RM 2016 Umbruch 50-240:055-138 RMK 2007 23.06.2015 9:33 Uhr Seite 203 Ungarn im Oktober 1956 Sechzig Jahre nach dem erfolglosen Volksaufstand der Ungarn gegen das Stalin-Regime erinnert sich die Augenzeugin Maria Honffy an diese Tage. ■ Von Maria Honffy und Susanne Preglau I m September 1956 bin ich nach einem Jahr Praktikum am Land im Zuge meiner Ausbildung zur Lehrerin nach Budapest zurückgekehrt, um mein Studium mit Diplom abzuschließen und meine Lehrtätigkeit im Fach Ungarisch zu beginnen. Es war spürbar, dass sich die Atmosphäre in Budapest dramatisch verändert hatte. Im Laufe des Jahres hatte sich – zunächst in Budapest, dann auch in anderen ungarischen Städten – der „Petöfi-Kreis“ als Diskussionszirkel, öffentliches Forum, intellektuelles Zentrum und Sammelbecken für kritische Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler gebildet, der nach dem Lyriker und Volkshelden der ungarischen Revolution 1848, Sandor Petöfi, benannt worden war. Petöfi hatte in seinen Werken einen unabhängigen ungarischen Nationalstaat gefordert, wurde 1848 einer der geistigen Führer der Märzrevolution und fiel in der Schlacht bei Segesvar im Juli 1849 im ungarischen Freiheitskampf gegen die Habsburger. In den Veranstaltungen des PetöfiKreises wurde in einer bislang nicht gekannten Offenheit über das Einparteiensystem in Ungarn sowie das Foto: Tyrolia / Erich Lessing Hauptquartier der Kommunistischen Partei: Aufständische entrollen eine Flagge, aus der Hammer und Sichel herausgeschnitten wurden. Sie wurde zum Symbol der ungarischen Revolution. 203 RM 2016 Umbruch 50-240:055-138 RMK 2007 23.06.2015 bestehende Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion diskutiert. Immer offener wurde die Ablöse des stalinistischen Herrschers Matyas Rakosi durch seinen 1955 entmachteten, liberalen Vorgänger Imre Nagy gefordert. Als 1945 die Rote Armee Ungarn von der faschistischen Herrschaft und der deutschen Besatzung befreit hatte, war eine von den Kommunisten getragene Volksbewegung entstanden. Da damals mehr als die Hälfte der Ungarn von der Landwirtschaft lebte, war eines der ersten Projekte die Durchführung einer Bodenreform – verantwortet vom kommunistischen Landwirtschaftsminister Imre Nagy. 9:33 Uhr Seite 204 1949 trat eine neue Verfassung in Kraft – aus Ungarn wurde ein „Arbeiter-undBauern-Staat“ unter der Führung der kommunistischen Einheitspartei. Der Machthaber Matyas Rakosi war in seiner Jugend in der Sowjetunion und bezeichnete sich selbst als den besten Schüler Stalins. Der Personenkult um den stalinistischen Diktator Rakosi führte zu einer Atmosphäre des Terrors. Einer großen Zahl von Schauprozessen fielen auch kommunistische Partei- und Regierungsmitglieder zum Opfer. Insgesamt wurden Verfahren gegen mehr als eine Million Menschen, rund 10 Prozent der Bevölkerung, eingeleitet. Viele Menschen wurden ohne Anklage und Gerichtsverfahren in Lager gesteckt und mussten Zwangsarbeit verrichten. Tausende Menschen wurden ermordet. Nach dem Tod Stalins 1953 kam in der Sowjetunion Nikita Chruschtschow an die Macht. Im Rahmen der anti-stalinistischen Säuberungen musste auch Rakosi einen Teil seiner Macht abgeben. Der frühere Landwirtschaftsminister Imre Nagy wurde Ministerpräsident, Rakosi blieb jedoch Parteichef. 