Interview mit Frank Röller - frank

Interview zu der Neuerscheinung
„Rituale im Sport – der Kult der RELIGIO ATHLETAE“
Reporter: Herr Röller, Sie haben ein Buch geschrieben mit dem recht umfangreichen
Titel: „Rituale im Sport – der Kult der RELIGIO ATHLETAE“. Was haben wir uns denn
unter der RELIGIO ATHLETAE vorzustellen?
Röller: Nun, der lateinische Terminus RELIGIO ATHLETAE, zu deutsch „die Religion der
Athleten“,
wurde
von
Pierre
de
Coubertin
geprägt,
dem
Wiederbegründer
der
Olympischen Spiele der Neuzeit. Coubertin wollte diese neuzeitlichen Olympischen Spiele,
die ja bekannter Weise zum ersten Mal 1896 in Athen stattfanden, in der Tradition der
antiken Olympischen Spiele fortführen und dabei auch an die kultischen Ursprünge der
antiken Spiele anknüpfen. Coubertin fasste diese Idee im Jahre 1935 in einer
Rundfunkansprache wie folgt zusammen: „Das erste und wesentliche Merkmal des alten
wie des neuen Olympismus ist: eine Religion zu sein.“
Reporter: Aha. Dann untersuchen Sie also in Ihrem Buch, inwieweit die Olympischen
Spiele eine Religion darstellen.
Röller: Das ist richtig, allerdings nimmt der Themenkomplex „Olympische Spiele“
lediglich einen kleineren Teil des Gesamtwerkes in Anspruch. Ich habe den plakativen
Latinismus „RELIGIO ATHLETAE“ in dem Titel benutzt, um damit das gesamte weite Feld
der Sportreligion abzustecken. Ich habe untersucht, in welchen Teilbereichen des
umfassenden Kulturphänomens „Sport“ religiöse bzw. religionsanaloge Phänomene
auftreten. Bei dieser Fragestellung stößt man dann selbstverständlich zuerst einmal auf
Coubertins Olympische Idee. Doch parallel zu den modernen Olympischen Spielen, die
stark mit dem angelsächsischen „Sport“ verknüpft sind, existierte in Deutschland das
Turnertum, dessen geistiger Vater Friedrich Ludwig Jahn in gewisser Hinsicht eine Art
charismatische Vaterfigur darstellte und seine Turner zu einer eingeschworenen
Gemeinschaft, einer Gemeinde in gewisser Hinsicht, zusammenschloss. Auch diesen
Merkwürdigkeiten ist ein Kapitel in meinem Buch gewidmet. Doch wer das Verhalten
vieler Sportler um die eigentlichen Wettkampfhandlungen herum beobachtet, wird eine
Fülle an dem religiösen Bereich entlehnte Gesten und Ritualen beobachten können, vom
einfachen Sich-Bekreuzigen über teils recht theatralisch inszenierte Gebetszeremonien
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bis hin zu im Kollektiv zelebrierten Beschwörungsritualen. Von der Vielfalt und Fülle der
mitgebrachten Amulette, Talismane und Maskottchen einmal ganz zu schweigen.
Reporter: Beim Stichwort „Maskottchen“ fällt mir ganz spontan der Geißbock „Hennes“
vom 1. FC Köln ein. Und wenn wir jetzt schon einmal beim Fußball sind, schauen Sie sich
doch nur einmal die Sportzuschauer an, speziell die Fußballfans. Die singen doch zum Teil
wahre Hymnen und Choräle in den Stadien und das oftmals in einer Inbrunst, wie man
sich es in den Kirchen manchmal wünschen würde. Ist das auch Thema in Ihrem Buch?
Röller: Sie haben mit dem Fanverhalten einen Bereich angesprochen, der in meinem
Buch mit Abstand den größten Raum einnimmt. Die Fankultur ist mit Sicherheit eines der
schillerndsten Phänomene im Gesamtbereich des Sports. Und hier sind auch die meisten
religionsähnlichen Elemente und Rituale auszumachen: Die Gesänge und die kollektiven
Sprechchöre, die nicht selten an ein liturgisches Responsorium erinnern, haben Sie eben
erwähnt. Das ist allerdings nur ein Element, es treten hier noch viel mehr interessante
Verhaltensweisen und Erscheinungsformen hinzu: Schauen Sie sich nur einmal die
Kleidung der Fans an, das ist eine echte Ritualkleidung, nicht umsonst spricht man
ähnlich wie im monastischen Umfeld auch hier von Kutten. Doch es wäre wohl vermessen
und unsachlich, eine Hochreligion wie das Christentum als Vergleichsmaßstab hier
heranziehen zu wollen. Dafür fehlen der Fankultur mit Sicherheit die metaphysischen und
spirituellen Grundlagen. Ich habe bewusst im Buchtitel die Begriffe „Rituale“ und „Kult“
verwendet: Es geht mir in meiner Abhandlung vordergründig um die Beschreibung und
die Analyse der Phänomene, also um all das, was äußerlich wahrnehmbar in Erscheinung
tritt. Und hierbei fallen die Gesichtsbemalungen und Tätowierungen, die Verkleidungen
und Masken, die Klatschrhythmen und Tänze auf.
