Einschränkungen der Theory of Mind bei

Wenn man sich kognitiv erarbeiten muss, was sich
andere intuitiv erschließen:
Einschränkungen der Theory-of-Mind bei
Autismus-Spektrum-Störungen
Praxisforum Kindheit 2016
Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen:
Diagnostik, Intervention und Begleitung der Familien
04.03.2016
Jugendherberge Köln-Riehl
Univ.-Prof. Dr. phil. Rüdiger Kißgen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Experiment
Begriffsbestimmung
Entwicklung der ToM
Testung von ToM-Kompetenzen
ToM-Forschung bei ASS
Implikationen für die Praxis
Experiment
1. Stellen Sie Sich vor, Sie können – wie gewohnt gegenständliche Dinge wahrnehmen. Zugleich fehlt Ihnen nun
aber die Fähigkeit, „geistige Dinge“ wie Gedanken, Wünsche,
Absichten, Bedürfnisse, Kenntnisse oder auch Überzeugungen
anderer wahrzunehmen. Diese Fähigkeit nutzen wir
normalerweise intuitiv zur Erschließung der Beweggründe
menschlichen Verhaltens.
2. Versuchen Sie nun, sich vorzustellen, wie Sie menschliches
Verhalten (im Grunde jede bewegte Aktion) erklären können,
wenn Ihnen der intuitive Zugang zur Erschließung menschlichen
Verhaltens über die geistigen Dinge fehlt.
Theory of Mind: Begriffsbestimmung
Unter dem Oberbegriff „Theory of Mind“ sind mentale
Fähigkeiten zusammengefasst, die Individuen befähigen,
erfolgreich an sozialen Interaktionen zu partizipieren. Letzteres
setzt voraus, in der Lage zu sein, sich selbst und anderen
geistige Zustände – beispielsweise Emotionen, Gedanken oder
Absichten – zuzuschreiben.
Es geht darum, fremdes und eigenes Verhalten zu erkennen, zu
verstehen, zu erklären, vorherzusagen und darüber
kommunizieren zu können.
(vgl. Baron-Cohen, Tager-Flusberg & Cohen 2000; Dziobek & Bölte, 2011)
Theory of Mind: Begriffsbestimmung
• Hauptbestandteile:
– sich selbst und anderen geistige Zustände zuschreiben können
– Teilhabe an sozialen Interaktionen
– Differenzierungsfähigkeit zwischen eigenem und Verhalten
anderer Menschen
– Fähigkeit, dieses Verhalten (a) zu verstehen, (b) sich erklären
zu können und (c) es vorherzusagen
– Fähigkeit, über Verhalten zu kommunizieren
Neuropsychologische Erklärungsmodelle von ASS
• „BIG THREE“
– Theory of Mind (ToM)
– Exekutive Funktionen (EF)
– Zentrale Kohärenz (ZK)
Theory of Mind: Entwicklung in früher Kindheit
• Vorläufer im frühen Säuglingsalter
– eindeutige Präferenz des menschlichen Gesichts gegenüber
sämtlichen alternativen visuellen Reizen
– protoimperatives Pointing
– protodeklaratives Pointing (geteilte Aufmerksamkeit)
– …
• Säuglingsalter ab ca. 9 Monaten
– S. beginnt zu realisieren, dass andere Menschen andere
Einstellungen zu Objekten haben können, als er selbst
– S. ist fähig, sich von der Einstellung oder der Begeisterung einer
anderen Person in Bezug auf ein Objekt (sozial) „infizieren“ zu
lassen
– die entstehende Differenzierungsfähigkeit zwischen Objekten und
psychischen Einstellungen ist eine Vorform des Denkens
vgl. Dornes (2004, 2005); Gergely, Fonagy & Target (2002); Gopnik & Wellman (1994); Hobson (1995); Kißgen et al. (2005)
Theory of Mind: Entwicklung in früher Kindheit
• ab dem 18. Monat
– Symbolspiel wird entwickelt und differenziert sich über die
einzelnen Lebensphasen immer komplexer
• bis zum 2. Lebensjahr
– Kinder haben nun ein subjektiv-psychologisches Verständnis von
Personen und deren Gefühlen und Wünschen in Abgrenzung zu
ihren eigenen Gefühle und Wünsche entwickelt
Theory of Mind: Entwicklung ab 4. Lebensjahr
•
Kinder sind nun in der Lage, sich aus dem Verhalten Anderer deren
Absichten und Überzeugungen zu erschließen und sie können deren
emotionale Reaktionen vorhersagen
•
ab dem 6. Lebensjahr verstehen Kinder, dass eine Überzeugung
über eine Überzeugung einer anderen Person falsch sein kann:
„Max glaubt, dass Sophie glaubt, dass die Kekse in der Dose sind“.