1955 löste nach einem innerparteilichen Machtkampf Andras Hegedüs, ein Anhänger Rakosis, Nagy als Ministerpräsidenten ab und machte dessen Reformen wieder rückgängig, was als „Re-stalinisierung“ bezeichnet wurde. Im Laufe des Jahres 1956 haben die Bewohner Budapests sofort gespürt, dass der gefürchtete Führer Matyas Rakosi nicht mehr über unbegrenzte Foto: Tyrolia / Erich Lessing Macht verfügt hat. Er hatte bisher Angst und Schrecken verbreitet. Sein Im Oktober 1956 griffen die Menschen in Budapest zu den Waffen. gefürchteter Kerker befand sich in 204 RM 2016 Umbruch 50-240:055-138 RMK 2007 23.06.2015 9:33 Uhr Seite 205 Foto: Tyrolia / Erich Lessing Die Aufständischen wurden von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt. der Andrasy-Straße, wo politisch „Ungehorsame“ gequält und getötet wurden. Allein den Namen der Straße zu erwähnen, hat große Beklemmung in der Bevölkerung ausgelöst. Humor half in dieser Zeit zu überleben: In der Satirezeitschrift „Ludas Matyi“, benannt nach der Volkserzählung „Matti, der Gänsejunge“ (1817), in der der einfache Junge Matyi als erster Volksheld in der ungarischen Literatur die Ungerechtigkeiten des örtlichen Landadeligen durch Bauernschläue erfolgreich vergilt, konnte die Regierung kritisiert werden – es war ein Ventil geschaffen, um die Angst teilweise ableiten zu können. Im Februar 1956 hielt Chruschtschow seine berühmt gewordene Geheimrede auf dem Parteitag der KPdSU gegen den stalinistischen Personenkult, im Juli gab der Besuch des sowjetischen Ministers Anastas Mikojan in Budapest, bei dem die Ablöse Rakosis durch seinen Stellvertreter Ernö Gerö als Parteichef besiegelt wurde, der revolutionären Atmosphäre weiteren Auftrieb. Die Studenten gingen in ihren Forderungen weiter als die parteiinterne Opposition. In Anlehnung an die Revolution von 1848 verfassten Studenten der Technischen Universität Budapest am 22. Oktober 1956 eine Erklärung, in der sie Bürgerliche Freiheitsrechte und Parlamentarismus sowie nationale Unabhängigkeit forderten. Sie riefen für den 23. Oktober zu einer Demonstration auf – damit begann der Ungarische Volksaufstand. Am 23. Oktober hatte ich am Nachmittag Unterricht gehabt und fuhr am Abend von der Schule mit der Straßenbahn nach Hause. Ich wohnte damals am Ring in der Nähe der Kilian-Kaserne, deren Kommandant Pal Maleter war, Oberst der ungarischen Armee, der sich den Aufständischen anschloss. Immer mehr Menschen waren zu der friedlichen Großdemonstration der 205 RM 2016 Umbruch 50-240:055-138 RMK 2007 23.06.2015 9:33 Uhr Seite 206 Foto: Tyrolia / Erich Lessing Ein Bild der Verwüstung nach der Niederschlagung des Volksaufstands. Studenten der Universitäten geströmt, die demokratische Veränderungen forderten. Etwa 200.000 Menschen versammelten sich vor dem Parlament und forderten Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion sowie die Ernennung des reformorientierten Kommunisten Imre Nagy zum Regierungschef. Aus dem Rundfunkgebäude, vor dem die Demonstranten verlangten, ihre Forderungen über den staatlichen Sender zu verbreiten, wurde das Feuer auf die Menge eröffnet. Wütende Menschen stürzten die Stalin-Statue und der bewaffnete Kampf war ausgebrochen. Ab dem 24. Oktober ist das stalinistische Machtsystem zusammengebrochen. Imre Nagy wurde zum Ministerpräsidenten berufen. Der