Seite 1 von 17 ________________________ Hessischer Rundfunk hr-iNFO Redaktion: Heike Ließmann Wissenswert Wie erlebt ein Flüchtling Deutschland – Stationen des Ankommens von Riccardo Mastrocola Sprecher: Riccardo Mastrocola Sendung: 06.06.15, hr-iNFO Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 von 17 Musik-> O-Ton Overvoice: ital. Fernsehen: Guten Morgen, Extraausgabe der Nachrichten im Ersten, wir haben Neues für sie über den Alptraum, der sich vor der Küste von Lampedusa ereignet… Weitere News auf Deutsch: Auf der griechischen Halbinsel Rhodos sind nach Angaben der Küstenwache 90 Flüchtlinge gestrandet. Das Holzschiff war vor der Küste auf einen Felsen geprallt und gesunken… An der bulgarischen Grenze zu Serbien sind die Leichen von 4 Flüchtlingen entdeckt worden. Polizeiangaben zufolge handelt es sich um Menschen aus Syrien und dem Irak. Ansturm auf die Bastion Europa, afrikanische Flüchtlinge erreichen ein Aufnahmelager im spanischen Melilla (für viele das Ende eine jahrelangen Odyssee…) Sprecher: Wer in Europa ankommt, hat sein nacktes Leben im Gepäck. Und was auch immer noch geschehen mag: Für die meisten ist die ungewisse Zukunft als Flüchtling in Europa doch die größte Chance ihres Lebens. Sie wissen auch: Diese Chance wird größer, je weiter sie nach Norden kommen. Nach Frankreich, Deutschland oder Schweden… mit Hilfe von Schleusern, in Kofferräumen, in Kleinbussen oder in Fernzügen. Die Bahnhöfe von Mailand, Wien oder München sind auch FlüchtlingsDrehkreuze. Frankfurt gehört ebenfalls dazu. ATMO Bahnhof Seite 3 von 17 Sprecher: Hauptbahnhof Frankfurt, Gleis 24. Der Eingang zur Polizeiwache im Bahnhof ist unauffällig. Draußen eine Klingel, eine kleine Kamera. Dann ein Surren und die Tür öffnet sich. Drinnen: Niedrige Decken, ein Gefühl von Enge. Links ein paar uniformierte Beamte, die sich unterhalten. Rechts auf einer Sitzbank drei Männer mit dunkler Hautfarbe und müden aber wachsamen Augen. Eine Treppe darüber, im ersten Stockwerk der Polizeiwache wartet Dienstgruppenleiter Mathias Wolf auf mich. Sein Büro ist ein schmaler Schlauch - auf dem fast leeren Tisch stehen ein Computer und ein Telefon. O-Ton Wolf: Also es ist oft so, dass sie hierkommen und selber klingeln. Oder dass sie Bahnhofsmitarbeiter ansprechen und dann hergebracht werden. Oder eine Streife von uns draußen sind und wir dann informiert werden und sie dann entsprechend herbringen… Sprecher: Flüchtlinge suchen aktiv den Kontakt zu Beamten, das ist die Regel, betont Mathias Wolf. Sie wollen sich hier offiziell als Asylsuchende outen. Aber zuerst sind die Polizisten dran, stellen ihrerseits viele Fragen: nach Papieren, nach Namen, nach genauer Herkunft, nach den Fluchtwegen, nach Schleusern. Konkrete Antworten gibt es aber selten. O-Ton Wolf: Oft kommen sie her mit der Aussage: „Ohne Dokumente“. Ja wo sind die? Ja, sie hätten keine. Es ist mittlerweile so, dass man wenig Antworten kriegt. Man kriegt noch ganz grob gesagt: AFG, Irak, Türkei, Griechenland und hierher. … Wer so ein bisschen mit dem Finger auf die Landkarte schaut, weiß, dass dazwischen noch andere Länder sind. Man stellt sich dann die Frage: Dürfen sie es nicht Seite 4 von 17 sagen, wie auch immer. Der Weg ist ja ein längerer. Da sind Seewege dazwischen. Andere Länder. Wie