Diss

Enslerische Phantasmagorien
Intermedialität und Intertextualität in Erzählungen
von E.T.A. Hoffmann, Chamisso und Jean Paul
Der Philosophischen Fakultät / Fachbereich Neuere Deutsche Literaturwissenschaft
der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg
zur
Erlangung des Doktorgrades Dr. phil.
vorgelegt von
Volkmar Rummel
aus Fürth (Bayern)
Als Dissertation genehmigt
von der Philosophischen Fakultät
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Tag der mündlichen Prüfung: 25.2.2015
Vorsitzende des Promotionsorgangs: Prof. Dr. Christine Lubkoll
Gutachter: Prof. Dr. Dirk Niefanger
Prof. Dr. Gunnar Och
2
3
Inhalt
Danksagungen ........................................................................................................................ 7
1. Problemstellungen und Forschungsüberblick .................................................................... 9
1.1. Intertextuelles Vorspiel ............................................................................................... 9
1.2. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht im Spiegel der Forschungsliteratur ......... 11
1.2.1. Die Abenteuer der Silvesternacht in verschiedenen literarischen Kontexten .... 13
1.2.2. Die Abenteuer der Silvesternacht als phantastischer Text ................................. 24
1.2.3. Identität, Spiegel und Gemälde in den Abenteuern der Silvesternacht .............. 26
1.3. Problemstellungen und Vorgehensweise .................................................................. 43
2. Intermedialität und Intertextualität von der theoretischen Seite ...................................... 48
2.1. Die Intermedialität von Texten ................................................................................. 48
2.1.1. Der problematische Begriff des ‚Mediums‘ ....................................................... 48
2.1.2. Modellvorstellungen von Intermedialität ........................................................... 53
2.2. Die Intertextualität von Texten ................................................................................. 65
2.2.1. Das Konstrukt des Text-Begriffs........................................................................ 65
2.2.2. Modellvorstellungen von Intertextualität ........................................................... 66
2.3. Paratexte und Frames ................................................................................................ 73
3. Erzähl-Rahmen und andere Rahmen bei Hoffmann, Chamisso und Jean Paul ............... 79
3.1. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht als Teil der Fantasiestücke in Callot‘s
……Manier ....................................................................................................................... 79
3.1.1. Die Fantasiestücke in Callot’s Manier .............................................................. 79
3.1.2. Die Erzählrahmen von den Abenteuern der Silvesternacht und eine
……..Inhaltsskizze ....................................................................................................... 84
3.2. Die Erzählrahmen von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame
……Geschichte ................................................................................................................. 93
3.2.1. Die Rahmen der ersten Auflage von Peter Schlemihls wundersamer
……..Geschichte ........................................................................................................... 95
3.2.2. Peter Schlemihls Manuskript ........................................................................... 100
3.3. Chamissos Peter Schlemihl und Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht ............ 103
3.4. Die Erzählrahmen von Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft in der
……Neujahrsnacht ......................................................................................................... 106
3.4.1. Die Entstehungsgeschichte und biographischen Epitexte der Niederschrift .... 106
3.4.2. Jean Pauls „Jean Paul“ – der Erzähler vieler Werke ........................................ 109
3.4.3. Die Peritexte der Wunderbaren Gesellschaft ................................................... 111
3.4.4. Die Erzählrahmen in der Wunderbaren Gesellschaft und Skizzen ihres
……..‚rätselhaften‘ Inhalts ......................................................................................... 115
3.5. Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft und Hoffmanns Abenteuer der
……Silvesternacht .......................................................................................................... 120
4. Der physiognomische Diskurs ....................................................................................... 122
4
4.1. Physiognomik als Wissenschaft und Unterhaltung ................................................. 122
4.1.1. Fragmente – der Diskurs über die Physiognomik ............................................ 122
4.1.2. Silhouetten – die Physiognomik im Alltag ...................................................... 127
4.2. Physiognomik und Physiognomie in den Werken Chamissos, Hoffmanns und
…...Jean Pauls ................................................................................................................ 131
4.2.1. Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Chamisso ............................... 131
4.2.2. E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht ............................................. 143
4.2.3. Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht ............................ 152
5. Vorstellungen von der Wirklichkeit in der Philosophie Fichtes und der romantischen
…Literatur .......................................................................................................................... 159
6. Die Entwicklung, Rezeption und Charakteristika der Projektionsmedien ..................... 169
6.1. Die einzelnen Projektionsmedien von ihrer technischen Seite ............................... 170
6.2. Die Einsatzweisen der Projektionsmedien .............................................................. 175
6.3. Die „optischen Vorstellungen“ Johann Karl Enslens .............................................. 190
6.4. Die Charakteristika von Phantasmagorien – eine Zusammenfassung .................... 199
7. Projektionsmedien in der Literatur ................................................................................. 203
7.1. Referenzen auf Projektionsmedien in Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht . 203
