«Gemeinsam Erfolg haben»

15 MINUTEN, DIE MEIN LEBEN VER ÄNDERTEN
Martina Voss-Tecklenburg
«Gemeinsam
Erfolg haben»
Aufgezeichnet von Fritz Keller Bild Salvatore di Nolfi / Keystone
«15 Minuten, die mein Leben veränderten, da gab es
verschiedene. Aber ein sehr prägendes Ereignis war
sicher mein erstes Probetraining, als ich fünfzehn
war. Lange Zeit durfte ich von meiner Mutter aus
nicht offiziell Fussball spielen. Sie fand mich zu zart
und zu schmal dafür. Dabei habe ich schon als Fünfjährige mit meinen Brüdern um den Ball gekämpft,
bin über den Zaun geklettert und spielte mit ihnen
auf dem Schulhof. Aber ich durfte nicht in einen Verein. Ich versuchte alternative Sportarten, Tischtennis, Leichtathletik. Aber mir sagten Teamsportarten
besser zu, und ich wollte Fussball spielen, denn ich
war gut darin. Da kam eines Tages mein damaliger
Sport- und Biologielehrer auf mich zu und sagte:
‹Martina, du musst in den Verein.› Ohne das Wissen
meiner Eltern rief er beim KBC Duisburg an und
organisierte ein Probetraining. Das fand in einer
kleinen Halle statt, man konnte nur drei gegen drei
spielen. Wohl nach etwa 15 Minuten wussten die Verantwortlichen, dass sie mich unbedingt in ihrem
Verein haben wollten.
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Das hat mein Leben in vielen Bereichen extrem verändert. Ich durfte tatsächlich in den Verein, machte
im März 1983 mein erstes offizielles Spiel und absolvierte ein Jahr später meine erste Partie für die deutsche Nationalmannschaft. Am Ende waren es
125 Länderspiele, ich war dabei an Europameisterschaften, Weltmeisterschaften und Olympischen
Spielen. Durch den Fussball habe ich unheimlich viel
erlebt. Ich wäre als Persönlichkeit nie so gereift,
wenn ich nicht diese Erfolge, auch die Niederlagen,
die Verletzungen, all das Positive und das Negative
mit dem Sport durchlebt hätte. Mein Leben wäre
definitiv anders verlaufen, hätte mein Sportlehrer
damals nicht gesagt: ‹Komm, wir gehen jetzt da hin.›
Nach meinem Abitur wollte ich gerne Sport und
Journalismus studieren. Aber das hat dann nicht
reingepasst, der Aufwand wäre zu gross gewesen.
Ich ordnete dem Fussball fast alles unter. Also
machte ich eine Ausbildung als Kauffrau. Ich suchte
einen Arbeitgeber, der fussballaffin war, so konnte
ich Sport und Ausbildung miteinander verbinden.
Auch im Privatleben machte ich Abstriche: Ich ging
nicht in die Disco, ich war auf vielen Familienfeiern
nicht anwesend, weil für mich ein Training wichti-
Ich wusste schon sehr früh, dass
ich Trainerin werden möchte.
Ich begann meine Trainerausbildung mit Anfang 20, mit 26
machte ich das Diplom als Fussballlehrer, das heisst, die höchste Ausbildung, die
man im Fussball kriegen kann. Ich wollte nach
Abschluss der aktiven Karriere nicht im Büro sitzen,
das wusste ich. Und ich wollte dem Fussball verbunden bleiben, also bot sich die Trainerausbildung
förmlich an. Ich war schon immer eine zielgerichtete
und ehrgeizige Person. Ich amtierte als Klassensprecherin, war es gewohnt, vor einer Gruppe zu stehen
und etwas zu vermitteln. Woher ich dieses ‹Führungsgen› habe, weiss ich nicht. Förderlich war
sicher, dass ich eine Sportart betrieben habe, für die
ich kämpfen musste.
Martina Voss-Tecklenburg (48) trainiert seit drei Jahren das Nationalteam der Schweizer Fussballerinnen.
