Gesungenes Theater - Opernzukunft im

DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
Redaktion: Ulrike Bajohr
Feature
Vielleicht doch im Garagenhof?
Nachdenken über Opernregie
Von Stefan Zednik
Regie: Burkhard Reinartz
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- unkorrigiertes Exemplar -
Sendung: Freitag, 10. Juli 2015, 20.10 - 21.00 Uhr
1
A00 Musik Tosca, Ende 1. Akt, Akt-1-Scarpia_Aufn_offiziell, GP in Berliner
Staatsoper 2014, ca. 35 Sek frei, dann weiter unter Text
Sprecher 2 /Zitat Alvis Hermanis, aus Tip Interview vom 30.9.2014, über Musik
Mein Traum ist es, der altmodischste Regisseur des 21. Jahrhunderts zu
werden.
Sprecher, über Musik
Alvis Hermanis, Regisseur der Tosca. Staatsoper Berlin, Herbst 2014.
Musik Tosca, frei
01 O-Ton Holger Potocki,
Ich bin da sehr dagegen, mit der Brechstange darauf zu gehen, irgendwas zu finden,
was tagespolitisch brisant oder spannend halt ist. Das führt meiner Ansicht nach zu
oft dazu, dass man ein Stück irgendwo reinquetscht und es relativ deformiert da
rauskommt.
Sprecher über Musik
Holger Potocki, für eine Puccini-Oper an den Landesbühnen Sachsen
engagierter Regisseur.
Musik Tosca nochmals kurz hoch
02 O-Ton Nadia Loschky
Man kommt sehr schnell an einen Punkt ,wo man so Abziehbilder austauscht. Das,
was die Musik da eigentlich tut, ist auf Basis eines exotischen Bodens eigentlich
Seelenräume zu öffnen und auch sehr wenn man genau hinhört und auch die Partitur
genau analysiert ein sehr kontroverses und widersprüchliches Bild einer Frau zu
zeichnen.
Sprecher über Musik
Nadia Loschky, Regisseurin der „Butterfly“ im Stadttheater Bielefeld.
Musik frei, dann Kreuzblende in
A 01 leiser Sound einer startenden Harley Davidson darüber
2
03 O-Ton, Julia Lwowski
Da wir uns halt im Bereich experimentelles Musiktheater (..) ausbreiten und da
forschen, haben wir beschlossen eine Garagenoper, ein Garagen-Musiktheater zu
machen, welches aus verschiedenen Musikstücken, verschiedenen Opernarien,
verschiedenen Texten zusammengesetzt ist, das ist eine Stückentwicklung mit zwei
Schauspielern, zwei Sängern, zwei Performern und einem Musiker.
Sprecher
Julia Lwowski, Regisseurin in Projekten der freien Szene
A 01 Sound der Harley hoch, darüber
Ansage
Vielleicht doch im Garagenhof?
Nachdenken über Opernregie
Ein Feature von Stefan Zednik
Sprecher über Hofatmo A 02/A03
Berlin-Pankow. In einem U-förmig angelegten Hof mit über hundert
Garagen sind Bastler am Werk, „Schrauber“. Über dem Hof liegt die
Einflugschneise des Flughafens Tegel.
Die hölzernen Doppeltüren vieler Stellplätze sind geöffnet, man sieht
alte, liebevoll restaurierte Autos und getunte Motorräder. Auch
professionelle Werkstätten haben sich hier eingemietet. Ein
ganzkörpertätowierter KFZ-Meister mit Sonnenbrille schraubt mit seinem
Nachbarn, einem koreanischen Airbrusher, an einer blinkenden Harley
herum. Deren breiten Tank ziert ein von Gothic-Art inspirierter
Totenkopf.
A04a Gesang (Herbstlied von Mendelssohn live auf Probe gesungen)
Sprecher über Gesang
Aus einer der offenen Garagen erklingt Musik, erklingt Gesang. Das
„Herbstlied“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy.
Sprecher 2 über Musik
„Ach, wie so bald verhallet der Reigen, wandelt sich Frühling in
Winterzeit!
Ach, wie so bald in traurendes Schweigen wandelt sich alle die
Fröhlichkeit!“
3
Sprecher
Kaum ein Text passt weniger zu dem merkwürdigen Setting dieser
Szenerie. In einer Doppelgarage steht links ein Mercedes aus den 90er
Jahren; auf dem Kofferraum sitzt mit angezogenen Beinen ein älterer
Schauspieler. Rechts agieren vier junge Frauen. Zwei sind Sängerinnen,
eine ist Schauspielerin und eine Regisseurin: Julia Lwowski. Gemeinsam
mit Franziska Kronfoth hat sie sich in der Berliner Off-Szene einen
gewissen Ruf erworben. Beide entstammen der Regieausbildung der
„Hochschule für Musik Hanns Eisler“ Berlin.
04 O-Ton Wort Julia Lwowski,
Es ging darum, sich ein bißchen gegen die böse Männerwelt zu wappnen, als Team
zu agieren, zwei junge Frauen die trotzdem halt irgendwie arbeiten wollen, die sich
nicht so schnell runterbuttern von der männlichen starken Kritik in den großen dicken
Opernhäusern und dann haben wir gesagt, lass uns doch dieses kleine Ding
machen, wir wollten eigentlich jede Woche eins machen, und die erste Aktion war
wirklich: jede Woche war eine Oper da.
Sprecher
Ein gutes Dutzend Opern-Performance-Abende haben Lwowski und
Kronfoth in den letzten drei Jahren realisiert, mit kleinstem Budget. Meist
in den Räumen einer Galerie. Ihr Unternehmen nennen sie „Hauen und
Stechen“. An zwei, drei aufeinanderfolgenden Tagen finden die
Veranstaltungen statt, werden täglich mehrfach wiederholt für ein
kleines, aber hochinteressiertes und selbst für Berliner Verhältnisse
unkonventionell gemischtes Publikum.