erste Parteisekretär Ernö Gerö wurde abberufen und durch Janos Kadar ersetzt. Die Straßenkämpfe gingen unaufhörlich weiter und breiteten sich auf ande206 re ungarische Städte aus. Sie waren so intensiv, dass wir nicht in der Wohnung bleiben konnten, sondern im Keller, in dem Holz und Kohle gelagert war, auf Decken auf den Kohlen geschlafen haben. Das war ein großes Glück, da aus unserem Haus von einem Fenster im 4. Stock geschossen wurde und daraufhin im Gegenfeuer eine fünfköpfige Familie ihre Unterkunft verloren hat, die dann bei uns in meiner Familie Obhut bekommen hat. Langsam hörten die Kämpfe auf und ein paar ruhige Tage werden für mich immer unvergesslich bleiben. Wir hatten die Hoffnung, dass die Revolution ihr Ziel erreicht hat. Ich habe einen Korb gesehen – wie bei der Kollekte in der Kirche – vollgestopft mit Geld. Mit einem Plakat, das sei eine Sammlung für Menschen, die bei den Kämpfen Schaden erlitten haben. Niemand hat etwas von diesem Geld genom- RM 2016 Umbruch 50-240:055-138 RMK 2007 23.06.2015 men – viele haben noch etwas dazugegeben. Es war vielleicht das erste Mal in der ungarischen Geschichte, dass sich das Volk einig war – die Russen sollten Ungarn verlassen. Am 30. Oktober verkündete Nagy das Ende der Einparteienherrschaft und bildete eine Regierung, in der auch die Bauernpartei, die Kleinlandwirtepartei und die sozialdemokratische Partei vertreten waren. Pal Maleter wurde von der neuen Regierung zum Verteidigungsminister ernannt. Jozsef Kardinal Mindszenty, der katholische Primas von Ungarn, der 1949 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, wurde aus dem Gefängnis befreit und unterstützte in einer Radioansprache am 3. November die neue Regierung unter Imre Nagy. Das Interesse war sehr groß und die ganze Nation saß vor dem Radio. Die Rede wurde allerdings als sehr enttäuschend erlebt. Er bezog sich auf die Rechte der ungarischen enteigneten Großgrundbesitzer und ging in keiner Weise auf die demokratischen Rechte des einfachen Volkes ein. Es war schrecklich, in den Straßen durch Lynchjustiz erhängte Menschen zu sehen, mit der Erklärung, sie seien Kommunisten gewesen, die anderen geschadet hätten. Nachdem Imre Nagy am 1. November die Neutralität Ungarns erklärte und das Land aus dem Warschauer Pakt austrat, begann mit dem Einmarsch der Truppen der Sowjetunion die endgültige Niederschlagung des Volksaufstandes. Bis Mitte November tobten heftige Kämpfe, die auf ungarischer Seite etwa 2500 Tote forderten. Eine pro-sowjetische Regierung unter Janos Kadar wurde installiert. Der Westen unterstützte die Aufständischen verbal, die NATO hielt sich jedoch von einer mi- 9:33 Uhr Seite 207 Geschichtliche Porträts vom Jahrhundertfotografen Erich Lessing mit Essays des renommierten Historikers Michael Gehler UNGARN 1956 Erzählt in Bildern von ERICH von MICHA LESSING und Texten EL GEHLER Æ Erscheint im September Ungarn 1956 Aufstand, Revolution Aufstand, Revolution und Freiheitskampf Freiheitskampf in einem geteilten Europa ca. 150 sw. Abb.,geb. m. SU ISBN 978-3-7022-3491-1 ca. 200 Seiten, ca. € 34.95 Von der Befreiung zur Freiheit Österreich nach 1945 277 sw. Abb., geb. m. SU ISBN 978-3-7022-3415-7 384 Seiten, € 39.95 Alles BUCHbar auf www.tyrolia.at 207
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