7.2. Die Suche nach einer Ästhetik der Phantasmagorien in Chamissos Peter
……Schlemihl ................................................................................................................. 222
7.3. Die Suche nach einer Ästhetik der Phantasmagorien in Jean Pauls Wunderbarer
……Gesellschaft ............................................................................................................. 231
8. Nicolais Phantasmen und Jean Pauls Gestalten – Innere Bilder und Phantasmagorien. 240
9. Die Intertexte von Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Silvesternacht ................ 257
9.1. Die unmarkierten, intertextuellen Bezüge auf Jean Pauls Wunderbare
……Gesellschaft in den Abenteuern der Silvesternacht ................................................. 257
9.2. Die ‚unbedeutenderen‘, ‚markierten’ Intertexte von Hoffmanns Abenteuern der
……Silvesternacht .......................................................................................................... 267
9.3. Die intertextuellen Bezüge von den Abenteuern der Silvesternacht auf Peter
……Schlemihls wundersame Geschichte ....................................................................... 272
9.3.1. Markierte Referenzen auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte in den
……..Abenteuern der Silvesternacht ......................................................................... 272
9.3.2. Vergleich dreier Figuren aus den Werken von Hoffmann und Chamisso ....... 275
10. Die Intertexte von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte . 303
10.1. Fortunatus-Dichtungen als Intertexte von Peter Schlemihls wundersamer
…….Geschichte .............................................................................................................. 303
10.1.1. Hoffmanns und Chamissos Rezeption des Fortunatus-Stoffs im
……….Allgemeinen .................................................................................................. 303
10.1.2. Vergleich Peter Schlemihls mit den Figuren der Fortunatus-Dichtungen ..... 309
10.2. Chamissos Peter Schlemihl und Grimmelshausens Vogelnest-Träger ................. 340
10.3. Chamissos Peter Schlemihl und Tiecks Thomas Däumchen ................................ 347
5
10.4. Unbedeutendere Intertexte von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte ........ 350
10.5. Mythologisches und Fouqués Held des Nordens in Peter Schlemihls
……..wundersamer Geschichte ...................................................................................... 353
10.6. Der noch unbekannte Intertext von Chamissos Peter Schlemihl .......................... 355
10.7. Von Chamissos Quellen zu Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht ............... 356
11. Schluss .......................................................................................................................... 360
12. Postskriptum: Hans Christian Andersen ...................................................................... 364
13. Anhang: Chamissos Fortunatus-Vorlage ..................................................................... 368
14. Literatur-Verzeichnis ................................................................................................... 372
14.1. Siglen-Verzeichnis ................................................................................................ 372
14.2. Verzeichnis der Werksausgaben und Quellen ....................................................... 373
14.3. Verzeichnis der Sekundärliteratur ......................................................................... 377
6
Danksagungen
An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mein Dissertationsprojekt
unterstützt haben – allen voran meinen Eltern, die in finanzieller und logistischer Hinsicht die
Arbeit förderten.
Der Richard-Wagner-Stipendien-Stiftung und dem Richard-Wagner-Verband Nürnberg bin
ich zum Dank verpflichtet, dass sie meine intermedialen und kulturwissenschaftlichen Forschungen mit einem Richard-Wagner-Stipendium honorierten. Der damit verbundene Besuch
von Vorstellungen auf den Bayreuther Festspielen 2012 betrachte ich in vielerlei Hinsicht als
beträchtliche Horizonterweiterung.
Wertvolle Anregungen zur Recherche im Bereich der Projektionskunst um 1800 erhielt ich
vom Museum „augenblick“ für optische und akustische Attraktionen in Nördlingen, dessen
Vorführung antiker Slides in historischen Zauberlaternen sich als eine wertvollen Ergänzung
des Quellenstudiums und der Lektüre von Fachliteratur erwies.
Folgenden Personen (in alphabetischer Reihenfolge) fühle ich mich besonders zu Dank verpflichtet. Frau Prof. Lubkoll beauftragte mich mit dem Artikel „Hoffmann als Zeichner“ für
das Hoffmann-Handbuch des Metzler-Verlages (erschienen Oktober 2015). So war es mir
möglich, Recherchen, die keinen Eingang in die Dissertation finden konnten, zu vertiefen und
zu publizieren. Damit ergab sich auch ein Themenbereich der mündlichen Prüfung. Martin
Neubauer, dem Leiter des Bamberger Brentano-Theater, verdanke ich einige Hinweise auf
Bücher und Einblicke in romantische Kontexte. Prof. Dr. Niefanger danke ich für die ernsthafte Betreuung des Dissertationsprojektes und die damit verbundenen Ratschläge zu seiner
Umsetzung. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Gunnar Och danke ich für die Darlegung seiner
Sicht auf das Verhältnis der Werke von Jean Paul und Hoffmann – am meisten aber für die
Organisation der Jean-Paul-Ringvorlesung mit ihren anregenden Diskussionen im Jubiläumsjahr 2013. Dem Literaturwissenschaftler, Kulturhistoriker, Kurator und Publizist Dr. Stephan
Oettermann danke ich für die bereitwilligen Auskünfte über seine Forschungen zu Johann
Karl Enslen und dessen Adoptivsohn.
Zuletzt danke ich der Friedrich-Alexander-Universität und der Universitätsbibliothek für die
Möglichkeit der Online-Publikation von Dissertationen. Andernfalls lägen die Forschungsergebnisse zu einem deutlich späteren Zeitpunkt vor.
Erlangen, im Januar 2016
Volkmar Rummel
7
8
1. Problemstellungen und Forschungsüberblick
1.1. Intertextuelles Vorspiel
Jean Paul: „Guten Morgen, Alter! Lies doch das seltsame Ding von Chamisso [= Peter Schlemihls
1
wundersame Geschichte], worüber ich viel reden möchte“.
Adalbert von Chamisso: „Freilich muß ich selbst gestehen, daß es um die Geschichte Schad [sic!] ist,
die unter des guten Mannes Feder [= Peter Schlemihl] nur albern geworden, daß sie nicht von einer geschickteren fremden Hand in ihrer ganzen komischen Kraft dargestellt werden kann. – Was würde nicht
2
Jean Paul daraus gemacht haben“ (PS 18)!
