IX. Editionsphilologie - Literaturwissenschaft Online

Einführung in die Literaturwissenschaft
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IX. Editionsphilologie
IX. Editionsphilologie
0. Einleitende Bemerkungen
Bedeutung der Editionsphilologie:
Eine zuverlässige Ausgabe eines Textes, die in einem wissenschaftlich überprüfbaren Verfahren erstellt wurde und wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, ist Voraussetzung für jede
Form wissenschaftlicher Arbeit!
Beispiel für Eingriffe der Herausgeber:
Illustrieren lässt sich die Relevanz der Editionsphilologie am Beispiel der folgenden Passage
aus dem IV. Akt von Goethes Faust II, in der Mephisto den Engelssturz beschreibt (V. 1007510084):
MEPHISTOPHELES:
»Als Gott der Herr – ich weiß auch wohl, warum –
Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte,
Da, wo, zentralisch glühend, um und um,
Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte,
Wir fanden uns bei allzu großer Hellung
In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.
Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten auszupusten;
Die Hölle schwoll von Schwefelstank und -säure:
Das gab ein Gas! [...]«
So steht es in fast allen Ausgaben (hier in der 1949 bei Artemis besorgten Ausgabe) seit der
Ausgabe letzter Hand von 1833, die von Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter
Eckermann besorgt wurde und lange Zeit als kanonisch galt.
In Goethes Reinschrift des Faust II indes liest man die Stelle anders:
»Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten aus zu pusten.«
Diese Version erscheint viel sinnvoller (die Teufel ›pusten‹ aus allen Körperöffnungen) als
die bei Eckermann und Riemer dokumentierte (wie beispielsweise sollen die Teufel
gleichzeitig husten und pusten?).
Erklärung: Die Herausgeber haben die Stelle als anstößig empfunden und »die teuflische
Unterleibsdrastik mit einem moralischen Feigenblatt« (FAZ-Rezension von Ernst Osterkamp)
übermalt.
Dieser Texteingriff in die Handschrift ist von fast allen späteren Herausgebern übernommen
worden; nach dem Original gehen lediglich die Weimarer Ausgabe von 1888 und die von
Albrecht Schöne 1994 für den Deutschen Klassiker-Verlag besorgte Ausgabe vor.
Schöne greift für Faust I auf die Taschenausgabe letzter Hand von 1828, für Faust II auf
Goethes Reinschrift zurück. Beide Texte passt er dezent an die moderne Orthografie an (z.B.
<th> > <t>; <y> > <i>), belässt aber die ursprüngliche Groß- und Kleinschreibung, Getrenntund Zusammenschreibung sowie Interpunktion.
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Wahl der Editionsmethode:
Es gibt kein einheitliches Editionsverfahren; die Editionsmethode ist vielmehr abhängig vom
Editionsziel und von den Editionsmöglichkeiten. Dabei dienen folgende Fragen als Leitlinie
für die Wahl der Editionsmethode:
Welches Ziel soll die Edition verfolgen? Was sind die Editionsmöglichkeiten? Unter welchen
Bedingungen und in welcher Weise ist ein Text bezeugt? Gibt es einen einzigen Textzeugen
oder mehrere? Gibt es eine einzige Fassung des Autors oder mehrere? Handelt es sich um eine
autorisierte (= vom Autor gebilligte) Fassung? Oder handelt es sich um eine Abschrift eines
Schreibers? In welcher Qualität ist der zu edierende Text bezeugt?
Zentrales Distinktionsmerkmal: autorisiert/nicht-autorisiert
Autorisierte Ausgaben = a) alle Autographen, d.h. alle vom Autor des Textes selbst
angefertigten Niederschriften, b) die in seinem Auftrag und unter seiner Aufsicht hergestellten
Abschriften, c) die von ihm gebilligten Drucke.
Autorisierte Ausgaben sind erst seit dem 17./18. Jahrhundert die Regel. Daher hat man in der
Altgermanistik und in der Neueren Literaturwissenschaft unterschiedliche Editionsmethoden
entwickelt.