sind sie gekommen, Fahrzeug, irgendwo hinten im Kofferraum, wie auch immer. Nachvollziehbar ist das in den wenigsten Fällen. Sprecher: Der Bundespolizist Matthias Wolf kennt nur die, die mit dem Zug hier ankommen: Züge aus Paris, aus Basel oder aus Wien. Im Schnitt kommen sieben bis acht Flüchtlinge pro Tag…. schon fast 1.000 Flüchtlinge haben von Januar bis Mai 2015 diese Polizeiwache von innen gesehen - Nach ein paar Stunden auf der Wache bekommen sie das erste gestempelte deutsche Papier in die Hand gedrückt: O-Ton Wolf: Ne Anlaufbescheinigung, ein Din A4 Blatt, wo drauf steht, wie se heißen, und wo sie herkommen, und dass sie sich in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen zu melden haben // Es ist dann so, dass sie mit Fahrkarten ausgestattet werden. Über die Bahnhofsmission erhalten wir die Fahrkarten. Werden in den Zug Richtung Gießen gesetzt. Oft isses so, dass wir die Kollegen in Gießen auch in formieren, gerade dann, wenn da auch hilflose Menschen unterwegs sind. Sprecher: Mit der sogenannten Anlaufbescheinigung in der Hand und der Fahrkarte in der Tasche geht es von Frankfurt aus in Richtung Gießen. Halt – sagt Mathias Wolf – als ich das Mikrofon eigentlich schon ausgeschaltet habe und einpacken will. Er hält mir ein Handy hin, ein Bild von drei kleinen in Folie verpackten Teddybären. Der Polizist will mich nicht gehen lassen ohne die folgende Erzählung: Von einer Polizeiwache, in der es nicht nur bürokratisch zugeht, wo es nicht nur um Pflichten und Vorschriften geht. Sondern eben auch um Menschen: Es geht um die einen, die eine weite Seite 5 von 17 Reise hinter sich haben und um die anderen, die Polizisten, die das jeden Tag sehen, erleben und versuchen zu verstehen. O-Ton: Weil wir ja auch Kinder auch oft haben, haben wir jetzt hier so Teddybären bekommen, die wir den Kindern dann geben können. Normalerweise gibt’s die im Rahmen von Rettungsmaßnahmen, da sind die wohl auch her, haben wir einen ganzen Karton voll bekommen. Kriegen die Kinder von uns so Teddybären. Wir haben auch einen Spielkoffer unten. Das sind Gegenstände von Kollegen. Bzw. alte Spielzeuge von Kollegen, die das mal so mitgebracht haben, weil sie es zuhause nicht mehr brauchen. Und hier freuen sich die Kleinen. Manchmal ganz lustig, wenn sie durch die Wache dann durchgehen (lacht). Dann sind se beschäftigt und dann kann man sich auch entsprechend um die Eltern kümmern. Das ist dann auch ein anderer Empfang. Sprecher: Deutsche Polizisten, die Flüchtlinge gut behandeln, mit einer kleinen Geste willkommen heißen, das sollte selbstverständlich sein. Das ist der Polizei vielleicht gerade jetzt besonders wichtig zu betonen. Es hat Zwischenfälle gegeben, anderswo, Gewalt, Schikane, Übergriffe von Beamten auf Flüchtlinge. Musikalischer Trenner / (ich habe da was sparsames im Sinne, das „Bewegung“ andeutet) ATMO Stadt (Gießen) Seite 6 von 17 Sprecher: In Sichtweite des Bahnhofsgebäudes in Gießen, einem über hundert Jahre alten Mauerwerk mit rotem Sandstein, liegt die hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. hr-iNFO-Reporter Klaus Pradella berichtet regelmäßig von dort. O-Ton Pradella: Ein großer Schlagbaum versperrt die Einfahrt. Man muss durch eine Drehtür. Dahinter sieht es noch genauso aus wie vor 30 Jahren, als