Das nun geplante Stück trägt den kryptisch anmutenden Titel „Die
Herzen des Oktopus“. Es ist Programmpunkt eines viertägigen Festivals
unter dem Motto „Männer in Garagen“. Die künstlerische Leiterin der
Berliner Sophiensäle und Veranstalterin des Festivals, Franziska Werner,
erläutert die Wahl dieses Ortes:
06 O-Ton Franziska Werner,
Es geht um Männerthemen, um Männerklischees und um Männerorte und
gleichzeitig geht es natürlich genau auch dann um die Brechung von
Männerklischees, von Männeruniversen und den Männerorten. Und deswegen sind
natürlich bei uns auch viele Frauen, die arbeiten und die sich vielleicht mit
Phantasien und Utopien und diesem erstmal männlichen Raum auseinandergesetzt
haben und dann halt gucken ob sie da Sachen noch verstärken…
4
07 O-Ton Regisseurinnen, Julia+Franziska
J:Was uns auch wichtig ist, war so eine Art Surrealität in der ganzen Sache zu
behalten, weil wir können halt nicht behaupten, das ist jetzt ein Mann der hat ne
Garage und da werkelt der jetzt extrem drin rum, sondern es ist ein schon Kunstraum
F:
Die Regisseurinnen sind ja (..) Frauen, die sich so ausdenken, was der Mann da in
der Garage tut, und das ist natürlich eine Projektion. (..) was man sieht ist, was wir
uns vorstellen, wonach wir uns sehnen, was wir vielleicht gerne für einen Platz
einnehmen wollen in den Gedanken und im Leben und Handeln von so einem Mann
und insofern wird der ja auch auf so einer übergeordneten Ebene von uns
verschlungen.
A04 b hochfahren und moderat ausblenden (hat keinen wirklichen Schluss, da aus
Probe)
(Akustik Theorie)
Sprecher 2 Zitat Adorno, aus Spiegel Interview 9/1968, über voriger Musik
Ich kann mir eine Kultur vorstellen, in der die Oper in einer ähnlichen
Weise verschwindet wie eine ganze Reihe anderer Formen. (..) Ich
glaube, dass sie vielleicht noch dieses Jahrhundert überleben wird, das
nächste kaum mehr.
Sprecherin
... sagte Theodor W. Adorno, Philosoph und Musikwissenschaftler, 1968
in einem Spiegel-Interview. Fast fünf Jahrzehnte später spitzt der
Soziologe Dirk Baecker dieses Diktum noch zu.
Sprecher 2
Die Zukunft der Oper muss mit der Möglichkeit der Abschaffung der Oper
rechnen, sonst gibt es keine Zukunft der Oper.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------A05 Musik Radebeul, Lauretta-Arie aus Gianni Schicchi nach Gefühl (vor a capella
Stelle) ausblenden
Sprecher
Die Landesbühnen Sachsen sind ein Mehrspartentheater im Dresdner
Vorort Radebeul. Der Ort ist vor allem als Heimat des meistgelesenen
5
deutschen Autors, Karl May, bekannt. Dass an dem kleinem Haus für
gerade 400 Besucher ganz große Oper gepflegt wird, hat Tradition. Als
nach dem Krieg Dresden komplett zerstört war, entstanden hier, im Saal
einer Ausflugsgaststätte, die ersten Opernproduktionen. Wie in der
Berliner Staatsoper steht auch in Radebeul die Premiere einer Oper von
Giacomo Puccini bevor. Nicht der Politkrimi „Tosca“, sondern die
heiterste Oper des Italieners, der Einakter „Gianni Schicchi“. Gesungen
wird auf Deutsch, so Intendant Manuel Schöbel, der sich bekennt zu
einer
09 O-Ton Intendant Manuel Schöbel
Tradition des erzählenden Musiktheaters, was sich dem Inhalt der Botschaft, der
Interpretation der Wirklichkeit verpflichtet sieht. Davon will auch ich nicht abrücken,
weil da komme ich her, mit meinem Studium der Theaterwissenschaft ein Brechtianer
und demzufolge sozusagen in der Tradition und in der Linie begriffen. Für mich ist die
Wahl der Sprache aber dann am Ende aber keine Frage der Religion und das muss
immer genauso entschieden sein sondern am Ende können wir bei jedem Werk neu
prüfen und es kann sein dass der eine Verdi, der Maskenball, richtig in Deutsch ist
und dass man den anderen dann den Don Carlo in Italienisch macht, das hängt stark
von der Interpretation, vom Werk, von dem konzeptionellen Ansatz ab.
Sprecher
Das Besondere des Abends in Radebeul ist die Kombination zweier
Einakter. Im ersten Teil spielt man eine unbekannte Oper von Ruggiero
Leoncavallo. Es ist die Geschichte von König Oedipus, der zu der
Erkenntnis gelangen muss, Mörder seines Vaters und Gatte seiner
Mutter geworden zu sein. Die Sache endet bekanntlich schrecklich: Die
Mutter erhängt sich, Oedipus sticht sich selbst die Augen aus und
verbringt den Rest seiner Tage als blinder Bettler.
Holger Potocki widersteht einer vordergründigen Aktualisierung des
Stoffs.
10 O-Ton Holger Potocki,
Gerade im Musiktheater sind viele Phasen gewesen in den letzten Jahrzehnten die
Haltung eingefordert haben, die eine musikalische Haltung eingefordert haben, die
eine soziale Haltung eingefordert haben, ich glaube dass das alles sehr richtige und
gesunde Phasen waren aber dass sie oft auch die Gefahr hatten dass aus einer
Haltung eine Attitüde wird. Ich habe auch Phasen gehabt, wo ich das Gefühl hatte
ich muss das so und so in eine Ästhetik setzen, um dem Zeitgeist zu entsprechen,
um überhaupt feuilletonfähig zu sein oder.... ich glaube auch da sollte man wirklich
gucken, dass man vom Stück ausgeht, dass man sich Gedanken über das Stück
macht und sagt, wie kann ich das am besten erzählen, was mir da aufscheint, was
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ich da spannend finde und von da aus losgehen und sagen ich suche mir Ort und
Zeit aus um mir eine möglichst dichte Erzählung zu ermöglichen. Davon bin ich
absolut überzeugt. Ich bin nach wie vor überhaupt nicht der Meinung dass eine
Jeans und T-Shirt allein eine Inszenierung modern macht.
Sprecher über Musik
Im zweiten Teil des Abends, dem Einakter von Puccini, greift der
Regisseur die Grundidee des ersten Stückes auf – und macht sich
gleichzeitig die Notwendigkeit der Besetzung durch das hauseigene
Ensemble zu Nutze.