1. Die Edition der neueren Literatur
Anders als bei der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit liegen für das 18. bis
20. Jahrhundert in der Regel autorisierte Fassungen vor. Es ergeben sich die folgenden
Probleme:
• Welche der Fassungen soll man edieren, falls mehrere Handschriften oder Drucke
vorliegen?
• Wie soll man die Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte eines Textes präsentieren und
kommentieren?
a) Ausgabe letzter Hand
Die Ausgabe letzter Hand beruht auf dem Text, den der Autor zuletzt autorisiert hat.
Dahinter verbirgt sich ein entwicklungsgeschichtlicher Ansatz, d.h. die Vorstellung, dass die
letzte Textfassung zugleich die beste sei (trotzdem greifen Herausgeber zuweilen in den Text
ein, siehe das obige Beispiel aus Faust II).
Das Prinzip, sich auf die Ausgabe letzter Hand zu stützen, war vom 19. Jahrhundert an bis
weit ins 20. Jahrhundert hinein das dominierende Editionsverfahren. Heute bevorzugt man
eher:
b) Ausgabe früher (erster) Hand
Grundlage der Ausgabe früher (erster) Hand ist der Erstdruck oder – soweit vorhanden – die
originale Druckvorlage.
Beispiel: Goethes eigenhändige Reinschrift des Faust II (vgl. die Ausgabe von A. Schöne).
Innerhalb dieses Ansatzes rückt man von der entwicklungsgeschichtlichen Vorstellung ab und
behandelt die verschiedenen Fassungen als prinzipiell gleichwertig.
c) Mischfassungen
Mischfassungen sind in der deutschen Philologie selten, im angloamerikanischen Raum aber
geläufig. Ziel hierbei: durch Kombination verschiedener Fassungen einen ›Idealtext‹ zu
erstellen.
Beispiel: Weimarer Goethe-Ausgabe
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Entscheidender Einwand gegen diese Methode: Sie ist unhistorisch, weil sie einen Text
konstituiert, den es so nie als Autortext gegeben hat.
Grundsätzliches Problem: Umgang mit Fehlern
Wie verfährt man mit autorisierten Fehlern, d.h. mit Fehlern, die der Autor gebilligt oder
überhaupt nicht gemerkt hat? Soll man diese korrigieren oder nicht? Zwei theoretische
Positionen stehen sich gegenüber: a) die Eingriffe werden auf die Korrektur offensichtlicher
Druckfehler begrenzt oder b) stärkere Eingriffe werden vorgenommen.
Alle Texteingriffe müssen im Apparat begründet werden.
Art und Umfang der Textausgabe hängen maßgeblich vom Editionsziel ab. Daraus ergeben
sich verschiedene Ausgabentypen:
1) Historisch-kritische Ausgaben
Historisch-kritische Ausgaben verfolgen zwei Ziele:
• Bereitstellung eines zuverlässigen Textes
• Darstellung der Textgenese (d.h. Textentstehung und -entwicklung)
Dazu gilt es umfangreiche Aufgaben zu erledigen:
1. einen kritischen Text erstellen (unter Umständen mehrere Fassungen berücksichtigen);
2. alle Textzeugen (d.h. alle Handschriften und Drucke, auch die verschollenen) verzeichnen
und beschreiben;
3. alle Fassungen dokumentieren, sodass die Entwicklung eines Textes verständlich wird
(von der Skizze zur Druckvorlage: Entstehungsstufen, Korrekturschichten etc.)
= genetischer Apparat; meistens nicht in vollem Wortlaut, sondern: Variantenapparat;
4. alle Dokumente wiedergeben, die für die Textentstehung und -geschichte einschlägig sind;
5. die zeitgenössische Wirkungsgeschichte (d.h. zu Lebzeiten des Autors) wiedergeben;
6. einen Sachkommentar liefern (d.h. historische, sprachhistorische, literarhistorische,
biografische Informationen).
Erstes Beispiel für eine in diesem Sinne historisch-kritische Ausgabe:
die Schiller-Ausgabe von Karl Goedecke (1867ff.)