Reporter: Stimmt, all das macht die Welt der Fans so schön laut, bunt und schrill. Doch
was hat das nun mit „Religion“ zu tun?
Röller: Jede Religion äußert sich zunächst einmal in ihren praktizierten Ritualen und
Kulten und wird durch die Beschreibung und Deutung derselben phänomenologisch
fassbar. Es ist mitnichten nur dasjenige echte Religiosität, was sich in einem
Hochgottglauben äußert, wie er etwa in unserem traditionellen abendländischen
Kulturkreis vorwiegend auftritt. Nein, aus der religionswissenschaftlichen Sichtweise oder
aus
der
Perspektive
Religionssysteme
der
vergleichenden
heranziehen,
die
man
Völkerkunde
heraus
umgangssprachlich
können
mit
wir
auch
Natur-
oder
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Stammesreligion
bezeichnet
und
in
der
wissenschaftlichen
Terminologie
mit
Schamanismus, Dynamismus oder auch Animismus zu erfassen versucht. In diesem
Stadium der Religion wird an eine diffuse, in allen Dingen wirkende Macht geglaubt, die
durchaus auch mit den Seelenkräften der Menschen in wechselseitige Wirkung treten und
sich so in enthusiastischen oder ekstatischen, tranceähnlichen Verhaltensmustern äußern
kann. Das ist natürlich jetzt alles grob vereinfacht formuliert. Ich könnte auch mit C.G.
Jung sagen, hier brechen sich archetypische Verhaltensweisen Bahn.
Reporter: In Ihrem Buch gehen Sie in den ersten Kapiteln ausführlich auf diese Theorien
und
religiösen
wissenschaftliche
Systeme
ein
Gliederung,
und
schaffen
worauf
Sie
zunächst
dann
einmal
die
so
eine
vielfältigen
genaue
rituellen
Erscheinungsformen beim Stamm der Sportanhänger und -fans beziehen.
Röller: Richtig. Denn was mir bei meiner umfassenden Literaturrecherche aufgefallen ist,
war, dass alle Autoren, die aus dem Bereich der Sportwissenschaft heraus das Thema
„Sport und Religion“ angegangen sind, diese religionswissenschaftliche Grundlage und
somit auch die m.E. notwendige begriffliche und inhaltliche Trennschärfe weitestgehend
vermissen ließen. Und umgekehrt sind sich offensichtlich die Religionswissenschaftler zu
schade, in die nur allzu irdischen bis proletarischen Niederungen der gemeinen
Sportkultur hinab zu steigen.
Reporter: Und Sie persönlich sind sich offensichtlich hierzu nicht zu schade gewesen.
Röller: Mit Verlaub, Herr Kamps, dies ist ja nur mein persönlicher Eindruck und somit
vielleicht auch eine Unterstellung. Und außerdem wäre es ja vermessen, mich selbst als
Wissenschaftler zu bezeichnen, wenngleich ich zum Zeitpunkt des Verfassens dieses
Buches wissenschaftlich sehr exakt gearbeitet habe. Ich glaube behaupten zu dürfen,
dass meine Literaturrecherche annähernd vollständig gewesen ist. Und außerdem denke
ich, dass meine eigenen Schlussfolgerungen in mancher Hinsicht originär sind und ich
somit ein kleines Stück Pionierarbeit geleistet habe. Und was die Sportkultur und deren
Niederungen betrifft, so bekenne ich mich ja selber dazu, denn ich bin selbst Sportler.
Und außerdem bin ich Lehrer.
Reporter: So, so. Doch Spaß beiseite, kehren wir nochmals zurück zu den Sportfans,
speziell zu den Fußballfans, die ja bei uns aufgrund der großen Popularität dieses
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Mannschaftsspiels ein Paradebeispiel darstellen. Wollten Sie vorhin nicht eine Verbindung
zu so genannten Naturreligionen herstellen?