Denn Oedipus und Schicchi werden von demselben Sänger dargestellt.
A06 Musik Gianni Schicchi, „Leb‘ wohl Firenze“, kann dann unter Text weiterlaufen
Sprecher über Musik
Schicchi ist in seiner florentinischen Oberschichtsfamilie ein
Außenseiter, er gilt als bauernschlauer Tagedieb, dessen Gewitztheit die
verlogene Familie der Erbschleicher für eine Testamentsfälschung
nutzen will. Und er hat eine heiratsfähige Tochter, die mit ihm auftritt.
Potocki lässt auch Schicchi – als Blinden auftreten. Das verleiht dem
gesamten Abend eine besondere, humane Note. Denn auch nach der
schlimmsten Katastrophe, wie sie Oedipus zu erleiden hatte, scheint die
Chance auf ein sinnvolles Leben noch möglich zu sein.
11 O-Ton
11a Mann mit österreichischem Akzent
Hervorragend, ich fand den ganzen Abend sehr spannend, vor allem auch die
Kombination dieser Oedipus Tragödie und dann die wunderbar gespielte Gianni
Schicchi Komödie, also sehr beeindruckend .
11b Frau mit sächsischem Akzent
Das zweite Stück fand ich sehr schön (..) fand ich sehr schön, das erste war bissel
schwer weil man das Stück halt auch nicht gekannt hat, man hat es zwar gelesen,
aber das zweite Stück war realistisch, sehr gut
11c Frau
Wirklich schön, gut gemacht, die haben prima gespielt im ersten Teil und auch im
zweiten Teil fand ich, ganz toll . Wir gehen in Berlin meistens zur Oper. Wir sind hier
nur besuchsweise.
7
11d Ihr Mann
Wir sind nicht mehr so sehr begeistert in Berlin, die Inszenierungen, die sind alle zu
sehr abgehoben, also ich mag‘s lieber ein bißchen realistischer. Das ist ja auch
modern hier gewesen, aber trotzdem ist es irgendwie spielerisch schöner. Ich hab
nichts gegen modern, aber es muss zum Thema passen, es darf nicht aufgesetzt
sein ..
Seine Frau
.. und es muss was rüberkommen, man muss was fühlen, man muss lachen und
weinen innerlich wenn man in die Oper geht. Was wir in Berlin sehen, da gucken wir
zu, aber wir fühlen nicht mit.
(Akustik Theorie)
Sprecherin
Auf einer Tagung in Berlin streiten Kunst- und Kulturwissenschaftler,
Künstler und Komponisten, Theaterleiter und Regisseure darum, wie die
Oper der Zukunft aussehen könnte. Der Soziologe Dirk Baecker
vergleicht die aktuellen Bemühungen um die Oper mit der Implantierung
eines Herzschrittmachers.
12 O-Ton Dirk Baecker, Symposion20131025-1-Die_Kunst und die Gesellschaft
Das hören Sie, das sehen Sie, das erleben Sie, dass da irgendetwas am Leben
gehalten wird wo der Geist noch lebendig und der Körper vielleicht schwach
geworden ist, deswegen Herzschrittmacher, aber was in dieser Schwäche, die es
gegenwärtig vielleicht an den Tag legt, eine extremstarke Aussage über die
Konstitution von Kunst in der Gesellschaft macht, die Sie nicht verstehen. Sie
verstehen diese Aussage nicht. Und genau das macht Oper interessant.
Sprecherin
Der Opernbesuch als Konfrontation mit dem vergangenen Fremden, bei
dem gerade das Nichtverstehen zu interessierter Beschäftigung anregen
soll? Der junge Komponist Klaus Lang wendet sich vehement gegen ein
solches „System Oper“.
13 O-Ton Klaus Lang, Komponist, Symposion20131026-6-Die_Kunst
Ich habe immer gedacht, das ist seltsam, daß das so wenig mit mir zu tun hat, weder
als Person noch als Komponist. Man nimmt einen winzigen kleinen Zeitraum in der
Geschichte, zwischen 1800 und 1900, und sagt: Das ist die Oper. Da liegen jetzt
diese dreißig Mumien herum, die seit hundert Jahren mumifiziert werden, und dann
kommen die Regisseure, die spritzen dann ihr Botox oder Formalin rein und dann
zappelt die Mumie wieder ein bißchen. Und damit beschäftigt man sich, und das ist
Oper.
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Musik, Potpourri aus populären Opern
14 O-Ton Klaus Lang, Symposion20131026-6-Die_Kunst, über Potpourri
… in Wirklichkeit geht es ja in diesem ganzen Opernbetrieb (..) nur darum, diesen
Status quo des 19. Jahrhunderts aufrecht zu erhalten, um an der Oberfläche ein
bißchen zu kratzen, um sozusagen alibihaft den Konservativismus aufrecht zu
erhalten.
Sprecherin
Benedikt von Peter, 2015 Hausregisseur am Theater in Bremen,
verteidigt das „Kernrepertoire“.
15 O-Ton Benedikt von Peter, Symposion20131025-3-Die_Regie,
Wir haben eine spezielle Aufgabenstellung. Ähnlich wie in Hollywood, es gibt
Blockbuster tatsächlich, es gibt Riesenhäuser, es gibt so etwas wie
Mehrheitsfähigkeit, wenn wir ein Theater zu bespielen hätten von hundert Leuten
dann wäre das anders, oder wenn wir im Off wären, aber das ist tatsächlich die
Aufgabenstellung, der man sich stellt.
Sprecherin
Neue Werke des Musiktheaters werden vom traditionsorientieren
Opernpublikum meist sehr reserviert aufgenommen, sie gelten als Gift
für die Kasse. Das lang Vertraute steht weit höher im Kurs. Obwohl oder gerade weil es in einer fremd gewordenen Welt spielt.
Die auch dem allgemeinen Publikumsinteresse verpflichteten
Theaterleiter haben lange versucht, das Altbekannte wenigstens in
neuem Gewand zu präsentieren. Doch seit den 70er Jahren, als
aktualisierende Inszenierungen und psychologisch-realistische
Deutungen auch in den Stadttheatern Einzug hielten, hat das Publikum
sich daran gewöhnt – und zunehmend satt gesehen.