Wichtig: Jeder Autor erfordert eigene Methoden!
Beispiel: Hölderlin
Hölderlins in den Jahren 1801-1806 entstandenes fragmentarisches Werk bildet eine
besondere Herausforderung für Editoren. Vgl. hier das Gedicht Hälfte des Lebens.
Das Gedicht ist erstmals in dem bei Friedrich Wilmans in Frankfurt/M. gedruckten
Taschenbuch für das Jahr 1805 erschienen. Hölderlin hat es im Dezember 1803 für den
Druck freigegeben. In der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe von Friedrich Beißner (1943-1985)
stellt sich das Gedicht wie folgt dar:
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(In: Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Im Auftrag des Württembergischen Kultusministeriums
herausgegeben von Friedrich Beißner. Bd. 2: Gedichte nach 1800. Stuttgart 1951, S. 117)
Hölderlin hat das Gedicht nicht vom Anfang her geschrieben, sondern ›Spannungszustände‹
zwischen verschiedenen Gedichtteilen, Satzfetzen etc. aufgebaut. So sind ›Wortlandschaften‹
entstanden, deren einzelne Teile teilweise unverbunden nebeneinander stehen.
Beißner hat Hölderlins Vorgehen im Kommentarteil seiner Ausgabe minutiös beschrieben
und im Textteil lediglich das ›fertige‹ Gedicht abgedruckt. Demgegenüber verzichtet Dietrich
Eberhardt Sattler in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975ff.) auf das vermutbar fertige
Gedicht und gibt es nur im Faksimile und der Umschrift wieder (in: Friedrich Hölderlin.
Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von D.
E. Sattler. Bd. 7: Gesänge. Dokumentarischer Teil herausgegeben von D. E. Sattler.
Frankfurt/M. – Basel 2000, S. 109 (Auszug)):
Vorteil dieses Vorgehens: alle Schritte sind überprüfbar
Nachteil: schwer lesbar
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2) Studienausgaben
Im akademischen Alltag benutzt man häufig Studienausgaben, die im Idealfall auf historischkritischen Ausgaben basieren, aber ohne die textgenetische Dokumentation auskommen.
Auch die Studienausgaben bewahren die Historizität des Textes so genau wie möglich und
behalten deshalb die Zeichensetzung und Rechtschreibung des Originals weitgehend bei.
Auch diesen Ausgaben ist ein Kommentarteil beigefügt (in Schönes Goethe-Ausgabe allein
rd. 1000 Seiten mit Erläuterungen zu Quellen, Anspielungen, Begriffen, Metrik etc.).
3) Leseausgaben
Leseausgaben richten sich an ein nicht-akademisches Publikum. Sie enthalten einen weniger
umfangreichen Kommentar und sind in der Regel an die moderne Orthografie angepasst.
2. Die Edition der älteren Literatur
Die antike und mittelalterliche Literatur ist in der Regel in sehr viel späteren Abschriften
überliefert, d.h., es gibt meistens keine autorisierten Fassungen!
Eine der wenigen Ausnahmen ist Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch (spätes 9. Jh.).
Oftmals sind nicht nur die Originale, sondern auch die ersten Abschriften verloren gegangen,
sodass uns bekannte erste Abschriften häufig erst Jahrzehnte nach dem Original entstanden
sind.
Beachte also: Der überlieferte Text ist in der Regel nicht der Autortext!
Der vorliegende Text enthält vielmehr Abschreibefehler, vom Schreiber vorgenommene
Veränderungen etc.
