LiteraturNachrichten Nr. 123 in Auszügen

ISSN: 0935-7807
PVSt: 63287
32. Jahrg. Nr. 123
Herbst 2015
EUR 7,50 | Sfr 9,–
Indonesien
Eine literarische Schatzkammer
Pramoedya Ananta Toer
[Indonesien]
Autor aller Länder
Alain Mabanckou
[DR Kongo/Frankreich/USA]
Hört auf mit dem Stuss
Ayu Utami [Indonesien]
Die Bibel ist meine Grundlage
Gespräche Porträts
Rezensionen
I M P R E S S U M
Herausgeber: Litprom
Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus
Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Braubachstr. 16, 60311 Frankfurt a.M.
Postfach 10 01 16, D-60001 Frankfurt a.M.
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Verantwortliche Redakteurin: Anita Djafari
Redaktionsassistenz: Joscha Hekele
Unter Mitarbeit von Stefanie Aznan, Petra Kassler,
Corry von Mayenburg und Friederike Ottnad.
Mitarbeiter/innen dieser Ausgabe: Sophie Adler,
Katharina Borchardt, Berthold Damshäuser,
Elisa Fuchs, Holger Heimann, Joscha Hekele,
Achim Stanislawski, Doris Wieser,
Thomas Wörtche und Gerrit Wustmann
Anzeigenverkauf: Agentur Hanne Knickmann,
Darmstadt, [email protected]
Gestaltung: Renate Schlicht, Frankfurt
www.renateschlicht.de
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Verleger und Vertrieb:
Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur
aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Druck: Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt
Bezugsbedingungen: EUR 15,– jährlich
einschl. Versandkosten; das Abonnement
verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis
zum 30. September gekündigt ist
EUR 7,50
Erscheinungsweise: halbjährlich
Gefördert von Brot für die Welt –
Evangelischer Entwicklungsdienst.
Bitte teilen Sie Änderungen
der Bezugsanschrift rechtzeitig mit.
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Copyright: LiteraturNachrichten
Für die Übersetzungen bei den Übersetzern.
Nachdruckgenehmigung wird gerne erteilt.
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geprüft, telefonische (Vorab-)Anfrage ist sinnvoll.
Leserbriefe sind willkommen.
Die Meinung in den Beiträgen gibt nicht
unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
E D I T O R I A L
Visit Books, not only Bali – diesem Aufruf eines indonesischen Verlegers
dürfen wir in diesem Jahr Folge leisten. Indonesien präsentiert sich auf der
Frankfurter Buchmesse mit seiner „literarischen Schatzkammer“, die uns der
Kenner Berthold Damshäuser in seiner Einleitung zum Themenschwerpunkt in
diesem Heft nahebringt. Und natürlich lernen Sie einige Autorinnen und Autoren in den Porträts, Hintergrundberichten, Besprechungen und Textauszügen
etwas besser kennen. Bei diesem Ehrengastauftritt gibt es auch für uns noch
jede Menge zu entdecken und – vor allem – zu lernen.
Einige Jury-Mitglieder unserer Bestenliste „Weltempfänger“ hatten Gelegenheit, sich reisend und sehr profund mit der Literatur dieses großen und vielfältigen Landes auseinanderzusetzen. Dies hat uns unter anderem auf die Idee
gebracht, einen neuen „Service“ in den LiteraturNachrichten anzubieten. Vielleicht haben Sie sich schon manchmal gefragt, wie eigentlich die Entscheidungen für die Bestenliste (die sich im Übrigen immer größerer Beliebtheit erfreut)
zu Stande kommen. Drei Juroren haben sich eigens dafür zusammengesetzt,
um die indonesischen Titel, die in deutscher Übersetzung in diesem Herbst auf
den Markt kommen, zu diskutieren und für den „Weltempfänger“ zu bewerten. Das Ergebnis können Sie auf S. 16 lesen.
Den LiBeraturpreis bekommt in diesem Jahr Madeleine Thien, wir haben sie in
den beiden letzten Ausgaben der LiteraturNachrichten bereits ausführlich vorgestellt. Wir freuen uns, dass die Leserinnen und Leser sie mit ihrem Roman
Flüchtige Seelen ausgewählt haben. Vielen Dank fürs Mitmachen.
Außerdem bereiten wir uns auf die 5. Literaturtage im Januar 2016 vor. Mit
dem Thema „Die Neue Weltliteratur und der Globale Süden“ haben wir uns
viel vorgenommen. Wir fanden, es ist höchste Zeit, sich mit den großen Zusammenhängen zu beschäftigen, über einzelne Regionen hinaus. Auf der letzten Seite finden Sie das vorläufige Programm.
Und last not least feiert Litprom in diesem Jahr 35jähriges Jubiläum. Und es gibt
weiterhin viel zu lernen, zu lesen und zu vermitteln. Es ist schön, dass Sie uns
dabei begleiten.
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Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 11 vom 1.1.2014
Titelgestaltung: Renate Schlicht
unter Verwendung einer Karte © ASDFGHJ;
Fotos © Jonathan McIntosh (Junge),
Antareja (Schattenfigur), Jens Petersen (Fisch).
Anita Djafari
I N H A LT
T h ema
Ein Land, eine Schatzkammer: Ein Überblick von Berthold Damshäuser
4
Über ihre Heimat und das Schreiben: Ayu Utami im Gespräch mit Holger
Heimann
6
Schwierigkeiten beim Übersetzen und neue Autoren: Jan Budweg im
Gespräch mit Joscha Hekele
Ein neues Buch: Das Zigarettenmädchen von Ratih Kumala
8
10
Hauptsache, viele Leute lesen mein Buch: Agus R. Sarjono im Gespräch
P r osa
G es p r äc h
P or tr ät
I n ei gen er S ac h e
B u c h we l t e n
B ü c h er men s c h en
Ü b er s etzt von . . .