Adalbert von Chamisso: „Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher ich [= fiktiver Hitzig] es
Hoffmann zuerst vorlas. Außer sich vor Vergnügen und Spannung, hing er an meinen Lippen, bis ich
vollendet hatte; nicht erwarten konnte er, die persönliche Bekanntschaft des Dichters zu machen, und,
sonst jeder Nachahmung so abhold, widerstand er doch der Versuchung nicht, die Idee des verlornen
Schattens in seiner Erzählung: ›Die Abenteuer der Sylvesternacht‹[…], durch das verlorne Spiegelbild
des Erasmus Spikher, ziemlich unglücklich zu variieren“ (PS 20).
E.T.A. Hoffmann: „[Immer] mehr regte sich eine Ahnung in meinem Innern, und es war mir, als habe
3
ich den Fremden [= Peter Schlemihl] nicht sowohl oft gesehen als oft gedacht“ (AS 334).
Jean Paul: „Als das [Werk] eines jungen Autors, war es lobenswerth, wiewohl nicht von selbstständigem Gehalt, mit Ausnahme der Ansichten über Musik, weil er diese Kunst gründlich studi[e]rt hat, andere daher nicht so eingehend über diese zu schreiben wissen. Sonst aber ist in dem ersten wie in den
folgenden Werken das Beste Nachahmung und Plünderung, besonders von Tieck und mir [= Jean
4
Paul]“.
E.T.A. Hoffmann: „Murr! – Murr! schon wieder ein Plagiat! – In Peter Schlemihls wundersamer Ge5
schichte beschreibt der Held des Buches seine Geliebte, auch Mina geheißen, mit denselben Worten“.
In diesen Äußerungen spiegelt sich das Verhältnis zwischen drei Autoren in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts wider. Wie das überlieferte Material zeigt, rieben sich offenbar die Vorstellungen von Literatur bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822), Adelbert von Chamisso (17811838) und Jean Paul (1763-1825) aneinander.6 Man nahm sich gegenseitig ernst und setzte
sich mit den Schöpfungen der anderen auseinander. Auf die tatsächliche Beziehung der ge-
1
Jean Paul an Christian Otto, 1814 oder 1815 (?), in: ders.: Briefe 1809-1814, III. Abt., Bd. 6. Hg. v. Eduard
Berend, Berlin 1952 (Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Preußischen
Akademie der Wissenschaften, begründet v. Eduard Berend, 56ff. Bde. Hg. v. Eduard Berend, Weimar, I Abt.,
Bd. 1, 1927), 416.
2
Alle Siglen dieser Monographie werden in einem eigenen Verzeichnis aufgeführt. Sie erscheinen in den meisten Fällen als Doppelbuchstabe, abgeleitet aus dem Werktitel, und Seitenzahl. „PS 18“ heißt „Peter Schlemihls
wundersame Geschichte, Seite 18“ in der Werksausgabe, die in dem Siglen-Verzeichnis angegeben ist. Entsprechend sind im Folgenden AS, AS*, NG, NG*, NP, BT, FA, FC, VG1 und VG2 mit dem Hilfsmittel aufzulösen.
3
E.T.A. Hoffmanns Titel „Die Abentheuer der Sylvester-Nacht“ wird im Gegensatz zu der verwendeten Werksausgabe (s. Siglen-Verzeichnis) im Folgenden konsequent der modernen Rechtschreibung angepasst. Vgl. die
originale Schreibweise bei Hoffmann, E.T.A.: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Hg. v. Barbara Neymeyr,
Stuttgart 2005.
4
Rellstab, Ludwig: Blätter der Erinnerung. Berlin, Oktober 1839 [Unterhaltung Rellstabs mit Jean Paul am 28.
August 1821 in Bayreuth], in: Friedrich Schnapp (Hg.): E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde
und Bekannten, München 1974, 596.
5
Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters
Johannes Kreisler in zufälligen Makultarblättern, in: ders: Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 18201821, Bd. 5. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen, Frankfurt a. M. 1992, 9-458, hier
361.
6
Alle drei Dichter tragen ‚Künstlernamen‘. Eigentlich hießen sie – in obiger Reihenfolge – Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, Louis Charles Adélaїde de Chamissot de Boncourt und Johann Paul Friedrich Richter.
9
nannten Schriftsteller haben nur einige7 der präsentierten Sätze Einfluss ausgeübt, nämlich
diejenigen, die während der sich teilweise überlappenden Lebzeiten veröffentlicht wurden.
Zwischen Hoffmann und Chamisso entwickelte sich eine Art Freundschaft, während Jean
Paul Hoffmanns Werke zunehmend ablehnt.8 Obwohl Hoffmann gegenüber seinem ersten
Verleger Carl Friedrich Kunz deutliches Missfallen an dem bei Jean Paul bestellten und kritisch ausgefallene Vorwort für die Fantasiestücke in Callot’s Manier bekundet hat,9 liest er
weiterhin Werke des bereits etablierten Dichter-Kollegen10 und schickt ihm gegen Lebensende noch den Kater Murr, die fiktive Autobiographie einer plagiierenden Hauskatze. Bei den
drei miteinander konkurrierenden Autoren ist es gut möglich, dass gerade gewisse Gemeinsamkeiten ein Bedürfnis nach individueller Abgrenzung aufkommen ließ. In wie weit sie alle
intertextuelle und intermediale Schreibweisen favorisieren, lassen die zitierten Passagen nicht
erkennen. Sie beziehen sich lediglich mehr oder minder direkt auf den Inhalt von E.T.A.
Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht, dem zentralen Untersuchungsgegenstand dieser
Monographie. Der spätromantische Text eröffnet 1815 den vierten und letzten Band der Fantasiestücken in Callot‘s Manier, der ersten Erzählsammlung des Autors. Eine gründliche Untersuchung der Intertextualität und damit verbunden auch der Intermedialität dieses einen
Fantasiestücks wird als Ziel ins Auge gefasst.
7
Jean Pauls Gespräch gelangte erst nach Hoffmanns (1822) und Jean Pauls Tod (1825) an die Öffentlichkeit;
Hoffmann ist auch schon tot, als er in der zweiten Auflage von Peter Schlemihls wundersamen Geschichte
(1827) kritisiert wird.
8
Vgl. Fischer, Robert: Adelbert von Chamisso. Weltbürger, Naturforscher und Dichter, Berlin / München 1990,
122ff. und Pfeiffer-Belli, Wolfgang: E.T.A. Hoffmanns Begegnungen mit Jean Paul, in: Hesperus. Blätter der
Jean-Paul-Gesellschaft 11(1956), 49-51.
9
Vgl. E.T.A. Hoffmann an Carl Friedrich Kunz, 24.3.1814, in: Hoffmann, E.T.A.: Späte Prosa, Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen, Juristische Schriften. Werke 1814 - 1822, Bd. 6. Hg. v. Gerhard Allroggen, Frankfurt
a. M. 2004, 32.
10
Hoffmann setzt in den Serapions-Brüdern den Inhalt eines Aufsatzes über Magnetismus (Ende 1814) von Jean
Paul als bekannt voraus. Vgl. Gerhard Neumann: Narration und Bildlichkeit. Zur Inszenierung eines romantischen Schicksalsmusters in E.T.A. Hoffmanns Novelle Doge und Dogaresse, in: Gerhard Neumann / Günter
Oesterle (Hgg.): Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 1999, 107-142, hier 131. Gleich zwei Exemplare
von Jean Pauls Roman-Fragment Der Komet enthielt Hoffmanns Nachlass. Vgl. Steinecke, Hartmut: E.T.A.
Hoffmanns Bibliothek. Eine Rekonstruktion anhand des Auktionsverzeichnisses, in: Hoffmann Jb 16 (2008), 739, hier 8 und 21.
10
1.2. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht im Spiegel der Forschungsliteratur
Vor dem Formulieren ‚eigener‘ Forschungsfragen ist es immer sinnvoll und notwendig, sich
einen Überblick über das bereits vorhandene Wissen und Problemstellungen zu verschaffen.
Gemessen an Werken wie Lessings Nathan der Weise oder Goethes Faust, haben die Abenteuer der Silvesternacht bislang nur wenige literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen
nach sich gezogen. Das hat den Vorteil oder auch den Nachteil, dass so gut wie ‚alles‘ berücksichtigt und ausführlich gewürdigt werden kann. Trotzdem sind die Grenzen des Forschungsüberblicks aufzuzeigen. Kommentare in Werksausgaben,11 die längst Eingang in die
Analysen der Literaturwissenschaftler gefunden haben, werden genauso wenig berücksichtigt,
wie das Handbuch-Wissen der jüngeren Zeit.12 Vollständigkeit ist nicht zu erzielen, denn es
gibt allein in Hoffmanns Schaffen genügend Themen, bei denen die Abenteuer der Silvesternacht berücksichtigt oder wenigstens erwähnt werden müssen.13 Spikhers Italienreise z.B.
findet natürlich ihren Eingang in eine Untersuchung von Hoffmanns Italien-Mythos.14 Eine
Beschränkung auf die deutschsprachige Forschung liegt nicht vor, doch ist dieser HoffmannText bis auf wenige Ausnahmen15 nur in ihr präsent. Das mag verwundern, da es im 19. Jahrhundert Hoffmann-Moden in Russland und Frankreich gegeben hat. Von letzterer zeugt heute
hauptsächlich die noch immer populäre Oper Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach, deren französisches Libretto starke inhaltliche und strukturelle Anleihen an den Abenteuern der Silvesternacht nimmt. Literatur zu diesem musikdramatischen Werk wird nur in
einem Ausnahmefall benutzt,16 weil sie vorwiegend musikwissenschaftliche Fragestellungen
befriedigt.
11
Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht
unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold u. Ursula Segebrecht, Frankfurt a.
M. 1985ff.
12
Z.B.: Deterding, Klaus: Hoffmanns Erzählungen. Eine Einführung in das Werk E.T.A. Hoffmanns, Würzburg
2007.
13
Z.B.: Asche, Susanne: Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst. Die Funktion des Weiblichen in
den Schriften der Frühromantik und im erzählerischen Werk E.T.A. Hoffmanns (Hochschulschriften Literaturwissenschaft 69), Königstein im Taunus 1985, 123ff.
14
Vgl. Schumacher, Hans: Der Italiener als Doppelgänger des Deutschen. Zu E.T.A. Hoffmanns Italienmythos,
in: Giulia Cantarutti / Hans Schumacher (Hgg.): Germania – Romania. Studien zur Begegnung der deutschen
und romanischen Kultur, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1990, 169-206, 173f.