Diese Problematik war den Autoren des Mittelalters bewusst, z.B. dem Theologen und
Seelsorger Thomas Peuntner, der zu Beginn seiner Liebhabung Gottes die zukünftigen
Schreiber zur Sorgfalt bei der Abschrift mahnt:
»Item ist es gar kuntlichen und offenbar, das die abschreiber der pücher zu stunden ettlich
wortter überhüpffen vnd nicht schreiben von eylens wegen oder von vbersehung wegen
vnd besonder von vnfleißigkeit wegen. dorumb beger ich durch gots willen von den, die
diß püchlein werden abschreiben, das sie es fleißiglichen allein oder mit ymant wöllen
vberlesen noch dem vnd sie es haben abgeschriben, dorumb das es nicht gefelscht wird;
vnd wo sie denn etwas zu vil haben geschriben, das sie das selb fein abtilgen, vnd wo sie
etwas außgelassen oder vberhupft oder falsch geschrieben haben, das sie das selb erfüllen
vnd rechtvertigen [...].«
(neuhochdeutsch: »Es ist ganz offenkundig und bekannt, daß die Abschreiber der Bücher
bisweilen das eine oder andere Wort überspringen und nicht schreiben, in der Eile oder
weil sie es übersehen und vor allem weil sie faul sind. Deshalb verlange ich um Gottes
Willen von denen, die dieses Büchlein abschreiben werden, daß sie es allein oder mit
jemand [anderem] sorgfältig Korrektur lesen wollen, nachdem sie es abgeschrieben
haben, [und zwar] darum, daß es nicht verfälscht werde. Und wo sie dann etwas zu viel
geschrieben haben, mögen sie das fein ausradieren, und wo sie etwas ausgelassen oder
übersprungen oder falsch geschrieben haben, mögen sie dieses ergänzen und
richtigstellen.«)
(Aus: Aspekte mittelhochdeutscher Literatur. Teil 1: Quellen. Auswahl und Zusammenstellung von Hannes Kästner [u.a.]. Freiburg im Breisgau 1980, S. 93)
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Konservativ ediert werden in der Regel sakrosankte Texte (d.h. geistliche Texte). In
Gebrauchsliteratur (z.B. Wörterbücher, Rechtstexte, medizinische Traktate, Kochbücher) und
in die mittelalterliche deutsche Dichtung (Lieder, Heldenepen, Romane) wird hingegen oft
eingegriffen. Dabei handelt es sich entweder um willentliche Änderungen durch den
Redakteur oder Nachlässigkeit des Schreibers.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich häufig daraus, dass die Sprache des Schreibers nicht
die Sprache des Autors ist.
Beispiel: Das Ambraser Heldenbuch (eine Sammelhandschrift aus dem beginnenden
16. Jahrhundert) enthält u.a. eine Erzählung des Mauricius von Craûn, die vermutlich im
ersten Drittel des 13. Jahrhunderts entstanden ist.
Zur Rekonstruktion des Originals muss der Text aus der frühneuhochdeutschen Fassung der
Überlieferung ins Rheinfränkische (des Originals) rückübersetzt werden.
! vgl. Abbildungen 7-9 in der Bilder-Galerie
Frage: Wie schätzt man die Zuverlässigkeit der Abschrift ein?
Im Falle des Ambraser Heldenbuchs galt dessen Schreiber Hans Ried lange Zeit als
unzuverlässig, er wird heute aber als gewissenhaft eingeschätzt. Der Herausgeber Edward
Schröder hält sich deshalb weitgehend an den überlieferten Text; der Herausgeber Ulrich
Pretzel weicht jedoch davon ab.
! vgl. Abbildungen 7-9 in der Bilder-Galerie
Pretzels Editionsverfahren ist ein Beispiel für die klassische Textkritik:
1) Klassische Textkritik
Ziel: den verlorenen Autortext zu rekonstruieren
Hauptvertreter: Karl Lachmann (1793-1851) (einer der Gründungsväter der Germanistik und
Editionswissenschaft)
Vorbild: Methoden der Altphilologie und Theologie
Methode: aus verschiedenen Abschriften den Archetyp rekonstruieren, d.h. die gemeinsame
Vorlage aller erhaltenen Handschriften
Arbeitsschritte:
1. Sammlung der Textzeugen (Heuristik)
2. Beschreibung der Textzeugen (d.h.: Bestimmung des Alters, der Schreibsprache)
3. Vergleich der Textzeugen, und zwar Wort für Wort (Kollation)
4. Hierarchisierung der Textzeugen (Filiation)
Gruppierung der Textzeugen: welche sind dem Archetyp näher als andere?
