Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Übungen im Öffentlichen Recht Wintersemester 2015/2016 2. Besprechungsfall 29.10.2015 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Fußballfans A wohnt seit vielen Jahren als Nießbraucher mit einem lebenslangen Nießbrauchrecht in einem freistehenden Einfamilienhaus in der kreisfreien Stadt B in NRW. Im Umfeld des von A bewohnten Hauses befinden sich überwiegend Ein- und Mehrfamilienhäuser. Zudem gibt es einen Bäcker, einen Metzger und einen Kindergarten. Ein Bebauungsplan liegt für das Gebiet nicht vor. Das Grundstück, auf welchem sich das von A bewohnte Haus befindet, liegt an der nur wenig befahrenen CStraße am Rande der Gemeinde B in der Nähe zu einem Wald und Ackerfeldern. Seit D in das Nachbarhaus eingezogen ist, dessen Grundstück sich ebenfalls an der CStraße befindet und unmittelbar an jenes von A angrenzt, empfindet A die vormals harmonische Wohnatmosphäre als zerstört. D ist nämlich leidenschaftlicher Fan des Fußballvereins X, den A abgrundtief verabscheut. A stört es besonders, dass D nahezu seine gesamte Garteneinrichtung in den Farben des X-Vereins gestaltet hat. Als D Anfang Februar – ohne vorherige Beantragung einer Baugenehmigung – in seinem Garten in zehn Meter Abstand zu dem Grundstück des A einen etwa vier Meter hohen Fahnenmast installiert und eine zwei Quadratmeter große Fahne des Fußballvereins X hisst, wird es A zu bunt. Er fühlt sich durch den Fahnenmast mit der großen Fahne 2 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung gestört. Dies sei kein in einem Wohngebiet zu akzeptierender Ausdruck des Zugehörigkeitsgefühls zu einem Fußballverein mehr. D weigert sich jedoch auch nach mehreren Gesprächen mit A, den Fahnenmast mit der Fahne zu entfernen. Den Fahnenmast hat D nämlich mit einer einbetonierten Bodenhülse fest mit dem Boden verbunden. Er ist der Ansicht, dass er keine Baugenehmigung für das Aufstellen eines Fahnenmastes mit Fahne benötige. Durch die ganze Aufregung erschöpft, entschließt sich A Anfang Mai, erst einmal für vier Monate in Kur zu fahren. Als er aus dieser Anfang August zurückkommt, muss er feststellen, dass D den Fahnenmast mit der Fahne weiterhin in seinem Garten stehen hat. A setzt daher ein Schreiben an die zuständige Baubehörde auf, welches dieser Mitte August zugeht. In dem Schreiben fordert er die Behörde auf, D zu verpflichten, den Fahnenmast mit der Fahne des X-Vereins zu beseitigen. Als Begründung führt er aus, dass es sich bei dem Fahnenmast mit der Fahne des X-Vereins um eine Werbeanlage handele, die nicht der Nutzung des Wohngrundstücks diene und in einem Wohngebiet einen unzulässigen Störfaktor darstelle. Denn bei der Fahne des Fußballvereins X handele es sich um eine diesen als börsennotiertes Unternehmen anpreisende 3 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Werbeanlage im Sinne des § 13 Abs. 1 BauO NRW, die auch – was zutrifft – von den öffentlichen Verkehrsflächen, mithin der C-Straße, sichtbar sei. Im Internet werde – was zutrifft – ausführlich über die Aktie des X-Vereins berichtet. Daher sei die Vereinsfahne nicht nur eine solche des X-Vereins, sondern das Werbelogo eines Wirtschaftsunternehmens. Die Fahne auf dem Grundstück des D weise daher auf dieses Unternehmen als Gewerbebetrieb hin, unabhängig davon, ob D selbst gewerbliche Zwecke verfolge. Insbesondere handele es sich bei dem Fahnenmast mit der Fahne nicht um eine Nebenanlage im Sinne des § 14 Abs. 1 BauNVO, weil sie keine Eigenwerbung darstelle, bei der ausnahmsweise von einer Nebenanlage ausgegangen werden könne. Die Fahne sei – was zutrifft – nicht nur von der Terrasse des A, sondern auch aus seinem Wohnzimmer heraus dauernd sichtbar. Aufgrund der Größe der Fahne und den auffälligen Farben steche sie bei jedem Blick aus dem Wohnzimmerfenster und von der Terrasse direkt ins Auge und zerstöre den vormals schönen Ausblick. Dies sei absolut unzumutbar. 