6. Die Komplexität der Rechtsanwendung Die juristische Technik der Subsumtion Rechtsnormen mit Sollensanforderungen Tatbestand (allgemein‐abstrakt) samt Tatbestandsmerkmalen + Rechtsfolge Subsumtion Sachverhalte werden mit Tatbestands‐ merkmalen verglichen Gehen Tat‐ bestandsmerkmale mit Sachverhalts‐ elementen konform, tritt die Rechtsfolge ein Rechtsfolge (kann auch durchgesetzt werden) VO Politik und Recht – Rechtsanwendung 61 Über das Auffinden der „richtigen“ Rechtsnorm • Schwierigkeiten bestehen in der „Juristerei“– nach umfangreicher Schilderung eines Sachverhalts – im richtigen Auffinden des Tatbestandes einer Rechtsnorm • Permanentes Abgleichen des Sachverhalts mit verschiedenen Tatbestandsmerkmalen • Oftmals schwierige Interpretationsfragen Systematische Interpretation Wortinterpretation Historische Interpretation Telelogische Interpretation Sinn der Interpretation ist den Sinn und Zweck des Gesetzes zu erfassen • In der Rechtspraxis relevant: EU‐Richtlinienkonforme Interpretation von staatlichem Recht • Analogie und Lückenschluss – Gesetzgeber kann nicht alle denkmöglichen Probleme vorausbestimmen – Planwidrige Lücken können durch die Rechtsanwendung geschlossen werden VO Politik und Recht – Rechtsanwendung 62 7. Recht im Spannungsfeld von Legitimität, sozialer Wirksamkeit und Rechtsgeltung Grundlagen der Legitimations‐ und Rechtsgeltungstheorien Autoritative Gesetztheit Legitimität Legalität Soziale Wirksamkeit • Legitimität als Anerkennungswürdigkeit von staatlichem und rechtlichem Handeln und somit letztlich von Staat und Recht • Legitimität, soziale Wirksamkeit und Rechtsgeltung sind drei Voraussetzungen für längerfristiges Bestehen von Recht VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 64 Legalität vs. Legitimität Rechtsordnung Gesetzlich erlaubt, aber nicht legitim Legale und legitime Normen Nicht legal, aber moralisch zulässig oder sogar geboten Gesetzlich und moralisch verboten Soziale Normen (Sozialmoral) VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 65 Übersicht über verschiedene Theorien der Rechtsgeltung Grundlage John Austin Jeremy Bentham Hans Kelsen Die Reine Rechtslehre Imperativtheorie Grundlage Eugen Ehrlich Jürgen Habermas Anerkennungstheorie Faktizität und Geltung VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 66 Die Imperativtheorie • Recht gilt, wenn es von einer gesellschaftlichen Autorität gesetzt ist (auctoritas, non veritas facit legem) Durchsetzbarkeit notfalls mit physischer Gewalt • Faktisch gesetztes Recht als Befehl, der von einer höhergestellten Macht ausgeht, nehmen die Rechtsunterworfenen in die Pflicht • Absage an die Prinzipien des Naturrechts: „The science of jurisprudence is concerned with positive laws strictly so called, as considered without regard to their goodness or badness.“ J. Austin, The Province of Jurisprudence Determined, 1998, 98. • Die Imperativtheorie gilt als Wegbereiter für den Utilitarismus VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 67 Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen (1/2) • Zentrales Werk: Die Reine Rechtslehre, 2. Auflage, (Wien 1960). • Im Gegensatz zum klassischen Rechtspositivismus ist Kelsens „Reine Rechtslehre“ weniger faktisch, sondern vielmehr normativ ausgerichtet Kelsens Ziel war es nach eigener Definition „eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen, gereinigte, ihre Eigenart […] bewusste Rechtstheorie zu entwickeln.“ H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, Vorwort. • Rechtswissenschaft soll eine rationale Wissenschaft vom positiven Recht sein und das durch menschliche Akte gesetzte Recht untersuchen • Untersuchungsgegenstand Inhaltliche Ausgestaltung des Rechts Verfahren der Rechtserzeugung • Das Recht ist ein vom Menschen erzeugtes Phänomen orientiert sich an den Wissenschaftsidealen Objektivität, Exaktheit, Klarheit und Eindeutigkeit VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 68 Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen (2/2) • Hans Kelsens Wertrelativismus Wertvorstellungen wechseln von Land zu Land von Epoche zu Epoche von Gesetz zu Gesetz • Wirkung des positiven Rechts hängt ab von Faktischer Setzung („Sollen“) tatsächlicher sozialer Wirksamkeit („Sein“) Sollen Kant folgend strikte Trennung Sein „Sollensform“ ist die Rechtssprache Was soll geschehen? Was nicht? Wie soll sich ein Mensch verhalten? – reine Form der Normerzeugung Aufzeigen von naturnotwendigen Kausalzusammenhängen Geschichte, Soziologie, Psychologie, … Rechtswissenschaft als Normwissenschaft VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 69 Die Theorie der Grundnorm bei Hans Kelsen • Norm gilt, solange sie in einer höheren Norm ihre Deckung findet (vgl. Stufenbau der Rechtsordnung, Kap. 5) • Problem eines unabschließbaren Regresses „[…] Aber die Suche nach dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Suche nach der Ursache einer Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muss bei einer Norm enden, die als letzte, höchste vorausgesetzt wird. Als höchste Norm muss sie vorausgesetzt sein, da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müsste. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden. Eine solche als höchste vorausgesetzte Norm wird hier als Grundnorm bezeichnet.