngern, die Jesus bereits gesehen hatten, gesagt: „Wenn ich nicht die Male der
Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel
und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ (Joh 20, 25b-26). Thomas
wollte nicht glauben, dass Jesus, der Gekreuzigte, wirklich lebt und auferstanden ist. Er
will Zeichen und Beweise sehen und fühlen. Und Jesus nimmt diese Zweifel auf, er liefert
Thomas Zeichen, er sagt zu ihm:
„Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh 20,27)
Musik 1: Johannes Brahms, Ungarische Tänze Nr. 20 Poco Allegretto Vivace 2:29
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Die Apostel wurden schon früh Säulen der Kirche genannt. Kein Wunder, dass die Säulen
in den großen gotischen Kathedralen zu Symbolen für die Apostel wurden. Um das optisch
noch zu unterstreichen, wurden manchmal sogar an den Säulen die zwölf Apostelfiguren
angebracht. Nur einer hatte dabei immer das Nachsehen, das war nicht der zweifelnde
Thomas, sondern der Verräter Judas. Er bekam Kirchenverbot. Für ihn kam entweder
Matthias hinzu, der für ihn nachgewählt wurde, oder der Völkerapostel Paulus. Wer durch
das Freiburger Münster geht, der wird allerdings 14 Säulen zählen. Ausnahmsweise
konnten einmal alle zwölf Apostel und auch noch der Apostel Matthias zu Ehren kommen.
Aber eine Säule blieb immer noch frei. Was tun? Man entschloss sich, am 14. Pfeiler eine
Christusfigur anzubringen. Auf den ersten Blick mutet das wie eine Verlegenheitslösung
an. Doch wer genauer hinschaut, macht eine Entdeckung: Sonst stehen an den vordersten
Säulen immer die wichtigsten und angesehensten Apostel, also Petrus, Andreas, Jakobus
oder Paulus. Doch der Freiburger Dombaumeister stellte diese Ordnung auf den Kopf: Bei
ihm erhalten die großen Apostelfürsten die hintersten Plätze. Den Platz an der besten
Stelle der Kathedrale – gegenüber der Säule, an der die Christusfigur angebracht ist,
direkt am Altar – den bekommt Thomas! Ausgerechnet derjenige, der es eigentlich am
wenigsten verdient hat. Ausgerechnet der größte Zweifler unter den Zwölfen, der ohne
handgreiflichen Beweis nicht an die Auferstehung glauben wollte. Ihm gegenüber zeigt
Jesus seine Wunden und fordert Thomas auf, ihn anzufassen. Und Thomas streckt ihm
die Finger entgegen.
Ich gestehe offen: Er ist mir sympathisch, dieser Thomas. Denn er will es genau wissen
und lässt sich nicht mit Halbheiten abspeisen. Esoterischer Enthusiasmus, der das Leiden
ignoriert, ist ihm genauso zuwider wie die Blindheit des Fundamentalisten, der sich vom
eigenen Denken befreit. Zu tief ist die Wunde, die der Tod Jesu ihm gerissen hat. Der
Mensch, auf den er alles gesetzt hatte, dessen Botschaft vom menschenfreundlichen Gott
seinem Leben neuen Sinn und Richtung gegeben hatte, ausgerechnet der ist am Kreuz
gestorben. Nein, da plappert man nicht einfach nach, was andere so sagen, und wenn es
auch die engsten Gefährten sind! Thomas sagt: „Wenn ich nicht die Wundmale sehe, dann
glaub ich es nicht!“
Ich stelle mir vor, die Erfahrungen der Tage nach dem Tod Jesu haben Thomas hart
werden lassen, die Trauer und die Verzweiflung über den Verlust des geliebten Menschen
haben etwas in ihm zerbrechen lassen. Alle anderen Apostel haben Jesus, den
Auferstandenen, schon erlebt, sie haben mit eigenen Augen gesehen: er lebt! Thomas war
da nicht dabei. So wird er zum Skeptiker, zum nüchternen Realisten, der sich nicht einfach
nur auf das Hörensagen verlassen will, sondern der Gewissheit braucht: “Wenn ich nicht
die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male
der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“
Musik 2: David Garrett „Legacy” Fritz Kreisler Variation 18 from Rhapsody on a Theme of Paganini
for Piano and Orchestra op 43 by Sergei Rachmaninov 3:08
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Die Apostel sind außer sich, als sie Jesus als den Auferstandenen erkennen. Thomas
hingegen hat nicht erlebt, wovon die anderen Apostel ihm dann erzählen. Und Thomas
steht zu sich selbst und sagt das auch. Er hat den Mut zu sagen, was er nicht versteht und
was er nicht nachvollziehen kann. Er spielt den anderen nichts vor, und es ist ihm in dem
Moment nicht wichtig, wie die anderen das finden. Er steht dazu, dass er nicht alles
wissen, verstehen, glauben und hinnehmen will. Thomas ist einer, der sich dabei von der
Meinung der anderen unabhängig macht.