Als Aktivspielerin gewann sie zahlreiche nationale und internationale Titel. Mit Martina Voss-Tecklenburg
als Trainerin konnten sich die Schweizerinnen in diesem Jahr erstmals für Weltmeisterschaften qualifizieren. Aktuell läuft die EM-Qualifikation, am 1. Dezember spielen die Schweizerinnen in Biel gegen Tschechien.
ger war. Ich habe viele Dinge in Kauf genommen, ich
habe zum Beispiel sieben Jahren in Siegen gespielt
und bin während fünf Jahren fünfmal in der Woche
160 Kilometer hin und 160 Kilometer zurückgefahren. Das war einfach so.
Ich bereue es auf keinen Fall, dass es so gelaufen ist.
Im Gegenteil, ich habe durch den Sport viele Länder
bereist, die ich ansonsten nie gesehen hätte. Ich kam
auch an Orte, wo ich realisierte, dass ich privilegiert
bin mit dem, was ich tun darf. Dass es mir gut geht,
weil ich in Europa geboren bin, wofür ich ja nichts
kann. Dass es mir gut geht, weil ich eine tolle Familie habe. Das sind nicht selbstverständliche Dinge.
Durch die Welt zu reisen, ist eine Chance, die eigene
Situation aus einer neuen Perspektive zu sehen.
Dazu sollte auch ein bisschen Demut gehören, finde
ich. Das Leben ist nicht nur Fussball, das versuche
ich auch meinen Spielerinnen zu vermitteln.
Eine gute Trainerin muss selbstverständlich über
einen umfassenden Sachverstand verfügen und ihre
Ansichten und Ziele auch gut vermitteln können. Für
mich ist aber auch ganz wichtig, Details zu sehen,
nicht nur auf einen Punkt fokussiert zu sein. Ich versuche, immer den Menschen hinter der Fussballerin
zu sehen, ich will wissen, was ihn beschäftigt, was
FÜHRUNG UND LEADERSHIP 65
Wenn das Spiel einmal läuft,
hat man als Trainerin
nur noch beschränkten Einfluss.
Die Arbeit muss vorher
gemacht werden.
ihn bewegt. Alle Spielerinnen haben ihre Stärken
und ihre Schwächen. Wenn ich die kenne, kann ich
das nutzen zugunsten des Teams.
Mein Führungsverständnis hat sich sicher verändert
in den letzten Jahren. Das hat mit meinem Entwicklungsprozess zu tun. Ich fühle mich noch immer so
ehrgeizig wie früher, aber ich mag nicht mehr so viel
Druck auf meine Mitmenschen ausüben, wie ich das
als junger Mensch gemacht habe. Ich war ein bisschen bekloppt, was das angeht. Als Trainerin weiss
ich heute, dass nicht alle so ticken müssen wie ich.
Ich bin sicher auch sachlicher geworden als noch vor
zehn Jahren, auch positiver in der Ansprache zu meinen Spielerinnen. So versuche ich, sie optimal auf
eine Partie vorzubereiten.
Wenn das Spiel einmal läuft, hat man als Trainerin
nur noch beschränkten Einfluss. Die Arbeit muss
vorher gemacht werden, auf dem Trainingsplatz und
natürlich auch in der Theorie. Wir haben uns jetzt
zum Beispiel die ganze letzte Woche über verschie66 EB NAVI #5
dene Spielphilosophien ausgetauscht, die
Spielerinnen haben detailliert ihre Aufgaben in den unterschiedlichen Spielsystemen beschrieben. So habe ich erfahren,
was die Spielerinnen schon wissen, was
sie auf welcher Position jeweils zu tun haben. Ich
will meinem Team nicht einfach ein System überstülpen. Mir ist wichtig, dass sie verstehen, was ich
will, und überzeugt sind von dem, was sie machen.
Meine Aufgabe ist es, das Ganze zusammenzuhalten, zu steuern und zu führen. Am Schluss wollen
wir gemeinsam Erfolg haben.
Mal sehen, was die Zukunft bringt. Jetzt wollen wir
uns erst mal für die Europameisterschaften qualifizieren. Da stecke ich meine ganze Energie rein.
Vielleicht ruft dann in meinem Leben noch mal ein
Präsident von einem Männer-Verein aus der Super
League oder der Bundesliga an und will mich in
einem fünfzehnminütigen Gespräch als Trainerin
engagieren. Das wäre nochmals eine grosse Veränderung. Ob ich sie tatsächlich annehmen würde,
das lasse ich im Moment noch offen. Zutrauen tue
ich es mir schon, denn Fussballerinnen oder Fussballer zu trainieren, ist keine Frage des Geschlechts,
sondern eine Frage der Qualität.» n