Berliner Zeitung - Verlag für Berlin

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Berliner Zeitung · Nummer 279 · Montag, 30. November 2015
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Geschichte
Aufruhr am Landwehrkanal
L E X I K O N
❖
Sein Bau beginnt als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in rebellischer Zeit. Auch heute liefert er Streitpotenzial
rger
tte nbu
l
Charlondungskana
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Humboldthafen
Spree
km 0
Spree
Spreekanal /
Kupfergraben
Spree
km 1
Tiergarten
TIERGARTEN
Unterschleuse
(km 1,67)
1 km
km 2
Brücke
Zoologischer
Garten
RosaLuxemburgSteg
km 3
Landwehrkanal
ehemaliger
Luisenstädtischer
Sp
Kanal
ree
Engelbecken
ehemaliges
Krankenhaus
Bethanien
km 4
Potsdamer
Brücke
MendelssohnBartholdy-Park
km 5
Erzählungen
erlin hat viele Wasserstraßen,
aus Hoffmanns B
und jede hat ihren eigenen Charakter. Die Spree fließt in elegantem
Schwung durch die Machtzentren
Berlin
der deutschen Hauptstadt, vorbei
Möckernbrücke Hallesches Tor
V ON P ETER N EUMANN
Der dichtende Richter und
seine Stadt – ein Führer
V ON M ARITTA T KALEC
W
as müssen das für Zeiten gewesen sein, als sich in Berlin
auf kleinem Raum in wenigen Jahren nach 1800 herum so viele Größen versammelten: Die Humboldts,
Schinkel, Schadow, Tieck, Iffland,
Kleist, Chamisso… Es herrschten
kunstsinnige Preußen-Könige. Goethe und Schiller belieferten die
Theater mit Stücken, die Gesellschaften mit Lese- und Gesprächsstoff. Später noch Heine, Hegel. Und
mitten drin E.T.A. Hoffmann, Dichter, Kammergerichtsrat, Zeichner,
Kompositeur, begnadeter Menschenbeobachter- und beschreiber
des Sichtbaren wie des Verborgenen, Romantiker wie Spötter und
Freund der Genüsse des Lebens.
In diese Berliner Blütezeit hinein
führt Michael Bienert in seinem
Text-Bild-Band „E.T.A. Hoffmanns
Berlin“. Da will man auch mit und
überlässt sich gerne kundiger Führung.
Wir starten im Collegienhaus,
heute Eingangsgebäude des Jüdischen Museums, wo Hoffmann
viele Jahre als Kammergerichtsrat
tätig war und Recht sprach. Wir lesen ein Kapitel Biografie, werden an
die ersten Wohnorte des Zugezogenen geführt – mit Hilfe historischer
Karten lassen sie sich auffinden. Wir
gelangen zum Gendarmenmarkt,
der zum Dreh- und Angelpunkt von
E.T.A. Hoffmanns literarischem wie
gesellschaftlichem Leben wurde.
Dort, wo das Haus stand, in dem er
starb, fließt heute im Restaurant
Lutter&Wegner Sekt, so wie es Hoffmann liebte. Schließlich landen wir
Unter den Linden, den Restaurants,
der Oper, die Hoffmann entzückte.
Der Band ist spannungsreich illustriert. Alte Ansichten stehen neben neuen Fotos, Karten, Architekturskizzen. Doch vor allem sind da
Hoffmanns Zeichnungen selber, voller Witz, Charakterbilder, auch ätzende Satire. Vor E.T.A. Hoffmanns
politischer Incorrectness war keiner
sicher. Die Lektüre – ein Gewinn.
Lesung: Buchhandlung am
Wittenbergplatz, 3. Dezember, 20 Uhr.
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Michael Bienert:
„E.T.A. Hoffmanns Berlin.
Literarische Schauplätze“,
Verlag für BerlinBrandenburg,
176 Seiten, 193 zum Teil
vierfarbige Abbildungen,
24,99 Euro.
an Regierungsbauten, HauptstadtStudios, Lobbyisten-Treffs. Die Havel mit ihren Stränden und Ausflugsdampfern ist ein Freizeitfluss.