15
Vgl. Kontje, Todd: Biography in Triplicate: E. T. A[.] Hoffmann’s “Die Abenteuer der Silvester-Nacht“, in:
GQ 58/3 (Summer 1985), 348-360; Chalupa, Cynthia: Re-Imaging the Fantastic: E. T. A. Hoffmann’s “The
Story of the Lost Reflection”, in: Marvels & Tales. Journal of Fairy-Tale-Studies 20/1 (2006), 11-29 und Giraud,
Jean: E.T.A. Hoffmann: Die Abenteuer der Silvesternacht. Le double Visage, in: Recherches germaniques 1
(1971), 109-145. Dieser Aufsatz wird hier nicht besprochen, da er trotz seiner Bekanntheit in der Forschungsgeschichte kaum eine Rolle gespielt hat – und ihm nichts dezidiert Neues mehr abzugewinnen ist.
16
Vgl. Mazza, Ethel Matala de: Erinnerungen, Wiederholungen, Löscharbeiten. Zur Nachtseite der Bilder in
E.T.A. Hoffmanns Abenteuern der Silvester-Nacht, in: Gerhard Neumann (Hg.): ‚Hoffmanneske Geschichte‘. Zu
einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (Stiftung für Romantikforschung 32), Würzburg 2005, 153178.
11
Da das Interesse an Hoffmanns Werken in literaturwissenschaftlichen Kreisen (bekanntlich)
erst relativ spät einsetzte, reicht der Forschungsüberblick nicht weit in die Vergangenheit zurück.17 Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hielt sich das Vorurteil, dass er nur
triviale Literatur geschaffen habe. Unter diesen Umständen musste die Wertschätzung eines
Fantasiestücks, das schon bei den Freunden des Autors durchgefallen ist, erst einmal wachsen. Erste Studien machen die Abenteuer der Silvesternacht erst zum ‚salonfähigen‘ Untersuchungsgegenstand, indem sie diese in rezeptions-, stoff- oder motivgeschichtlichen Kontexten
behandeln und positiv besprechen. Mit ihnen beginnt der Forschungsüberblick, für den die
Chronologie des Erscheinens ein eher sekundäres Gliederungskriterium sein soll. Es wird eine
methodisch-thematische Anordnung versucht, in der sich Entwicklungstendenzen der Forschung andeuten, d.h. es wird bewusst gegen die Chronologie verstoßen. Zwischenüberschriften sollen die besprochenen Beiträge deutlich voneinander abgrenzen und die Aufmerksamkeit auf die Inhalte lenken, die von mir für wichtig oder zentral erachtet werden.
Zu hochdramatischen Kontroversen ist es erstaunlicherweise bislang nicht gekommen. Dabei
ist z.B. bis heute letztendlich nicht geklärt, wer oder was als Doppelgänger der Protagonisten
zu verstehen ist. Dämonische Figuren, vom Körper getrennte Schatten bzw. Spiegelbilder
oder Leidensgenossen der gerade in der Erzählung zentralen Personen kommen hierfür in
Frage. Jean Paul, der den Begriff des ‚Doppelgängers‘ erfunden hat, präsentiert in seinen Romanen Zwillingsbrüder und Freundespaare, die sich einander ähnlich sehen und über komplementäre Wesensarten verfügen. In struktureller Hinsicht erfüllen die genannten Doppelgänger-Kandidaten bei Chamisso und E.T.A. Hoffmann Aspekte von Jean Pauls Konstrukt.
Einigkeit herrscht auch hinsichtlich der Auffassung, dass das ganze Fantasiestück oder Teile
von diesem der literarischen Phantastik zuzurechnen sind, obwohl um eine gültige Definition
des Phantastischen jenseits des Werkes bis heute gerungen wird.
Ein kleines Scharmützel hat es ansatzweise zwischen der Intermedialitätsforschung und Befürworter(innen) karnevalistischer Lesarten gegeben, die nur in der Kritik Erwiderung gefunden haben. Lediglich die jüngste Veröffentlichung von Christian Baier besitzt Potential, Widerspruch zu ernten: die vexierbildartigen Abenteuer der Silvesternacht erlauben bzw. befördern eine Reihe von gut begründeten, möglichen Sichtweisen. Am Anfang der Forschung
stehen – wie gesagt – Arbeiten in stoff- und motivgeschichtlicher Tradition, die sich rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen und dem Phänomen der Intertextualität widmen.
17
Ältere Literatur wurde nicht speziell gesucht, was nicht heißen soll, dass es überhaupt keine früheren Würdigungen des Fantasiestücks gibt.
