Prof. Dr. Michael Kahlo Maria-Luisa Leonhardt Leipzig, den 23. März 2016 Strafrecht I, Allgemeiner Teil 1: Wintersemester 2015/16 Lösungshinweise zur Semesterabschlussklausur (1. Klausur) Aufbau: chronologisch oder nach Schwere geordnet möglich; HIER wegen mehrfacher Notwehrprüfung chronologischer Aufbau zu bevorzugen I. Strafbarkeit des A gemäß § 223 1 StGB wegen des Faustschlags 1.) Tatbestand a) Objektiv - Körperliche Misshandlung: üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht unwesentlich HIER: Schmerzen (+) - Gesundheitsschädigung: Herbeiführen oder Steigern eines nicht unerheblichen pathologischen (d.h. anormalen/krankhaften) körperlichen Zustandes HIER: Faustschlag des „gut trainierten“ A führt bei lebensnaher Auslegung des Sachverhalts mindestens zu Schwellung/Rötung, vertretbar mit Begründung auch (leichtes) Hämatom/(leichte) Prellung (+) - jeweils auch kausal und obj. zurechenbar (+) b) Subjektiv Vorsatz, § 15 = Wille zur TB-Verwirklichung in Kenntnis aller obj. Tatumstände Absicht“, sog. dolus directus 1.Grades = zielgerichteter Erfolgswille („um zu..“) HIER: zielgerichteter Faustschlag, um körperliche Rüge zu erteilen (+) 2.) Rechtswidrigkeit a) Notwehr, § 32 i. Gegenwärtiger Angriff = unmittelbar bevorstehende, bereits laufende bzw. noch nicht beendete Verletzung von Rechtsgütern durch menschliches Verhalten HIER: Verletzung des Rechtsguts Eigentum durch B in Form von Abbrechen des Markensymbols steht unmittelbar bevor (+) ii. Rechtswidrigkeit des Angriffs = wenn Angriff objektiv im Widerspruch zur Rechtsordnung steht HIER: Keine Rechtfertigungsgründe zu Gunsten des B ersichtlich (+) iii. Schuldhaftigkeit des Angriffs (hM/Rspr. fordern diese nicht!) (P) volltrunkener Jugendlicher 2 iv. Erforderliche Notwehrhandlung = geeignet und relativ mildestes Mittel - Geeignetheit: tauglich, um Angriff zu beenden oder jedenfalls zu hindern HIER: Faustschlag stoppt Abbrechen des Markensymbols (+) - „relativ“ mildestes Mittel: (1. Teil des 1. Hauptproblems) = mildestes unter den gleich sicheren der zur Verfügung stehenden Mitteln [Notwehrberechtigter muss keine Unsicherheiten hinnehmen!] HIER: Keine weiteren gleich sicheren Mittel ersichtlich UND Rückzug in Vorgarten beendet Angriff nicht, daher nicht gleich sicher → Faustschlag = relativ mildestes Mittel und damit erforderlich. v. Gebotenheit Sozial-ethische Einschränkung der Notwehr? (2. Teil des 1. Hauptproblem) (1) Minderjährigkeit hM: keine Einschränkung aA: Einschränkung (+), wenn Einsichts- und Steuerungsfähigkeit iSv § 3 JGG (-) HIER: nicht erkennbar, dass B allein wegen seines jungen Alters nicht einsichts- und steuerungsfähig war, daher iE nach beiden Ansichten keine Einschränkung des Notwehrrechts (2) Schuldunfähigkeit infolge Trunkenheit hM: Einschränkung nach „3-Stufen-Modell“, d.h. Ausweichen – Schutzwehr – Trutzwehr; Bagatellangriffe seien idR hinzunehmen; § 34 dann aber möglich HIER: Der gut trainierte A hätte den Bagatellangriff auf sein Eigentum entweder ganz erdulden oder