unterscheide dabei: welches sind beweiskräftige Fehler, welches ›iterierende‹ Varianten,
d.h. Varianten, die keiner gemeinsamen Quelle zu entstammen brauchen, sondern unabhängig voneinander auftreten können (z.B. die austauschbaren Varianten ›liebe‹/›minne‹)
graphische Darstellung der Überlieferung: Stemma (= Stammbaum)
Beispiel: Heinrich-von-München-Überlieferung
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5. Texterstellung (Recensio)
Herstellung des Archetyps = der ältesten Textstufe, die aus der Überlieferung erschließbar
ist (Archetyp per definitionem nicht identisch mit Autortext, kommt diesem vermuteten
Text nur am nächsten)
Dabei wird auf der Basis der Leithandschrift vorgegangen, d.h. jener Handschrift, »die
den Text bietet, der von allen überlieferten am ehesten und am weitestgehenden dem
Dichter zuzutrauen ist« (Heinzle).
Grundsatz dabei: die lectio difficilior: = die Lesart, die seltener ist und schwerer zu
erklären ist, wird als die anspruchsvollere und damit als die ursprünglichere Lesart
betrachtet (d.h.: dem Autor traut man die komplizierteste Lesart zu)
Fehler der Leithandschrift werden mit Hilfe anderer Handschriften korrigiert
(Emendation).
Teilweise werden, um dem Autor noch näher zu kommen, ›Fehler‹ korrigiert, die bereits
für den Archetyp anzusetzen sind, d.h. Fehler, die dem Autor nicht zugetraut werden (z.B.
Metrik, Reimtechnik). Diese Eingriffe (Konjektur – von lat. coniectura: ›Mutmaßung‹,
›Vermutung‹) richten sich gegen die gesamte Überlieferung (vs. Emendation: dort ist die
Korrektur durch die Überlieferung gestützt).
Prämissen dieses Verfahrens:
• es habe einen einzigen, einheitlichen, fehlerfreien Ausgangstext gegeben
• die Überlieferung verlaufe immer vertikal (d.h. immer nur aus einer Vorlage)
• die Genealogie lasse sich zweifelsfrei bestimmen
Kritik an diesem Verfahren:
• diese idealen Voraussetzungen hat es selten gegeben
• oft gibt es mehrere Vorlagen für eine Abschrift (Kontamination (= Textmischung))
• die Hierarchisierung ist im Einzelnen sehr schwierig (die Fehler sind schwer
einzuschätzen)
• Autoren schreiben nicht fehlerfrei
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•
oft existiert keine verbindliche Originalfassung (bedenke: die Heldenepik ist ursprünglich
mündlich tradiert und erst ab 1200 in verschiedenen Fassungen verschriftet worden)
" Dieses Verfahren wird zunehmend als ›subjektiv‹ und der Entscheidungswillkür des
Herausgebers ausgeliefert kritisiert.
Heute richtet man sich eher nach folgendem Prinzip:
2) Kritische Edition nach dem Leithandschriftenprinzip
Das Vorgehen dieser Editionsmethode ist dasselbe, jedoch ist die Suche nach dem Autortext
nicht das vorherrschende Ziel.
Man vergleicht alle Textzeugen und wählt den ›besten‹ aus (nach der Qualität und dem Alter
der Abschrift). Der Editionstext entsteht auf der Basis der Leithandschrift unter Einbeziehung
der gesamten Überlieferung.
Eingegriffen wird in der Regel nur bei sprachlich-sachlichen Unstimmigkeiten; diese
Eingriffe werden deutlich markiert. Vgl. etwa die Edition Joachim Heinzles von Wolframs
von Eschenbach Willehalm
! vgl. Abbildungen 11 und 12 in der Bilder-Galerie
3) Abdruck des relativ besten Textzeugen
Hier wird der Textzeuge gewählt, der möglichst repräsentativ für die Entstehungszeit und
Schreibsprache des Originals gelten kann.