4 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Nachdem die Behörde vier Monate lang nicht auf das Schreiben des A reagierte, reicht es A. Er möchte gerichtlich durchsetzen, dass D verpflichtet wird, den Fahnenmast mit der Fahne zu beseitigen. Aufgabe: Prüfen Sie die Erfolgsaussichten einer verwaltungsgerichtlichen Klage des A. Hinweis: Es ist auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Rechtsfragen – ggf. auch hilfsgutachterlich – einzugehen. Es ist davon auszugehen, dass die Rechtsform des X-Vereins eine Aktiengesellschaft i. S. des AktG ist. 5 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Problemschwerpunkte • Anspruch auf behördliches Einschreiten • Untätigkeitsklage • Gebietsgewährleistungsanspruch 6 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Anmerkungen Der Sachverhalt und die Lösung sind angelehnt an VG Arnsberg, Urteil vom 15. Juli 2013 – 8 K 1679/12, nachgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08. Juli 2014 – 10 A 1787/13. Siehe zur Vertiefung Stefan Muckel, JA 2014, 76-78 (Entscheidungsbesprechung) und Roland Kintz, JuS 2014, 256-265 (Aufsatz). 7 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Die Klage des A hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs 1. Keine aufdrängende Sonderzuweisung (+) 2. Generalklausel § 40 I 1 VwGO (+) a. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit Streitentscheidende Normen, jene des BauGB und der BauO NRW, insbesondere § 61 I S. 1, 2 BauO NRW Nach modifizierter Subjektstheorie (Norm befugt und verpflichtet Hoheitsträger) öffentlich-rechtl. Norm (+) öffentl.-rechtl. Streitigkeit (+) b. Nichtverfassungsrechtlicher Art (+) c. Keine abdrängende Sonderzuweisung (+) 8 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung II. Statthafte Klageart §§ 88, 86 III VwGO Richtet sich nach dem Klagebegehren D soll verpflichtet werden, den Fahnenmast zu beseitigen. Dies ist nur durch eine Beseitigungsanordnung der Behörde umzusetzen. Behörde hat auf das Schreiben von A nicht reagiert. Klagebegehren daher: Gericht soll die Behörde verpflichten, eine Anordnung gegen D gerichtet auf die Beseitigung des Fahnenmasts mit Fahne zu erlassen. (Beseitigungsanordnung) Eine Beseitigungsanordnung stellt einen VA i. S. v. § 35 S. 1 VwVfG NRW dar. Statthafte Klageart ist daher die Verpflichtungsklage gem. § 42 I 2. Alt. VwGO in Form der Untätigkeitsklage, § 75 VwGO. 9 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung III. Klagebefugnis, § 42 II VwGO Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung des A durch Unterlassen der Baubehörde, eine Beseitigungsanordnung gegen D zu erlassen. (+), wenn nicht von vorneherein ausgeschlossen ist, dass A einen Anspruch darauf hat, dass die Behörde dem D gegenüber die Beseitigung des Fahnenmastes mit der Fahne anordnet. 