16 O-Ton Benedikt von Peter, Symposion20131025-3-Die_Regie
Die Hauptprobleme sind Bebilderung, Verortung, Aktualisierung, auch, dass jemand
mit dem Blut rumrennt, der Krieg, der Krieg, aber wir haben alle keinen Krieg erlebt,
genau diese Themen, dass sozusagen die Oper, die großen Häuser, auch viele
Intendanten, immer noch in politisch-soziologischen Kontexten denken, und eben
nicht anfangen mit spekulativem Realismus und darüber nachdenken oder
Psychoanalyse mit hineinzudenken oder privatere Formen der Stoffentdeckung. Sie
sind in einem anderen Jahrhundert aufgewachsen, es gibt bestimmte Dinge, die sich
inhaltlich nicht transportieren an unsere Generation oder an mich persönlich, weil ich
denke, was erzählst du mir da von Krieg und da fährt ein Panzer über die Bühne, ich
hab den nie erlebt und was soll mir der Stoff?
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A07 b Längere Orchesterstelle/Butterfly
Sprecher
Ein Psychothriller mit tödlichem Ausgang, ein Blockbuster mit
Splatterqualitäten, steht auch am Stadttheater in Bielefeld auf dem Spielplan.
Wie in der Berliner Staatsoper, wie in den Sächsischen Landesbühnen ist er
von Maestro Puccini, und Nadia Loschky, die junge Regisseurin, hat sich
gefreut.
17 O-Ton Loschky
...als es hieß Puccini, der erste Puccini, und dann habe ich angefangen mich mit den
Stück auseinanderzusetzen, dass ich eben bisher nur kannte aus der Situation als
Kind dass man mitgeht und guckt, die ganze Verwandtschaft weiblicherseits heult
Rotz und Wasser und irgendeine Dame im weißen Gewand rammt sich einen Säbel
unter den linken Arm und tut so als ob sie stirbt, das war mein Bild, das ich davon
hatte, ich hab es auch ansonsten nicht oft auf der Bühne gesehen muss ich sagen
und wenn dann meistens schlecht …
Sprecher
„Madame Butterfly“ gilt vielen Regisseuren als die schwierigste aller
Opern des Italieners. Denn die Geschichte vom „Fräulein Schmetterling“,
wie sie in alten Übersetzungen gern genannt wurde, ist –in traditioneller
Lesart – meist als verkitschtes Japanmelodram zu erleben. Oder – in
aktualisierter Umsetzung – als Kritik an Sextourismus und
Kinderprostitution.
A 07c Musik “Summchor”
17a O-Ton Loschky,
Ich habe (dann) als ich angefangen habe mich damit zu beschäftigen erstmal
gedacht oha, das ist aber ganz schön schwierig sich da reinzuarbeiten und zwar weil
ich schnell an den Punkt gekommen bin dass ich dachte, dass das, was Puccini da
beschreibt, er sagt ja ich gebe Nagasaki meiner Zeit wieder, aber es geht ja
überhaupt nicht darum dass er ein Bild von einer Land kreiert ,das eine Genauigkeit
hat, eine historische oder dass er ein Gesellschaftsportrait entwirft, es ist so ein
bißchen exotisches Kolorit und man hat das Gefühl, da wird so eine Art
Phantasiejapan eigentlich, das sich eben aus seinem Hintergrund gespeist hat
entworfen und das war für mich am Anfang ganz schwierig, weil ich dachte was
macht man denn jetzt damit und sehr schnell war mir klar dass es mich überhaupt
nicht interessiert, ein Gesellschaftsbild der damaligen Zeit oder man sucht nach
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Übersetzungen und man sagt wo findet denn jetzt im asiatischen Bereich
Sextourismus statt…,
Der Schritt dann hin zu sagen das, was die Musik da eigentlich tut, ist auf Basis
eines exotischen Bodens eigentlich Seelenräume zu öffnen und auch sehr wenn man
genau hinhört und auch die Partitur genau analysiert, ein sehr kontroverses und
widersprüchliches Bild einer Frau zu zeichnen. Mit sehr vielen Sprüngen und
Brüchen und das hat mich dann angefangen wahnsinnig zu interessieren. Dann war
die Frage da wie geht man denn jetzt damit um?
Kann man das überhaupt mit einer Figur auf der Bühne zeigen? Kann man diese
Diskrepanzen und diese Spannweiten mit einer einzelnen Darstellerin voll ausloten?
Und daraus entstand eigentlich die Idee zu sagen, man setzt sich quasi mit zwei
Figuren auseinander und schafft eine Figur, die in den Dialog und in den Konflikt mit
sich selbst mit der eigenen Erinnerung geht und darüber kann man immer wieder
quasi aus der Geschichte rausspringen, kann neu drauf gucken, kann einen anderen
Blickwinkel einnehmen und kann damit immer wieder das Pathos und den Kitsch,
das ist ja immer so die Gefahr bei Puccini, die Gefahr des Zuckergusses, und kann
das damit unterlaufen und dann an anderen Stellen wieder befeuern und trotzdem
immer wieder in die Fülle der Emotionalität reingehen. Das braucht es schon, man
kann nicht sagen, wir machen Puccini, aber ohne Emotionen, das geht nicht.
Sprecher
In Bielefeld erlebt, betrachtet, erinnert oder träumt Butterfly, eine
koreanische Sängerin in den Dreißigern, ihre eigene Geschichte, die
einer heranwachsenden Frau. Ihr alter ego wird dargestellt von einer
stumm agierenden und wesentlich jüngeren Schauspielerin mit ebenfalls
koreanischer Herkunft. Alles an diesem konzeptionellen Einfall
unterstützt die Glaubwürdigkeit der Geschichte: Der Altersunterschied
der Darstellerinnen, ihr körperlicher Unterschied – die Schauspielerin ist
zierlich, sie wirkt zerbrechlich im Vergleich zur Sängerin - geben dem
präzis gearbeiteten Spiel eine beklemmende Atmosphäre von
Wahrhaftigkeit.
Selbst die vollkommene Stummheit der jungen Butterfly ist erlebbar als
Scheu einer 15-Jährigen vor dem amerikanischen Marineoffizier. So
changiert der Abend ständig zwischen erträumter und realer Welt,
zwischen Gestern und Heute, zwischen ersehnter Zärtlichkeit und
gewalttätig männlichem Zugriff. Es entsteht ein Theater der psychischen
Zwischenwelten. Dabei entfaltet Musik ihre höchste Energie, es entsteht
Oper im besten, selten erlebbaren Sinne.