K r i mi k ol umne
Nachschlag
I n ei gen er S ac h e
Nachr uf
N ac h r i c h ten / P r ei s e
R ezen s i on en
P r ei s r äts el
I n ei gen er S ac h e
12
Das Literaturfestival in Makassar: ein Bericht von Katharina Borchardt
14
Ruthard Stäblein, Katharina Borchardt und Cornelia Zetzsche: drei Juroren der
Weltempfängerbestenliste über Literatur und Literaten Indonesiens
16
Cairo Short Stories: ein Ausschnitt aus der Siegergeschichte von Omaima Sobhi
18
Paulina Chiziane aus Mosambik: Was heute irrational ist, könnte morgen rational
sein – von Doris Wieser
22
Hört auf mit dem Stuss – Elisa Fuchs über den Autor Alain Mabanckou
24
Weltempfänger Sommer und Herbst 2015
26
Über die junge Literaturszene der Türkei – von Gerrit Wustmann
28
Dem Begriff Afropolitismus auf der Spur – von Achim Stanislawski
30
Das Antiquariat Wolfgang Rüger – aufgesucht von Sophie Adler
32
Susann Urban: Spracharbeiterin mit guter Intuition
34
Thomas Wörtche über Krimis aus Afrika
36
Pramoedya Ananta Toer – hervorgeholt von Joscha Hekele
38
Fragebogen, diesmal: Stefanie Aznan
39
Tod im Exil: Chenjerai Hove (1956 –2015) – ein Nachruf von Peter Ripken
40
Kuba, Haiti, Argentinien, Indonesien, Südafrika, Algerien, Deutschland
41
Samira Schafik / Ihab Schakir: Sonne und Mond: Wie aus Feinden Freunde wurden 44
Barbara Mesquita (Hrsg.): Angola entdecken! Anthologie
46
María Sonia Cristoff: Lasst mich da raus
46
Al Imfeld (Hrsg.): Afrika im Gedicht
47
Andrea Hirata: Der Träumer
48
Nadifa Mohamed: Der Garten der verlorenen Seelen
48
Ondjaki: Die Durchsichtigen
49
Gewinnspiel für aufmerksame Leser/ innen der LiteraturNachrichten und Vorschau
50
Vorschau auf die Literaturtage 2016
51
3
© Wonge Bergmann
I n ei gen er S ac h e
mit Holger Heimann
Thema
Agus R. Sarjono:
HAUPTSACHE, VIELE LEUTE
LESEN MEIN BUCH
Agus R. Sarjono (* 1962) ist ein indonesischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Er schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, Essays, Kritiken und Dramen, die in Indonesien, Malaysia, Brunei sowie verschiedenen Journalen in Deutschland, Frankreich, den
Niederlanden, England und den USA veröffentlicht wurden. Seine Gedichte sind in mehr als
20 Anthologien enthalten. Außerdem ist er Herausgeber und Übersetzer der in Indonesien erscheinenden Seri Puisi Jerman (Reihe deutschsprachiger Lyrik in indonesischer Übersetzung). Holger Heimann hat ihn in Indonesien getroffen.
Holger Heimann: Sie schreiben Gedichte und Theater-
Zeiten –, aber sie wollen nicht. Tatsächlich sind es nur 10 Pro-
stücke. Überdies sind Sie Übersetzer und unterrichten an
zent der Indonesier, vielleicht auch nur 5 Prozent, die sich für
der Kunsthochschule in Bandung. Schließlich haben Sie
Bücher erwärmen und diese kaufen. Vielen ist einfach nicht klar,
auch noch den Verlag Komodo Books begründet. Was ist
dass Lesen ungeheuer spannend sein kann. Selbst an den Uni-
die Hauptsache für Sie?
versitäten habe ich das erlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein
Agus R. Sarjono: Ich bin zuallererst Dichter. Aber ich brauche
grundsätzliches Desinteresse gibt, oder ob die Menschen ein-
Geld. Ich gehe gern ins Kino oder ins Theater. Da liegt es nahe,
fach nicht daran gewöhnt sind zu lesen.
auch Theaterkritiken zu schreiben, um damit ein wenig Geld zu
verdienen. Und als mir angeboten wurde, an der Kunsthoch-
Wie meinen Sie das?
schule Bandung zu unterrichten, habe ich rasch zugesagt. Die
Indonesien ist traditionell eine Hörgesellschaft, keine Lesegesell-
Arbeit in Bandung lässt mir weiterhin Zeit für mein Schreiben,
schaft. Die mündliche Tradition ist sehr stark. Rendra, einer un-
das ist großartig. Und außerdem habe ich so ein festes monat-
serer berühmtesten Dichter, war ein phänomenaler Vortrags-
liches Einkommen.
künstler und ungemein populär. Zu seinen Lesungen kamen
Hunderte, ja Tausende, sie bezahlten
Das heißt, alle indonesischen Schriftsteller haben in der
auch durchaus Geld dafür. Denn sie
Regel noch einen anderen Beruf?
wollten unbedingt seine Performance
Ja, in Indonesien ist das unabdingbar. Sonst könnten die meis-
sehen – und die war wirklich einzigar-
ten Autoren nicht existieren. Es ist sehr hart. Viele arbeiten als
Journalisten oder unterrichten, wie ich. Nur ganz wenige können allein vom Verkauf ihrer Bücher leben.
tig. Aber seine Bücher haben die ZuWS Rendra
hörer anschließend nicht gekauft, die
empfanden sie als schlechter und so-
mit verzichtbar. Und dann ist da noch das Fernsehen. Viele MenIndonesien ist eines der bevölkerungsreichsten Länder
schen widmen ihre Zeit sinnlosen Sendungen, dabei können
der Welt. Aber Bücher gelten schon ab 10.000 verkauften
viele Bücher viel besser unterhalten. Aber unsere Bildung, der
Exemplaren als ziemlich erfolgreich. Meist liegt die ver-
Unterricht in den Schulen, gründet nicht auf der Praxis des Le-
kaufte Auflage darunter. Warum?
sens, sondern auf der des Erzählens. Es ist eine Sache der Erzie-
Es gibt keine ausgeprägte Lesebereitschaft in Indonesien. Die
hung. Ich glaube, dass es eine Menge Möglichkeiten gibt, die
Mehrzahl der Menschen kann zwar lesen – anders als in früheren
Leute zum Lesen zu bringen, ihre Liebe für Bücher zu wecken.
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LiteraturNachrichten Nr.123 Herbst 2015
Indonesien
Wie existieren Verlage in einem solchen Umfeld?
Machen Ihnen Raubkopien zu schaffen?