Ich glaube, dass der Apostel Thomas ein sensibler Mensch gewesen sein muss und dass
gerade seine zweifelnde Seite ihn zu einem noch sensibleren Menschen gemacht hat. Ich
kann mir sonst nicht erklären, warum Jesus ihm so tief vertraut. Denn Jesus zeigt ihm ja
seine tiefsten Verletzungen. Verwundet ist er an Händen, Füßen, Kopf und Herz und so
tritt er Thomas gegenüber. Danach geschieht das Unfassbare: Jesus lässt sich von
Thomas berühren am offenen, verwundeten Herz der Liebe. Für mich ist das eine
hochsensible und sehr intime Begegnung. Meine Wunden und Verletzungen des Lebens,
die zeige ich doch nicht einfach so irgendjemandem. Die Abgründe meines Lebens zeige
ich nur Menschen, denen ich absolut vertraue. Und wem vertraue ich? Ich traue den
Menschen, von denen ich weiß, sie gehen mit dem, was mir weh tut, anständig um. Daher
glaube ich, dass Thomas ein wirklich sensibler Mensch gewesen sein muss. Da stellt sich
mir die Frage: Wo finde ich in meinem Umfeld solche sensiblen Menschen, denen ich mich
so anvertrauen kann? Für mich sind das die Menschen, die auch nicht immer sofort eine
Antwort wissen und die auch mal schweigen können. Es sind Menschen, die selber
suchen und fragen. Es sind diejenigen, die zugeben, dass sie auch nicht alles wissen und
manches eher erahnen als sicher glauben. Und es sind Menschen, die meine Fragen
ernst nehmen und sie nicht bewerten. Ich glaube, dass die aufrechten Zweifler genau
hinschauen und nicht alles über einen Kamm scheren und dass solche Menschen für die
Gesellschaft sehr wichtig sind. So gilt mein Respekt dem Apostel Thomas, der so viel
Vertrauen zu Jesus aufbaut, dass dieser sich von ihm berühren lässt.
Musik 3: „Für Elise“ Romantische Klavierstücke – Sternenregen Frederic Chopin 2:53
Mir ist dieser Apostel Thomas, dieser sensible Zweifler, wirklich ein Vorbild. Von ihm kann
ich lernen, was es heißt zu glauben. Denn was wäre das für ein Glauben, der frei ist von
Zweifeln? Ein Glaube, der mir nicht nur äußerlich antrainiert bleiben soll, sondern der mich
wirklich ganz mit Herz und Verstand ergreifen soll, der verlangt nach dem Verstehen.
Verstehen wollen geht aber eben mit Zweifel einher. Ein Glaube ohne Zweifel ist ein toter
Glaube. Ein Glaube, der sich das Zweifeln nicht gestattet, wird zu einer Mauer, die mich
abschneidet von mir selbst und von den Menschen um mich herum, weil er mich von
meinem Suchen und Fragen, von meinen Sehnsüchten und Hoffnungen abschneidet.
Glauben ist ein Prozess vom Kinder- zum Erwachsenenglauben. Wenn ich mündig
glauben will, dann muss ich mir meinen Glauben immer wieder neu erarbeiten.
