Wissenswert - Hessischer Rundfunk

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Hessischer Rundfunk
hr-iNFO
Redaktion: Heike Ließmann
Wissenswert
Wie erlebt ein Flüchtling Deutschland
– Stationen des Ankommens
von
Riccardo Mastrocola
Sprecher: Riccardo Mastrocola
Sendung: 06.06.15, hr-iNFO
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Musik->
O-Ton Overvoice: ital. Fernsehen:
Guten Morgen, Extraausgabe der Nachrichten im Ersten, wir haben Neues für sie
über den Alptraum, der sich vor der Küste von Lampedusa ereignet…
Weitere News auf Deutsch:
Auf der griechischen Halbinsel Rhodos sind nach Angaben der Küstenwache 90
Flüchtlinge gestrandet. Das Holzschiff war vor der Küste auf einen Felsen
geprallt und gesunken…
An der bulgarischen Grenze zu Serbien sind die Leichen von 4 Flüchtlingen
entdeckt worden. Polizeiangaben zufolge handelt es sich um Menschen aus
Syrien und dem Irak.
Ansturm auf die Bastion Europa, afrikanische Flüchtlinge erreichen ein
Aufnahmelager im spanischen Melilla (für viele das Ende eine jahrelangen
Odyssee…)
Sprecher:
Wer in Europa ankommt, hat sein nacktes Leben im Gepäck. Und was
auch immer noch geschehen mag: Für die meisten ist die ungewisse
Zukunft als Flüchtling in Europa doch die größte Chance ihres Lebens. Sie
wissen auch: Diese Chance wird größer, je weiter sie nach Norden
kommen. Nach Frankreich, Deutschland oder Schweden… mit Hilfe von
Schleusern, in Kofferräumen, in Kleinbussen oder in Fernzügen. Die
Bahnhöfe von Mailand, Wien oder München sind auch FlüchtlingsDrehkreuze. Frankfurt gehört ebenfalls dazu.
ATMO Bahnhof
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Sprecher:
Hauptbahnhof Frankfurt, Gleis 24. Der Eingang zur Polizeiwache im
Bahnhof ist unauffällig. Draußen eine Klingel, eine kleine Kamera. Dann
ein Surren und die Tür öffnet sich. Drinnen: Niedrige Decken, ein Gefühl
von Enge. Links ein paar uniformierte Beamte, die sich unterhalten.
Rechts auf einer Sitzbank drei Männer mit dunkler Hautfarbe und müden
aber wachsamen Augen. Eine Treppe darüber, im ersten Stockwerk der
Polizeiwache wartet Dienstgruppenleiter Mathias Wolf auf mich. Sein Büro
ist ein schmaler Schlauch - auf dem fast leeren Tisch stehen ein
Computer und ein Telefon.
O-Ton Wolf:
Also es ist oft so, dass sie hierkommen und selber klingeln. Oder dass sie
Bahnhofsmitarbeiter ansprechen und dann hergebracht werden. Oder eine
Streife von uns draußen sind und wir dann informiert werden und sie dann
entsprechend herbringen…
Sprecher:
Flüchtlinge suchen aktiv den Kontakt zu Beamten, das ist die Regel,
betont Mathias Wolf. Sie wollen sich hier offiziell als Asylsuchende outen.
Aber zuerst sind die Polizisten dran, stellen ihrerseits viele Fragen: nach
Papieren, nach Namen, nach genauer Herkunft, nach den Fluchtwegen,
nach Schleusern. Konkrete Antworten gibt es aber selten.
O-Ton Wolf:
Oft kommen sie her mit der Aussage: „Ohne Dokumente“. Ja wo sind die? Ja, sie
hätten keine. Es ist mittlerweile so, dass man wenig Antworten kriegt. Man kriegt
noch ganz grob gesagt: AFG, Irak, Türkei, Griechenland und hierher. … Wer so
ein bisschen mit dem Finger auf die Landkarte schaut, weiß, dass dazwischen
noch andere Länder sind. Man stellt sich dann die Frage: Dürfen sie es nicht
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sagen, wie auch immer. Der Weg ist ja ein längerer. Da sind Seewege
dazwischen. Andere Länder. Wie sind sie gekommen, Fahrzeug, irgendwo hinten
im Kofferraum, wie auch immer. Nachvollziehbar ist das in den wenigsten Fällen.