1. Möglichkeit eines Anspruchs a. Rechtsträgerschaft des A Aufgrund der Grundstücksbezogenheit des Baurechts kommen grundsätzlich nur Eigentümer als Inhaber subjektiv-öffentlicher Rechte in Betracht. Allerdings werden dinglich Berechtigte Eigentümern grundsätzlich gleichgestellt, sodass A als Inhaber eines Nießbrauchrechts auch Inhaber subjektiv-öffentlicher Rechte sein kann. 10 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung b. Mögliche Anspruchsgrundlage: § 62 I S. 1, 2 BauO NRW aa. Fahnenmast mit Fahne ist eine Anlage i. S. v. § 1 I S. 2 BauO NRW (+) bb. Möglicher Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die auch A schützen? (1) Mögliche Verletzung des A in seinem Gebietserhaltungsanspruch Anwendbarkeit: Bauliche Anlage i. S. v. § 29 BauGB? Keine Heranziehung der Definition der BauO der Länder, da es sich um einen eigenständigen bundesrechtlichen Begriff handelt, der dem Regelungszweck der §§ 30–37 BauGB Rechnung trägt, die städtebauliche Ordnung und Entwicklung zu steuern. Eine bauliche Anlage ist nach der Rechtsprechung des BVerwG gekennzeichnet durch das Merkmal des „Bauens“ und der „bodenrechtlichen Relevanz“. 11 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung „Bauen“: Anlagen, „die in einer auf Dauer gedachten Weise künstlich mit dem Erdboden verbunden sind“ (+) Bodenrechtliche Relevanz? (+), wenn die in § 1 Abs. 6 BauGB genannten Belange in einer Weise berührt werden oder berührt werden können, die geeignet ist, das Bedürfnis nach einer ihre Zulässigkeit regelnden verbindlichen Bauleitplanung hervorzurufen § 1 Abs. 6 Nr. 2 1. Var. BauGB (+) - Kein Bebauungsplan/faktisches Wohngebiet Möglicher Gebietserhaltungsanspruch aus: § 34 I BauGB In Zusammenhang bebauter Ortsteil (+) Vorrang von § 34 II BauGB i. V. m. BauNVO Hier § 4 BauNVO (allgemeines Wohngebiet) Gebietserhaltungsanspruch gilt auch bei faktischen Wohngebieten. Nicht ausgeschlossen, dass Fahnenmast mit Fahne gem. § 34 II BauGB i. V. m. § 4 BauNVO unzulässig ist (materielle Illegalität). Anmerkung: Es kann auch von einem reinen Wohngebiet i. S. v. § 3 BauNVO ausgegangen werden. 12 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung - Drittschutz (+) Möglicher Verstoß gegen Gebietserhaltungsanspruch des A (+) (2) Möglicher Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme, § 15 I S. 2 BauNVO, § 34 I BauGB Möglichkeit, dass Fahne mit Fahnenmast der Eigenart des Baugebiets widerspricht und davon unzumutbare Belästigungen bzw. Störungen ausgehen. (+) A ist als unmittelbar angrenzender Nachbar qualifiziert und individualisiert betroffen Drittschutz (+) 13 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung 2. Ergebnis Es ist zumindest nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass A einen Anspruch gegen die Baubehörde aus § 61 I S. 1, 2 BauO NRW auf Erlass einer Beseitigungsanordnung gegen D aufgrund eines Verstoßes gegen § 34 II BauGB i. V. m. § 4 BauNVO und/oder dem Gebot der Rücksichtnahme, § 15 I S. 2 BauNVO, § 34 I BauGB, hat. Anmerkung: Da es sich hier um eine Verpflichtungsklage und keine Anfechtungsklage handelt, muss die Möglichkeit eines Anspruchs des A auf Einschreiten der Behörde begründet werden. 14 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung IV. Vorverfahren Gem. §§ 68 I S. 2, II i. V. m. 75 S. 1 VwGO nicht erforderlich, wenn ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Zureichender Grund nicht ersichtlich. Zudem gem. § 68 I S. 2, II VwGO i. V. m. § 110 I S. 1, 2, III S. 2 Nr. 7 JustG NRW in NRW ohnehin entbehrlich. V. Frist Gem. § 75 S. 2 VwGO erst nach Ablauf von drei Monaten nach Antragstellung. (+) Verwirkung, weil Antragstellung erst 6 Monate nachdem der Fahnenmast mit der Fahne aufgestellt wurde und noch 4 Monate auf eine Antwort der Behörde gewartet wurde? Herleitung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB venire contra factum proprium: ein Recht darf nicht mehr ausgeübt werden, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die eine verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). 