hier Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR aufgenommen wurden. Es sind nach wie vor die dreigeschossigen Gebäude (jetzt buntgetüncht), in denen die Menschen in Mehrbettzimmern zusammenleben. Der Speisesaal ist wegen des hohen Andrangs schon lange zur Unterkunft geworden. Und weil auch das nicht ausreichte, wurden im ehemaligen US-Depot am anderen Ende der Stadt frühere Mannschaftsgebäude zu Flüchtlingsunterkünften. Fast 5.000 Menschen leben hier so in Gießen. Wenn sie ankommen, dann gibt es erstmal ein Paket mit Bettwäsche, Handtüchern, eine Zahnbürste, Seife. Dann werden die Flüchtlinge zu ihrer Flucht, den Fluchtgründen und familiären Beziehungen befragt. Sie müssen ihre Ausweisdokumente vorlegen - falls sie welche haben. Sie werden medizinisch untersucht. Und sie können hier auch den Asylantrag stellen. Das alles gehört zum Aufnahmeverfahren und dauert 6 – 12 Wochen. Erst dann geht die Reise weiter - in die hessischen Landkreise. In klimatisierten Reise-Bussen - diesmal müssen die Flüchtlinge nichts für den Transport bezahlen – werden Flüchtlingsgruppen zur nächsten Station ihres Ankommens in Deutschland gefahren. Sie wissen nur grob, was sie am Abend erwartet, wenn sie die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen verlassen. Musikalischer Trenner Seite 7 von 17 Sprecher: Es ist später Nachmittag: Zwischen ein paar unansehnlichen Wohncontainern wartet Halima Gutale auf die Neuen. Sie ist bei der Stadt Pfungstadt angestellt, als Flüchtlingsbeauftragte. Sie ist Somalierin und lebt seit 20 Jahren in Pfungstadt. Einen Tag zuvor hat sie von den Zuständigen im Landkreis Darmstadt-Dieburg erfahren, dass vier Menschen nach Pfungstadt gebracht werden. Sie hat nur Anhaltspunkte, weiß kaum mehr als die Personalia und hatte kaum Zeit zu überlegen, wie sie sie unterbringen kann. Zwei junge Syrer und zwei Irakerinnen, Mutter und Tochter. Das Warten nutzt sie für eine Plauderei mit einem alten pakistanischen Ehepaar, die beiden laden uns in ihren bescheidenen aber gemütlichen Räumen in den Containern gleich zum Tee ein. O-Ton: Cup of tea? Sprecher: Die Leute hier sind freundlich zu uns… Herr Chaudhari und seine Frau sind Mitglieder der Ahmadiya-Gemeinde in Pakistan – einer verfolgten Glaubensgemeinschaft. Seit gut einem halben Jahr sind sie hier, haben sich eingerichtet – so gut es geht. Der Gemeinschaftsflur ist gepflegt, zu einer Art Wohnzimmer umfunktioniert. Aber draußen, vor der Unterkunft sieht es nicht einladend aus… Im kleinen Hof steht Sperrmüll. Rundherum Industrie und Gewerbe… Dann ist plötzlich Bewegung auf der Straße – ein blauer Kleinbus parkt und spuckt Sozialarbeiter des Landkreises aus - und zwei Frauen, die Flüchtlinge aus dem Irak, Mutter und Tochter - beim Blick auf das neue Zuhause wirkt die Jüngere entsetzt. Wo kommen sie her, frag ich sie: Seite 8 von 17 O-Ton Bagdad: Warum sind wir hier? Meine Mutter ist krank… Sprecher: Drinnen wird es noch schwieriger. Die Irakerin erklärt, dass ihre Mutter ins Krankenhaus muss, und dass man sie hier nicht zurücklassen kann. Sie wiederholt immer wieder: Was ist, wenn es meiner Mutter schlechter geht? O-Ton: What can I do? How can I do? Sprecher: Halima Guttale, die Pfungstädter Flüchtlingsbetreuerin versucht ruhig zu bleiben. O-Ton: Ganz ruhig