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A07 d Musik, Arie „Un bel dì, vedremo“,
Sprecher 2/Sprecherin 2 Zitate über Musik, Vorschlag für Auswahl aus Zeitungen/Netz; Neue
Westfälische vom 28.9.2014 von Anke Groenewold (NW), Westfalenblatt vom 29.9.2014 von Uta
Jostwerner (WB), theaterpur.net vom 2.10.2014 von Thomas Hildemeier (TP), Lippe aktuell vom
4.10.2014 von (ame) (LA),
… ein abgründiges, scharfkantiges Psychodrama zwischen Wahn und
Wirklichkeit … (NW)
… ebenso analytisch wie emotional … (NW)
… ein Seelendrama von Wucht und Konsequenz … (NW
F02 Foyeratmo Bielefeld
19a 1 Frau
Sehr gut sehr gut, das hatte ich nie gedacht, für mich war .. ich hab das schon so oft
gesehen die Butterfly, ich hatte gedacht wenn das auch so kitschig ist, wie manchmal
in anderen Opernhäusern, dann geh ich in der Pause, aber dieses ist ja sensationell,
unglaublich
19c Frau
Sehr berührend, ich bin eigentlich sprachlos, ja ich hab noch nie so eine schöne
Inszenierung gesehen.
Sprecher 2/Sprecherin 2Zitate
… Loschky sorgt für große Ruhe und Gelassenheit und lässt dadurch jede
Situation ungeheuer einprägsam werden … (TP)
… unglaublich dichte, in ihrer Konsequenz fast schon unheimliche Butterly …
(TP)
(Musik hoch)
19 ff O-Ton Wort Vox pop
19d Mann
Also ich fand die Inszenierung atemberaubend, die Spannung bis zum Schluss
gehalten, phantastische Aufführung, einfach großartig …
19b Frau
12
Ich glaub das ist das tollste was ich je in meinem Leben an Inszenierung gesehen
hab, also ich bin völlig sprachlos, phantastisch, wir haben gerade gesagt, es fehlen
einem die Worte eigentlich, also eine solche Spannung über diese ganze Zeit ..
Sprecher 2/Sprecherin 2Zitate
… soviel Tiefe in jedem Detail … (LA)
… Mehr Oper geht nicht ! (LA)
Sprecher über Musik, im Folgenden ausblenden
So äußert sich ein begeistertes Publikum, schreiben die regionalen
Zeitungen. Die Feuilletonisten der großen Blätter, Kritiker der
Rundfunkhäuser oder der Fachzeitschrift „Opernwelt“ sind nicht vor Ort.
19ff O-Ton Wort Vox pop
19 f 2 Frau
Großartig, aber ich habe fürchterlich geweint!
Beifall nach Butterfly
-(Akustik: Theorie )
20 O-Ton Wort Jonathan Meese, Symposion20131025-6-Die_Kunst
Kreativität muss abgeschafft werden, wir müssen wieder instinktiv werden, wir
müssen nicht identisch sein mit uns, sondern Masken tragen.
Sprecherin
Seit langem versteht sich der Opernregisseur nicht mehr nur als
Organisator des szenischen Ablaufs, als bloßer Handwerker im Dienst
von Stück, Darstellern, heater und Publikum. Der Regisseur ist in seinem
Selbstverständnis längst zum Vollblut-Künstler geworden. Der
Anspruch: möglichst nie zuvor Gesehenes auf die Bühnenbretter zu
bringen, also: schöpferisch zu sein.
Das ihn beauftragende Theater bemüht sich, ihm diesen Freiraum zu
ermöglichen – oder es engagiert gleich einen „echten“ Künstler. Einen
wie Jonathan Meese.
Der international bekannte Maler und Performer bringt sich in die
Diskussion des Berliner Symposions ein. Er fordert die Total-Herrschaft
der Kunst auch auf der Bühne.
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21 O-Ton Wort Jonathan Meese, Symposion20131025-6-Die_Kunst
In der Kunst bin ich aufdringlich, weil ich sage: Haut ab, geht nach Haus, spielt,
belästigt mich nicht, lasst mich in Ruhe! Das ist Kunst, Distanzschaffungsmaßnahme
ist Kunst, auf Distanz gehen zu dem was nicht Kunst ist. Und Oper ist nicht politisch,
sondern stärker als Politik, das ist wichtig zu wissen, Kunst ist nicht politisch, sondern
stärker als Politik, deshalb muss ja auch Kunst an die Macht. Wir brauchen keinen
Authentizitätsfanatismus, wir brauchen auch keine Identifikation und auch keine
Kreativität. Kreativität ist viel zu langsam, wenn ich in Gefahr bin, muss ich instinktiv
handeln, nicht kreativ.
A 08 Musik, , längere Passage aus Garagenproduktion: Beginn mit ruhigem
melancholisch schrägem Gitarrensolo,
Sprecher über Musik
Das Innere der Operngarage in Pankow ähnelt einem der Kunsträume
Meeses. Ein scheinbares Chaos von Werkzeugen und
Musikinstrumenten, links der alte Mercedes, an den Wänden
Plastikfolien, eine Stativleinwand für Projektionen, ein dickes Knäuel
Schiffstau auf dem Fußboden. Von der Decke baumelt ein ausgebauter
Motor, aus ihm tropft Öl. Wie der Kelch mit dem Blut Christi in Wagners
„Parsifal“ fängt hier eine Plastikschüssel den schwarzen Lebensstoff
des kultisch verehrten und todkranken Autos auf. Und tatsächlich lassen
die Regisseurinnen „Parsifal“ vom Band erklingen, der Schauspieler
spricht dazu.
A08/ 22 O-Ton jetzt freistehend, , der Schauspieler zitiert
Parsifal, hüte Dich vor Klingsohr! Er ist böse. Und er will, dass du auch böse wirst. Er
ist sehr, sehr böse.