Sprecher:
Der Bundespolizist Matthias Wolf kennt nur die, die mit dem Zug hier
ankommen: Züge aus Paris, aus Basel oder aus Wien. Im Schnitt kommen
sieben bis acht Flüchtlinge pro Tag…. schon fast 1.000 Flüchtlinge haben
von Januar bis Mai 2015 diese Polizeiwache von innen gesehen - Nach ein
paar Stunden auf der Wache bekommen sie das erste gestempelte
deutsche Papier in die Hand gedrückt:
O-Ton Wolf:
Ne Anlaufbescheinigung, ein Din A4 Blatt, wo drauf steht, wie se heißen, und wo
sie herkommen, und dass sie sich in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen zu
melden haben // Es ist dann so, dass sie mit Fahrkarten ausgestattet werden.
Über die Bahnhofsmission erhalten wir die Fahrkarten. Werden in den Zug
Richtung Gießen gesetzt. Oft isses so, dass wir die Kollegen in Gießen auch in
formieren, gerade dann, wenn da auch hilflose Menschen unterwegs sind.
Sprecher:
Mit der sogenannten Anlaufbescheinigung in der Hand und der Fahrkarte
in der Tasche geht es von Frankfurt aus in Richtung Gießen. Halt – sagt
Mathias Wolf – als ich das Mikrofon eigentlich schon ausgeschaltet habe
und einpacken will. Er hält mir ein Handy hin, ein Bild von drei kleinen in
Folie verpackten Teddybären. Der Polizist will mich nicht gehen lassen
ohne die folgende Erzählung: Von einer Polizeiwache, in der es nicht nur
bürokratisch zugeht, wo es nicht nur um Pflichten und Vorschriften geht.
Sondern eben auch um Menschen: Es geht um die einen, die eine weite
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Reise hinter sich haben und um die anderen, die Polizisten, die das jeden
Tag sehen, erleben und versuchen zu verstehen.
O-Ton:
Weil wir ja auch Kinder auch oft haben, haben wir jetzt hier so Teddybären
bekommen, die wir den Kindern dann geben können. Normalerweise gibt’s die
im Rahmen von Rettungsmaßnahmen, da sind die wohl auch her, haben wir einen
ganzen Karton voll bekommen. Kriegen die Kinder von uns so Teddybären. Wir
haben auch einen Spielkoffer unten. Das sind Gegenstände von Kollegen. Bzw.
alte Spielzeuge von Kollegen, die das mal so mitgebracht haben, weil sie es
zuhause nicht mehr brauchen. Und hier freuen sich die Kleinen. Manchmal ganz
lustig, wenn sie durch die Wache dann durchgehen (lacht). Dann sind se
beschäftigt und dann kann man sich auch entsprechend um die Eltern
kümmern. Das ist dann auch ein anderer Empfang.
Sprecher:
Deutsche Polizisten, die Flüchtlinge gut behandeln, mit einer kleinen
Geste willkommen heißen, das sollte selbstverständlich sein. Das ist der
Polizei vielleicht gerade jetzt besonders wichtig zu betonen. Es hat
Zwischenfälle gegeben, anderswo, Gewalt, Schikane, Übergriffe von
Beamten auf Flüchtlinge.
Musikalischer Trenner / (ich habe da was sparsames im Sinne, das
„Bewegung“ andeutet)
ATMO Stadt (Gießen)
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Sprecher:
In Sichtweite des Bahnhofsgebäudes in Gießen, einem über hundert Jahre
alten Mauerwerk mit rotem Sandstein, liegt die hessische
Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. hr-iNFO-Reporter Klaus
Pradella berichtet regelmäßig von dort.
O-Ton Pradella:
Ein großer Schlagbaum versperrt die Einfahrt. Man muss durch eine Drehtür.