bleiben. Ich gebe ihr jetzt meine Tel-Nur, wenn was ist… / Sprecher: Die Irakerin lässt sich nicht beruhigen. Auch als Halima Gutale versichert, dass sie sie immer anrufen kann. Die Flüchtlingsbetreuerin erkennt keine schlimme Verletzung, sie hat keinen Krankenschein gezeigt bekommen, hat deshalb keine Information zu irgendwelchen Krankheiten, also vertraut sie ihrem gesunden Menschenverstand. Sie sieht eine alte Frau mit verbundener Hand, die sich schon angeregt mit anderen Bewohnern unterhält. Und sie sieht vor allem eine aufgeregte Tochter, die mit den Nerven einfach am Ende ist. Seite 9 von 17 O-Ton: Wenn es nötig ist, dann helfen wir // Ich glaube wir haben keinen Krankenschein// Sprecher: Als Halima Gutale mit den Kollegen vom Landkreis die Unterkunft verlässt, läuft die Irakerin hinterher. Sie will es nicht wahrhaben, dass sie hierbleiben soll. OT man hört die Irakerin, Halima sagt: Lasst uns mal gehen! Beruhigen sie sich erstmal, wir kommen nochmal… Sprecher: Warum tun sie das, wollen sie mich umbringen? hört man die Irakerin rufen… Sie bleibt für uns anonym, weil keine Zeit war, und nicht der Moment, sie nach ihrem Namen oder Alter zu fragen. Halima Gutale steigt ins Auto und muss sich selbst erst mal beruhigen. O-Ton: Wenn sie rebellieren, so geht das nicht… sie mussen eingewöhnen. Wenn was ist, helfe ich, auch wenn Mitternacht, kein Thema. Aber wenn jemand nicht zuhört… Ich lass sie sich erstmal beruhigen… Wenn was ist, dann werden die mich anrufen… Sprecher: Ein paar Minuten später parkt die Flüchtlingsbetreuerin vor einem alten Haus, mitten im Wohngebiet von Pfungstadt. Dort werden die anderen beiden Flüchtlinge wohnen, die beiden Syrer, ein junger Erwachsener und ein Mittdreißiger. Sie haben die ganze Zeit im Kleinbus ausgeharrt. Seit sie auf der Flucht sind, haben sie vor allem eines gelernt: das Warten. Jetzt dürfen sie einziehen in eine WG - in der schon zwei andere Syrer leben: Seite 10 von 17 Vier Männer also, die sich ab jetzt 2 Zimmer, ein Bad und eine Küche teilen. Der ältere Neuankömmling heißt Moussa und macht einen sehr müden Eindruck. Halima Gutale gibt ihm frische, noch verpackte Bettwäsche und Küchengeschirr. O-Ton: This is for you… (Geraschel, Gemurmel) Sprecher: Während Moussa noch ungelenk herumsteht, etwas verunsichert von der neuen Wohnsituation, macht es ihm einer der beiden Syrer, die schon hier wohnen, etwas leichter: Er macht ihm das Bett. Eine schöne Geste. Halima lächelt. Hier klappt der Anfang ganz gut… Moussa und der andere Neue sollen gleich am nächsten Tag mit ihren Papieren aufs Amt kommen. O-Ton: You come to me, tomorrow, Stadthaus, ok? … (er:) Stadthaus..// Ja. Zu mir. Halima. // Tschüss bis morgen… Gute Nacht… Sprecher: Pfungstadt hat an diesem Tag vier neue Bewohner gewonnen. Aber dass das Ankommen nicht leicht ist für alle, nicht für die Flüchtlinge und nicht immer für die Helfer, hat dieser Tag auch gezeigt. Die verzweifelte Irakerin ruft nicht mehr an. Später im Büro kann Halima Gutale etwas aufatmen, was diesen Fall angeht. Sie hat ein Fax bekommen vom Landkreis mit ein paar Informationen über Mutter und Tochter aus dem Irak. Und: Ein Krankenschein ist jetzt auch da. Tatsächlich hat die ältere Irakerin gesundheitliche Probleme, aber nichts Lebensbedrohliches. Jetzt erklärt