15 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Zeitmoment: In entsprechender Anwendung von § 58 II VwGO ein Jahr ab Kenntnis oder Kennenmüssen Hier jedoch keine Baugenehmigung, von der A hätte Kenntnis erlangen können oder müssen. Daher ist auf das Aufstellen des Fahnenmastes mit der Fahne selbst abzustellen. Nach sechs Monaten Schreiben an Behörde; nach 10 Monaten Klage Zeitmoment nicht überschritten! Umstandsmoment: Keine Anhaltspunkte, dass der mögliche Anspruch verwirkt sein könnte. Insbesondere hat A dem D ausdrücklich mitgeteilt, dass er mit dem Aufstellen der Fahne nicht einverstanden ist. Kein Vertrauen Verwirkung (-) 16 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung VI. Klagegegner, § 78 I VwGO Die Klage ist gegen den Rechtsträger der Behörde zu richten, von der der Erlass des Verwaltungsakts begehrt wird (Rechtsträgerprinzip). Demnach ist richtiger Klagegegner die kreisfreie Stadt B als Rechtsträger der Baubehörde. VII. Beteiligtenfähigkeit, § 61 VwGO A als natürliche Person gem. § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO (+) B als juristische Person des öffentl. Rechts gem. § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO (+) VIII. Prozessfähigkeit, § 62 VwGO A gem. § 62 I Nr. 1 VwGO als geschäftsfähige Person (+) Juristische Personen sind streng genommen selbst nicht prozessfähig. Vielmehr sind sie bloß durch ihre gesetzlichen Vertreter handlungsfähig. Für B muss gem. § 62 III VwGO ihr gesetzlicher Vertreter vor Gericht auftreten. Dies ist gem. §§ 63 I 1, 40 II 3 a. E. GO NRW der OB der Stadt B. 17 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung VII. Zwischenergebnis Die Verpflichtungsklage des A ist zulässig. B. Beiladung D ist gemäß § 65 II VwGO notwendig beizuladen. C. Begründetheit Die Verpflichtungsklage des A ist begründet, soweit die fehlende Anordnung der Beseitigung der Fahnenstange mit Fahne gegen D rechtswidrig war, A dadurch in seinen Rechten verletzt ist und die Sache spruchreif ist, § 113 V S. 1 VwGO. Anmerkung: Die Spruchreife ist erforderlich, da A andernfalls nur einen Anspruch auf eine Bescheidung der Behörde hätte, nicht jedoch auf Erlass des konkret begehrten VA. 18 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung I. Anspruchsgrundlage: § 61 I S. 1, 2 BauO NRW „Die Bauaufsichtsbehörden haben [nach § 61 I S. 1, 2 BauO NRW] bei der Errichtung, der Änderung, dem Abbruch, der Nutzung, der Nutzungsänderung sowie der Instandhaltung baulicher Anlagen sowie anderer Anlagen und Einrichtungen im Sinne des §§ 1 Abs. 1 S. 2 BauO NRW darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften […] eingehalten werden. [..] Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Beseitigung einer genehmigungsbedürftigen baulichen Anlage nur im Fall ihrer formellen und materiellen Illegalität angeordnet werden darf, wenn also die bauliche Anlage weder genehmigt worden noch zu irgend einem Zeitpunkt genehmigungsfähig gewesen ist. Bei nicht genehmigungsbedürftigen baulichen Anlagen kommt es allein auf die materielle Illegalität an. Verlangt – wie hier – ein Nachbar die Beseitigung einer baulichen Anlage im Wege des bauaufsichtlichen Einschreitens, reicht die bloße Rechtswidrigkeit der baulichen Anlage nicht aus. Es muss zudem ein zu seinen Lasten gehender Verstoß gegen eine nachbarschützende Vorschrift des öffentlichen Rechts festzustellen sein.