Strahlen im Kalten Krieg. Strahlenforschung, Strahlenüberwachung

Strahlen im Kalten Krieg.
Strahlenforschung, Strahlenüberwachung und Strahlenschutz in der Schweiz
Sibylle Marti, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich
Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 gelten gemeinhin als
Beginn des atomaren Zeitalters. Sowohl in der Schweiz als auch international veränderte sich die
Wahrnehmung ionisierender Strahlen aber erst in den Fünfzigerjahren grundlegend. Eine zentrale
Rolle spielten die Atom- und Wasserstoffbombentests der USA. Diese oberirdischen
Versuchsexplosionen erregten weltweites Aufsehen und trugen massgeblich zu einer Verbreitung
der Angst vor radioaktivem Fallout bei. Seit diesem Zeitpunkt fand die gesundheitsschädigende
Wirkung ionisierender Strahlen ihren Niederschlag nicht nur in einer Flut von wissenschaftlicher
und populärwissenschaftlicher Literatur, sondern auch in der Bildung von Kommissionen und
Arbeitsgruppen und einer öffentlichen, politischen Debatte. Gleichzeitig markierte die 1955 in Genf
stattfindende erste internationale Atoms for Peace-Konferenz den weltweiten Startschuss für die
so genannt zivile Nutzung der Atomenergie. In der Schweiz kam die ebenfalls ab 1955 geführte
öffentliche Diskussion über eine mögliche Bewaffnung der Schweizer Armee mit Atomwaffen
hinzu. Diese Auseinandersetzung erreichte 1958 ihren Höhepunkt, als der schweizerische
Bundesrat in einer Botschaft klar für die atomare Bewaffnung der Armee Stellung bezog. All diese
Ereignisse und Entwicklungen trugen dazu bei, dass ab Mitte der Fünfzigerjahre sowohl unter
Experten als auch in der Öffentlichkeit in einer anderen Weise über Strahlen und deren Wirkungen
gesprochen wurde als in den Jahrzehnten zuvor.
Das Promotionsvorhaben setzt an dieser Stelle ein. Die zugleich als furchterregend und
faszinierend wahrgenommene Strahlung radioaktiver Stoffe bildet den roten Faden durch das
historische Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte der Strahlenforschung, der
Strahlenüberwachung und des Strahlenschutzes in der Schweiz zur Zeit des Kalten Krieges
befasst. Im Zentrum der Arbeit steht dabei unterschiedliche Formen des Regierungshandelns:
Welche Antworten auf die Strahlenproblematik entwickelten der Bund und seine Behörden und
Institutionen? Wie versuchten die Regierung und die Verwaltung, Strahlensicherheit herzustellen?
Ein wichtiger Ausgangspunkt der Arbeit stellt Michel Foucaults Analyse dar, dass es sich beim
Regierungshandeln eines modernen Staates um eine Form von Machtausübung handelt, die auf
die Bevölkerung ausgerichtet ist, mit Sicherheitsdispositiven operiert und sich auf eine Verwaltung
stützt,
die
beständig
Institutionen
und
Wissen
produziert.
Aus
dieser
gouvernementalitätstheoretischen Perspektive interessiert sich die Arbeit dafür, wie in der Schweiz
während des beginnenden Atomzeitalters ein Sicherheitsdispositiv für ionisierende Strahlung
entwickelt wurde.
Die Arbeit gliedert sich – umrahmt von einer Einleitung und einem Schlussteil – in sechs Kapitel. In
den ersten drei Kapiteln – „Forschen“, „Überwachen“ und „Regulieren“ – steht die Frage im
Zentrum, wie sich die Schweiz für den ‚Normalfall‘, das heisst den erwarteten nuklearen Alltag zu
organisieren begann. Das Kapitel „Forschen“ behandelt die staatliche Forschungsförderung im
Bereich der biologisch-medizinischen Strahlenforschung als Teil der schweizerischen Atompolitik.
Die Förderung der Strahlenforschung zielte in erster Linie darauf ab, Wissen über die
(gesundheitsschädigenden) Wirkungen von Strahlen zu erlangen; dies zunächst vor allem für
militärische, zunehmend aber auch für zivile, insbesondere therapeutisch-diagnostische Zwecke.