Dahinter sieht es noch genauso aus wie vor 30 Jahren, als hier Flüchtlinge und
Übersiedler aus der DDR aufgenommen wurden. Es sind nach wie vor die
dreigeschossigen Gebäude (jetzt buntgetüncht), in denen die Menschen in
Mehrbettzimmern zusammenleben. Der Speisesaal ist wegen des hohen
Andrangs schon lange zur Unterkunft geworden. Und weil auch das nicht
ausreichte, wurden im ehemaligen US-Depot am anderen Ende der Stadt frühere
Mannschaftsgebäude zu Flüchtlingsunterkünften. Fast 5.000 Menschen leben
hier so in Gießen. Wenn sie ankommen, dann gibt es erstmal ein Paket mit
Bettwäsche, Handtüchern, eine Zahnbürste, Seife. Dann werden die Flüchtlinge
zu ihrer Flucht, den Fluchtgründen und familiären Beziehungen befragt. Sie
müssen ihre Ausweisdokumente vorlegen - falls sie welche haben. Sie werden
medizinisch untersucht. Und sie können hier auch den Asylantrag stellen. Das
alles gehört zum Aufnahmeverfahren und dauert 6 – 12 Wochen. Erst dann geht
die Reise weiter - in die hessischen Landkreise.
In klimatisierten Reise-Bussen - diesmal müssen die Flüchtlinge nichts für den
Transport bezahlen – werden Flüchtlingsgruppen zur nächsten Station ihres
Ankommens in Deutschland gefahren. Sie wissen nur grob, was sie am Abend
erwartet, wenn sie die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen verlassen.
Musikalischer Trenner
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Sprecher:
Es ist später Nachmittag: Zwischen ein paar unansehnlichen
Wohncontainern wartet Halima Gutale auf die Neuen. Sie ist bei der Stadt
Pfungstadt angestellt, als Flüchtlingsbeauftragte. Sie ist Somalierin und
lebt seit 20 Jahren in Pfungstadt. Einen Tag zuvor hat sie von den
Zuständigen im Landkreis Darmstadt-Dieburg erfahren, dass vier
Menschen nach Pfungstadt gebracht werden. Sie hat nur Anhaltspunkte,
weiß kaum mehr als die Personalia und hatte kaum Zeit zu überlegen, wie
sie sie unterbringen kann. Zwei junge Syrer und zwei Irakerinnen, Mutter
und Tochter. Das Warten nutzt sie für eine Plauderei mit einem alten
pakistanischen Ehepaar, die beiden laden uns in ihren bescheidenen aber
gemütlichen Räumen in den Containern gleich zum Tee ein.
O-Ton:
Cup of tea?
Sprecher:
Die Leute hier sind freundlich zu uns…
Herr Chaudhari und seine Frau sind Mitglieder der Ahmadiya-Gemeinde in
Pakistan – einer verfolgten Glaubensgemeinschaft. Seit gut einem halben
Jahr sind sie hier, haben sich eingerichtet – so gut es geht. Der
Gemeinschaftsflur ist gepflegt, zu einer Art Wohnzimmer umfunktioniert.
Aber draußen, vor der Unterkunft sieht es nicht einladend aus… Im kleinen
Hof steht Sperrmüll. Rundherum Industrie und Gewerbe… Dann ist
plötzlich Bewegung auf der Straße – ein blauer Kleinbus parkt und spuckt
Sozialarbeiter des Landkreises aus - und zwei Frauen, die Flüchtlinge aus
dem Irak, Mutter und Tochter - beim Blick auf das neue Zuhause wirkt die
Jüngere entsetzt. Wo kommen sie her, frag ich sie:
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O-Ton Bagdad:
Warum sind wir hier? Meine Mutter ist krank…
Sprecher:
Drinnen wird es noch schwieriger. Die Irakerin erklärt, dass ihre Mutter
ins Krankenhaus muss, und dass man sie hier nicht zurücklassen kann.
Sie wiederholt immer wieder: Was ist, wenn es meiner Mutter schlechter
geht?
O-Ton:
What can I do? How can I do?
Sprecher:
Halima Guttale, die Pfungstädter Flüchtlingsbetreuerin versucht ruhig zu
bleiben.