Einige Verleger verdienen eine Menge Geld, indem sie Schulbü-
Nein. Es gibt keine großen Unterschiede zwischen Raubkopien
cher produzieren. Auch religiöse Werke sind ungemein populär.
und legalen Büchern. Der Preis ist sehr ähnlich. Ich glaube, viele
Da sind Auflagen von über einer Million gar nicht ungewöhn-
indonesische Dichter wären froh darüber, wenn ihre Bücher
lich. Die Mehrzahl hat es schwer. Gerade in den zurückliegenden
über Raubkopien Verbreitung fänden. Ich persönlich bin natür-
Jahren mussten viele kleine Verlage aufgeben.
lich prinzipiell gegen Piraterie. Aber wenn ein Verlag mein Buch
veröffentlicht, ohne mich zu fragen und ohne dass ich etwas
In Ihrem Verlag Komodo Books veröffentlichen Sie
daran verdiene, der Titel aber 50.000 mal verkauft wird, dann
Autoren wie Celan und Nietzsche, die wahrscheinlich
macht mich das trotzdem glücklich. Hauptsache viele Leute le-
keine Millionenauflagen erreichen.
sen mein Buch. Wenn derselbe Verlag dann das nächste heraus-
Wir veröffentlichen 20-30 Titel pro Jahr, auch indonesische
bringt, wäre ich gern am Gewinn beteiligt.
Autoren. Wir machen das, solange das Geld reicht. Es kommt
dabei durchaus vor, dass ein Autor uns finanziell unterstützt, damit wir sein Buch herausbringen können.
Indonesien ist die viertgrößte Facebook-Nation der Welt.
Woher rührt die enorme Begeisterung?
Es ist fürchterlich. Überall kann man Leute beobachten, die
Wer kauft die Bücher?
irgendein elektronisches Gerät in der Hand halten, Bücher sieht
Solche Bücher werden vor allem in den großen Universitätsstäd-
man hingegen selten. Ich weiß nicht, was diese Menschen tun.
ten, also zum Beispiel in Jakarta und Yogyakarta, gekauft. Auf
Aber sie wirken sehr abwesend. Auch wenn Leute zusammen
den kleinen Inseln gibt es meist keine Buchläden. Der größte
am Tisch sitzen und sich unterhalten, sind sie oft zugleich mit
Händler ist Gramedia, die sind überall vertreten, wo sich der
ihren Smartphones beschäftigt.
Verkauf von Büchern lohnt. Aber sie lassen unsere Bücher nur
einen Monat in den Regalen, dann werden sie in der Regel wie-
Es gibt auffallend viele neue Bücher, die sich mit der
der aussortiert.
blutigen Vergangenheit Indonesiens, der Hatz auf Kom-
Sie haben Goethe übersetzt und jetzt ein deutschspra-
die traurige Geschichte gerade jetzt in Romanen erzählt?
munisten in den 1960er Jahren beschäftigen. Warum wird
chiges Sonderheft der Lyrikzeitschrift Jurnal Sajak heraus-
Während der Suharto-Ära wurden alle Diskussionen über diese
gebracht. Woher rührt Ihre besondere Verbindung zum
Tragödie, über den Massenmord an den Kommunisten unter-
Deutschen?
drückt. Seit seinem Fall scheint jeder begierig, über die Verfol-
Ich war einmal in den Niederlanden zu Gast. Auf einem Floh-
gung und die Schlächterei zu schreiben. Aber es gab bereits vor
markt in Leiden bin ich zufällig auf deutsche Bücher gestoßen.
dem Ende der Diktatur Autoren, wie zum Beispiel Umar Kayam,
Ich konnte kein Deutsch und trotzdem hat mich etwas daran
die über die Opfer der Suharto-Zeit geschrieben haben. Das ist
gefesselt. Später habe ich dann Einladungen aus Deutschland
nicht wirklich unser Hauptthema.
zu verschiedenen Literaturfestivals erhalten und schließlich den
Indonesien-Spezialisten Berthold Damshäuser von der Univer-
Und welches ist das wichtigste Thema?
sität Bonn kennengelernt. Mit ihm zusammen gebe ich eine
Heute gibt es viele verschiedene Themen in der Literatur. Es ist
Reihe deutschsprachiger Lyrik in indonesischer Übersetzung her-
ziemlich bunt.
aus.
Was versprechen Sie sich von der Frankfurter Buchmesse?
Hat der gesellschaftliche Umbruch seit dem Rücktritt
Wir in Indonesien kennen Deutschland ganz gut. Wir gucken die
Suhartos 1998 entscheidende Veränderungen in Ihrer
Bundesliga, drücken Bayern München oder Borussia Dortmund
Arbeit als Schriftsteller und Verleger bewirkt?
die Daumen. Aber umgekehrt wissen die meisten Menschen in
Die Produktion ist heute einfacher als unter Suharto, der Ver-
Europa nur sehr wenig über uns. Die Welt denkt, wir sind ein
kauf ist ebenso schwierig geblieben. Während der Diktatur gab
Volk, das nur tanzen kann. Aber wir bringen unsere Bücher mit
es eine versteckte Zensur, das war abhängig von den jeweiligen
nach Frankfurt und zeigen, dass wir auch schreiben können. 
lokalen Behörden. Heute darf jeder sagen und schreiben, was er
möchte, aber es kann durchaus vorkommen, dass Druck gemacht wird, zum Beispiel von religiöser Seite.
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Thema
DREI MAL LIEBE UND
POLITIK
Drei der Juroren der Litprom-Bestenliste Weltempfänger sprachen zur Vorbereitung auf den Ehrengastauftritt auf der Frankfurter Buchmesse in Indonesien mit Schriftstellerinnen und Autoren. Sie
haben sich intensiv mit zentralen Werken, die in deutscher Übersetzung vorliegen, beschäftigt und
darüber diskutiert.
Ruthard Stäblein: Auffallend ist: Es werden fast ausschließlich
für Indonesien bis heute so schmerzhafte Jahr 1965, in dem
Autorinnen vorgestellt. Drei Frauen stehen im Mittelpunkt: Leila
General Suharto die Macht ergriff und eine Militär-Diktatur er-
Chudori, Ayu Utami und Laksmi Pamuntjak. Pamuntjak hat in
richtete, in der bei einer beispiellosen Kommunistenjagd eine
ihrem Roman Alle Farben Rot den Hindu-Mythos der Mahaba-
Million Menschen ermordet wurden. Tausende verschwanden in
rata auf die heutige politische Situation übertragen. Über den
Straflagern. Ambas Suche 40 Jahre später führt auf die ehema-
Putsch von 1965, nach dem Millionen Kommunisten und Ver-
lige Gefangeninsel Buru, und solche Recherchen sind bis ins Jahr
dächtige ermordet, gefoltert, gefangen gehalten wurden. Für
2006 nicht beliebt bei der Polizei und den Verantwortlichen, die
diesen Roman hat sie in Indonesien viel Anerkennung erhalten.
das Unrecht all die Jahre tabuisierten. Alle Farben Rot ist ein Epi-
Die Autorin aktualisiert das Epos von Mahabarata bzw. eine
taph für die Opfer.