Und der Landwehrkanal? Der
zieht sich durch den Berliner Alltag,
vorbei an Mietshäusern, eingerahmt von Hauptstraßen und einer
Hochbahn. Nun wird über seine Zukunft gesprochen, denn das Wasserstraßen-Neubauamt bereitet die Sanierung vor, die von 2020 bis 2030
dauern soll. Doch wer kennt die Vergangenheit? Der Kanal war eine
ABM-Maßnahme. Und Kulisse heftiger Arbeitskämpfe, bei denen es
viele Tote gab. Wer weiß das noch?
Am besten, man fragt Jürgen Karwelat. Der Jurist verdient sein Geld
als Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Ehrenamtlich befasst
sich der 64-Jährige seit mehr als drei
Jahrzehnten mit der Geschichte dieser Wasserstraße, und er lässt Interessierte gern daran teilhaben. Karwelat ist Mitbegründer der „Dampfergruppe“, die zur Berliner Geschichtswerkstatt gehört und von
Mai 2016 an wieder Touren offeriert.
„Damals, 1984, wollten wir eine
alternative historische Stadtrundfahrt anbieten. Aber nicht mit dem
Bus, sondern mit dem Schiff“, erinnert sich Karwelat. Bald war der
Gruppe klar: Für die kommentierten Touren, die eine andere Sicht
vermitteln sollten, schien der Landwehrkanal gut geeignet zu sein. Sogar sehr gut. „Er repräsentiert Gutes
und Schlechtes aus der Berliner Geschichte“, sagt Karwelat. Und zwar
schon zu Beginn, wie sein damaliger
Mitstreiter, der Historiker Manfred
Gailus, aufgeschrieben hat.
„Kartoffelrevolution“ in Berlin
Die Wasserstraße ist Teil des städtebaulichen Konzepts, das Peter Joseph Lenné für das Köpenicker Feld
ausgearbeitet hat. Als der Bau 1845
beginnt, müssen die Arbeiter bis
weit vor die Stadt laufen. Der Maler
Adolph Menzel malt die ländliche
Idylle am damaligen Schafgraben.
Die Kanalarbeiten gehen schleppend voran. Aber das ändert sich
1848, als die Nachrichten von der
französischen
Februarrevolution
nach Berlin dringen. Preußens
Herrscher befürchten, dass es auch
bei ihnen zu Aufstände kommen
könnte. Zu Recht: Jenes Jahrzehnt
heißt in Preußen die „hungrigen
Vierziger“. Vielen Menschen geht es
schlecht, Elend und Arbeitslosigkeit
grassieren. Es gibt Hungerrevolten
wie die Berliner „Kartoffelrevolution“, bei der Läden und Marktstände geplündert werden.
Plötzlich geht alles sehr schnell.
Schon am 9. März 1848 öffnet in
Berlin eine „Arbeits-NachweisungsAnstalt“. Plötzlich gibt es viel öffentliches Geld und jede Menge Jobs –
meist Erdarbeiten, etwa in den Rehbergen im heutigen Wedding, beim
Straßenbau und auf den Kanalbaustellen. „Der Landwehrkanal wurde
eines der Projekte, mit denen Arbeiter von der Revolution abgehalten
werden sollten“, berichtet Karwelat.
Etwas später bietet die Verwaltung auch außerhalb Berlins Beschäftigung an, zum Beispiel an der
weit entfernten Ostbahn. Mehr als
2 000 Berliner nehmen die listige
Möckernbrücke
Kottbusser Tor
km 7
km 6 Mehringbrücke
Schlesisches Tor
KREUZBERG
Prinzenstr.
km 10,73 Osthafen
Görlitzer Bhf.
km 8
Hobrechtbrücke
Bei einer Schießerei gibt es 13 Tote
BPK
Offerte an – und können in Berlin
erst einmal keine Unruhe mehr stiften. Gelockt werden sie mit einer
Anreise im geschlossenen Wagen.
Damals können sich Normalverdiener (wenn überhaupt) nur BahnFahrkarten für offene Wagen leisten.
Doch die Strategie, die Armen
mit relativ gut bezahlten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) ruhig zu stellen, geht nicht immer auf.
„Bei den Rehbergern klappt es zum
Beispiel nicht“, sagt Jürgen Karwelat. „Sie machen trotzdem Krawall.“
„Rehberger“: So heißen die Bauarbeiter, die im heutigen Volkspark
Aushub vom Bau des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals abladen.