O-Ton:
Ganz ruhig bleiben. Ich gebe ihr jetzt meine Tel-Nur, wenn was ist… /
Sprecher:
Die Irakerin lässt sich nicht beruhigen. Auch als Halima Gutale versichert,
dass sie sie immer anrufen kann. Die Flüchtlingsbetreuerin erkennt keine
schlimme Verletzung, sie hat keinen Krankenschein gezeigt bekommen,
hat deshalb keine Information zu irgendwelchen Krankheiten, also
vertraut sie ihrem gesunden Menschenverstand. Sie sieht eine alte Frau
mit verbundener Hand, die sich schon angeregt mit anderen Bewohnern
unterhält. Und sie sieht vor allem eine aufgeregte Tochter, die mit den
Nerven einfach am Ende ist.
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O-Ton:
Wenn es nötig ist, dann helfen wir // Ich glaube wir haben keinen
Krankenschein//
Sprecher:
Als Halima Gutale mit den Kollegen vom Landkreis die Unterkunft
verlässt, läuft die Irakerin hinterher. Sie will es nicht wahrhaben, dass sie
hierbleiben soll.
OT man hört die Irakerin, Halima sagt: Lasst uns mal gehen! Beruhigen
sie sich erstmal, wir kommen nochmal…
Sprecher:
Warum tun sie das, wollen sie mich umbringen? hört man die Irakerin
rufen… Sie bleibt für uns anonym, weil keine Zeit war, und nicht der
Moment, sie nach ihrem Namen oder Alter zu fragen. Halima Gutale steigt
ins Auto und muss sich selbst erst mal beruhigen.
O-Ton:
Wenn sie rebellieren, so geht das nicht… sie mussen eingewöhnen. Wenn was ist,
helfe ich, auch wenn Mitternacht, kein Thema. Aber wenn jemand nicht zuhört…
Ich lass sie sich erstmal beruhigen… Wenn was ist, dann werden die mich
anrufen…
Sprecher:
Ein paar Minuten später parkt die Flüchtlingsbetreuerin vor einem alten
Haus, mitten im Wohngebiet von Pfungstadt. Dort werden die anderen
beiden Flüchtlinge wohnen, die beiden Syrer, ein junger Erwachsener und
ein Mittdreißiger. Sie haben die ganze Zeit im Kleinbus ausgeharrt. Seit sie
auf der Flucht sind, haben sie vor allem eines gelernt: das Warten. Jetzt
dürfen sie einziehen in eine WG - in der schon zwei andere Syrer leben:
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Vier Männer also, die sich ab jetzt 2 Zimmer, ein Bad und eine Küche
teilen. Der ältere Neuankömmling heißt Moussa und macht einen sehr
müden Eindruck. Halima Gutale gibt ihm frische, noch verpackte
Bettwäsche und Küchengeschirr.
O-Ton:
This is for you… (Geraschel, Gemurmel)
Sprecher:
Während Moussa noch ungelenk herumsteht, etwas verunsichert von der
neuen Wohnsituation, macht es ihm einer der beiden Syrer, die schon hier
wohnen, etwas leichter: Er macht ihm das Bett. Eine schöne Geste.
Halima lächelt. Hier klappt der Anfang ganz gut… Moussa und der andere
Neue sollen gleich am nächsten Tag mit ihren Papieren aufs Amt
kommen.
O-Ton:
You come to me, tomorrow, Stadthaus, ok? … (er:) Stadthaus..// Ja. Zu mir.
Halima. // Tschüss bis morgen… Gute Nacht…
Sprecher:
Pfungstadt hat an diesem Tag vier neue Bewohner gewonnen. Aber dass
das Ankommen nicht leicht ist für alle, nicht für die Flüchtlinge und nicht
immer für die Helfer, hat dieser Tag auch gezeigt. Die verzweifelte
Irakerin ruft nicht mehr an. Später im Büro kann Halima Gutale etwas
aufatmen, was diesen Fall angeht. Sie hat ein Fax bekommen vom
Landkreis mit ein paar Informationen über Mutter und Tochter aus dem
Irak. Und: Ein Krankenschein ist jetzt auch da. Tatsächlich hat die ältere
Irakerin gesundheitliche Probleme, aber nichts Lebensbedrohliches. Jetzt
erklärt sich all die Angst der Tochter. Am nächsten Tag dürfen die
Irakerinnen zum Arzt.