12
1.2.1. Die Abenteuer der Silvesternacht in verschiedenen literarischen Kontexten
Ernst Fedor Hoffmann: Brentanos Kritik an den Abenteuern der Silvesternacht (1970)
Der Literaturwissenschaftler Ernst Fedor Hoffmann thematisiert die ähnlichen Motive, Spiegelbild und Schatten bei Brentano, Hoffmann und Chamisso.18 Seine pointiert formulierten
Beobachtungen zu den Abenteuern der Silvesternacht werden häufig in der Sekundärliteratur
zum Text zitiert, obwohl der interpretatorische Schwerpunkt auf einem Werk Brentanos liegt,
Die Chronica eines fahrenden Schülers von 1816. Ausgehend von der darin enthaltenen Spiegelparabel werden Brentanos Weltsicht und ästhetischen Prämissen rekonstruiert,19 vor deren
Hintergrund überhaupt erst seine erhaltenen Äußerungen zu den Abenteuern der Silvesternacht verständlich werden. Am liebsten hätte er sie umgeschrieben.20 In dem Entwurf eines
unvollendeten Briefs an E.T.A. Hoffmann, der diesen folglich nie erreichte, übt er harsche
Kritik an der Gestaltung von Spikhers Geschichte vom verlorenen Spiegelbild und ihrem Ende, weil er sich mit dieser Figur identifiziert – obgleich er in ihr ein Selbstbildnis des empirischen Autors vermutet.21 Brentano ängstigt das unbewusst angefertigte Bild von seiner eigenen Person ebenso wie alle sich selbst spiegelnde Poesie, die er im Grunde genauso wie
Hoffmann produziert.22 Bei Brentano ist das Spiegelbild als Symbol der Künstlerseele und
des Liebendenden idealerweise fest in der Ordnung eines christlichen Weltbildes verankert.23
Da in Hoffmanns Erzählung die Spiegel in die Runde gestellt sind und daran scheitern, das
unsichtbare Zentrum, auf das sie hinweisen, einzufangen, offenbart sich in dem Kunstwerk
keine jenseitige oder metaphysische Ordnung.24 Eine Erlösung Spikhers erscheint unmöglich,
nachdem er seine Unschuld zusammen mit dem Spiegelbild verloren hat.25 Brentano sieht
18
Vgl. Hoffmann, Ernst Fedor: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Brentano,
Hoffmann und Chamisso, in: Jeffrey Leonard Sammons / Ernst Schürer (Hgg.): Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur (Festschrift für Heinrich E. K. Henel), München 1970, 167-187.
19
Vgl. ders., 167-187, hier 171-176.
20
Vgl. ders., 167-187, hier 168.
21
Vgl. ders., 167-187, hier 167ff. und Clemens Brentano an Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vermutlich ab
September 1817, in: ders.: FBA 33, Briefe V (1813-1818). Hg. v. Freien Deutschen Hochstift in Verbindung mit
Sabine Oehring, Stuttgart 2000, 283ff. In diesem Zusammenhang sei auf ein Gerücht aufmerksam gemacht, das
der schwedische Dichter Atterbom in seinen Reiseerinnerungen kolportiert. Brentano habe sich als Doktor
Dapertutto melden lassen, nachdem Hoffmanns Bedienter ihm die Türe hatte weisen wollen, weil sein Herr angeblich krank sei. Daraufhin habe ihn der neugierige Schöpfer der dämonischen Figur empfangen. Vgl. Atterbom, Per Daniel Amadeus: Reisebilder aus dem romantischen Deutschland. Jugenderinnerungen eines romantischen Dichters und Kunstgelehrten aus den Jahren 1817 bis 1819. Neu hg. v. Elmar Jansen nach dem Erstdruck
»Aufzeichnungen des schwedischen Dichters P.D.A. Atterbom über berühmte deutsche Männer und Frauen
nebst Reiseerinnerungen aus Deutschland und Italien aus den Jahren 1817-1819«, Berlin 1867; Stuttgart 1970,
81f.
22
Vgl. Hoffmann 1970, 167-187, hier 167ff. Ernst Fedor Hoffmann zeigt dies an der verschachtelt erzählten
Chronica, aber auch ein Blick auf den „verwilderten Roman“ Godwi würde dies zeigen.
23
Vgl. ders., 167-187, hier 169, 177 und 180.
24
Vgl. ders., 167-187, hier 181.
25
Vgl. ders., 167-187, hier 169.
13
sich daraufhin um seine Hoffnungen betrogen. Der empirische Autor sei genauso wie Spikher
der Lust am amoralischen Spiel erlegen.26 Die vorhandene Polarität von Gut und Böse in den
Abenteuern der Silvesternacht, die die Teufelsauftritte und die Beschwörung des Heilandes
nahelegen, bestätigt in den Augen Ernst Fedor Hoffmanns tatsächlich nicht die Gültigkeit
eines christlichen Weltbildes.27 Dabei schreibt E.T.A. Hoffmann selbst gegen die wissenschaftliche Berichterstattung des autodiegetischen Erzählers seiner Vorlage, Peter Schlemihls
wundersame Geschichte von Chamisso, an.28 In ihr werden alle märchenhaften Utensilien als
noch nicht erforschte, dem Bereich der Empirie und (Natur-)Gesetze unterstellte Phänomene
betrachtet.29 Der vermeintlich objektive Stil der Studie verleitet einen, dass man Ernst Fedor
Hoffmann nur zu gerne folgen will: jedoch weiß man nicht immer sicher, die Grenze zwischen Brentanos Sichtweise und seiner Interpretation zu ziehen. Ein interessantes Schlaglicht
auf die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte ist allemal gelungen. Um größere literaturgeschichtliche Zusammenhänge kümmern sich die Verfasser der beiden nächsten Studien, die
hier vorgestellt werden.
Gero von Wilpert: Das Motiv des verlorenen Abbildes und seine Varianten (1978)
Gero von Wilperts Motivgeschichte Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen
Motivs enthält eine Besprechung von E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht.30 Der
phantastische Verlust des Spiegelbildes in Hoffmanns Text erscheint hier als Variante der
Schattenlosigkeit. Der Verfasser der schmalen Monographie betont das Romantische dieses
Motives,31 da sich seine folkloristischen Forschungen in den Gefilden des Aberglaubens als
relativ fruchtlos für die Interpretation von Peter Schlemils wundersamer Geschichte erwiesen
haben.32 In dieser Erzählung Chamissos verliert offenbar erstmals eine literarische Gestalt
ihren Schlagschatten. Literarische, andeutungsweise auch biographische Inspirationsquellen,33
26
Vgl. ders., 167-187, hier 170.
Vgl. ders., 167-187, hier 177.