Sie gelten als besonders aufmüpfig,
und sie werden schon mal handgreiflich. Auch Arbeiter vom Landwehrkanal lassen es sich nicht nehmen, trotz der täglich 15 Silbergroschen Lohn vom StaatVersammlungen und demokratische Klubs zu
besuchen. Historiker Gailus formu-
MIT TEMPO 6
Der Landwehrkanal ist nicht tief:
zwei Meter. Er ist auch nicht breit:
um die 22 Meter. Bedeutsam ist er
fast nur noch für Ausflugsdampfer.
Es gilt Tempo 6 und Einbahnverkehr
(nur nach Westen). Als Erholungsund Naturraum hat der Kanal, den
mehr als drei Dutzend Brücken und
Stege kreuzen, große Bedeutung.
Am 15. Januar 1919 werfen Freikorps-Leute nahe der Lichtensteinbrücke am Zoo die Leiche der Politikerin Rosa Luxemburg in den Kanal.
Nach 26 Jahren erreicht die Berliner Geschichtswerkstatt, dass ein
Teil der Brücke 2012 in RosaLuxemburg-Steg benannt wird.
Vor dem heutigen Technikmuseum
zünden Unbekannte Anfang Mai
1945 eine Sprengladung. Der NordSüd-Tunnel der S-Bahn, der dort
kreuzt, läuft mit Kanalwasser voll.
AUS DEM BUCH LANDGANG IN BERLIN (BERLINER GESCHICHTSWERKSTATT)
Schießerei vor dem Krankenhaus Bethanien: Die Bürgerwehr kämpft gegen Arbeiter.
Oberschleuse
(km10,57)
km 9
liert es so: „Die große Mehrzahl der
Berliner Erdarbeiter – eigentlich:
der Berliner Arbeitslosen – nahm
das obrigkeitliche gewährte Butterbrot dankbar entgegen, ohne deshalb auf Rebellion zu verzichten.“
Der Urbanhafen 1894, ein zentraler Teil des Landwehrkanals
Görlitzer
Brücke
Görlitzer
Park
Urbanhafen
Admiralbrücke
LANDWEHR
Als Landwehr, auch Landhege,
wird seit dem Mittelalter eine vor
der Stadt liegende Feldbefestigung bezeichnet. Siedlungen
wollten durch deren Errichtung
die Äcker, Weiden und Wälder der
Umgebung gegen kriegerische
Einfälle, Nachbarschaftsfehden,
Raub und Plünderungen schützen. Die Einfriedung ganzer Territorien brachte vielerorts Hunderte Kilometer lange Bauwerke
hervor – Gräben, Wälle, dichte
Hecken. Vor allem an Handelswegen gab es Durchlässe und Zollstationen, wo Straßenmaut erhoben werden konnte. Die Bezeichnung Landhege verweist auf die
einfachste und häufigste mittelalterliche Schutzanlage: Hecken
(Heegen oder Hagen) aus mitein-
Der Staat reagiert. Er beginnt damit,
die Arbeiterschaft zu spalten. Vom
13. Mai 1848 an gibt es keinen Zeitlohn mehr, es wird nach Leistung
abgerechnet. Arbeiter, die vorher
schon auf Baustellen tätig waren,
sind für den Akkordlohn, weil sie
sich davon mehr Geld versprechen.
Doch wer neu auf dem Bau ist, befürchtet Lohnsenkungen – zu Recht.
Auf den Baustellen am künftigen
Landwehrkanal wird die Stimmung
immer schlechter. Um bei Schachtarbeiten eine Pumpe anzutreiben,
lässt der Magistrat erstmals eine
Dampfmaschine aufstellen. Bauleute verlangen, dass sie wieder abgebaut wird, weil sie ihnen Arbeit
wegnehme. Kurz darauf greifen einige von ihnen zur Selbsthilfe und
beschädigen die Maschine. Der
Schaden: 1 800 Taler – viel Geld.
Bürgerwehr und Polizei rücken
an. Als am 16. Oktober 1848 hundert Arbeiter entlassen werden sollen, weil Preußens Innenminister
Franz August Eichmann ein Exempel statuieren will, eskaliert der
Streit blutig. Vor dem Krankenhaus
Bethanien, nahe am Kanal, schießt
die Bürgerwehr auf die Arbeiter.