vgl. Sodian, 2003; Sodian & Wimmer (1987)
Theory of Mind: Übersicht zur Entwicklung
Alter
ToM-Kompetenzen
Quelle
Vorläufer der ToM
ca. 18. Monat
ca. 2. Jahr
Imitation beabsichtigter Handlungen
Meltzoff (1995)
Unterscheidung eigener von fremden
Gefühlen bzw. Handlungszielen
Repacholi & Gopnik (1997)
Beginn des Symbol- und Fiktionsspiels
Leslie (1987)
Beginn der Fähigkeit anderen Menschen
Gefühle und Wünsche zuzuschreiben, die
sich von den eigenen unterscheiden
Flavell (1999)
First-order-belief
ab ca. 3;6 Jahre Verständnis, dass man eine falsche
Flavell et al. (1986)
Überzeugung über einen Sachverhalt haben
kann (Differenzierung zwischen Überzeugung
und Realität
Theory of Mind: Übersicht zur Entwicklung
Alter
ToM-Kompetenzen
Quelle
Second-order-belief
ab ca. 6. Jahr
Entwicklung des Verständnisses, dass jemand Wimmer & Perner (1985)
eine falsche Überzeugung über eine
Überzeugung haben kann
Verständnis unterschiedlicher
Interpretationsperspektiven
Sodian et al. (1986)
vgl. Bruning, Konrad & Herpertz-Dahlmann (2005)
ÜBERPRÜFUNG VON THEORY OF
MIND-KOMPETENZEN
ToM-Tests
• für die meisten Forschergruppen gilt das Verstehen
falscher Überzeugungen („false beliefs“) als das
zentrale Nachweiskriterium für das Vorliegen der ToM
• unterschieden werden:
– „first-order false belief tasks“ (werden von den meisten dreibis vierjährigen Kindern gelöst)
– „second-order false belief tasks“ mit deutlich höherer
Komplexität (werden von den meisten fünfeinhalb- bis
sechsjährigen Kindern gelöst)
THEORY OF MIND FORSCHUNG BEI
AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNGEN
Methodische Problematik psychologisch
ausgerichteter Autismusforschung
• Allgemeine Problematik:
– Prävalenzrate von ASS ist im Vergleich mit anderen
Störungsbildern relativ gering (Rekrutierungsprobleme,
Stichprobengröße!)
– es bestehen unterschiedliche Ausprägungen einer Diagnose aus
dem autistischen Spektrum
– Menschen mit einer ASS in Koppelung mit einer kognitiven
Beeinträchtigung werden (trotz ihres prozentual hohen Anteils
an den ASS) eher selten in experimentellen Studien
berücksichtigt
– Untersuchungsgruppen setzen sich eher aus Personen mit HighFunctioning Autismus oder mit Asperger-Syndrom zusammen
– nachfolgende Problematik: eingeschränkte Generalisierbarkeit
der Ergebnisse!
Methodische Problematik psychologisch
ausgerichteter Autismusforschung
• Spezielle Problematik:
– Auswahl geeigneter Kontrollgruppen
– Auswahl geeigneter Erhebungsinstrumente mit Fokus auf die
eigentliche Fragestellung, aber auch zur Kontrolle
konfundierender Variablen (z.B. Teilleistungsstärken oder –
schwächen, exekutive Funktionen, …)
– eingeschränkte Objektivität bei Verwendung von Fragebögen
oder Einsatz von Interviews mit familiären oder professionellen
Bezugspersonen
– …
Auslöser für die ToM-Forschung bei ASS
Baron-Cohen, S., Leslie, A. M. & Frith, U. (1985). Does the autistic
child have a "theory of mind?". Cognition, 21, 37-46.
