Seit 1910 machte die legendäre Zeitschrift Der Sturm von Herwarth Walden Berlin zu einem Zentrum der internationalen Avantgarde, ab 1912 zeigte Walden die Sturm-Ausstellungen in vielen europäischen Städten. Der Sturm verstand sich als Sammelbecken und Netzwerk der Moderne vom Expressionismus bis zu den Strömungen der konstruktiven und konkreten Kunst der 1920er Jahre. War die klassische Moderne eine männliche Erfindung, wie ein Blick in die Kunstgeschichtsschreibung glauben macht? Nach den Ausstellungen und den Publikationen des Sturm waren am Durchbruch der Moderne wesentlich mehr Künstlerinnen beteiligt, als heute bekannt ist. In diesem Buch werden 30 Künstlerinnen vorgestellt, unter denen etliche völlig in Vergessenheit geraten waren und hier wiederentdeckt werden. Für viele Künstlerinnen ergab sich mit dem Anbruch des 20. Jahrhunderts erstmals die Chance, in den modernen Gruppierungen mit den Künstlern gemeinsam für den Durchbruch des neuen Stils zu streiten bzw. ihre individuelle Variante des Expressionismus zu entwickeln. Für die 1910er und 1920er Jahre ist ein Anwachsen der weiblichen Talente innerhalb der Moderne zu verzeichnen sowie die Tatsache, dass diese neuen Stimmen auch in der Kunstöffentlichkeit Beachtung fanden. Ein vorurteilsfreier Förderer der Künstlerinnen war der Berliner Verleger und Galerist Herwarth Walden. Else Lasker-Schüler, die bedeutende deutsch-jüdische Dichterin und Waldens erste Ehefrau, gab der Zeitschrift den Namen Sturm und erfand für den jüdischen Musiker und Herausgeber Georg Levin den Künstlernamen »Herwarth Walden«. Damit hatte die Sturm-Bewegung von Beginn an eine einflussreiche weibliche Seite. Else Lasker-Schüler hat in den ersten Jahrgängen der Sturm-Zeitschrift eine Fülle von Gedichten und Essays veröffentlicht. Darunter sind auch die Briefe nach Norwegen mit eigenen Karikaturen und Zeichnungen, unter anderem ein Selbstporträt und das Bildnis Herwarth Waldens. Sie war eine der frühen weiblichen Doppelbegabungen. Für den Sturm wurde die Verbindung von Literatur mit zeitgenössischer Graphik zum eigentlichen Markenzeichen. Walden war von der Genialität Else LaskerSchüler restlos überzeugt und trat immer wieder entschieden für die von der Öffentlichkeit verkannte Dichterin ein: »Ich halte Else Lasker-Schüler nicht nur für eine große Dichterin, sondern für die stärkste künstlerische Begabung Deutschlands.« Bekannte Künstlerinnen der klassischen Moderne, wie Gabriele Münter und Marianne von Werefkin aus dem Kreis des Blauen Reiters, Natalia Gontscharowa mit ihrer futuristischen Malerei aus der Moskauer Avantgarde oder Sonia Delaunay mit ihrer abstrakten Farb-Licht-Kunst aus Paris, waren damals auf den Sturm-Ausstellungen vertreten. Ihre Werke legten im Jahre 1913 auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon, der ersten Gesamtschau der europäischen Avantgarde, Zeugnis ab von der Modernität und der Authentizität des weiblichen Künstlers. Charakteristisch war, dass Walden nicht nur Künstlerinnen aus den großen Metropolen wie Marie Laurencin und Marcelle Cahn aus Paris oder Alexandra Exter aus Moskau zeigte, sondern auch die regionalen europäischen Zentren berücksichtigt hat: Stockholm mit Sigrid Hjertén-Grünwald, Den Haag mit Jacoba van Heemskerck, Warschau mit Teresa Zarnover, Belgrad mit Vjera Biller und Helen Grünhoff von der Gruppe Zenit und Sofia mit der Malerin Mascha Usunowa. Mit deren Teilnahme am Sturm wurde Berlin zu einer ostwestlichen Drehscheibe. Bilang, Karla: Frauen im »Sturm«. Künstlerinnen der Moderne. S. 7-9. © AvivA Verlag.
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