Der Ukraine-Konflikt – die Bewährungsprobe für die europäische

Am 20. Januar 2016 als Meinungsbeitrag in der Zeitung L‘Echo auf Französisch veröffentlicht:
Der Ukraine-Konflikt – die Bewährungsprobe für die europäische
Sicherheitsordnung
von Rüdiger Lüdeking, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Königreich Belgien
Europa erlebt stürmische Zeiten. Vor allem die Flüchtlingskrise wie auch die Schuldenkrise haben im
ablaufenden Jahr die Europäische Union vor große Herausforderungen gestellt. Der Ukraine-Konflikt
ist in letzter Zeit demgegenüber in den Medien etwas in den Hintergrund getreten. Dies sollte jedoch
nicht den Blick dafür verstellen, dass dieser seit zwei Jahren andauernde Konflikt eine schwere
Belastungsprobe für die nach dem Ende des Kalten Krieges geschaffene europäische
Friedensordnung ist. Vor 25 Jahren wurde im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in der Charta von Paris die Überwindung der Blockkonfrontation in
Europa besiegelt und ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Freiheit eingeläutet.
Die damals begründete europäische Friedensordnung ist durch den Ukraine-Konflikt in Frage gestellt
worden. Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland wurde ein grundlegendes
Prinzip der europäischen Friedensordnung – nämlich die Unverletzlichkeit der Grenzen – gebrochen.
Auch dürfen wir uns nicht damit abfinden, dass mit der Ukraine-Krise militärisch-kriegerische
Auseinandersetzungen nach Europa zurückgekehrt sind.
Der Ukraine-Konflikt hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die
1992 aus der KSZE hervorgegangen ist, wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es hat
sich gezeigt, dass die OSZE, die seit ca. 15 Jahren ein weitgehendes Schattendasein geführt hat, heute
unverändert gebraucht wird. Sie stellt den Modellfall für die Gestaltung einer internationalen
Friedensordnung auf der Grundlage gleichberechtigter Zusammenarbeit, gemeinsamer Werte und
des Aufbaus von Vertrauen dar. Sie hat sich trotz des Bruchs ihr zugrunde liegender Prinzipien und
des erheblichen Vertrauensverlustes im Gefolge der Ukraine-Krise als handlungsfähig erwiesen. So
überwacht beispielsweise heute eine innerhalb kürzester Zeit aufgestellte OSZE-Beobachtermission
die Einhaltung des vom sog. Normandie-Format in Minsk im Februar 2015 ausgehandelten
Waffenstillstands. Gleichzeitig hat aber auch die Ukraine-Krise die Grenzen der OSZE aufgezeigt. Die
dem Konsens verpflichtete OSZE kann nur dann wirksam ihr Mandat erfüllen, wenn alle
Teilnehmerstaaten zur Zusammenarbeit bereit sind.
In der aktuell schwierigen Situation übernimmt Deutschland ab dem 1. Januar für ein Jahr den Vorsitz
der OSZE. Es tut das in dem Bewusstsein, wie viel für die europäische Sicherheit auf dem Spiel steht
und wie schwer es sein wird, substanzielle Ergebnisse zu erreichen und den zentralen Prinzipien
wieder Geltung zu verschaffen. Im Kern geht es zunächst darum, den Geist der Helsinki-Schlussakte
von 1975 und der Charta von Paris von 1990 wieder zu beleben: Kooperation muss an die Stelle von
Konfrontation treten, Dialog muss Sprachlosigkeit ersetzen. Wir dürfen uns nicht abschotten,
sondern müssen versuchen, Vertrauen schrittweise wieder aufzubauen. Entsprechend werden 2016
auch drei Kernbereiche einen Schwerpunkt des deutschen OSZE-Vorsitzes bilden:
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Krisenreaktion: Die OSZE muss früher, entschiedener und substanzieller auf Krisen reagieren
können.
Vertrauensbildung: Hierzu gehört vor allem auch die Modernisierung des
rüstungskontrollpolitischen Instrumentariums der OSZE, mit dessen Hilfe auch Krisen besser
verhindert werden können.
die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung: Nach dem Bruch geltender OSZEPrinzipien ist auszuloten, wie wir europäische Sicherheit künftig gemeinsam gestalten
wollen.
Die OSZE ist und bleibt ein zentrales Instrument der Konfliktverhütung und Konfliktlösung in Europa.
Als inklusive kollektive Sicherheitsorganisation ist es ihr Kernzweck, die Androhung und die
Anwendung von Gewalt zu verhindern und die bestehenden Sicherheitsprobleme allein im Wege der
Zusammenarbeit und gemeinsam formulierter Grundsätze zu lösen.
Deutschland ist entschlossen, trotz schwieriger Rahmenbedingungen Verantwortung zu übernehmen
und dazu beizutragen, dass die OSZE wieder ihren Beitrag für eine friedliche Zukunft Europas leisten
kann. Gerade angesichts der vielfältigen globalen Sicherheitsherausforderungen muss die OSZE
wieder einen zentralen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen. Eine Spaltung
Europas und der Rückfall in eine Konfrontation zwischen Ost und West wie zu Zeiten des Kalten
Krieges dürfen keine Optionen sein.