Editionsziel: keine partielle Rekonstruktion des Autortextes, sondern die Wiedergabe einer
einzelnen historisch beglaubigten Gebrauchsfassung.
Beispiel: viele Textausgaben der Reihe Deutsche Texte des Mittelalters
Zuweilen liegt ein Text lediglich in unikaler Überlieferung vor. Dies betrifft die meisten
frühmhd. und ahd. Texte, von denen man selten mehr als eine Abschrift besitzt.
In diesem Fall bieten sich zwei andere Editionsverfahren an:
4) Bereinigter Abdruck
Beim bereinigten Abdruck wird auf den Anspruch einer Rekonstruktion des Originals
verzichtet; stattdessen werden eine oder mehrere bezeugbare Fassungen repräsentiert, wobei
nur ganz offensichtliche Fehler korrigiert werden.
Beispiel: Walter Haug: Hildebrandlied (um 830-40)
! vgl. Abbildungen 13 und 14 in der Bilder-Galerie
5) Diplomatischer Abdruck
Der diplomatische Abdruck bietet eine buchstaben- und zeichengetreue Umsetzung des
Textes in moderne Buchstaben, einschließlich der Abbreviaturen, Superskripta und
diakritischen Zeichen sowie der Fehler.
Alle bisher vorgestellten Verfahren sind produktionsästhetisch ausgerichtet, d.h. sind auf die
Wiedergewinnung des Autortextes oder zumindest einer Näherungsform gerichtet.
Demgegenüber gibt es in jüngerer Zeit wirkungsästhetische Ansätze:
6) Textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode
Diese Methode kombiniert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, d.h. gibt neben der
Erstfassung die Veränderungen an, die im Laufe der Überlieferung entstanden sind.
Innerhalb dieses Verfahrens werden die verschiedenen Bearbeitungsstufen nicht mehr als
Hindernis, sondern als Wert an sich betrachtet.
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Beispiel: das lateinisch-deutsche Wörterbuch (hier der Artikel »misericors – barmherzig«) der
beiden Straßburger Geistlichen Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen:
! vgl. Abbildung 15 in der Bilder-Galerie
7) New Philology
Die New Philology radikalisiert unter dem Einfluss der poststrukturalistischen Debatte über
den Tod des Autors die textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode. Sie behandelt alle
Überlieferungszeugen als gleichwertig und lehnt eine Hierarchisierung der Textzeugen ab!
Damit wird zugleich der Frage nach dem Autor(text) eine Absage erteilt.
Prominenter Vertreter: Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante: histoire critique de la
philologie. Paris 1989.
Editionstechnische Konsequenz: das gesamte Überlieferungsmaterial (im Computer)
präsentieren
3. Fazit
•
•
•
Es gibt keine verbindliche Editionsmethode.
Die Einsicht in die komplizierte Textgenese zwingt uns, den Text- und Werk-Begriff zu
revidieren (sowohl in der Alt- als auch Neugermanistik): Der Text muss als dynamische
Größe verstanden werden.
Jede Entstehungs- und Überlieferungsstufe hat ihre historische Legitimation. Das Werk ist
die Summe dieser Textgeschichten, umfasst also alle Stufen vom Original bis zur letzten
Abschrift bzw. – bei autorisierten Texten – von der Skizze zur Ausgabe letzter Hand.
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4. Literaturhinweise
Grubmüller, Klaus: Edition. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Von
Johannes Hoops, in Zusammenarbeit mit C. J. Becker [u.a.] herausgegeben von Heinrich
Beck. Bd. 6. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage Berlin – New York
1986, S. 447-452.
Plachta, Bodo: Editionswissenschaft: eine Einführung in Methode und Praxis der Edition
neuerer Texte. Stuttgart 1997.
Weimar, Klaus: Edition. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung
des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus
Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Bd. 1: A-G. 3., neu
bearbeitete Auflage Berlin – New York 1997, S. 414-418.
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