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ATMO Stimmen im Flur (Stadthaus)
Sprecher:
Halima Gutale hat Sprechstunde im Pfungstädter Stadthaus – jeden
Vormittag. Sie hat schon einen Zahnarzttermin für eine pakistanische
Mutter vereinbart, sie hat einem Flüchtling erklärt, dass er
Handyrechnungen sofort bezahlen muss, weil die Mahngebühren sonst in
die Höhe schnellen, sie hat sich um die Einschulung junger Serben
gekümmert. Jetzt sitzt Achmed Ibrahim vor ihr, zusammen mit einem
Marokkaner, der seit Jahren in Pfungstadt lebt, sich mit Ibrahim
angefreundet hat und für ihn übersetzt. Ibrahim hofft, dass er seine Frau
und seine fünf Kinder aus Syrien nachholen kann.
O-Ton:
Seine Kinder sind noch klein. Zwei, drei und 5. Die älteste ist 10 Jahre alt. Jeden
Tag ist schlimmer, Krieg. Und er hat Angst, dass er einmal seine Frau anruft und
die sagt, deine Kinder sind alle gestorben. Oder deine Frau ist tot. Deswegen will
er, dass schnell wie es geht, die Kinder nach Deutschland kommen.
Sprecher:
Seit 10 Monaten hat er seine Kinder nicht gesehen, und es werden von
diesem Tag an nochmal drei Monate vergehen, bis er sie wirklich in die
Arme schließen kann. Für Halima Gutale ist es ein ganz normaler
Vormittag. Sie kümmert sich um dutzende Schicksale, besser gesagt, um
die Hürden des Alltags – um die ständige, manchmal zähe Kommunikation
mit Behörden, Ämtern, Ärzten. In anderen hessischen Gemeinden sind
Flüchtlinge noch stärker auf sich gestellt, weil die Sozialarbeiter nur ein
paar Stunden pro Woche in Reichweite sind. Hier in Pfungstadt haben sie
das Glück, dass Frau Gutale fast jeden Tag erreichbar ist. Der
Bürgermeister Patrick Koch hat entschieden, dass die Gemeinde eine
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festangestellte Betreuerin braucht. Und sie wird gebraucht. Aber die
größten Probleme kann sie nicht lindern: Das Gefühl in der Schwebe zu
leben. Viele kommen mit dem Warten nicht klar.
O-Ton:
Es gibt einige, die schon über eineinhalb Jahre da sind, zwei Jahre, und bis jetzt
keine Ahnung haben, wie es weitergeht. Das ist das Schlimmste. Wobei ich
immer sage: Unsere syrische Flüchtlinge sind unsere VIP-Flüchtlinge. Die sind
noch nicht mal angekommen, haben schon die Anerkennung und dann kommen
sie aus der Flüchtlingsbetreuung eigentlich wieder raus und müssen für sich
selber sorgen und wissen nicht, womit sie anfangen sollen. Dann hast du blaue
Pass, bist wie jeder andere Ausländer und musst für dein Leben sorgen. Und die
sind noch nicht soweit. Ibrahim ist so ein Fall. Aus diesem Flüchtlingsstatus
rausgefallen, aber trotzdem kommt er noch hierher. Ohne uns könnte er nicht
weitergehen.
Sprecher:
Der blaue Pass, von dem Halima Gutale spricht, ist ein Reisedokument,
das Flüchtlinge erhalten, sobald sie anerkannt worden sind. Damit
wechseln sie in einen anderen Verantwortungsbereich: Nämlich in den der
Arbeitsagenturen. Sie treten offiziell ein in den Arbeitsmarkt. In der Praxis
heißt das oft Hartz 4 und eine komplett neue Behördenstruktur, mit der
viele Flüchtlinge nicht so leicht zurechtkommen. Vielen Syrern geht es so.
Und trotzdem werden sie von den anderen Asylsuchenden beneidet… Von
Somaliern, von Eritreern oder von Pakistanern, die oft unerträglich lange
warten müssen, bis ihr Fall entschieden wird. Auch Betlem und Henoch
aus Äthiopien fragen sich, wie lang sie noch warten müssen. Sie wohnen
einen Steinwurf entfernt vom Stadthaus in Pfungstadt, in einem alten
Mehrfamilienhaus, umgewidmet zur Flüchtlingsunterkunft.
