6. Die Komplexität der Rechtsanwendung

6. Die Komplexität der Rechtsanwendung
Die juristische Technik der Subsumtion
Rechtsnormen mit Sollensanforderungen
Tatbestand (allgemein‐abstrakt) samt Tatbestandsmerkmalen + Rechtsfolge
Subsumtion
Sachverhalte werden mit Tatbestands‐
merkmalen verglichen
Gehen Tat‐
bestandsmerkmale mit Sachverhalts‐
elementen konform, tritt die Rechtsfolge ein
Rechtsfolge
(kann auch durchgesetzt werden)
VO Politik und Recht – Rechtsanwendung
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Über das Auffinden der „richtigen“ Rechtsnorm
• Schwierigkeiten bestehen in der „Juristerei“– nach umfangreicher Schilderung eines Sachverhalts – im richtigen Auffinden des Tatbestandes einer Rechtsnorm
• Permanentes Abgleichen des Sachverhalts mit verschiedenen Tatbestandsmerkmalen
• Oftmals schwierige Interpretationsfragen
Systematische Interpretation
Wortinterpretation
Historische Interpretation
Telelogische Interpretation
Sinn der Interpretation ist den Sinn und Zweck des Gesetzes zu erfassen
• In der Rechtspraxis relevant: EU‐Richtlinienkonforme Interpretation von staatlichem Recht
• Analogie und Lückenschluss
– Gesetzgeber kann nicht alle denkmöglichen Probleme vorausbestimmen
– Planwidrige Lücken können durch die Rechtsanwendung geschlossen werden
VO Politik und Recht – Rechtsanwendung
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7. Recht im Spannungsfeld von Legitimität, sozialer Wirksamkeit und Rechtsgeltung
Grundlagen der Legitimations‐ und Rechtsgeltungstheorien
Autoritative Gesetztheit
Legitimität
Legalität
Soziale Wirksamkeit
• Legitimität als Anerkennungswürdigkeit
 von staatlichem und rechtlichem Handeln und somit letztlich
 von Staat und Recht
• Legitimität, soziale Wirksamkeit und Rechtsgeltung sind drei Voraussetzungen für längerfristiges Bestehen von Recht
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Legalität vs. Legitimität
Rechtsordnung
Gesetzlich erlaubt, aber nicht legitim
Legale und legitime Normen
Nicht legal, aber moralisch zulässig oder sogar geboten
Gesetzlich und moralisch verboten
Soziale Normen (Sozialmoral)
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Übersicht über verschiedene Theorien der Rechtsgeltung
Grundlage
John Austin
Jeremy Bentham
Hans Kelsen
Die Reine Rechtslehre
Imperativtheorie
Grundlage
Eugen Ehrlich
Jürgen Habermas
Anerkennungstheorie
Faktizität und Geltung
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Die Imperativtheorie
• Recht gilt,
 wenn es von einer gesellschaftlichen Autorität gesetzt ist (auctoritas, non veritas facit
legem)
 Durchsetzbarkeit notfalls mit physischer Gewalt
• Faktisch gesetztes Recht als Befehl, der von einer höhergestellten Macht ausgeht, nehmen die Rechtsunterworfenen in die Pflicht
• Absage an die Prinzipien des Naturrechts:
„The science of jurisprudence is concerned with positive laws strictly so called, as considered without regard to their goodness or badness.“ J. Austin, The Province of Jurisprudence Determined, 1998, 98.
• Die Imperativtheorie gilt als Wegbereiter für den Utilitarismus VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen (1/2)
• Zentrales Werk: Die Reine Rechtslehre, 2. Auflage, (Wien 1960).
• Im Gegensatz zum klassischen Rechtspositivismus ist Kelsens „Reine Rechtslehre“ weniger faktisch, sondern vielmehr normativ ausgerichtet
Kelsens Ziel war es nach eigener Definition „eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen, gereinigte, ihre Eigenart […] bewusste Rechtstheorie zu entwickeln.“ H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, Vorwort.