Sprecher
Parsifal im Garagenhof? Die Oper als kultureller Steinbruch, aus dem
man sich herausklaubt, was gerade passt? Das Spiel „Die Herzen des
Oktopus“ bewegt sich ständig auf einer Grenze zwischen Ernst und
Slapstick, Passion und Comedy, Inszenierung und Improvisation. Julia
Lwowski und Co-Regisseurin Franziska Kronfoth suchen das Handwerk
der Regie, verwegenes dramaturgisches Denken und ein
Theaterverständnis in der Nachfolge Christoph Schlingensiefs zu
verbinden.
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23 O-Ton Franziska Kronfoth
Das Stück ist in 5 Kapitel gegliedert, die alle einzeln funktionieren, aber die ergeben
alle zusammen eine große Geschichte über ein Ritual von einem Mann und seinem
Auto und eigentlich ist das Ganze eine große Abschiednahme und Zeremonie für so
ein verunglücktes wunderschönes Auto, einen alten silbernen Mercedes aus den
90er Jahren und es hängt in dem Raum ein Motor und der Motor ist gewissermaßen
das Herz des Autos und es geht ganz doll um den Austausch Herz des Menschen,
Herz des Autos, inwiefern verschmilzt der Mensch mit dem Auto, wie kann der eine
über das andere erzählt werden.
24 O-Ton Musik/Text von Performance, Schauspielerin
Das ist ein Oktopus, und wie wir ja alle wissen, der Oktopus hat drei Herzen, für
jedes Glied eins, und darum sind wir hier, um zu verteidigen, dass wir unser eines
Herz nicht aufteilen wollen in der Liebe, nicht zerstückeln, sondern dass wir ganz
viele Herzen ansammeln im Laufe des Lebens, ganz viele, weil da reicht nicht eins.
Und das ist das Herz, packen wir mal aus.
Sprecher über O-Ton Performance
Die Akteure beginnen die Operation am Motor, dem Herzen des
Automobils. Was wie ein Doktorspiel von Kindern anfing, entwickelt sich
zum dramatischen Kampf um das Überleben des Patienten.
A09a O-Ton Musik von Performance, ab 0’27, Wagner, Isolde, bei „todgeweihtes
Haupt“ ausblenden und überblenden in
A09 b Musik Parsifal Ende I. Akt, mit Choreinsatz „Selig im Glauben! Selig in Liebe!“
dann weiter unter Text irgendwann auslaufen lassen
Sprecher 2 über Musik
„Selig im Glauben! Selig in Liebe!“
dann Musik wieder frei, erst dann Meese über Musik
25 O-Ton Wort Meese, Symposion20131025-6„Hier gilt’s der Kunst“ – das ist der Spruch und der gilt auch. Und speziell, dass ich
eingeladen wurde, ist ein gutes Zeichen, weil ich eben kulturlos bin.
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Sprecherin
Jonathan Meese 2013 auf dem Berliner Symposium über Opernregie,
offenbar berauscht von seiner Berufung als Parsifal- Regisseur in
Bayreuth 2016
Ich finde das großartig, also mit Kultur hat das überhaupt nichts zu tun, das sind alles
Liebende, die lieben das, was sie tun, dieser Ort ist so voller Liebe, das können Sie
sich überhaupt nicht vorstellen, jeder Sitz ist voll Liebe, jede Strebe in dem Haus ist
voll Liebe, alles ist Liebe, totale Kunst, und da muss man sich einfach nur hingeben,
es geht ja um Leidenschaft und Hingabe, das ist der einzige Ort, wo überhaupt noch
was passiert, und das merken die Leute auch, und da sind sie sauer, dass ich das
bekommen hab, ohne zu schleimen, kannte die gar nicht, die haben mich gefragt, ich
hab mich nicht beworben, man bewirbt sich nicht in der Kunst, ihr Mickrigen,
Das tut man nicht, das macht man in der Kultur, und dann wird man wegkultiviert,
und das passiert eben in Bayreuth nicht, das ist ein Machtzentrum, da gilt’s nicht der
Politik, die Politik hat keine Chance, da werden alle zu Kindern, selbst Adolf Hitler
wurde zum Kind, in Bayreuth *.. so gut, es ist nie gut genug !!! *.. Mann *.. Merkel ist
zum Kind geworden, alle Politiker werden entpolitisiert in Bayreuth, das ist so, das ist
ein Kraftzentrum … das ist wie ein Zoo *..
A10 Musik von Performance Wagner, Isolde, frei ab „todgeweihtes Herz“, am Ende
hört man im Dialog, dass die OP misslungen ist
Sprecher über A10
Im Pankower Garagen-Projekt ist die Notoperation am offenen Motor, am
offenen Herzen des Oktopus, endgültig misslungen. Die Darstellerinnen
setzen ihre Operations-Gasmasken ab. Traurigkeit beherrscht die Szene.
Es folgt eine der ältesten Arien der Operngeschichte: Claudio
Monteverdis verzweifelte Klage der vom Geliebten verlassenen, des
Lebens müde gewordenen Ariadne.
A 10 Musik Fortsetzung von Performance, Monteverdi, „Lasciate mi morire“,
Sprecher
Am Ende der Opern-Performance findet eine Begräbnisfeier statt, die
Premieren-Zuschauer sitzen in der Garage beim Abendmahl dabei, rituell
betrauern Spieler und Publikum das verstorbene Auto. Was vor einigen
Monaten noch persönlicher Besitz einer Regisseurin war, ein Geschenk
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ihres Vaters, ist mutiert zu einem theatralisch-kultischen Gegenstand.
Ein heiliges Requisit wird verabschiedet.
A 10 Musik hoch, weg
(Akustik Theorie)
Sprecherin
Der Gedanke, Oper jenseits von Film- und Fernsehrealismus, weit
entfernt vom Theater der Identifikation zu betrachten und sie ihrer
Herkunft aus dem Maskenspiel, dem Religiösem, dem Kultischen wieder
anzunähern, taucht in neueren Diskussionen immer wieder auf. Der
Kulturwissenschaftler Navid Kermani geht auf dem Berliner Symposium
noch einen Schritt weiter.