jedenfalls einige Unsicherheit bei der Abwehr hinnehmen und den B auf mildere Weise – zB durch schonenderes Beiseitestoßen - vom Abbrechen abhalten müssen aA: volles Notwehrrecht, wenn vorsätzlich Schuldunfähigkeit herbeigeführt HIER: keine Angaben im SV für selbstverschuldete Schuldunfähigkeit, daher 3Stufen-Modell mit gleicher Lösung wie hM (3) planmäßige Umgehung polizeilicher Hilfe BGHSt 39, 133 (Dresdner Rotlichtmilieu-Fall): § 33 (-), wenn erreichbare Polizei unter Wirkung sthenischer Affekte im Vorfeld „ausgeschaltet“ wurde, um so „Krieg gegen Gegner“ zu führen → Übertragung der Rspr. hier mit entspr. Argumentation vertretbar! HINWEIS zur Prüfung einer Notwehrprovokation: Bloßes Parken des Oldtimers am üblichen Ort stellt kein das Abbrechen der Kühlerfigur in rechtlich-relevanter Weise provozierendes Verhalten dar! Falls Gebotenheit bejaht wird: vi. Verteidigungswille (+/-) mit entspr. Argumentation vertretbar, da A Eigentum verteidigen, aber gleichzeitig auch B angreifen wollte, um ihm eine Rüge zu erteilen 3 b) Notstand, § 34 → BGH/hM: § 34 tritt hinter § 32 als lex specialis zurück und ist nicht zu prüfen; zudem kann § 34 keine weiterreichende Befugnisse als § 32 verleihen wenn mit Mindermeinung dennoch § 34 geprüft wird: (1) gegenwärtige Gefahr: für Eigentum (+) (2) Erforderlichkeit: (i) Geeignetheit: (+) (ii) Relativ mildestes Mittel: (+/-) vertretbar bei §34 „Gefahr-/Schadensabwehr“ und nicht wie bei § 32 „Rechtsbewährung“ durch „Verteidigung“ → Ausweichen und polizeiliche Hilfe können grdsl. geeignete/erforderliche Mittel sein und Gefahrsituation zeitlich weiter als Angriff, daher mehr Handlungsmöglichkeiten auch vor akuter Gefahr in Beurteilung der Erforderlichkeit einzubeziehen HIER denkbare mildere Mittel: - Polizeiliche Hilfe? Verständigung der Polizei im Vorfeld möglich und wird durch Rspr. zumeist gefordert; ABER ohne konkrete Hinweise auf erneute Sachbeschädigung/Diebstahl ggf. kein Polizeieinsatz, daher vertretbar, dass polizeil. Hilfe hier nicht verfügbar! - abgeschwächter Gewalteinsatz wie zB Wegstoßen? (+/-) insb. hinsichtlich „gleich sicherer“ Schadensabwehr und Hinnahme von Abwehrunsicherheiten vertretbar, ABER IN JEDEM FALL: (3) Interessenabwägung: (-) Abstrakt: - körperliche Unversehrtheit = hoher Stellenwert; Eigentum = ebf. Bedeutendes GrundR, aber betrifft nicht körperliche Basis des Grundrechtsträgers Konkret: - Gezielter Faustschlag ins Gesicht und A ist gut trainiert → Gefahr erheblicher Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit - Abbrechen des Markensymbols des Oldtimers → nicht nur unerhebliche Schädigung des Eigentums - Im Ergebnis: Überwiegen der körperlichen Unversehrtheit gegenüber dem nur im Bagatellbereich betroffenen Eigentum [ (4) Angemessenheit: nicht mehr zu prüfen! Keine Hilfsgutachten im Strafrecht! Notwehrhandlung muss unter Einbeziehung aller Umstände sozial-ethische vertretbar sein HIER: Aus selben Gründen wie Interessenabwägung (-)] 3.) Schuld (+), insb. mangels asthenischer Affekte kein Raum für § 33 [§ 35 hier schon (-), da „Eigentum“ nicht von § 35 geschützt!] 