• Rechtswissenschaft soll eine rationale Wissenschaft vom positiven Recht sein und das durch menschliche Akte gesetzte Recht untersuchen
• Untersuchungsgegenstand
 Inhaltliche Ausgestaltung des Rechts
 Verfahren der Rechtserzeugung
• Das Recht
 ist ein vom Menschen erzeugtes Phänomen
 orientiert sich an den Wissenschaftsidealen Objektivität, Exaktheit, Klarheit und Eindeutigkeit VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen (2/2)
• Hans Kelsens Wertrelativismus
 Wertvorstellungen wechseln
 von Land zu Land
 von Epoche zu Epoche
 von Gesetz zu Gesetz
• Wirkung des positiven Rechts hängt ab von
 Faktischer Setzung („Sollen“)
 tatsächlicher sozialer Wirksamkeit („Sein“) Sollen
Kant folgend strikte Trennung
Sein
„Sollensform“ ist die Rechtssprache
Was soll geschehen? Was nicht? Wie soll sich ein Mensch verhalten? – reine Form der Normerzeugung
Aufzeigen von naturnotwendigen Kausalzusammenhängen
Geschichte, Soziologie, Psychologie, …
Rechtswissenschaft als Normwissenschaft
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Die Theorie der Grundnorm bei Hans Kelsen
• Norm gilt, solange sie in einer höheren Norm ihre Deckung findet (vgl. Stufenbau der Rechtsordnung, Kap. 5)
• Problem eines unabschließbaren Regresses
„[…] Aber die Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Suche nach der Ursache einer Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muss bei einer Norm enden, die als letzte, höchste vorausgesetzt wird. Als höchste Norm muss sie vorausgesetzt sein, da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müsste. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden. Eine solche als höchste vorausgesetzte Norm wird hier als Grundnorm bezeichnet.“
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, 196
• Grundnorm nicht von bestimmter Autorität gesetzt, sondern Denkvoraussetzung sämtlichen Rechtsdenkens
• Erzeugt widerspruchsfreie (Rechts‐)Ordnung, die ihrerseits wirksam und effizient funktionieren muss
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Die Theorien der Anerkennung (1/2)
•
Normen kommt nur dann verpflichtender Charakter zu, wenn sie von Rechtsunterworfenen anerkannt werden

Aber Problem: Was soll dabei von wem zu welchem Zeitpunkt anerkannt werden?
•
Herausbildung eines gelebten Rechtsverständnisses über die grundsätzlichen Verfahrensregeln und Freiheitsgarantien
•
Abkehr von einer reinen normativen Geltungsbegründung des Rechts hin zu einer sozial‐ wirkungsorientierten:
H.L.A. Hart: „Wenn wir sagen, daß eine Regel existiert, bedeutet dies nur, daß eine Gruppe von Leuten oder die meisten von ihnen, sich wie nach einer Regel verhalten, das heißt, sie verhalten sich allgemein bei besonderen Umständen auf eine bestimmte und stets ähnliche Weise.“
H.L.A Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, 22.
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
H.L.A. Hart
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Die Theorien der Anerkennung (2/2)
• Recht muss demnach stets mit grundlegend anderen sozialen Normen, wie Sitte, Moral oder Gerechtigkeit verglichen werden
• Durch die soziale Wirksamkeit von Normen kommt es zur Herausbildung einer Rechtskultur, Rechtsidee bzw. eines Rechtsethos (Sozialisation von sozialen Normen) • Freiwillige Normbefolgung auch Abseits der Durchsetzungsdrohung
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Faktizität und Geltung (1/4)
Zentrales Werk: „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“, Frankfurt am Main 1992.