Zwölf von ihnen und ein Bürgerwehrmann sterben. Später werden
Läden geplündert, eine Polizeiwache wird gestürmt. Doch der Aufstand wird zerschlagen, wie Monate zuvor die Märzrevolution. Arbeiter werden verurteilt, Löhne gekürzt,
noch
mehr
Arbeiter
entlassen. Am 2. September 1850
öffnet der „Landwehrkanal bei Berlin“. Kaum ein Berliner interessiert
sich dafür, denn er führt immer
noch durch unbebautes Gebiet.
Das hat sich seitdem geändert.
Der 10,7 Kilometer lange Kanal,
auf dem anfangs Ziegel für die
Mietshäuser und später Lebensmittel für die Bewohner herangeschafft
wurden, hat für den Güterschiffsverkehr längst keine Bedeutung
mehr. Doch er ist immer noch ein
Ort, an dem sich Streit entzündet.
Als das Wasser- und Schifffahrtsamt 2007 Bäume fällen lässt, protestieren Kreuzberger. Den Anwohnern gelingt es, die Fällungen zu
verhindern, der Amtsleiter wird versetzt. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass der Bund nun 68 Millionen Euro für die Sanierung eines
Kanals einplant, der fast nur noch
Erholungswert hat. „Die Bürger
haben ihn gerettet“, sagt Rolf Dietrich vom Wasserstraßen-Neubauamt. „Ihr Engagement kann man
nicht hoch genug einschätzen.“
Wer weiß, vielleicht wäre der
Landwehrkanal sonst stillgelegt und
zugeschüttet worden. Wie nebenan
ab 1926 der Luisenstädtische Kanal
in Kreuzberg, der heute nur noch
eine verlotterte Grünanlage ist.
km 10
ander verflochtenen Hainbuchen
(Gebück), Brombeer- und/oder
Rosengestrüpp (Gedörn), die
selbst für wilde Tiere (Wölfe) undurchdringlich waren. Viele
Landwehren bestanden aus trockenen oder Wassergräben, oft
mit heckenbepflanztem Wall
kombiniert. Die meisten taugten
nicht wirklich zur Verteidigung,
aber als Grenzmarkierung und
zur Kanalisierung der Handelswege behielten sie lange ihre
Funktion und wurden von Städten gepflegt (Hege). (mtk.)
W A S
W A N N
❖
W O
VORTRAG Verbotener Untergrund – Eine ganz neue Dimension der Berliner Mauer. Niko
Rollmann, Historiker, berichtet
von versperrten Kellern und Tunneln, von Geisterbahnhöfen,
Fluchttunneln und der „Operation UTA“ des MfS. Mit Bildern.
Berlin-Saal der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite
Straße 36, Mittwoch, 9. 12. 2015,
19 Uhr, Gesellschaft der Freunde
der Geschichte Berlins. ServiceTelefon: 90 22 64 01
PODIUM Ideen zur Entwicklung
der Stadtmitte von Berlin – Vom
Alex zum Humboldtforum. Die
Ergebnisse der Bürgerdebatte
über die Gestaltung des Freiraums, der auch Marx-Engels-Forum, Marienkirche und RathausForum umfasst, sind seit Sonnabend bekannt. Die Debatte geht
weiter: In der Urania diskutieren
am Montag, 30. 11. 2015, Architekten, Stadtplaner und Politiker.
Beginn 19.30 Uhr, Eintritt frei
W E I H N A C H T E N
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Liebe Leserin, lieber Leser!
Weihnachten vor 70 Jahren
war das erste Fest nach dem Ende
des Krieges. Berlin lag in Trümmern,
die Menschen hungerten.
Wie feierten sie Weihnachten?
Was wünschten sie sich? Was gab es
zum Fest zu essen? Gab es einen
Weihnachtsbaum? Was hing daran?
Welche Geschenke lagen darunter?
Wir wollen mit Ihrer Hilfe an die privaten Momente erinnern. Welche
Kindheitserinnerungen haben Sie?
Was haben Ihre Eltern und Großeltern über jene Tage erzählt? Vielleicht haben Sie sogar Fotografien.
Bitte schreiben Sie uns
Ihre Geschichte. Ihre Redaktion
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