sich all die Angst der Tochter. Am nächsten Tag dürfen die Irakerinnen zum Arzt. Seite 11 von 17 ATMO Stimmen im Flur (Stadthaus) Sprecher: Halima Gutale hat Sprechstunde im Pfungstädter Stadthaus – jeden Vormittag. Sie hat schon einen Zahnarzttermin für eine pakistanische Mutter vereinbart, sie hat einem Flüchtling erklärt, dass er Handyrechnungen sofort bezahlen muss, weil die Mahngebühren sonst in die Höhe schnellen, sie hat sich um die Einschulung junger Serben gekümmert. Jetzt sitzt Achmed Ibrahim vor ihr, zusammen mit einem Marokkaner, der seit Jahren in Pfungstadt lebt, sich mit Ibrahim angefreundet hat und für ihn übersetzt. Ibrahim hofft, dass er seine Frau und seine fünf Kinder aus Syrien nachholen kann. O-Ton: Seine Kinder sind noch klein. Zwei, drei und 5. Die älteste ist 10 Jahre alt. Jeden Tag ist schlimmer, Krieg. Und er hat Angst, dass er einmal seine Frau anruft und die sagt, deine Kinder sind alle gestorben. Oder deine Frau ist tot. Deswegen will er, dass schnell wie es geht, die Kinder nach Deutschland kommen. Sprecher: Seit 10 Monaten hat er seine Kinder nicht gesehen, und es werden von diesem Tag an nochmal drei Monate vergehen, bis er sie wirklich in die Arme schließen kann. Für Halima Gutale ist es ein ganz normaler Vormittag. Sie kümmert sich um dutzende Schicksale, besser gesagt, um die Hürden des Alltags – um die ständige, manchmal zähe Kommunikation mit Behörden, Ämtern, Ärzten. In anderen hessischen Gemeinden sind Flüchtlinge noch stärker auf sich gestellt, weil die Sozialarbeiter nur ein paar Stunden pro Woche in Reichweite sind. Hier in Pfungstadt haben sie das Glück, dass Frau Gutale fast jeden Tag erreichbar ist. Der Bürgermeister Patrick Koch hat entschieden, dass die Gemeinde eine Seite 12 von 17 festangestellte Betreuerin braucht. Und sie wird gebraucht. Aber die größten Probleme kann sie nicht lindern: Das Gefühl in der Schwebe zu leben. Viele kommen mit dem Warten nicht klar. O-Ton: Es gibt einige, die schon über eineinhalb Jahre da sind, zwei Jahre, und bis jetzt keine Ahnung haben, wie es weitergeht. Das ist das Schlimmste. Wobei ich immer sage: Unsere syrische Flüchtlinge sind unsere VIP-Flüchtlinge. Die sind noch nicht mal angekommen, haben schon die Anerkennung und dann kommen sie aus der Flüchtlingsbetreuung eigentlich wieder raus und müssen für sich selber sorgen und wissen nicht, womit sie anfangen sollen. Dann hast du blaue Pass, bist wie jeder andere Ausländer und musst für dein Leben sorgen. Und die sind noch nicht soweit. Ibrahim ist so ein Fall. Aus diesem Flüchtlingsstatus rausgefallen, aber trotzdem kommt er noch hierher. Ohne uns könnte er nicht weitergehen. Sprecher: Der blaue Pass, von dem Halima Gutale spricht, ist ein Reisedokument, das Flüchtlinge erhalten, sobald sie anerkannt worden sind. Damit wechseln sie in einen anderen Verantwortungsbereich: Nämlich in den der Arbeitsagenturen. Sie treten offiziell ein in den Arbeitsmarkt. In der Praxis heißt das oft Hartz 4 und eine komplett neue Behördenstruktur, mit der viele Flüchtlinge nicht so leicht zurechtkommen. Vielen Syrern geht es so. Und trotzdem werden sie von den anderen Asylsuchenden beneidet… Von Somaliern, von Eritreern oder von Pakistanern, die oft unerträglich lange warten müssen, bis ihr Fall entschieden