„Recht“ ist für Habermas „das moderne gesatzte Recht, das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt. “ J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 106
Charakteristika des Rechts bei Jürgen Habermas
eine Form kulturellen Wissens
sichert Handlungsfreiheiten und eine solidarische
Gesellschaft
beinhaltet moralische Elemente
entlastet Einzelne
reguliert Handeln
regelt sein eigenes Entstehen
ermöglicht die Reproduktion der Gesellschaft
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Faktizität und Geltung (2/4)
• Diskurse und Recht
„Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“
J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 138.
• Herstellung einer idealen Diskurssituation
– Begründungsdiskurse
• bezieht sich auf Geltung von Normen
• Normen gelten, wenn sie positiv gesetzt, rational vereinbart und durchgesetzt werden können
– Anwendungsdiskurse
• nur richtige Entscheidungen, die unparteiisch und rational argumentiert sind, fügen sich ins Rechtssystem ein
• falsche Entscheidungen erwachsen lediglich in Rechtskraft
• Herrschaftsfreiheit in den juristischen Diskursarenen?
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Faktizität und Geltung (3/4)
Recht stabilisiert sich über das Spannungsverhältnis von Faktizität und Geltung bei der Anwendung des Rechts
Faktizität
(auferlegter Zwang –
Sanktionen)
Geltung
(bindende Kraft –
rational motivierte Rechtsüberzeugung)
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Faktizität und Geltung (4/4)
Zieldeterminanten von legitimen Rechtsordnungen nach Habermas
•
–
–
–
–
–
ein größtmögliches Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten,
die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in der Rechtsgemeinschaft, die Einklagbarkeit von Rechten,
die chancengleiche Teilnahme an politischen Meinungs‐ und Willensbildungsprozessen und die dazu nötigen Lebensbedingungen sichern
Somit gelangt Habermas zu den vier Prinzipien des Rechtsstaates
•
1.
2.
3.
4.
das Prinzip der Volkssouveränität das Prinzip der Gewährleistung eines umfassenden, individuellen Rechtsschutzes
das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft, welches eine politische Kultur fordere, die von Klassenstrukturen entkoppelt ist
Führt zu Verfassungspatriotismus, bei dem Grundrechte, Institutionen und Verfahren der republikanischen politischen Grundordnung höher bewertet werden als das traditionelle Nationenkonzept. VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Marxistische Kritik an dem Recht und seiner Ordnung (1/2)
• Recht gilt für Marx als ein Herrschaftsinstrumentarium der jeweils herrschenden Klasse bzw. des staatlichen, ideologischen Überbaus
Karl Marx
 Minimalbestand des Rechts ist dennoch notwendig zum Schutz des Privateigentums und der persönlichen Freiheit sowie zur Staatsverwaltung
 In klassenlosen Gesellschaft spielt Staat und Recht allmählich eine immer untergeordnetere Rolle  Wichtiger als das Recht ist nach Marx eine Sozialmoral als innere Verpflichtung, anderen selbstlos und altruistisch helfen zu wollen
Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions‐ und
Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse
ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer
Klasse.
Karl Marx, MEW, Bd. 4, S.477.
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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Marxistische Kritik an dem Recht und seiner Ordnung (2/2)
• „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“ (1969) von Eugen Paschukanis
 Rechtssubjekt, Rechtsverhältnis und rechtliche Institutionen sind Ausdruck realer gesellschaftlicher Verhältnisse und haben auch in einem postkapitalistischen Staat Funktionen inne
 Das Prinzip der Verrechtlichung aller menschlichen Interaktionen in und durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist wichtige Voraussetzung für den Eugen Paschukanis universellen Warentausch
„Nachdem er [der Mensch] in eine sklavische Abhängigkeit von den hinter seinem Rücken in der Gestalt des Wertgesetzes entstehenden ökonomischen Verhältnissen geraten ist, erhält das wirtschaftende Subjekt, sozusagen als Entschädigung, nunmehr als juristisches Subjekt eine seltene Gabe: den juristisch unterstellten Willen, der ihn unter den anderen Warenbesitzern […] frei und gleich macht.“ Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1969, 92.
VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung
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