26 O-Ton Navid Kermani, Symposion20131024-1-Kunst_und_Gesellschaft
Wenn man sich die Themen der Wagner-Opern oder auch anderer Opern anschaut,
sind das ja in vielen Fällen, bei Wagner am allermeisten, dezidiert religiöse Stoffe. Im
Kern geht es um Religion, um das Heilige, um Gott, um Erlösung, um all das. Und
was mir aufgefallen ist, jedenfalls in allen Inszenierungen die ich gesehen habe ist,
daß unabhängig von Gelingen oder Misslingen von einzelnen Aufführungen sich
sämtliche Aufführungen vor dieser religiösen Thematik ziemlich stark weggeduckt
haben. Bis in die moderne Zeit hinein, hatten wir Gesellschaften meistens durch die
Religion Möglichkeiten oder Mechanismen, mit denen eine Gesellschaft aus sich
selbst herausgetreten ist, man kann das heute noch in den orthodoxen Ländern
beobachten, etwa in der orthodoxen Messe, dass da jeden Tag fünf, sechs Stunden,
egal ob dort jemand hingeht oder nicht, man eine bestimmte Inszenierung aufführt.
Um des Aufführens willen. Es wird gar kein Publikum gesucht, es wird einfach
gemacht, denn es ist genau dieses Reich der Zweckfreiheit. Und das ist etwas, was
in vormodernen Gesellschaften institutionell eingebaut war, meistens durch die
Religion. In der Moderne hat das in vielen Fällen die Kunst übernommen.
Sprecherin
Oper als Ersatz für kultische Handlung, Ersatz für kollektives religiöses
Erleben? Vielleicht ist es das, was Richard Wagner einst als
Opernrevolution in Bayreuth anstrebte. Die künstlerische Leitung des
Grünen Hügels schien jedenfalls von Jonathan Meeses Radikalität
beeindruckt, als sie ihn mit der Inszenierung des „Parsifal“ beauftragte –
um diesen Auftrag wieder zurück zu ziehen.
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Sprecher 2 Zitat Pressemitteilung
Aufgrund erheblicher Finanzierungsprobleme hinsichtlich der
bühnenbildnerischen und kostümlichen Gesamtausstattung hat die
Leitung der Bayreuther Festspiele GmbH in Abstimmung mit den
Gesellschaftern entschieden, sich von Jonathan Meese zu trennen.
Sprecherin
Zu aufwendig? Zu teuer? Oder fürchtet man vielleicht doch das enfant
terrible, den Bürgerschreck, den gehypten Kunstclown, den PhantasieDiktator der Kunst? Der Meister jedenfalls ist enttäuscht, und seine Liebe
zu Bayreuth schnell erkaltet.
27 O-Ton Jonathan Meese im Herbst 2014, frei gehaltene Rede
(..) das ist der letzte Dreck und die müssen sich selbst bezichtigen und denunzieren,
sie müssen sich bei Richard Wagner entschuldigen für dieses miese intrigante Spiel,
das ist gar kein Spiel, was die mir spielen, das ist nur machterhaltendes
optimiertestes Mittelmaß, das ist die Speerspitze, die Kaderschule der Weltsekte der
Demokratie, durch das Bayreuther Festspielhaus geht der Vollblutdemokrat ein und
aus, der will nur noch vollgepupst werden, der will in seinem Schlaf, in seiner
Ohnmacht nicht mehr gestört werden, dieses widerliche Pack . Ich bin wahrscheinlich
persona non grata, aber ist ja egal, der Parsifal ist von der Bühne von Bayreuth in die
Realität gebracht worden, was denken Sie, was ich schon für Angebote habe, den
Parsifal aufzuführen, das ist Wahnsinn, und es werden immer mehr. Katharina
Wagner was haben Sie gemacht? Sie haben das Geilste verhindern wollen und jetzt
kriegen Sie den totalen Alptraum. Das ist eine Staatsaffäre, das wird diesen Staat
stürzen Mann, das ist der Anfang …
A12 a Musik Macbeth Neuköllner Oper, Ouvertüre
Sprecher
Die Neuköllner Oper gilt in Berlin als „viertes Opernhaus“. Seit mehr als
25 Jahren bemüht man sich um ein Crossover Prinzip, bei dem immer
wieder Genre-Grenzen durchbrochen werden. Ob große Oper in schräger
Sichtweise, unbekannte Operette, ein neugeschriebenes Musical oder
eine Soap-Opera – nur dass gesungen und gespielt werden soll ist
verbindlicher Konsens.
A12 b Musik Macbeth
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Sprecher über Musik
„Macbeth. Nach Verdi“ steht auf dem Plakat und verantwortlich sind –
Julia Lwowski und Franziska Kronfoth, die Garagenperformer. Hier ist
keine Belcanto-Schlacht zu erwarten. Die kleine Studio-Bühne fasst 60
Zuschauer, es agieren 5 Personen: ein Bariton als Macbeth, eine
dramatische Sopranistin als Lady Macbeth. Auch die Co-Regisseurin ist
besetzt, sie spielt wechselnde Rollen und – singt! In die Szene integriert:
eine Musikerin und ein Musiker, an Klavier, Orgel, Akkordeon und
Glockenspiel. Das Budget ist schmal - es zwingt zum Experiment.
A 13 Musik, leichte beinahe heitere „Banda“-Musik
Sprecher , kann über Musik
An der Bühnenwand ein plakatwandgroßes Foto. Bill Clinton mit Hillary,
offenbar in Wahlsieger-Sekt-Laune. Ein Zeichen für Macht und Lust, für
Machtlust. Darüber hinaus gibt es zunächst nichts „Aktualisierendes“;
die Inszenierung, die sich grob an den Ablauf der Macbeth-Geschichte
hält, spielt vor allem mit dem Kanon theatralischer Formen. Immer
wieder changiert das Stück zwischen Splatter und Comedy,
psychologisch genauem Miteinander-Spielen und falschem Pathos.
F03 Foyeratmo Neukölln
28 O-Ton vox pop
28a Mann
Ich bin Opernfan und geh sonst in die klassische Oper, also Deutsche Oper oder
Staatsoper …es ist doch eine große … war ganz anders als ich erwartet hatte. Ich
find es zwiespältig.
28b Mann mit Berliner Zunge
Ich fand das war Schülertheater. Ich denk darüber nach und bin dann vielleicht ein
bißchen gerechter, aber mein erstes Gefühl war, dass ich mich gelangweilt habe und
dass ich das teilweise ärgerlich finde und dann noch mit dieser albernen Verquickung
an einer völlig unpassenden Stelle mit der Ukraine.