Interessant ist auch die Reaktion der anderen Apostel auf die Glaubenszweifel des
Thomas. Keinerlei Kritik ist von ihnen am Verhalten des Thomas zu hören, noch nicht
einmal eine Rüge, dass er nicht glauben konnte, was sie erlebt haben. Nein, Thomas
bleibt ganz selbstverständlich einer von ihnen, bleibt einer der Zwölf, Teil ihrer
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Gemeinschaft. An der Gemeinschaft der Apostel gefällt mir, dass man dort offenbar
ungeniert und offen miteinander reden kann. Das Evangelium schildert eine Atmosphäre
und einen Raum, in dem Thomas ohne Scheu offen und ehrlich sein kann. Leider ist das
in manchen Gemeinden nicht immer der Fall. In den Kreisen, in denen ich unterwegs bin,
kostet es viel Mut, sich als unerfahren oder zweifelnd zu outen. Mut kostet es deswegen,
weil es in der Kirche auch die „Supergläubigen“ und „Strenggläubigen“ gibt, die immer
gleich alles ganz genau wissen. Darum fällt es manchen Menschen wohl auch nicht leicht,
zuzugeben, dass man eine Botschaft nicht nachvollziehen kann. Die Gruppe der Apostel
war da anders gestrickt. Thomas hat mit seinen Fragen ganz normal dazu gehört. Am
Ende des Evangeliums heißt es ja auch nicht, dass es besser ist, wenn man einfach so
glaubt, sondern es heißt, dass man „selig“ ist, wenn man davon befreit ist, mit irgendetwas
zu hadern. Die Gruppe um Thomas trägt seine Fragen und Zweifel mit.
Musik 4: David Garrett „Classic Romance” Salut D’amore 3:01 Edward Elgar
“Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ 2000 Jahre nach den Ostergeschehnissen
geht es wohl vielen Christen heute so wie dem Apostel Thomas: Menschen sind
angewiesen auf das Zeugnis anderer, die von dem Glauben an die Auferstehung erzählen.
Als Christ bin ich eingeladen, denen zu trauen, die mir mit ihrem Reden und mit ihrer Art
zu leben bezeugen: Ja, es ist wahr, es gibt eine Wirklichkeit der Liebe, die ist stärker als
der Tod. Ich erlebe diese Liebe in vielen kleinen Auferstehungserlebnissen Tag für Tag
beispielsweise in einer freundlichen Atmosphäre eines Gesprächs, oder in einem Lächeln
bei einer Begrüßung. Diese Erlebnisse laden mich ein, dem zu vertrauen, der sagt: ich bin
die Auferstehung und das Leben! Wie Thomas soll ich sehen, was immer nur zu sehen ist,
prüfen, was immer nur geprüft werden kann, und bedenken, was immer nur bedacht
werden kann. Wie Thomas soll ich mit Herz und Verstand und Hand die Finger in die
Wunden unserer Gegenwart legen. Aber die Begegnung mit dem Auferstandenen zeigt
eben auch: Es gibt eine Wirklichkeit des Lebens hinter den sichtbaren Fassaden, es gibt
Heil und Heilung auch da, wo auf den ersten Blick nur Kreuze zu sehen sind. Diese
Erfahrung von Heilung und Auferstehung ist vielleicht nicht mess- und berechenbar, sie
lässt sich nicht eintragen in Tabellen. Ich erlebe dieses Heil, wenn ich mich fallen lasse in
Gott, der mich aus meinen Ängsten reißen will und der mir Leben in Fülle verheißt.
Solche Erlebnisse, die mich Gott näher bringen: Die habe ich zum Beispiel, wenn ich
intensiv in der Bibel lese oder abends eine Viertelstunde meditiere, oder sonntags im
Gottesdienst bin. Ich erlebe solche Berührungen mit Gott aber auch, wenn ich Menschen
treffe, die aus seinem Geist leben und Kraft ziehen. Menschen beeindrucken mich, die aus
dem Glauben an ihn ihr schweres Schicksal meistern, die trotz Krankheit und Leid
Gelassenheit, Freude und Hoffnung ausstrahlen. Das alles sind für mich im wahrsten Sinn
des Wortes Berührungs-Punkte mit ihm. Hier ist er auch heute noch lebendig, hier wird er
immer noch greifbar und spürbar. Und so kann auch ich, aufgrund all dieser Erfahrung,
wie der Apostel Thomas bekennen: Mein Herr und mein Gott.
Musik 5: David Garrett „Classic Romance” Zigeunerweisen 2 2:02 Paolo de Sarasate
Zum Nachhören als Podcast:
http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=43760
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