wird. Auch Betlem und Henoch aus Äthiopien fragen sich, wie lang sie noch warten müssen. Sie wohnen einen Steinwurf entfernt vom Stadthaus in Pfungstadt, in einem alten Mehrfamilienhaus, umgewidmet zur Flüchtlingsunterkunft. Seite 13 von 17 O-Ton: Please have a seat… Sprecher: Die beiden setzen sich auf die Bettkante, ich auf den Stuhl am kleinen Tisch – damit ist der Raum voll. Während Halima Gutale, die Flüchtlingsbetreuerin in Arbeit versinkt, sitzen diese beiden Äthiopier, 27 und 28 Jahre alt, gut ausgebildet, mit Hochschulabschluss, seit über einem halben Jahr in diesem Zimmerchen und hoffen auf gute Nachrichten von der Ausländerbehörde. Sie sind aus politischen Gründen Hals über Kopf geflohen. Auf dem kleinen Nachttisch liegt Lernstoff: Ein dicker Stapel Bücher und vollgeschriebene Hefte aus dem Deutschkurs. Ins Deutsch lernen stürzen sie sich, das ist das Einzige, was sie haben. O-Ton: Die Sprache ist wirklich schwierig. Aber wir tun unser bestes. aber wenn wir es können, wollen wir unser Leben hier beginnen, hier arbeiten, wir werden sehen… Sprecher: Sie hatten ein gutes Leben in Äthopien, erzählt Betlem: Ein großes Haus, einen guten Job. Sie mussten fliehen vor Verfolgung, wollten ihre Heimat nicht verlassen, sagt Henuch. O-Ton: We miss them very much… Sprecher: Die beiden sehen müde aus. Das Warten hat sie ausgezehrt. Henoch wirkt lustlos. Seite 14 von 17 O-Ton Betlem: Es ist langweilig. Wir sind viel zuhause. Wir machen nichts. Wir gehen nur morgens zum Deutschkurs. Dann kommen wir wieder her. Hier gibt’s kein Internet. Wir sind untätig. Es ist ein wenig langweilig. Ach: Es ist nicht ein „wenig langweilig“ hier, (lacht) es langweilt ganz schrecklich hier! …. ´tschuldigung… Sehr langweilig… Sprecher: Langeweile gepaart mit großer Hoffnung und vielen Ängsten… Ganz andere Ängste, als sie der eine oder andere Pfungstädter hat… Ich frage, ob sie viel Fernsehen schauen. Ja klar, sagt Betlem, viel zu viel, um was geht es bei diesen Pegida-Nachrichten, fragt er mich. O-Töne: Sie: Ich verstehe es nicht richtig. Wir haben´s im Fernsehen gesehen.// Er: Was ist das? Sind die gegen Muslime? Oder gegen Ausländer? // Sie: Und da gibt’s noch andere: Legida? Sprecher: Betlem und Enoch hören interessiert zu, als ich zu erklären versuche, was in Deutschland passiert. Zwei sympathische Menschen. Sie heißen in Wirklichkeit anders. Die Stadt, aus der sie kommen, ihren beruflichen Hintergrund, all das soll ich nicht nennen. Denn sie haben Angst um ihre Familie. Musikalischer Trenner … Seite 15 von 17 Sprecher: Alles, was wir bisher gehört haben, ist in den ersten Monaten des Jahres 2015 geschehen. Ankunft, Erstaufnahme, die erste Unterkunft…. Spulen wir in die Gegenwart. Es hat sich einiges getan. Die Stadt Pfungstadt hat Ein-Euro-Jobs geschaffen, um die Wartezeit einiger Flüchtlinge zu überbrücken. Enoch arbeitet als Bürohilfe im Stadthaus, seine Frau Betlem hilft im städtischen Kindergarten. Andere arbeiten bei der städtischen Obdachlosenhilfe mit oder pflegen den Friedhof. Und wieder andere suchen sich selbst Jobs. Da lohnt der Blick auf den jungen Pakistaner Samilullah Butt. Seit zwei Jahren läuft sein Asylverfahren. Er könnte Jobs am laufenden Band finden. Aber sie dann auch anzutreten, das ist schwierig. Butt ist 38 Jahre