Dreiecksgeschichte aus diesem Werk: Die Studentin Amba nä-
Ruthard Stäblein: Und dann entkommt Amba sogar dem
hert sich dem Lehrer Salwa an, der ist fleißig, könnte ein guter
Schicksal, das ihr durch ihren Namen auferlegt worden ist. Sie
Familienvater werden. Aber Amba langweilt sich mit ihm. Da
versteinert nicht, sondern wird zu einer modernen, emanzi-
lernt sie den älteren politisch engagierten Bhisma kennen. Der
pierten Frau, die sich einen dritten Mann sucht. Ich finde auch,
wird 1965 verhaftet, landet auf einer Gefangeneninsel, ver-
dass Alle Farben rot den Mythos verwandelt und dabei ge-
schwindet aus Ambas Blickfeld. Die begnügt sich mit einem an-
schickt die jüngste Geschichte Indonesiens vermittelt, dabei die
deren Mann. Nach dessen Tod macht sie sich auf die Suche nach
Tabus aufbricht, die mit dem Terror der Militär-Diktatur verbun-
Bhisma. Was meint ihr: Geht das Konzept von Pamuntjak auf?
den sind. Aber mit der Liebesgeschichte habe ich meine Pro-
Die Geschichte von 1965 als Pauspapier für einen Mythos, der
bleme. Zu dick aufgetragen. Zu viele kitschig-blumige Stellen,
vor über tausend Jahren aus Indien nach Indonesien eingeführt
diese ständigen Sonnenuntergänge, dieses Gezwitscher à la:
wurde?
„Es war ein Uhr nachts, als Amba vom seligen Rausch erwachte.
Katharina Borchardt: Ich finde, das kann man sehr gut ma-
Sie sah den Kopf ihres Geliebten auf ihrem feuchten Po, sein
chen. Alte Mythen in neuem Gewand. Ist es nicht so, dass My-
Haar war ganz wirr.“
then die Grundkonflikte des menschlichen Lebens erfassen? Die
Katharina Borchardt: Ach ja, die Liebe in indonesischen Ro-
durchlebt jeder von uns immer wieder. Schwieriger ist vielleicht,
manen ... Auch die hat meiner Meinung nach oft märchenhafte
dass die Namen Amba, Salwa und Bhisma bei Pamuntjak das Le-
Züge. Und viele Autoren tragen richtig dick auf. Schön an die-
ben der Protagonisten quasi schicksalhaft vorherbestimmen. Ich
sen märchenhaften Lieben ist ihre Unbedingtheit, die man in
kann das problemlos als märchenhaftes Element lesen, aber
westlichen Romanen selten findet. Ernstzunehmende Liebe geht
nicht als realistische Geschichte.
bei uns fast nur noch in gebrochener Form. Bei Pamuntjak aber
Cornelia Zetzsche: Das Mahabharata ist ja nur die Folie, die
wissen die Liebenden, dass sie aufgrund ihres Namens füreinan-
zeigt: In Indonesien sind Mythen und Legenden allgegenwärtig,
der bestimmt sind. Nach der ersten Liebesnacht taucht in Amba
Liebe, Macht und Gewalt sind zeitlos, Grundkonflikte, wie Ka-
dann „erstmals der Gedanke an ein Baby auf und das Bild von
tharina sagt. Ich denke, Pamuntjak ging es – neben der Liebes-
Kindern im milden Sonnenlicht“. Das ist allerdings hochprozen-
geschichte – vor allem um das realistische Moment und um das
tiger Kitsch!
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LiteraturNachrichten Nr.123 Herbst 2015
Indonesien
Cornelia Zetzsche: Ich sehe das weniger romantisch. Sex sells,
Cornelia Zetzsche: Die Lektüre ergibt tatsächlich den Eindruck,
vor allem bei Ayu Utami, die uns in ihrem Roman Larung zwi-
dass Übersetzen schwierig ist. Und, das sei am Rande erwähnt:
schen Indonesiens Polit-Drama mit Showdown und viel Sex und
Noch schwieriger war die Übersetzungsförderung, ohne die Ver-
Lifestyle in einem New Yorker Loft taumeln lässt. Wir haben hier,
lage sich bei „Exoten“ ungern engagieren. Indonesiens Regie-
das finde ich interessant – neben Utami und Pamuntjak noch
rung hat den Frankfurter Auftritt unterschätzt und zu spät rea-
Leila Chudori – dreimal die Kombination Liebe und Politik, My-
giert. Was jetzt auf Deutsch erscheint, ist nur eine Andeutung
then und Heute, und alle drei Autorinnen kommen aus dem
von dem, was Indonesiens Autoren bieten. Völlig frei von Kitsch
gleichen „Stall“, haben enge Verbindungen zur Literatur-Zeit-
ist Linda Christanty, eine liberale Muslimin, die viel Aufmerk-
schrift Tempo und Mohamad Goenawan, dem Kurator des
samkeit erregte mit ihren klugen Essays aus der Provinz Aceh.