“ (VG Arnsberg, Urt. v. 15.07.2013 – 8 K 19 1679/12, Rn. 24) Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung D. h.: - Sofern genehmigungsbedürftig: formelle und materielle Illegalität - Sofern nicht genehmigungsbedürftig: materielle Illegalität + in beiden Fällen: Verstoß gegen Vorschrift, die zumindest auch den rechtsschutzsuchenden Nachbarn schützt (Verstoß gegen drittschützende Norm; Voraussetzung für die subjektive Rechtsverletzung) Anmerkung: Bei nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen kommt eine formelle Rechtswidrigkeit nicht in Betracht, denn es bedarf gerade keiner Genehmigung. 20 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung I. Genehmigungsbedürftigkeit Gem. § 63 I S. 1 BauO NRW grundsätzlich für alle baulichen Anlagen i. S. v. § 1 Abs. 1 S. 2 BauO NRW (+) Ausnahmen § 63 I S. 1 a. E. BauO NRW Hier § 65 I Nr. 22 BauO NRW Der Fahnenmast ist nicht genehmigungsbedürftig. Da ein Fahnenmast zum Anbringen von Fahnen bestimmt ist, ist auch das Hissen einer Fahne grundsätzlich von der Genehmigungsfreiheit erfasst. Daher kommt es für die Zulässigkeit des Fahnenmastes mit der Fahne allein auf die materielle Illegalität an. II. Materielle Illegalität Erforderlich ist, dass sich die materielle Illegalität des Fahnenmasts mit Fahne aus einem Verstoß gegen eine zumindest auch dem Schutz des A dienende Vorschrift ergibt (drittschützende Norm). 21 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung 1. Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs des A? Schutzanspruch des Nachbarn gerichtet auf die Wahrung der Gebietsart nach der BauNVO. Gilt auch bei einem faktischen Wohngebiet wie hier gem. § 34 II BauGB i. V. m. § 4 BauNVO (allgemeines Wohngebiet) a. Gebietsunverträgliche Nutzung? - Keine gem. § 4 II BauNVO zulässige Nutzung. - Gem. § 4 III Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulässige Nutzung, wenn es sich bei dem Fahnenmast um einen nicht störenden Gewerbebetrieb handelt: „Ein Gewerbebetrieb im Sinne von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO 1968 liegt hier nicht vor. "Gewerbebetrieb" im Sinne des § 8 BauNVO ist ein gerichtlich in vollem Umfang überprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff. Ein solches Gewerbe ist jede selbständige, auf Dauer und auf Gewinnerzielung angelegte Tätigkeit. […] Die Beigeladenen betreiben jedoch mit der am Fahnenmast gehissten Fahne von Borussia Dortmund ganz erkennbar keine selbstständige, auf Dauer und auf Gewinnerzielung angelegte Tätigkeit.“ (VG Arnsberg, Urt. v. 15.07.2013 – 8 K 1679/12, Rn. 30, 32) 22 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung b. Zulässigkeit aufgrund von § 14 I S. 1 BauNVO? Fahnenmast mit Fahne als untergeordnete Nebenanlage oder Einrichtung, die dem Wohnzweck dient und diesem seiner Eigenart nach nicht wiederspricht? „Der Fahnenmast mit aufgezogener Fahne in diesem Sinne stellt eine im reinen Wohngebiet zulässige Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO dar. […] Der Fahnenmast mit Fahne stellt sich seiner Dimension nach gegenüber dem Wohngebäude als untergeordnet dar. Er dient dem Nutzungszweck des Wohnens, weil er eine nach außen dokumentierte Verbundenheit der Bewohner des Grundstücks mit bestimmten Ereignissen, Hobbys oder ähnlichem dokumentiert. Als solcher ist er auch nur dort sinnvoll, wo sich die Personen regelmäßig aufhält, um hier den nach außen sichtbaren gewünschten Bezug zu erreichen. An einer anderen Stelle aufgebaut und aufgezogen kann dieser Zweck nicht erreicht werden, weil dann der nötige Bezug der gemäß Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützten Meinungsfreiheit sinngemäß dergestalt "Der Fußballverein BVB ist derjenige, dem meine sportliche Verbundenheit und Unterstützung gilt" nicht hergestellt werden kann. Das ist aber typischerweise beim Wohnhaus der Fall, weil hier ein ersichtlicher Bezug zwischen dem persönlichen Lebensbereich des Vereinsfans und seiner äußeren Meinungsbekundung besteht.