alt, hellwach und aufgeschlossen. Und hat Deutsch gelernt. Das letzte, was er will, ist weiterhin von Sozialleistungen abhängig zu sein… O-Ton: Will keine Soschialhilfe, will arbeiten… Sprecher: Während er erzählt, sitzen wir beim Tee in der Gemeinschaftsküche seiner Flüchtlingsunterkunft. Schon mehrmals hat der Pakistaner sich beworben. Aber nicht die Arbeitgeber sind das Problem, sondern die lange Bearbeitung der Arbeitserlaubnis. Das hat die Arbeitgeber abgeschreckt. Darüber ärgert sich die Pfungstädter Flüchtlingsbetreuerin Halima Gutale. Sie hat einen telefonischen Marathon mit mehreren Behörden hinter sich im Fall Butt. O-Ton: Was ich nicht verstehe… jeder Sachbearbeiter sollte Interesse haben, so jemanden schnell in den Job zu verhelfen. Neuer Steuerzahler, und jeder hat was davon. Staat und Flüchtling… Seite 16 von 17 Sprecher: Die Arbeitsagentur betont, dass die lange Bearbeitung und Prüfung des Arbeitgebers wichtig sei. Es geschehe nur zum Schutz der Flüchtlinge, damit sie nicht ausgebeutet werden von windigen Arbeitgebern. Das hat durchaus seine Logik, bedeutet aber in vielen Fällen ganz praktisch, dass der Job dann weg ist… Aber zum Schluss hat es Samiullah Butt dann doch geschafft. Weil ein Arbeitgeber Geduld hatte. Der Darmstädter Ratskeller: Eine etablierte Location, bekannt seit mehr als 20 Jahren. Dort wird auch der Flüchtling Butt sozialversichert und mit mehr als dem Mindestlohn bezahlt – ist doch klar, sagt Chefin Petra Klein kurzangebunden am Telefon. Und der Herr Butt? Passt super ins Team. Wann fängt er an, frag ich: O-Ton: Der hat schon angefangen, am Montag! Trenner/Musik (liegt vielleicht bis zu Ende drunter) Sprecher: Erinnern Sie sich an Achmed Ibrahim, den Syrer, der in der Sprechstunde saß bei der Flüchtlingsbetreuerin Halima Gutale? Und Angst hatte um seine Kinder? Sie sind mittlerweile heil angekommen in Pfungstadt und haben ihr neues Leben hier begonnen, im Kindergarten und in der Schule. Erinnern Sie sich an Moussa, den Syrer, der mit dem Kleintransporter angekommen ist? Es hat sich herausgestellt, dass er ein begnadeter Schachspieler ist, und er bereichert jetzt den örtlichen Schachclub, trainiert den Nachwuchs. In der Liga hat er bisher jedes Spiel gewonnen. Auch er wartet auf seine Familie aus Syrien. Mutter und Tochter aus dem Irak warten noch auf die Antwort der Behörden. Aber auch sie haben sich beruhigt und mit der Lage arrangiert … Seite 17 von 17 Musik kurz hoch… Sprecher: Mir bleibt ein Interview in Erinnerung, dass ich 2014 mit dem Bürgermeister eines kleinen Dorfes an der Südküste Siziliens gemacht habe. Dabei hatte er folgendes gesagt: O-Ton: „Wir erleben hier gerade einen Exodus biblischen Ausmaßes. Wenn es stimmt, dass auf der anderen Seite des Meeres fast eine Million Menschen auf die Überfahrt warten, müssen wir uns wirklich große Sorgen machen.“ Sprecher: Was hat das Ganze mit Pfungstadt oder mit Hessen zu tun? Wir können sicher sein, dass diese Zeit der Flucht und Wanderung in den reichen Norden der Welt andauern wird. Auch die Pfungstädter wissen das. Die Stadt wird in diesem Jahr eine große moderne Unterkunft bauen für rund 100 Neuankömmlinge. Und über ein weiteres Haus für Flüchtlinge wird auch schon nachgedacht.
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