Frankfurter Auftritts. Und alle wissen, Politik verkauft sich nicht,
Indonesien ist als größtes muslimisches Land der Welt noch
wenn die Liebe nicht mitspielt. Der 666-Seiten-Roman von Pa-
weitgehend liberal, Aceh aber hat sich radikalisiert und die
muntjak schwächelt, wenn es um die Liebe und um magische
Scharia eingeführt. Christanty berichtete von dort über islamis-
Momente geht. Interessant sind die regionalen Unterschiede der
tische Kämpfer, traumatisierte Kinder und Attacken gegen
Inseln und ihrer Kulturen. Spannend, wenn der Roman die Land-
Frauen und Schwule, sie sah verbrannte Häuser, hörte von Mas-
schaft Burus beschreibt, die Baumbänder und Bergketten, und
sakern und fand doch Hoffnung. Ich schätze ihren genauen
die politischen Unruhen und Umstände. Immer wieder taucht
Blick und den oft ironischen Unterton, auch in ihren Storys. Die
Rot auf, in allen Farben: die rote Bluse, rot wie der Teufel, rot
bekannteste findet sich in der Anthologie Duft der Asche: „Ma-
wie Blut, wie Revolution, wie Sozialismus, wie die Liebe. Ich
ria Pintos fliegendes Pferd“ zeigt die Konfrontation eines Todes-
finde die Struktur des Romans, seine Dramaturgie durchaus am-
schützen mit einer Rebellin im Unabhängigkeitskampf von Ost-
bitioniert. Da ist Leila Chudoris Pulang. Heimkehr nach Jakarta
Timor. Eine real grundierte phantastische Geschichte. Und einer
deutlich schlichter, eine Exilanten-Geschichte zwischen Paris
meiner Favoriten ist Afrizal Malna mit seinen experimentellen
und Jakarta, auch eine Geschichtslektion der Jahres 1965 und
Gedichten, übersetzt von der Schriftstellerkollegin Ulrike Draes-
1998 übrigens, der blutige Beginn und das blutige Ende des
ner. Malna verbindet Poesie und Philosophie, schreibt fragmen-
Regimes Suharto.
tarisch, analog zur Brüchigkeit der modernen Existenz. Er beginnt
Ruthard Stäblein: Es ist bemerkenswert, wie freimütig diese
mit Alltagsdingen, einer Cola-Büchse, einer Schreibmaschine,
drei Frauen über Sex schreiben. Vor allem Utami in ihren Roma-
dem Gang ins Badezimmer und schwingt sich von da aus aufs
nen Saman und Larung. Da wird es richtig krude. Behinderten-
Trapez der Sprache. Ein Sprachartist, ein Großstadtmensch,
sex mit Gänsen. Das ist erstaunlich, bei dem „anschwellenden
1957 geboren, heute in Jakarta zuhause, der das Englische als
Bocksgesang“ der Islamisten, die in Indonesien auf dem Vor-
Kolonialsprache meidet. Also, es gibt viel zu entdecken. 
marsch sind. Aber die scheint es weniger zu stören, wenn sexuelle Perversionen ausgebreitet werden, als wenn Pamuntjak
• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
ein Kochbuch schreibt mit Rezepten über Schweinebraten. Über
und gegen die Islamisten schreibt eine weitere Frau: Linda
Christanty. Dann gibt es muslimische Autorinnen wie die Feministin Okky Madasari. Sie ruft in ihren Büchern die Muslime
dazu auf, sich zu bekennen: Seien sie schwul, lesbisch oder
queer. Ich finde es gut, dass die Autorinnen das politische und
das historische Geschehen in ihren Romanen aufgreifen. Am besten gelingt das meines Erachtens Laksmi Pamuntjak. Ihr Roman
schillert richtig.
Katharina Borchardt: Cornelia hat recht mit ihrer Anmerkung
zur sprachlichen Eleganz: Alle Farben Rot von Laksmi Pamuntjak
Leila S. Chudori: Pulang – Heimkehr nach Jakarta. Roman, 450 Seiten,
Aus dem Indonesischen von Sabine Müller, Weidle Verlag 2015
Laksmi Pamuntjak: Alle Farben Rot. Roman, 671 Seiten. Aus dem Indonesischen von Martina Heinschke, Ullstein Verlag 2015
Ayu Utami: Larung. Roman,328 Seiten. Aus dem Indonesischen von Peter
Sternagel, Horlemann Verlag 2015
Ayu Utami: Saman. Roman, 264 Seiten. Aus dem Indonesischen von Peter
Sternagel, Horlemann Verlag 2015 (Neuauflage)
Okky Madasari: Gebunden. Roman. Aus dem Indonesischen von Gudrun
Ingratubun, Sujet Verlag 2015
Duft der Asche. Literarische Stimmen indonesischer Frauen, Anthologie,
124 Seiten. Herausgegeben und übersetzt von Monika Arnez und Edwin
Wieringa, Horlemann Verlag 2008
bewegt sich sprachlich auf höherem Niveau als Leila Chudoris
Pulang, das sehr schlicht formuliert ist. Und wie findet ihr die
beiden Romane von Ayu Utami sprachlich? Wir haben natürlich
immer das Problem, dass es sich um übersetzte Texte handelt –
und auch um von verschiedenen Übersetzern übersetzte Texte ...
LiteraturNachrichten Nr.123 Herbst 2015
Siehe Gespräch mit Ayu Utami auf S. 6
Siehe Gespräch mit Leila S. Chudori in LiteraturNachrichten 122, S. 8
Siehe Gespräch mit Afrizal Malna in LiteraturNachrichten 121, S. 4
Termine der Lesungen der genannten Autorinnen auf www.litprom.de
17
Buchwelten
Autoren werden
im Alter nicht reifer
Über die junge türkische Literaturszene
Gezi-Proteste, Korruptionsskandal und der Absturz der regierenden AKP bei den Parlamentswahlen – die Türkei befindet sich im Umbruch. Und mit ihr die junge türkische Literaturszene. Was bewegt junge Schriftsteller am Bosporus, was
macht sie für deutsche Leser interessant? In Istanbul sprach Gerrit Wustmann mit Kultautor Emrah Serbes und der
Lektorin des April Verlags, Nazli Berivan Ak.
Das Istanbuler Viertel Besiktas ist ein kleines, jung-modernes
Immobilienspekulanten zum Opfer fallen – wie etwa der zentral
Widerstandsnest. Hier tummeln sich linke und alternative Bewe-
nahe dem Taksim-Platz gelegene Istanbuler Bezirk Tarlabasi. „In
gungen, es ist die Heimat der Fußball-Ultras Carsi, die bei den
Ankara gibt es nicht so viel zu sehen und so viele Ausgehmög-
Gezi-Protesten im Sommer 2013 eine wichtige Rolle spielten
lichkeiten wie hier in Istanbul. Deswegen sind die Menschen
und dann als „terroristische Vereinigung“ vor Gericht gezerrt
dort fleißiger, und auch ich hab mich eben hingesetzt und ge-
wurden. Die Anklage gegen den Schriftsteller Emrah Serbes, Jahr-
schrieben“, sagt Serbes augenzwinkernd. „In alles, was ich
gang 1981, kam von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan per-
schreibe, fließen meine jeweils aktuellen Erlebnisse mit ein, in
sönlich. Er hatte auf Twitter gestänkert, wieder einmal. Tayyip
Istanbul noch viel mehr als anderswo. In meinem aktuellen Ro-
verhalte sich wie einer aus dem Videospiel Street Fighter, schrieb
man Deliduman geht es daher auch um die Gezi-Proteste und
er, nachdem der Präsident im Zuge des schweren Minenun-
um einen Jungen, der zu dieser Zeit hier lebte. Istanbul ist ein
glücks in Soma, bei dem 301 Arbeiter starben, einen kleinen
Wirrwarr, das sich durch seine Vielfalt auszeichnet, auch was
Jungen schlug und sein Berater auf einen am Boden liegenden
die sozialen Schichten angeht. Und die Mentalitäten. Viele leben
Demonstranten eintrat. „Die Regierung tritt zurück“ titelte die
hier wie im 21. Jahrhundert, in anderen Vierteln geht es mittel-
taz damals. Außerdem twitterte er über den Korruptionsskan-
alterlich zu, da traut sich nicht mal die Polizei rein. Auch hier su-
dal, in den auch Erdogans Familie verstrickt ist, und über den ein
che ich den Kontakt zu den Armen, ich befasse mich mit den
Medienmaulkorb verhängt wurde.