“ (VG Arnsberg, Urt. v. 15.07.2013 – 8 K 1679/12, Rn. 37) 23 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Aber Keine Nebenanlage i. S. v. § 14 I S. 1 BauNVO, wenn es sich um eine Werbeanlage handelt, da eine solche grundsätzlich als eigenständige Hauptnutzung gem. §§ 2 ff. BauNVO zu betrachten ist. Legaldefinition in § 13 I S. 1 BauO NRW: „Anlagen der Außenwerbung (Werbeanlagen) sind alle ortsfesten Einrichtungen, die der Ankündigung oder Anpreisung oder als Hinweis auf Gewerbe oder Beruf dienen und vom öffentlichen Verkehrsraum aus sichtbar sind.“ 24 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung „11. Die Annahme, die Beigeladenen wollten mit der Aufstellung des Fahnenmastes […] für die börsennotierte Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA Werbung im oben beschriebenen Sinne betreiben, ist fernliegend. […] Über die Erscheinung des Fahnenmastes nach außen und die ohnehin nur einem begrenzten Betrachterkreis bekannten gesellschaftsrechtlichen Hintergründe des Vereins Borussia Dortmund hinaus tragen die Kläger nichts gegen diese Wertung des Verwaltungsgerichts vor. […] Der hier in Rede stehende Standort des Fahnenmastes im Privatgarten eines an einer kleinen Wohnstraße an der Grenze zum Außenbereich gelegenen Wohnhauses mit eingeschränkter Wahrnehmbarkeit vom öffentlichen Verkehrsraum aus belegt dagegen gerade seine ausschließliche Wohnbezogenheit. Die Begeisterung für den Fußball als solchen und für die einzelnen Fußballvereine ist in der Bevölkerung weit verbreitet und wird landesweit von einer Vielzahl von Anhängern typischerweise durch die Verwendung von Fanartikeln jedweder Art auch in der Öffentlichkeit kundgetan. Sofern dies - wie hier - im privaten Bereich ohne erkennbares gewerbliches Interesse und mit einem klaren Bezug zu den Bewohnern des Grundstücks geschieht, hält sich das durch das Aufziehen einer Fahne sichtbar gemachte Bekenntnis zu einem Fußballverein als eine private Lebensäußerung im eigenen Wohnbereich innerhalb der Variationsbreite bauplanungsrechtlich zulässiger Wohnnutzung […]. 25 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung 12. Soweit die Kläger meinen, das Zeigen der Vereinsfahne eines börsennotierten Fußballvereins habe ohne weiteres gewerblichen Charakter, verkennen sie den rechtlichen Prüfungsmaßstab. Nicht allein das Erscheinungsbild der Anlage, um die es geht, sondern insbesondere die konkreten Umstände ihrer Verwendung und ihre Zweckbestimmung bestimmen in der Zusammenschau, ob sie den Charakter einer Werbeanlage und damit den Charakter einer gewerblichen Nutzung hat.