Röller: Jawohl, diesen Vergleich habe ich in meinem Buch gezogen und diesen
Zusammenhang umfassend entfaltet. Darauf will ich an dieser Stelle allerdings nicht
näher eingehen, das würde den Rahmen dieses Gespräches sprengen. Lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang jedoch noch einen weiteren Aspekt hinzufügen: Jenseits dieser
vom Dynamismus oder Schamanismus gespeisten Archetypen, die zum Teil aus dem
Unbewussten hervorbrechen, weist ein Großteil der Sportzuschauer auch noch in einer
anderen Hinsicht echte Religiosität auf, und zwar eine Religiosität in ihrer reinsten und
tiefsten Ausprägung: Dies ist dann der Fall, wenn den Fans ihre Sportart oder ihr
Sportclub zur Religion geworden ist und die Sportler selbst für ihre Fans zu Helden oder
Idolen aufgestiegen sind. Ja, sie können sogar als Götter verehrt werden und
dementsprechend wird ihnen Huldigung bis hin zur Anbetung entgegengebracht. Viele
wundersame und zugleich überzeugende Beispiele habe ich in Wort und Bild in meinem
Buch aufgeführt.
Reporter: Welche Schlussfolgerung ziehen Sie nun in Ihrem Buch hinsichtlich der
Sportreligion, der RELIGIO ATHLETAE?
Röller: Nun, ich ziehe eine sehr differenzierte Bilanz. Ich unterscheide zunächst bei
meiner Beurteilung zwischen den eingangs genannten Bereichen Sportlerverhalten,
Fankultur, Olympismus und Deutsches Turnertum. Sehen Sie es mir bitte nach, dass ich
an dieser Stelle nicht schon alles verraten möchte. Außerdem würde es diesem
komplexen und vielschichtigen Gegenstandkomplex „Sport und Religion“ kaum gerecht
werden, ein eindimensionales Fazit in diesem kurzen Interview zu ziehen. Das Risiko
einer reduktionistischen Engführung scheint mir doch zu groß zu sein, nicht umsonst
habe ich mich in meinem Buch 416 Seiten lang über dieses spannende Thema
ausgelassen. Aber lassen Sie mich so viel zusammenfassend sagen: Turnvater Jahn war
eine – vorsichtig ausgedrückt – eher schwer zu fassende Persönlichkeit, von einer fast
wahnhaften Idee besessen, die er in ein nationalromantisches Gewand kleidete mit
teilweise nordisch-naturreligiösen Zügen. Geleitet wurde er allerdings von starken
antifranzösischen Ressentiments. Und was Pierre de Coubertin betrifft, nun ja, er war
seinerseits ebenfalls ein Nationalist, ein französischer eben. Befragen Sie zeitgenössische
Olympioniken, inwieweit sie sich im Sinne Coubertins als „Priester im Dienste der
Muskelkraft“ verstehen bzw. ob sie überhaupt von diesem hehren Auftrag, den sie
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erfüllen sollen, jemals etwas vernommen haben. Auf der anderen Seite allerdings
verpflichten sich die Sportler mittels eines Schwurs an die Fairness. Olympische Spiele
sind
zudem
menschheitsumfassende
Hochfeste
in
regelmäßig
wiederkehrendem
Rhythmus, und die Feiern sind angereichert mit symbolträchtigen Elementen wie z.B.
Feuer, Hymnen, Dramen und vieles mehr. Eine eindimensionale Antwort ist auch hier
nicht angemessen.
Reporter: Aha, ich sehe schon, man kommt nicht umhin, Ihr Buch auch zu lesen. Doch
wie interpretieren Sie nun die Rituale der Sportler?
Röller: Die Rituale der Athleten selber, schauen Sie, diese besitzen ja zumeist entweder
einen zwanghaften Charakter, wie etwa: „Ich muss mein Trikot immer wieder an den
gleichen Kabinenhaken hängen, sonst bringt das Unglück“. Oder aber die Sportler wollen
mittels der Rituale oder der Talismane bzw. Amulette den Erfolg aktiv heraufbeschwören
und die Niederlage bzw. den Gegner bannen. Prometheus holte sich das Feuer selber von
den Göttern auf die Erde herunter, doch das Volk Israel ließ sich von Jahwe aus der
Wüste ins gelobte Land führen, das Manna fiel vom Himmel herab.
Reporter: Was wollen Sie damit sagen?
Röller: Lesen Sie selbst.
Reporter: Und ist nun Ihrer Ansicht nach die Fankultur eine echte Religion?