28
Vgl. ders., 167-187, hier 182ff.
29
Vgl. ders., 167-187, hier 184. Diese Haltung im Text rührt aus der Philosophie der Aufklärung her, wird aber
noch von Ernst Fedor Hoffmann als eine Antizipation des Poetischen Realismus gesehen, da er noch im Banne
der Interpretationen Bennos von Wiese steht, der anhand der Erzählung die ahistorische Gattung Märchennovelle
konstruiert, für die eine Vermischung märchenhafter und realistischer Elemente konstitutiv sei. Vgl. Hoffmann
1970, 167-178, hier 182 und 187, sowie: Wiese, Benno von: Adalbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, in: ders.: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, Bd.1, Düsseldorf 1967, 97-116.
30
Vgl. Wilpert, Gero von: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs (Kröner Themata 701),
Stuttgart 1978.
31
Vgl. ders., 4.
32
Vgl. ders., 3 und 21f. Dass Aberglauben keinerlei Rolle für die romantische Dichtung spielt, darf daraus nicht
geschlossen werden. Vgl. z.B. die Sicht auf Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht von Nährlich-Slatewa,
Elena: Das Leben gerät aus dem Gleis. E.T.A. Hoffmann im Kontext karnevalesker Überlieferungen, Frankfurt
a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995, 66ff.
33
Vgl. Wilpert 1978, 29f.
27
14
werden gesucht – und gefunden. Da schon 1978 diese Art von Einflussforschung Gefahr läuft,
als „altmodische Abhandlung“ abgetan zu werden,34 übt der Verfasser in der Einleitung seiner
Monographie Selbstkritik, die an Masochismus grenzt. Er kündigt eine zumindest stellenweise, „rein positivistische Stoffhuberei“ an, die „allen Vorwürfen [gerecht würde], die man der
Stoff- und Motivforschung im letzten Jahrhundert gemacht hat“, und dementsprechend eine
„geistes- und literaturgeschichtliche Synthese“ vermissen ließe.35 Trotzdem verrennt er sich
nicht in die Rezeptionsgeschichte von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte: zahlreiche
Autoren ‚minderer Qualität‘ publizierten Schlemihliana, Nachschöpfungen und Fortsetzungen
von Chamissos Werk.36 Von Wilpert schaut sich hauptsächlich in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts um.37 Mit Timm Thaler oder das verkaufte Lachen von
James Krüss (1962) erreicht er die damalige Gegenwart.38 Hier macht der Protagonist nicht
den Schatten, sondern sein Lachen zu Geld.39
Um seiner ‚ausformulierten Zettelkastensammlung‘ zu entkommen, werden hier nur einige
Abschnitte der Arbeit betrachtet: (1) die Würdigung einer potentiellen Inspirationsquelle für
Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte, (2) die Auseinandersetzung mit den
Abenteuern der Silvesternacht40 und (3) die Verbindung von Fertilität und Schatten in nachromantischer Literatur.
(1) Eine gedankliche Verknüpfung von Geld und Schatten findet sich erstmals in Wielands
Geschichte der Abderiten, die Chamisso 1806 gelesen hat.41 In der fiktiven Chronik der antiken Polis Abdera kommt es zu einem Prozess, der das ganze Gemeinwesen spaltet. Der Gegenstand des Rechtstreits ist der Schatten eines Esels, den sich ein Mann als Reittier gemietet
und als Sonnenschutz bei einer Rast in der Mittagshitze gebraucht hat. Der ihn begleitende
Halter verlangt für die Nutzung des Schattens eine extra Leihgebühr. Körper und Schatten
bilden hier – zumindest beim Tier – ganz offensichtlich keine gedankliche Einheit mehr.42
34
Ders., 1.
Alle Zitate dieses Satzes ebd.
36
Vgl. ders., 50ff. Dass auch diesem Text-Korpus zuweilen interessante Aspekte abzugewinnen sind, zeigt Peter
Brauns Habilitationsschrift. Vgl. Braun, Peter: Mediale Mimesis. Licht- und Schattenspiele bei Adelbert von
Chamisso und Justinus Kerner, München 2007, 245ff. Nicht uninteressant erscheint auch, dass Friedrich Förster
(1791-1868), der ältere Bruder von Jean Pauls Schwiegersohn Ernst Förster in einer Erzählung Jean-PaulVerehrer und -verehrerinnen Peter Schlemihl fälschlicherweise als den inkognito reisenden Dichter die Referenz
erweisen lässt. Vgl. Förster, Friedrich: Die Geschichte einer Verwechslung in dem Reichsmarktflecken Kuhschnappel, Leipzig 1843; wieder abgedruckt in Hesperus. Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft 22 (1961), 19-29.
37
Vgl. Wilpert 1978, 3.
38
Vgl. ders., 53.
39
Ebd.
40
Vgl. ders., 57-67.
41
Vgl. ders., 28. Adelbert von Chamisso an Adelbert von Neumann, Herbst 1806, in: Chamisso, Adelbert von:
Leben:1s und 2s Buch. – Briefe, Bd. 5. Hg. v. Julius Eduard Hitzig, Leipzig 1839 (Chamisso, Adelbert von:
Chamisso’s Werke, 6. Bde. Hg. v. Julius Eduard Hitzig, , Leipzig 1836ff., Bd.1.), 161-163, hier 163.
42
Vgl. Wilpert 1978, 28.