4.) Strafantrag, § 230 StGB Wäre gemäß § 230 StGB zu stellen. 5.) Ergebnis A hat sich gemäß § 223 StGB strafbar gemacht. 4 II. Strafbarkeit des A gemäß § 212 StGB wegen des Schusses 1.) Tatbestand a) Objektiv - Tod eines anderen Menschen: (+) - kausal und obj. zurechenbar durch Schuss verursacht b) Subjektiv d.d.1. Grades durch zielgerichtetes „Niederschießen“: (+/-) vertretbar bei lebensnaher Interpretation der SV-Angabe „A schießt B nieder“ Absicht zu bejahen sonst: Eventualdolus: bei lebensnaher SV-Auslegung nach allen Ansichten (+) - MÖGLICHKEIT des Todeseintritts bei Abfeuern einer Waffe auf Menschen aus nächster Nähe erkannt → Mindestvorauss. für Eventualdolus nach allen Theorien und einziges Kriterium der Möglichkeitstheorie (+) (A hat B eben noch Faustschlag verpasst, B entfernt sich nicht, sondern will dem A als Reaktion Messer in Bauch rammen → spricht für sehr geringe Entfernung zw. A und B) - Abfeuern aus „nächster Nähe“ auch Indiz dafür, dass B auch erkannte, dass Tod sogar WAHRSCHEINLICH →Wahrscheinlichkeitstheorie (+) - Spricht auch dafür, dass es A mindestens „GLEICHGÜLTIG“ war, ob B stirbt → Gleichgültigkeitstheorie (+) - Ebenfalls Indiz für „ERSTNAHME des Todesrisikos“ → Ernstnahmetheorie (+) und „BILLIGENDES INKAUFNEHMEN“ des Todes → Billigungstheorie (+) 2.) Rechtswidrigkeit Rechtfertigung durch Notwehr, § 32? a) Gegenwärtiger Angriff Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des A durch Zustechen mit Messer steht unmittelbar bevor (+) b) Rechtswidrigkeit des Angriffs (P) Rechtfertigung des Angriffs des B durch § 32? Gegenwärtiger Angriff auf B? A hat dem B einen Faustschlag verpasst und damit das Rechtsgut körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt, dieser Angriff ist aber bereits abgeschlossen als B das Messer zieht → Gegenwärtigkeit (-) → Rechtswidrigkeit des Angriffs auf A (+) c) Erforderliche Notwehrhandlung (1. Teil des 2. Hauptproblems) - Geeignetheit: Schuss stoppt Ausholen mit Messer (+) - „relativ“ mildestes Mittel, d.h. mildestes unter den gleich sicheren der zur Verfügung stehenden Mitteln: Rechtsbewährungsgrundsatz: Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen, d.h. FLUCHT/AUSWEICHEN (Hier: Rückzug in Vorgarten) NIE „erforderlich“ im Sinne von § 32! (ggf. Korrektur bei „Gebotenheit“) keine Hinweise auf weitere gleich sichere Abwehrmittel → Erforderlichkeit (+) 5 d) Gebotenheit (2. Teil des 2. Hauptproblems) Sozial-ethische Einschränkung des Notwehrrechts? (1) Minderjährigkeit hM: grdsl. keine Einschränkung aA: Einschränkung (+), wenn Einsichts- und Steuerungsfähigkeit iSv § 3 JGG (-) → Hier nicht erkennbar, dass B allein wegen seines jungen Alters nicht einsichts- und steuerungsfähig war, daher iE keine Einschränkung des Notwehrrechts (2) Schuldunfähigkeit infolge Trunkenheit hM: Einschränkung nach „3-Stufen-Modell“, d.h. Ausweichen – Schutzwehr – Trutzwehr → Rückzug in Vorgarten (=Ausweichen) möglich → § 32 (-) aA: volles