syrischen Mädchen, die zur Prostitution hergebracht oder an
Den gegen ihn vorliegenden Haftbefehl wegen Majestätsbelei-
reiche arabische Scheichs verkauft werden, oder auch mit den
digung nimmt Serbes locker. Es ist nicht der erste. Schon 2014
drogenabhängigen Straßenkindern.“
gab es eine Anklage, bei der die Staatsanwaltschaft 12 Jahre
Die vielen Touristen, die in all den funkelnden neuen Hotels
Haft forderte. Er wurde freigesprochen, der Richter kurz darauf
wohnen, bekommen davon nicht viel mit. „Istanbul verfällt“,
versetzt. Und er ist nur eine von vielen kritischen Stimmen, die
sagt Serbes. „Die Natur verfällt, aber auch die Moral. Sultanah-
der Staatsapparat einschüchtern will.
met, Hagia Sophia und all die hübschen Sehenswürdigkeiten
Serbes‘ Ruhm begründet sich mit seinen zwei Romanen um den
sind bloß eine Maske, die dem Ausland präsentiert wird. Darun-
Polizeikommissar Behzat C., die hart mit dem korrupten Polizei-
ter verfault die Stadt. Die AKP spielt sich als der große Bewahrer
system ins Gericht gehen, und über die die bis dato erfolgreich-
auf, aber eigentlich sind es die Linken, die sich einsetzen für die
ste türkische TV-Serie produziert wurde. Es folgten Kinofilme.
Natur und für die Stadt. Es ist nicht die Regierung, die die Istan-
Serbes schrieb an den Drehbüchern mit. Sein Debüt erschien, als
buler Skyline mit ihren Moscheen bewahrt – die stellen da ein-
er gerade mal 25 Jahre alt war. Damals lebte er noch in Ankara.
fach ihre Wolkenkratzer dazwischen oder reißen ab, was gerade
„Ich habe dort selbst in einem Gecekondu gelebt, das irgend-
im Weg steht.“ Die Bewahrer seien auch die Schriftsteller. Das
wann abgerissen wurde. Solche Themen bewegen mich.“
alte Istanbul verschwindet, aber in ihren Büchern lebt es weiter.
Gecekondus, das sind Armenviertel, die mehr und mehr den
Nach dem Militärputsch von 1980 sei der Blick der Schriftsteller
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LiteraturNachrichten Nr.123 Herbst 2015
Buchwelten
seiner Fähigkeit, den Leser mit jedem Satz zu überraschen. Sein
Erzähltalent ist brillant: keine Übertreibung, kein billiger Humor,
keine Redundanzen, nichts, was ersetzbar oder verzichtbar
wäre. Außerdem Bahadir Cüneyt Yalcin, wegen seiner frischen
Stimme und seinem einzigartigen Stil. Seine Figuren sind Jedermänner, die zu Helden werden.“ Bücher von Günday und Canigüz liegen auf Deutsch vor, Yalcins Werke bislang nicht. Ak
wünscht sich, dass sich das ändert: „Leider werden noch immer
nur wenige in andere Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt.
Aber in den letzten Jahren hat sich das stark verbessert, auch
weil Übersetzungen durch Fördergelder unterstützt werden. Es
kommt aber auch immer darauf an, im Ausland einen passenden Verlag zu finden. Viele Werke landen in Kleinverlagen und
sind dann im Buchhandel und in den Medien nicht präsent.“
Dabei, so sagt sie, sind diese Bücher ganz besonders für deutsche Leser interessant. Immerhin leben über zwei Millionen
Gerritt Wustmann (links) und Emrah Serbes
Türken in Deutschland, und die Türkei ist bei den Deutschen als
und Künstler noch sehr nach innen gerichtet gewesen. „Viele
besonders bewegen sind Gezi, die LGBT-Bewegung, Frauen-
Urlaubsland beliebt. „Themen, die junge türkische Schriftsteller
haben damals nur für sich geschrieben und nicht mal aus dem
rechte, die heutige Türkei, aber auch existenzielle und intellek-
Fenster gesehen. Die jungen Autoren von heute sind da ganz
tuelle Fragen. Die Künstler sind generell politischer geworden
anders. Sie schauen sehr genau, was in der Türkei und der Welt
nach Gezi, und nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 haben
passiert. Und sie verarbeiten das, was sie sehen. Sie schreiben in
sie wieder neuen Mut gefasst, ihre Stimmen zu erheben. Aus-
einer sehr jungen, frischen Sprache. Witzig ist ja, dass wir, die
ländische Leser können aus diesen Büchern mehr über die Tür-
Mittdreißiger und Vierziger, noch als junge Autoren gelten.
kei lernen. Indem man diese Autoren liest, kann man an dem
Dabei gibt es viele unter 20, die großartige Texte schreiben.