“ (OVG Münster, Beschl. v. 08.07.2014 – 10 A 1787/13, Rn. 11 f., eigene Hervorhebung) Bei dem Fahnenmast und der daran angebrachten Fahne des X-Vereins handelt es sich daher nicht um eine Werbeanlage i. S. v. § 13 I S. 1 BauO NRW. Der Fahnenmast stellt vielmehr eine in einem allgemeinen Wohngebiet zulässige Nebenanlage i. S. v. § 14 I S. 1 BauNVO dar. 26 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung „Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Fahnenmast der Hauptnutzung des Grundstücks, auf dem er steht, räumlich und funktional unterordnet und als Nebenanlage im Sinne von § 14 Abs. 1 BauNVO dem Charakter eines reinen oder allgemeinen Wohngebietes im Sinne der §§ 3 beziehungsweise 4 BauNVO nicht widerspricht. Er stellt insbesondere keine Anlage der Außenwerbung dar, welche Fremdwerbung zum Gegenstand hat und deshalb als bauliche Anlage im Sinne des § 29 Satz 1 BauGB bauplanungsrechtlich als eigenständige Hauptnutzung gemäß den §§ 2 ff. BauNVO zu betrachten sein könnte. Dem Fahnenmast fehlt bereits die für eine Werbeanlage notwendige werbliche Funktion. […] Jedenfalls kann die Art der baulichen Nutzung nicht losgelöst von der mit der baulichen Anlage verfolgten Zweckbestimmung beurteilt werden. Ob eine Anlage eine werbende Funktion hat, lässt sich nicht generell, sondern nur im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der örtlichen und sonstigen Gegebenheiten beurteilen.“ (OVG Münster, Beschl. v. 08.07.2014 – 10 A 1787/13, Rn. 7) 27 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung c. Zwischenergebnis Da es sich bei dem Fahnenmast mit der Fahne um eine gem. § 14 I S. 1 BauNVO zulässige Nebenanlage handelt, ist der Gebietserhaltungsanspruch von A nicht verletzt. 2. Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme, § 15 I S. 2, II BauNVO/§ 34 I BauGB Im Einzelfall sind Anlagen der §§ 2 bis 14 BauNVO unzulässig, falls von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebietes unzumutbar sind. „Ebenso wenig bestehen Bedenken an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils insoweit, als das Verwaltungsgericht in Bezug auf die Wohnruhe, die die Nachbarn der Beigeladenen für ihre in einem Wohngebiet liegenden Grundstücke beanspruchen können, einen Verstoß gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB beziehungsweise in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Rücksichtnahmegebot zu Lasten der Kläger verneint hat. […] Bei einer solchen Entfernung [ 10 Meter] hält es der Senat mit dem Verwaltungsgericht für ausgeschlossen, dass die Grenze der Zumutbarkeit wegen akustischer und oder optischer Beeinträchtigungen durch die BVB-Fahne zu Lasten der Kläger überschritten wird […]“ (OVG Münster, Beschl. v. 08.07.2014 – 10 A 1787/13, Rn. 14) 28 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung 3. Zwischenergebnis Der Fahnenmast mit der Fahne verstößt nicht gegen den A schützende Vorschriften, sodass eine Rechtsverletzung des A nicht besteht. A hat mithin keinen Anspruch auf behördliches Einschreiten nach § 61 I S. 1, 2 BauO NRW . IV. Ergebnis Die zulässige Klage des A ist unbegründet. Anmerkung: Wer hier davon ausgeht, dass der Fahnenmast aufgrund eines Verstoßes gegen auch den A schützenden Normen materiell illegal ist, muss im Folgenden prüfen, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, sodass A einen Anspruch darauf hat, dass die Behörde die Beseitigung anordnet, oder ob lediglich ein Anspruch des A gegen die Behörde auf Entscheidung in der Sache besteht. 29 Professor Dr. Christian Koenig, LL.M. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Professor Dr. iur. Christian Koenig, LL.M. (LSE) Geschäftsführender Direktor Zentrum für Europäische Integrationsforschung Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Walter-Flex-Str. 3 53113 Bonn Telefon: +49 228 73-1891 Fax: +49 228 73-1893 [email protected] http://www.zei.de/
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