Notwehrrecht, wenn vorsätzlich Schuldunfähigkeit herbeigeführt → hier keine Angaben im SV für selbstverschuldete Schuldunfähigkeit, daher 3Stufen-Modell mit gleicher Lösung wie hM → § 32 (-) (3) planmäßige Umgehung polizeilicher Hilfe? Im Unterschied zur Situation zur Zeit des Faustschlags des A ist hier zusätzlich zu berücksichtigen, dass A zwar das erneute Abbrechen des Markensymbols nicht aber den Angriff mit dem Messer voraussehen und diesen deshalb nicht durch im Vorfeld arrangierte polizeiliche Hilfe abwenden konnte! Dies spricht gegen eine vollständige Versagung des Notwehrrechts gegen die Messerattacke allein wegen „Umgehung polizeilicher Hilfe“! (4) Notwehreinschränkung aufgrund Kumulation der unter (1) – (3) genannten Aspekte? mit entspr. Argumentation (+/-) vertretbar HINWEIS zur Prüfung einer Notwehrprovokation: A hat den Faustschlag nicht vorsätzlich geführt, UM den B zum Gegenangriff zu bewegen bzw. wusste nicht sicher, dass der B sich mit Gewalt wehren wird und erkannte nicht einmal die Möglichkeit, sondern dachte, dass sich B entfernen wird, daher vorsätzliche Notwehrprovokation nicht vertretbar! - Allenfalls FAHRLÄSSIGE PROVOKATION mit entspr. Begründung vertretbar; angemessene Bearbeitung erfordert dann aber Darstellung und Auseinandersetzung mit Theorien zur Fahrlässigkeitsprovokation! - wenn Gebotenheit bejaht wird: e) Verteidigungswille HIER: Kein vordergründiger Angriffswille des A mehr, daher (+) 3.) Schuld (+), insb. mangels asthenischer Affekte kein Raum für § 33 § 35: Erforderlichkeit (-), da Flucht möglich 4.) Ergebnis A hat sich gemäß § 212 StGB strafbar gemacht. 6 III. Strafbarkeit gemäß §§ 223, 224 I Nr. 2 StGB wegen des Schusses 1.) Tatbestand a) Objektiv i. § 223 StGB - Körperliche Misshandlung: Schmerzen (+) und Schusswunde (+) - Gesundheitsschädigung: (+), Schusswunde/Tod - jeweils auch kausal und obj. zurechenbar durch Schuss verursacht ii. § 224 Waffe iSv § 224 I Nr. 2: Pistole (+) b) Subjektiv i. § 223: „Einheitstheorie“, KV-Vorsatz notwendig in Tötungsvorsatz enthalten, hier (klarer als bei Tötungsvorsatz) d.d.1.Grades ii. § 224: d.d.1. Grades 2.) Rechtswidrigkeit (+), wie bei II. 2.) 3.) Schuld (+) 4.) Ergebnis: A ist strafbar gemäß §§ 223, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB IV. Konkurrenzen - § 52: Handlungseinheit zwischen § 212 und §§ 223, 224 I Nr. 2 Alt. 1 StGB; letztere treten aufgrund Subsidiarität hinter den vollendeten § 212 zurück - § 52: „natürliche Handlungseinheit“ zwischen Faustschlag und Schuss, da Handlungen bei natürlicher Betrachtungsweise wegen engem räumlich-zeitlichem Zusammenhang als Einheit anzusehen sind und von durchgängigem Abwehrwillen gegen B getragen sind aA vertretbar! Insb. Vorsatzwechsel von KV-Vorsatz zur Abwehr der Eigentumsverletzung auf Tötungsvorsatz zur Abwehr der Körperverletzung Ergebnis: Tateinheit gemäß § 52 zwischen allen verwirklichten Delikten, wobei §§ 223, 224 I Nr. 2 Alt. 1 hinter § 212 zurücktritt
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