Wandel teilhaben, der zurzeit hier stattfindet, und ihn besser
Aber im Grunde glaube ich auch nicht dran, dass jemand reifer
verstehen.“
wird oder schreibt, nur weil er älter wird. Kafka ist mit 41 Jahren
Und hinter die von Serbes beklagten Kulissen der Altstadt-
gestorben, aber was die Reife angeht war er mindestens hun-
Sehenswürdigkeiten blicken, hinter denen sich die echte Türkei
dert Jahre alt.“
versteckt. Vielleicht sind ja Romane und Gedichtbände ohnehin
Emrah Serbes möchte Geschichten schreiben, die der Zeit stand-
die besseren Reiseführer.
halten. „Ein Buch ist nur dann wirklich gut, wenn man es ein
zweites Mal lesen möchte. Ein Buch, das ich nach der ersten
Runde weglege, empfehle ich auch niemandem.“
Einen guten Überblick über die junge Literaturszene hat auch
Gerrit Wustmann (*1982) lebt in Köln und Istanbul. Er ist Redakteur und
Schriftsteller und arbeitet seit 2010 an einem dreiteiligen Gedichtzyklus
über die Stadt am Bosporus. Zuletzt erschien Istanbul Bootleg (Berlin 2013).
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Nazli Berivan Ak, Jahrgang 1982. Sie hat in Ankara Philosophie
und Altgriechisch studiert und promoviert derzeit, während sie
Auf Deutsch erhältlich:
sind ihrer Meinung nach die Autoren, die man unbedingt lesen
Hakan Günday: Extrem
sollte? Sie muss nicht lange überlegen. „Zum einen Hakan Gün-
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
day. Er gibt einem das Gefühl, dass es ein Privileg ist, wenn die
Btb Verlag 2011
© gezett.de
im Istanbuler Verlag April Programm und Autoren betreut. Wer
eigene Muttersprache Türkisch ist, man sie sprechen und lesen
kann. Er kennt keine Grenzen, weder sprachlich noch bezüglich
Alper Canigüz: Secret Agency
seiner Figuren und Plots. All seine Bücher sind erfüllt von großer
Aus dem Türkischen von Monika Demirel
Kraft und großer Wut. Zum anderen Alper Canigüz mit seinem
binooki Verlag 2013
wunderbaren fünfjährigen Protagonisten Alper Kamu und
Empfohlen auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger Frühjahr 2013
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Nachschlag
Aus dem Regal hervorgeholt von Joscha Hekele
Autor aller Länder: Pramoedya Ananta Toer
Ich gestehe: Von Pramoedya Ananta
ten. Als Sohn einer adligen Familie genießt Minke das Privileg,
Toer hatte ich noch nicht gehört. Pra-
auf eine holländische Schule zu gehen – er gehört damit
moedya Ananta Toer, der kurz Pram
zur hauchdünnen einheimischen Elite des Landes. Als solcher
genannt wird, ist einer der großen Au-
schreibt er für eine Kolonialzeitung auf Holländisch. Minkes
toren Indonesiens. Mehrfach für den
Freunde drängen ihn für sein Volk auf Malaiisch zu schreiben.
Literaturnobelpreis vorgeschlagen, hat
Zum Schlüsselerlebnis wird ein Interview mit einem chinesischen
er ihn letztendlich nicht bekommen.
Einwanderer, das manipuliert gedruckt wird – der Chinese wird
Respekt wurde ihm dennoch viel zu-
später ermordet. Minkes Weltbild beginnt zu bröckeln. Minke
teil. Der spätere Literaturnobelpreis-
beginnt, sich selbst, seine Bildung („Na du Schulhaus, du
träger Günter Grass besuchte Pram
schämst dich wohl, mich anzusehen, weil du mir eigentlich gar
1981. Zu diesem Zeitpunkt steht
nicht viel gegeben hast.“) und die Situation seines Landes |zu
Pram unter Stadtarrest, seit 1979
hinterfragen. Er erwacht aus kolonialem Gedankendunst und
darf er Jakarta nicht verlassen. Die
deutet Indonesiens Zukunft an, wenn er sich über einen
Veröffentlichung und der Besitz
„neuen, mir fremden Ausdruck: Nationalismus“ wundert.
seiner Bücher sind unter Suharto
Dabei bettet Pram seine Geschichte geschickt in die reale Ent-
verboten. „Seit vielen Jahren werbe ich für den Autor Pramoe-
wicklungsgeschichte Asiens ein, sodass ein großes Bild entsteht.
dya Ananta Toer. Es sind vor allem seine Bücher, die uns Indone-
Japan gewinnt gegen das chinesische Großreich und marschiert
sien und dessen wechselvolle Geschichte eröffnen; Bücher, die,
zum ersten Mal in die Mandschurei ein – und wird als erstes asi-
allen Widrigkeiten zum Trotz, entstanden sind und die den Le-
atisches Land von den Europäern als gleichwertig angesehen;
ser, wenn er nur will, reich machen könnten“, erzählt Günter
die Philippinen begehren gegen Spanien auf, verlieren ihre kurz
Grass später. Die 14 Jahre auf der Gefängnis-Insel Buru hat Pram
erlangte Souveränität dann wieder gegen die Amerikaner; chi-
da schon hinter sich. Jene Insel, auf der die Tetralogie Bücher
nesische Widerstandskämpfer wollen ihr Heimatland über die
der Insel Buru ihren Anfang nahm. Sein bekanntestes Werk.
Auslandchinesen in Indonesien wiederbeleben; Großbritannien
Pram erzählte die Geschichte zuerst seinen Mithäftlingen, bevor
lauert im internen Kolonialmachtkampf im nahen Singapur auf
er sie mit ihrer Hilfe aufschrieb – sie arbeiteten mehr, erhielten
eine weitere Schwächung Hollands, das im langjährigen Krieg
Teile von Zusendungen für Pram; so konnte Pram Autor sein. Die
mit der Region Aceh viel Kraft verloren hat.
ersten beiden Bände der Tetralogie, Garten der Menschheit und
Kind aller Völker liest sich als spannende Geschichte vor diesem
Kind aller Völker, erschienen 1979 auf Indonesisch. Ein großer
realen Hintergrund politischer Verwicklungen Indonesiens, einer
Erfolg mit mehreren Auflagen. Dann das Verbot. Mitte der
Zeit des Umbruchs, in der „das Fiebern nach Neuerungen und
1980er Jahre erscheinen die beiden letzten Bände, Spur der
neuen Apparaten dem Menschen keine Gelegenheit lässt, sich
Schritte und Haus aus Glas. Und wieder das Verbot. Pram steht
mit seiner Lage abzufinden.“ Und doch bemerkt Minke, dass
seitdem unter Arrest bis zum Fall des Suharto-Regimes.
er gerade wegen der anbrechenden Moderne die Möglichkeit
Kind aller Völker bildet die sozialen und politischen Verhältnisse
bekommt, von anderen Ländern zu lernen, dass er „ein Spross
Indonesiens Ende des 19. Jahrhunderts ab. Das Auto ist nicht er-
aller Nationen“ ist. Kind aller Völker ist zeitübergreifend, es
funden, das Fahrrad noch eine Sensation. Die Moderne hat be-
zeigt, dass Prams Werk immer noch aktuell ist. 
gonnen, die Wissenschaft ist im Vormarsch. Das private Kapital
löst die feudalistischen Strukturen des Landes ab, und die mäch-
Pramoedya Ananta Toer [Indonesien]
tige Zuckerindustrie kontrolliert Politik und öffentliche Meinung.