Im Kapitel „Überwachen“ wird erläutert, wie die Strahlenüberwachung im schweizerischen
Strahlensicherheitsdispositiv organisiert und institutionalisiert war. Auch wird analysiert, welche
Bereiche die Überwachung der Radioaktivität umfasste und welche Konflikte und Probleme sich
dabei ergaben. Im Kapitel „Regulieren“ legt die Arbeit dar, welche gesetzlichen Grundlagen in der
Schweiz zu Radioaktivität existierten und welche Gremien und Behörden sich mit der Regulierung
von Strahlen befassten.
In diesen ersten drei Kapiteln zum ‚Normalfall‘ zeigt sich, dass Strahlensicherheit in einem Modus
Operandi hergestellt wurde, den man als „verteilte Sicherheit“ beschreiben kann. Es gab keine
zentrale
Stelle,
die
für
Strahlensicherheit
zuständig
war,
sondern
eine
Vielzahl
von
Milizkommissionen und Amtsstellen, die sich jeweils mit spezifischen Fragen oder Aufgaben
befassten. Zum einen führte diese „verteilte Sicherheit“ zu einer Komplexitätsreduktion und
insofern zu einer (angenommenen) Kontrollierbarkeit der eruierten Probleme. Zum anderen hatte
dies zur Folge, dass viele Probleme mehrfach studiert wurden, Kompetenzkonflikte entstanden
und Strahlenrisiken selten gesamthaft betrachtet wurden.
Während sich die Massnahmen zur Erforschung, Überwachung und Regulierung von Strahlen auf
die Handhabung des ‚Normalfalls‘ bezogen, wird in den letzten drei Kapiteln – „Simulieren“,
„Alarmieren“ und „Retten“ – der Frage nachgegangen, wie die Schweiz den ‚Notfall‘, sprich einen
atomaren Katastrophenfall zu überstehen gedachte. Im Kapitel „Simulieren“ interessiert, welche
nuklearen Bedrohungsszenarien, seien sie nun militärischen oder zivilen Charakters, in der
Schweiz imaginiert wurden. Zudem wird erläutert, welche konkreten Strahlenschutzmassnahmen
aus
den
durchgeführten
Katastrophenübungen
und
den
entworfenen
Nuklearszenarien
resultierten. Das Kapitel „Alarmieren“ befasst sich mit der Entwicklung von Alarmorganisationen,
namentlich
des
Aufbaus
einer
nationalen
Alarmzentrale
und
der
Errichtung
eines
Alarmierungssystems in der Nähe von Kernkraftwerken. Im Kapitel „Retten“ geht es um den
Ausbau von Schutz- und Rettungsdiensten – etwa des Sanitätsdienstes sowie des ASchutzdienstes und der A-Labororganisation –, die in einem atomaren Notfall zum Einsatz
kommen sollten.
In diesen letzten drei Kapiteln arbeitet die Studie heraus, dass Strahlensicherheit im ‚Notfall‘ in
Form der „koordinierten Sicherheit“ konzipiert wurde. Im Hinblick auf einen atomaren Notfall zielten
sämtliche Bestrebungen darauf ab, die Tätigkeiten der verschiedenen Expertenkommissionen und
Amtsstellen, die sich im Auftrag des Bundes mit Strahlenschutzfragen befassten, zu koordinieren.
Dies erwies sich indessen einerseits aufgrund der Komplexität der Problematik, andererseits
aufgrund institutioneller Barrieren als äusserst anforderungsreiches und nur mässig erfolgreiches
Unterfangen.
Insgesamt untersucht das Dissertationsprojekt den gouvernementalen Umgang mit Strahlen sowie
die Herstellung von atomarer Sicherheit am Beispiel der Schweiz. Damit leistet es einen
Forschungsbeitrag zur Wissens- und Gesellschaftsgeschichte der Schweiz im internationalen
Kalten Krieg.
Keywords:
Strahlenforschung,
Strahlenüberwachung,
Strahlenschutz,
Strahlensicherheit,
ionisierende Strahlen, Schweiz, Kalter Krieg, Wissensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte,
Zeitraum 1945-1990