“ H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, 196 • Grundnorm nicht von bestimmter Autorität gesetzt, sondern Denkvoraussetzung sämtlichen Rechtsdenkens • Erzeugt widerspruchsfreie (Rechts‐)Ordnung, die ihrerseits wirksam und effizient funktionieren muss VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 70 Die Theorien der Anerkennung (1/2) • Normen kommt nur dann verpflichtender Charakter zu, wenn sie von Rechtsunterworfenen anerkannt werden Aber Problem: Was soll dabei von wem zu welchem Zeitpunkt anerkannt werden? • Herausbildung eines gelebten Rechtsverständnisses über die grundsätzlichen Verfahrensregeln und Freiheitsgarantien • Abkehr von einer reinen normativen Geltungsbegründung des Rechts hin zu einer sozial‐ wirkungsorientierten: H.L.A. Hart: „Wenn wir sagen, daß eine Regel existiert, bedeutet dies nur, daß eine Gruppe von Leuten oder die meisten von ihnen, sich wie nach einer Regel verhalten, das heißt, sie verhalten sich allgemein bei besonderen Umständen auf eine bestimmte und stets ähnliche Weise.“ H.L.A Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, 22. VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung H.L.A. Hart 71 Die Theorien der Anerkennung (2/2) • Recht muss demnach stets mit grundlegend anderen sozialen Normen, wie Sitte, Moral oder Gerechtigkeit verglichen werden • Durch die soziale Wirksamkeit von Normen kommt es zur Herausbildung einer Rechtskultur, Rechtsidee bzw. eines Rechtsethos (Sozialisation von sozialen Normen) • Freiwillige Normbefolgung auch Abseits der Durchsetzungsdrohung VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 72 Faktizität und Geltung (1/4) Zentrales Werk: „Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats“, Frankfurt am Main 1992. „Recht“ ist für Habermas „das moderne gesatzte Recht, das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt. “ J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 106 Charakteristika des Rechts bei Jürgen Habermas eine Form kulturellen Wissens sichert Handlungsfreiheiten und eine solidarische Gesellschaft beinhaltet moralische Elemente entlastet Einzelne reguliert Handeln regelt sein eigenes Entstehen ermöglicht die Reproduktion der Gesellschaft VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 73 Faktizität und Geltung (2/4) • Diskurse und Recht „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 138. • Herstellung einer idealen Diskurssituation – Begründungsdiskurse • bezieht sich auf Geltung von Normen • Normen gelten, wenn sie positiv gesetzt, rational vereinbart und durchgesetzt werden können – Anwendungsdiskurse • nur richtige Entscheidungen, die unparteiisch und rational argumentiert sind, fügen sich ins Rechtssystem ein • falsche Entscheidungen erwachsen lediglich in Rechtskraft • Herrschaftsfreiheit in den juristischen Diskursarenen? VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 74 Faktizität und Geltung (3/4) Recht stabilisiert sich über das Spannungsverhältnis von Faktizität und Geltung bei der Anwendung des Rechts Faktizität (auferlegter Zwang – Sanktionen) Geltung (bindende Kraft – rational motivierte Rechtsüberzeugung) VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 75 Faktizität und Geltung (4/4) Zieldeterminanten von legitimen Rechtsordnungen nach Habermas • – – – – – ein größtmögliches Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten, die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in der Rechtsgemeinschaft, die Einklagbarkeit von Rechten, die chancengleiche Teilnahme an politischen Meinungs‐ und Willensbildungsprozessen und die dazu nötigen Lebensbedingungen sichern Somit gelangt Habermas zu den vier Prinzipien des Rechtsstaates • 1. 2. 3. 4. das Prinzip der Volkssouveränität das Prinzip der Gewährleistung eines umfassenden, individuellen Rechtsschutzes das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft, welches eine politische Kultur fordere, die von Klassenstrukturen entkoppelt ist Führt zu Verfassungspatriotismus, bei dem Grundrechte, Institutionen und Verfahren der republikanischen politischen Grundordnung höher bewertet werden als das traditionelle Nationenkonzept. VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 76 Marxistische Kritik an dem Recht und seiner Ordnung (1/2) • Recht gilt für Marx als ein Herrschaftsinstrumentarium der jeweils herrschenden Klasse bzw. des staatlichen, ideologischen Überbaus Karl Marx Minimalbestand des Rechts ist dennoch notwendig zum Schutz des Privateigentums und der persönlichen Freiheit sowie zur Staatsverwaltung In klassenlosen Gesellschaft spielt Staat und Recht allmählich eine immer untergeordnetere Rolle Wichtiger als das Recht ist nach Marx eine Sozialmoral als innere Verpflichtung, anderen selbstlos und altruistisch helfen zu wollen Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions‐ und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse. Karl Marx, MEW, Bd. 4, S.477. VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 77 Marxistische Kritik an dem Recht und seiner Ordnung (2/2) • „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“ (1969) von Eugen Paschukanis Rechtssubjekt, Rechtsverhältnis und rechtliche Institutionen sind Ausdruck realer gesellschaftlicher Verhältnisse und haben auch in einem postkapitalistischen Staat Funktionen inne Das Prinzip der Verrechtlichung aller menschlichen Interaktionen in und durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist wichtige Voraussetzung für den Eugen Paschukanis universellen Warentausch „Nachdem er [der Mensch] in eine sklavische Abhängigkeit von den hinter seinem Rücken in der Gestalt des Wertgesetzes entstehenden ökonomischen Verhältnissen geraten ist, erhält das wirtschaftende Subjekt, sozusagen als Entschädigung, nunmehr als juristisches Subjekt eine seltene Gabe: den juristisch unterstellten Willen, der ihn unter den anderen Warenbesitzern […] frei und gleich macht.“ Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1969, 92. VO Politik und Recht – Theorien der Rechtsgeltung 78
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