Röller: Diese Frage habe ich unterschwellig vorhin schon beantwortet. Die Antwort
hierauf ist selbstverständlich abhängig davon, wie man echte Religion definiert und was
man als solche gelten lässt. Aus der Sicht eines christlichen Theologen, der seine eigene
Religion, zu der er sich selbst bekennt, von innen heraus beleuchtet, wäre die
Anerkennung dieser Art von Religion, wie sie die Fankultur nach meiner Hypothese
darstellt, natürlich mehr als problematisch. Aus Sicht eines Religionswissenschaftlers –
ähem, zur Erinnerung, ich bin Lehrer – der bemüht ist, eine neutrale Perspektive
einzunehmen und somit den zu untersuchenden Gegenstand von außen betrachtet, kann
das Ergebnis sehr wohl anders ausfallen. Ich selber verorte mich eher auf letzteren
Standpunkt.
Reporter: Darf ich als Vorletztes noch eine sehr persönliche Frage stellen?
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Röller: Natürlich dürfen Sie eine solche Frage stellen, Herr Kamps. Nur ich entscheide
selbst, ob ich sie beantworten werde.
Reporter: Nun denn. Glauben Sie persönlich an Gott?
Röller: Sie wollen doch nicht noch ein zweites Interview mit mir abdrucken? Um hierauf
eine dezidierte Antwort zu geben, die der Würde Gottes und meiner heimlichen
Beziehung zu ihm auch nur annähernd gerecht werden soll, würden wahrscheinlich selbst
416 Seiten nicht ausreichen. Und wie lautet ihre letzte Frage an mich?
Reporter: Hat Ihr Buch denn auch irgend einen praktischen Nutzen?
Röller: Ob mein Buch einen praktischen Nutzen aufweist, weiß ich nicht. Vielleicht werde
ich jetzt berühmt. Ach nein, das werde ich bestimmt nicht, dafür müsste ich schon ein
Torwarttitan oder ein Poptitan sein und eine Autobiografie schreiben oder vielmehr
schreiben lassen. Reich werde ich sicher auch nicht damit, dafür war das Projekt doch
zunächst einmal ziemlich teuer. Obwohl, Herr Kamps, ich traue Ihnen zu, dieses
Interview so groß raus zu bringen, dass mein Buch ein Bestseller wird. Aber darüber
kann ich Sie dann frühestens bei unserem nächsten Gespräch informieren. Ich kann
Ihnen an dieser Stelle allenthalben sagen, welchen praktischen Nutzen ich mit diesem
Buch intendiert habe. Da es ja bekanntlich nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie,
so
möchte
ich
Folgendes
prophezeien:
Durch
mein
Buch
wird
die
religionswissenschaftliche Deutungsweise des Sports vielleicht aus ihrem Schattendasein
etwas heraustreten, sicherlich wird mein Buch neue Denkanstöße liefern. Aber das wäre
ja auch noch nichts Praktisches, wohl allerdings Folgendes: Wird eine Form der
Religiosität, die zwar für viele von uns schon lange Geschichte ist, wie sie in den
Sportstadien aber auftritt, wieder neu entdeckt und bewusst wahrgenommen, so kann
dies auch große Chancen bieten: Der heutige Mensch kann diese Art von dynamistischer
Religiosität als Teil seiner eigenen Geschichte und somit als Teil seines eigenen
Menschseins wieder neu verstehen lernen, obwohl oder gerade weil sie ihm keine
existentielle Notwendigkeit für sein Dasein mehr darstellt. Sie kann, wenn sie in vollem
Bewusstsein dieser großartigen, wieder entdeckten Möglichkeiten gelebt wird, für die
Menschen in unserer, mit Max Weber gesprochen, „entzauberten“ Welt eine bedeutende
Bereicherung bieten. Dies wäre ein immenser Nutzen für alle am Sport beteiligten
Menschen. Und was den Nutzen für den Sport selber anlangt, so möchte ich an dieser
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Stelle anmerken: Wir kommen der religiösen Dimension des Sports sehr nah, wenn er als
Spiel
verstanden
wird,
und
zwar
als
freies,
zweckfreies
und
ungezwungenes
Menschenspiel im Sinne Schillers, Huizingas und Rahners. Hierin, durch die im
spielerischen Rahmen erfahrenen Magien und machtvollen Kräfte des Lebendigen erfährt
der zivilisierte Mensch eine längst vergessene, aber wieder gefundene Dimension von
Freude und Glück. Vielleicht gelingt es mir, dem Sport und gerade dem Leistungssport in
seiner derzeitigen Krise einen kleinen Dienst zu erweisen.
Reporter: Herr Röller, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Röller: Bitte schön. Es war mir ein Vergnügen.
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