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O-Ton:
Please have a seat…
Sprecher:
Die beiden setzen sich auf die Bettkante, ich auf den Stuhl am kleinen
Tisch – damit ist der Raum voll. Während Halima Gutale, die
Flüchtlingsbetreuerin in Arbeit versinkt, sitzen diese beiden Äthiopier, 27
und 28 Jahre alt, gut ausgebildet, mit Hochschulabschluss, seit über
einem halben Jahr in diesem Zimmerchen und hoffen auf gute
Nachrichten von der Ausländerbehörde. Sie sind aus politischen Gründen
Hals über Kopf geflohen. Auf dem kleinen Nachttisch liegt Lernstoff: Ein
dicker Stapel Bücher und vollgeschriebene Hefte aus dem Deutschkurs.
Ins Deutsch lernen stürzen sie sich, das ist das Einzige, was sie haben.
O-Ton:
Die Sprache ist wirklich schwierig. Aber wir tun unser bestes. aber wenn wir es
können, wollen wir unser Leben hier beginnen, hier arbeiten, wir werden sehen…
Sprecher:
Sie hatten ein gutes Leben in Äthopien, erzählt Betlem: Ein großes Haus,
einen guten Job. Sie mussten fliehen vor Verfolgung, wollten ihre Heimat
nicht verlassen, sagt Henuch.
O-Ton:
We miss them very much…
Sprecher:
Die beiden sehen müde aus. Das Warten hat sie ausgezehrt. Henoch wirkt
lustlos.
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O-Ton Betlem:
Es ist langweilig. Wir sind viel zuhause. Wir machen nichts. Wir gehen nur
morgens zum Deutschkurs. Dann kommen wir wieder her. Hier gibt’s kein
Internet. Wir sind untätig. Es ist ein wenig langweilig. Ach: Es ist nicht ein „wenig
langweilig“ hier, (lacht) es langweilt ganz schrecklich hier! …. ´tschuldigung…
Sehr langweilig…
Sprecher:
Langeweile gepaart mit großer Hoffnung und vielen Ängsten… Ganz
andere Ängste, als sie der eine oder andere Pfungstädter hat… Ich frage,
ob sie viel Fernsehen schauen. Ja klar, sagt Betlem, viel zu viel, um was
geht es bei diesen Pegida-Nachrichten, fragt er mich.
O-Töne:
Sie: Ich verstehe es nicht richtig. Wir haben´s im Fernsehen gesehen.//
Er: Was ist das? Sind die gegen Muslime? Oder gegen Ausländer? //
Sie: Und da gibt’s noch andere: Legida?
Sprecher:
Betlem und Enoch hören interessiert zu, als ich zu erklären versuche, was
in Deutschland passiert. Zwei sympathische Menschen. Sie heißen in
Wirklichkeit anders. Die Stadt, aus der sie kommen, ihren beruflichen
Hintergrund, all das soll ich nicht nennen. Denn sie haben Angst um ihre
Familie.
Musikalischer Trenner …
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Sprecher:
Alles, was wir bisher gehört haben, ist in den ersten Monaten des Jahres
2015 geschehen. Ankunft, Erstaufnahme, die erste Unterkunft…. Spulen
wir in die Gegenwart. Es hat sich einiges getan. Die Stadt Pfungstadt hat
Ein-Euro-Jobs geschaffen, um die Wartezeit einiger Flüchtlinge zu
überbrücken. Enoch arbeitet als Bürohilfe im Stadthaus, seine Frau
Betlem hilft im städtischen Kindergarten. Andere arbeiten bei der
städtischen Obdachlosenhilfe mit oder pflegen den Friedhof. Und wieder
andere suchen sich selbst Jobs. Da lohnt der Blick auf den jungen
Pakistaner Samilullah Butt. Seit zwei Jahren läuft sein Asylverfahren. Er
könnte Jobs am laufenden Band finden. Aber sie dann auch anzutreten,
das ist schwierig. Butt ist 38 Jahre alt, hellwach und aufgeschlossen. Und
hat Deutsch gelernt. Das letzte, was er will, ist weiterhin von
Sozialleistungen abhängig zu sein…
O-Ton:
Will keine Soschialhilfe, will arbeiten…
Sprecher:
Während er erzählt, sitzen wir beim Tee in der Gemeinschaftsküche
seiner Flüchtlingsunterkunft. Schon mehrmals hat der Pakistaner sich
beworben. Aber nicht die Arbeitgeber sind das Problem, sondern die lange
Bearbeitung der Arbeitserlaubnis. Das hat die Arbeitgeber abgeschreckt.