Hauptbefunde:
1. Ein ToM-Defizit ist autismusspezifisch.
2. ToM-Kompetenzen sind intelligenzunabhängig.
Strittige Befundlage zur ToM-Forschung bei ASS
(Kißgen & Schleiffer 2002)
Klinische Studien zur ToM
Down-Syndrom
Hörschädigung
Sehschädigung
ADHS
Depression
Schizophrenie
Parkinson
Demenz
Schlaganfall
Kazak, Collis & Lewis (1997); Kißgen & Schleiffer (2002); Yirmiya, Erel,
Shaked & Solomonica-Levi (1998); Yirmiya, Solomonica-Levi &
Shulman (1996); Zelazo, Burack, Benedetto & Frye (1996)
Peterson & Siegal (1995, 1998, 2000)
McAlpine & Moore (1995); Minter, Hobson & Bishop (1998);
Peterson & Siegal, 2000)
Buitelaar et al. (1999)
Kerr, Dunbara & Bentall (2003)
Bölte & Poustka (2003); Corcoran & Frith (2003); Sarfati & HardyBaylé (1999)
Kalbe, Brand, Hilker & Kessler (2001)
Gregory, Lough, Stone, Baron-Cohen & Hodges (2001)
Happé, Brownell & Winner (1999); Winner, Brownell, Happé,
Blum & Pincus (1998)
Straftäter in forensischer Psychiatrie: Kohn, Fahum, Ratzoni & Apter (1998)
Aktueller Forschungsstand
•
•
•
•
trotz einer exponentiellen Zunahme an funktionell bildgebenden
Studien in den letzten 10 Jahren steht die Identifizierung der
neurobiologischen Korrelate des Autismus der neuronalen Korrelate
der ToM noch aus
Ergebnisse neuerer Studien legen nahe, dass ToM-Leistungen nicht
in einzelnen isolierten Hirnregionen zu lokalisieren sind
vielmehr ist anzunehmen, dass die Interaktion verschiedener
Hirnareale ToM-Leistungen gewährleisten
eine systematische Integration der Befunde zu den
neuropsychologischen Erklärungsmodellen in individuelle
Behandlungsplanungen steht noch weitgehend aus
(Bruning, Konrad & Herpertz-Dahlmann, 2005; Dziobek & Bölte, 2011)
THEORY OF MIND UND IHRE
IMPLIKATIONEN FÜR DIE PRAXIS
Theory of Mind: Begriffsbestimmung
Unter dem Oberbegriff „Theory of Mind“ sind mentale
Fähigkeiten zusammengefasst, die Individuen befähigen,
erfolgreich an sozialen Interaktionen zu partizipieren. Letzteres
setzt voraus, in der Lage zu sein, sich selbst und anderen
geistige Zustände – beispielsweise Emotionen, Gedanken oder
Absichten – zuzuschreiben.
Es geht darum, fremdes und eigenes Verhalten zu erkennen, zu
verstehen, zu erklären, vorherzusagen und darüber
kommunizieren zu können.
(vgl. Baron-Cohen, Tager-Flusberg & Cohen 2000; Dziobek & Bölte, 2011)
Wenn Kinder
• lieber alleine statt mit anderen spielen,
• Probleme haben, Geheimnisse für sich zu behalten,
• Scherze nicht verstehen und/oder selten oder nie
lachen,
• nicht lügen können,
• …
dann könnten sie Probleme mit ToMKompetenzen haben.
Was kann man machen?
• kurzes Verhaltensscreening gemäß CHAT
• sich mit Eltern austauschen, ob sich das Kind zu Hause
vergleichbar verhält
• diagnostische Abklärung über ein ATZ, eine
sozialpädiatrische oder kinder- und
jugendpsychiatrische Ambulanz
• im Schulalter: „Autismusbeauftragte/n“ konsultieren
VIELEN DANK FÜR IHRE
AUFMERKSAMKEIT
[email protected]
Univ.-Prof. Dr. phil. Rüdiger Kißgen