Kind aller Völker
Die harten Lebensbedingungen der Landbevölkerung bleiben
(Bd. 2 der Tetralogie Bücher der Insel Buru)
die gleichen. „Das Kapital musste erhalten bleiben und wachsen,
Aus dem Indonesischen von Brigitte Schneebeli
Menschen durften sterben.“, erkennt der Ich-Erzähler Minke. Bil-
Strom Verlag 1990
dung ist nur Holländern sowie wenigen Indonesiern vorbehal-
395 Seiten; vergriffen. Neu aufgelegt bei Unionsverlag 2015
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R e z e n s i o n e n
Ein Kreis schließt sich
Dies ist ein Standardwerk, eines, das einen geradezu unübertrefflichen Standard
setzt. In seinem Vorwort zu dem untertrieben „Anthologie“ zu nennenden
Werk Afrika im Gedicht erläutert Herausgeber Al Imfeld seinen Weg zur und mit
der afrikanischen Literaturwelt und ihren
Akteuren, und das verdeutlicht nur annähernd, aus welchem Schatz an Erfahrungen dieses Buch entstanden ist. Das Opus
profitiert von einer ausgezeichneten Gliesitäten, Zeitungsartikel und Werbetexte
derung und teilt sich in eine geografisch
tion. Neben Armut und Elend, Vergessen
reflektiert wird und der theoretische Rah-
strukturierte Buchhälfte sowie in eine
und Erinnern stehen Liebe, Ekstase und
men der Schnittstellen zwischen Fakten
thematisch unterschiedene zweite Hälfte.
die Suche nach Identität im Vordergrund.
und Fiktion aufscheint, in dem Maras Ex-
Das Ganze ist noch durch unterschiedli-
Und ob Elegie oder Agitprop, ob Hymne,
periment wie auch Cristoffs Prosa allge-
che Farbränder kenntlich gemacht und
Lied oder Epigramm – auch formal bietet
mein stattfinden. Die verarbeiteten Infor-
durch gleichfarbige Lesebändchen so le-
dieses Werk eine grandiose Bandbreite
mationen sind zwar größtenteils regional,
sefreundlich
an Beispielen afrikanischer Lyrik. Selbst-
der Dreh- und Angelpunkt ist und bleibt
präsentiert, dass allein schon die hervor-
verständlich kann man das alles nur in
jedoch universell: die Auflehnung gegen
ragende Ausstattung Afrika im Gedicht
zum obligatorischen Geschenkband
das Buch auch die originalsprachliche
Konsens im Hohelied auf das beständige
macht. Autorenverzeichnis und Register
Version bereithält, in der man sich zusätz-
nutzbringende Tätigsein. Hier – auch als
gehören natürlich dazu. Leineneinband
lich verlieren kann. Dass Imfeld mit nur
Kostprobe für die hervorragende Über-
und Farbillustrationen ebenso. Teil eins
sieben Übersetzern gearbeitet hat, mag
setzung – wie Cristoff selbst Maras Aus-
führt über die Frankophonie sowie über
überraschen – es überrascht außerdem,
den vermeintlichen gesellschaftlichen
kleinen Etappen lesen. Umso mehr, als
bruch formuliert: „(damit verabschiedete
Nigeria und den Golf von Guinea relativ
dass viele der publizierten Gedichte nicht
sie sich ...) von ihrem auf so erschöpf-
rasch nach Südafrika und wird spätestens
bereits erschienenen Büchern entnom-
ende Weise vielversprechenden Leben
dort deutlich politisch: das Gedicht als
men sind, sondern dem Herausgeber zur
und den noch erschöpfenderen Ausfüh-
Waffe, Frauenprotest, nach der Apartheid.
Erstveröffentlichung zugesandt wurden.
rungen über das Glück des Tätigseins
Über Simbabwe geht es in das ostafrika-
Da schließt sich der Kreis, denn natürlich
und Leistung Erbringens und den Erzäh-
nische Zentrum der Poesie, nach Tansa-
war es auch der Klang seines Namens,
lungen über die erbrachten Leistungen
nia, Malawi und schließlich über die Sa-
der dies ermöglicht haben dürfte. Den
und der bei alldem alle und jeden quä-
helzone Richtung Kongo. Die Inseln rund
Lesern kann das nur recht sein – Afrika
lende Langeweile.“ So implodiert in die-
um Afrika werden ebenso berücksichtigt
im Gedicht ist ein Wahnsinnswerk und
sem feinen Text schließlich ein individuel-
wie der arabisch geprägte Norden des
veranschaulicht Lyrik aus Afrika auf un-
ler Akt der Anarchie, der im Leser eine
Kontinents oder die lusophonen Litera-
übersehbare Weise.
Zündschnur zu eigenem freigeistigen
turen. Imfeld widmet sich den Stimmen
Denken legen mag. Wahrlich viel in die
der Frauen, literarischen Vorbildfiguren
Al Imfeld (Herausgeber)
Stille gepackt, Chapeau!
und dem Thema Exil. Zeitlich geht es von
Afrika im Gedicht
Silke Kleemann
María Sonia Cristoff (Argentinien)
Manfred Loimeier
den Jahren der Unabhängigkeiten bis in
Übersetzt von Zineb Benkhelifa,
die unmittelbare Gegenwart der Spoken
Ueli Dubs, Elisa Fuchs, Danái Hämmerli,
Lasst mich da raus
Word Poetry – das ist mehr als lexikalisch,
Al Imfeld, Lotta Suter und Andreas
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
das ist universalistisch. Teil zwei hat Dikta-
Berenberg Verlag, Berlin 2015
tur und Demokratie zum Thema, Kriege,
Zimmermann
Offizin Verlag 2015
160 Seiten; EUR 20,00
Kriminalität, Kolonialismus und Korrup-
815 Seiten; EUR 59,00
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