Darüber ärgert sich die Pfungstädter Flüchtlingsbetreuerin Halima
Gutale. Sie hat einen telefonischen Marathon mit mehreren Behörden
hinter sich im Fall Butt.
O-Ton:
Was ich nicht verstehe… jeder Sachbearbeiter sollte Interesse haben, so
jemanden schnell in den Job zu verhelfen. Neuer Steuerzahler, und jeder hat was
davon. Staat und Flüchtling…
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Sprecher:
Die Arbeitsagentur betont, dass die lange Bearbeitung und Prüfung des
Arbeitgebers wichtig sei. Es geschehe nur zum Schutz der Flüchtlinge,
damit sie nicht ausgebeutet werden von windigen Arbeitgebern. Das hat
durchaus seine Logik, bedeutet aber in vielen Fällen ganz praktisch, dass
der Job dann weg ist… Aber zum Schluss hat es Samiullah Butt dann doch
geschafft. Weil ein Arbeitgeber Geduld hatte. Der Darmstädter Ratskeller:
Eine etablierte Location, bekannt seit mehr als 20 Jahren. Dort wird auch
der Flüchtling Butt sozialversichert und mit mehr als dem Mindestlohn
bezahlt – ist doch klar, sagt Chefin Petra Klein kurzangebunden am
Telefon. Und der Herr Butt? Passt super ins Team. Wann fängt er an, frag
ich:
O-Ton:
Der hat schon angefangen, am Montag!
Trenner/Musik (liegt vielleicht bis zu Ende drunter)
Sprecher:
Erinnern Sie sich an Achmed Ibrahim, den Syrer, der in der Sprechstunde
saß bei der Flüchtlingsbetreuerin Halima Gutale? Und Angst hatte um
seine Kinder? Sie sind mittlerweile heil angekommen in Pfungstadt und
haben ihr neues Leben hier begonnen, im Kindergarten und in der Schule.
Erinnern Sie sich an Moussa, den Syrer, der mit dem Kleintransporter
angekommen ist? Es hat sich herausgestellt, dass er ein begnadeter
Schachspieler ist, und er bereichert jetzt den örtlichen Schachclub,
trainiert den Nachwuchs. In der Liga hat er bisher jedes Spiel gewonnen.
Auch er wartet auf seine Familie aus Syrien. Mutter und Tochter aus dem
Irak warten noch auf die Antwort der Behörden. Aber auch sie haben sich
beruhigt und mit der Lage arrangiert …
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Musik kurz hoch…
Sprecher:
Mir bleibt ein Interview in Erinnerung, dass ich 2014 mit dem
Bürgermeister eines kleinen Dorfes an der Südküste Siziliens gemacht
habe. Dabei hatte er folgendes gesagt:
O-Ton:
„Wir erleben hier gerade einen Exodus biblischen Ausmaßes. Wenn es stimmt,
dass auf der anderen Seite des Meeres fast eine Million Menschen auf die
Überfahrt warten, müssen wir uns wirklich große Sorgen machen.“
Sprecher:
Was hat das Ganze mit Pfungstadt oder mit Hessen zu tun? Wir können
sicher sein, dass diese Zeit der Flucht und Wanderung in den reichen
Norden der Welt andauern wird. Auch die Pfungstädter wissen das. Die
Stadt wird in diesem Jahr eine große moderne Unterkunft bauen für rund
100 Neuankömmlinge. Und über ein weiteres Haus für Flüchtlinge wird
auch schon nachgedacht.