A14 Szene + Chor-Quintett
Sprecher
Die „Stelle mit der Ukraine“ spaltet die Lager. Denn mitten im Stück,
erscheint plötzlich eine Videoprojektion: Die Verwandten der
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Regisseurin sitzen in ihrem Wohnzimmer und sprechen ins Telefon über die sehr praktischen Probleme von Menschen im Kriegsalltag.
Aufmerksame - oder der Verdi‘schen Oper kundige - Besucher brachten
diese Szene mit der darauf folgenden musikalischen Nummer
zusammen: Der Chor aus dem vierten Akt der Oper „Macbeth“, „Patria
oppressa!“, „Unterdrückte Heimat“ ist bei Verdi ein Chor schottischer
Kriegsflüchtlinge. Es sind keine Hexen, keine Adligen, keine Soldaten die
hier singen. Es ist das Volk.
am Ende von A14: Musik Quintett „Patria opressa“,
29 O-Ton vox pop, erste junge Frau,
29a Finde ich absolut ok, find ich gut dass man das macht einfach, es ist ja auch
immer wichtig, was will man damit sagen, bei einem alten Stück, was will man damit
in die Gegenwart tragen. Und es auch für die Menschen zu reflektieren dass das
auch immer noch ein Gegenwartsbezug ist, dass diese Blutsucht, dass täglich an
unseren Händen noch Blut klebt.
O-Ton vox pop 3, zweite junge Frau
29b Es gibt schwache Momente, es gibt schwächere Passagen, die sich ein bißchen
ziehen, es gibt aber auch ganz klare Momente die ich superstark finde wo einfach
eine unheimliche Spannung ist, wo was ganz tolles entsteht, vor allem auch
zwischen den Darstellern, wo einfach wirklich eine organische Wahrhaftigkeit
zwischen denen ist.
30 O-Ton Franziska Kronfoth, Macbeth_ Es ist Shakespeare drin weil wir den lieben,
es ist Verdi drin, das ist die Grundlage erstmal, das ist auch eine Liebeserklärung
immer wenn man ein Stück von den Leuten macht. Wir hassen nicht die Sachen, die
wir machen und zertrümmern sie deshalb, sondern es ist eigentlich eine Verbindung
von Elementen die uns was sagen und die wir zusammen mit dem Theater auf eine
neue künstlerische Ebene bringen.
A16 b Musik, Arie der Lady Macbeth
Sprecher
Von vielen Besuchern werden die Intention und die Kraft, die hinter
diesem Theater des Suchens stecken, positiv wahrgenommen. Das
betrifft auch die Mischung von Sprechen und Singen, von laienhaften
und professionellen Stimmen.
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33 O-Ton junge Besucherin
Ich sag einfach eins: Wenn Du weißt, was du erzählen willst, dann kannst du das
auch mit einer ungebildeten Stimme, aber wenn du nicht weißt, wenn du schwimmst
und inhaltlich irgendwie oder klanglich oder was auch immer dann blockiert das, und
dann bleibt das total stecken im Hals, und das macht es auch mit Profisängern
A 17 O-Ton Musik Tosca, „Vissi d’arte“, Akt-2-Tosca_Aufn_offiziell, GP in Berliner
Staatsoper 2014
Sprecher
„Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe“ – so reflektiert die
verzweifelte Tosca in der Staatsoper Berlin im Starbetrieb mit weltweit agierenden Solisten, finanziert durch
staatliche Subventionen von bis zu 250 € pro abendlichem Sitzplatz.
Mit Gagen für die Sänger der Hauptpartien, deren jede einzelne weit über
dem Gesamtetat der Oktopus-Produktion im Garagenhof liegt. Und
einem international gehypten Regisseur, dem Letten Alvis Hermanis, der
vor der Premiere im September 2014 von sich selber sagt
Sprecher 2 Zitat Alvis Hermanis, aus Tip Interview vom 30.9.2014
Ich habe, wenn ich Glück habe, keine Idee. Das ist mein Job. Die Dinge
sollen auf jeden Fall bleiben, so wie sie sind. Man darf nicht stören.(...)
Mein Traum ist es, der altmodischste Regisseur des 21. Jahrhunderts zu
werden.
Sprecher
Die nationale Kulturkritik, Presse und Rundfunk, sind bei dieser
Spielzeiteröffnung in der Hauptstadt natürlich zugegen, doch diesmal ist
man wenig erfreut.
Folgende Zitate mit O-Tönen collageartig überblenden
Sprecher 2/Sprecherin 2 Zitate
Auswahl aus Zeitungskritiken; Tagesspiegel vom 5.10.2014 von Frederik Hanssen (TS); Die Welt vom
5.10.2014 von Manuel Brug (W); Berliner Morgenpost vom 5.10.2014 von Volker Blech (BM)
… Szenisch (..) ist die Aufführung enttäuschend kalt.
Womit Alvis Hermanis und seine Solisten die Probenwochen verbracht
haben, bleibt ihr Geheimnis.
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34c O-Ton Wort DLRadio Kultur, Uwe Friedrich
Da passiert wirklich nichts, das ist unglaublich ermüdend, um nicht zu sagen peinlich
anzusehen, diese Inszenierung ist wirklich auf jeder Ebene rausgeworfenes Geld
Sprecher
Das gutsituierte Charlottenburger Premieren-Publikum kümmert das
wenig, der Beifall ist zwar etwas kürzer als gewöhnlich, aber immer noch
deutlich im wohlwollenden Plus-Bereich. Man will sich die Freude an
diesem gesellschaftlichen Ereignis nicht verderben lassen, man hat viel
Geld dafür bezahlt. Und schließlich geht man in die Oper – der Sänger
wegen.
A 18 Musik letzte Arie Cavaradossi aus Tosca „E lucevan le stelle“
Absage
Vielleicht doch im Garagenhof?
Nachdenken über Opernregie
Sie hörten ein Feature von Stefan Zednik
Es sprachen: Gregor Höppner, Sigrid Burkholder, Wolfgang Rüther und Silvia
Systermanns
Ton und Technik: Michael Morawietz und Oliver Dannert
Regie: Burkhard Reinartz
Redaktion: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015.
Unter Verwendung von Material des Symposiums „Die Zukunft der Oper – Oper
anders denken“ der Kunstuniversität Graz, Leitung: Prof. Dr. Barbara Beyer.
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