35
15
Über Gero von Wilpert hinausgehend, ist festzustellen, dass der Rechtsstreit gesellschaftliche
Mechanismen sichtbar macht, die auf die Individuen einwirken: jeder Bürger Abderas muss
Partei ergreifen und sich einer der beiden möglichen Meinungen anschließen. Aus der Nichtigkeit einer absurden Geldforderung entsteht beinahe ein Bürgerkrieg. In Peter Schlemihls
wundersamer Geschichte passiert dies nicht: hier sind fast alle gegen einen, weil er seinen
Schatten an eine dämonische Gestalt verkauft hat. Die Besitzverhältnisse sind nur zu klar. Der
Streit um den Preis für den Rückkauf des Schattens wird – grob gesprochen – durch den Verzicht Schlemihls auf den Schatten beigelegt. Fazit: zwischen den beiden Texten bestehen,
selbst mit gutem Willen, nur latente Ähnlichkeiten. Eine assoziative Verknüpfung von Geld
und Schatten ergibt sich 1806 für Chamissos von selbst, als er bei der Dramatisierung des
Fortunatus-Prosaromans die szenischen Prämissen konsequent weiterdenkt.43
(2) Von Wilpert findet Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht vollauf geglückt,44 und verteidigt ihn gegen den zu Lebzeiten erhobenen und fortan präsenten Vorwurf des Plagiats. 45 Er
verweist auf die huldigende Praxis der Motivübernahme in der zeitgenössischen Musikkunst,
die dem praktizierenden Dirigenten und Komponisten geläufig war.46 Hoffmann würde
Schlemihls Geschichte in eine quasi-musikalische Variation auffächern,47 indem er ihr die
Abenteuer des reisenden Enthusiasten und Erasmus Spikhers zur Seite stellt. Dass es sich bei
ihren Erzählungen tatsächlich um Variationen handelt, verdeutlicht er hauptsächlich mit einer
knappen Gegenüberstellung von Spikhers und Schlemihls Lebensgeschichte.48 Dabei gelingt
es ihm, das originär Hoffmanneske in der Schreibweise namhaft zu machen: die Steigerung
der Geschichte ins Krasse und Surreal-Groteske, die jegliche Empathie für die leidenden Figuren unterbinde.49 Dafür sorgt die karikaturenhafte Darstellung der Spießerwelt als Alptraum
eines diabolischen Kulissenzaubers, in dem das Individuum zu melodramatisch-opernhaften
Gefühlsausbrüchen getrieben wird.50 Das Hyperbolische verschärft offenbar die polaren Ge-
43
Vgl. FC15, 642. Dazu unten mehr.
Vgl. ders., 51.
45
Vgl. ders., 57f.
46
Vgl. ders., 58. Eigenartigerweise verweist er in diesem Zusammenhang nicht auf die Experimente mit kollektiven Schreibweisen, an denen sich z.B. Hoffmann, Chamisso und Fouqué beteiligt haben. Vgl. Theisohn,
Philipp: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte (Kröners Taschenbuchausgabe 351), Stuttgart 2009, 295323.
47
Vgl. ders., 66.
48
Vgl. ders., 60ff.
49
Vgl. ders., 64f. Dass diese Tendenz vorhanden ist, soll nicht abgesprochen, aber relativiert werden. Zum einen
ist heute die Wahrnehmung von empfindsamen Schreibweisen eine andere als früher, zum anderen deutet die
Leseransprache in dem Vorwort (vgl. AS 325) auf eine andere Wirkungsintension hin: eine Konfusion von Mitgefühl und Distanzierung von den leidenden Figuren, die die Verwischung der Grenze zwischen der Darstellung
der Wahrnehmung des Innenlebens und der Umwelt mit sich bringt.
50
Vgl. ders. 64f.
44
16
gensätze, die für den Text als charakteristisch angesehen werden.51 Trotzdem entwickelt sich
das Spiegelbild bei Hoffmann – genauso wenig wie der Schatten bei Chamisso – zu einem
antagonistischen Doppelgänger.52 Der reisende Enthusiast, Schlemihl und Erasmus Spikher
werden als Poly- oder Mehrfachgänger aufgefasst.53 Nicht geleugnet wird allerdings, dass das
solitäre Spiegelbild und der vom Körper losgelöste Schatten die Motivtradition des Doppelgängers begründen.54 Im Vorwort der französischen Ausgabe des Peter Schlemihl betont
Chamisso die Dreidimensionalität des weitgehend unsichtbaren Schattenkegels. 55
(3) In dem Kapitel über „Das Mystische“ des Schattenverlustes behandelt Gero von Wilpert
einen motivgeschichtlichen Entwicklungsstrang, in dessen Zentrum stets weibliche Figuren
ohne Schatten stehen.56 Nikolaus Lenau ist der prominenteste einer ganzen Reihe von Autoren im 19. Jahrhundert, die diesen Figurentypus aus der skandinavischen Sagenwelt in die
deutsche Literatur eingeführt haben.57 Es handelt sich in erster Linie um Frauen, die aus
Angst vor dem Tod im Kindbett, sich mit magischen Mitteln sterilisieren.58 Diese Eigenliebe
und Unmenschlichkeit findet ihren Ausdruck im Verlust des Schattens. Das defizitäre Erscheinungsbild wird in diesen Fällen zum Symbol der Unfruchtbarkeit. Erstaunlicherweise
sieht Gero von Wilpert vor Hofmannsthals Libretto für Richard Strauss‘ Oper Frau [= Fee]
ohne Schatten keinerlei Parallelen zu den männlichen Protagonisten romantischer Erzählungen, die eines Schatten oder Spiegelbildes entbehren.59 Dabei leiden die Beziehungen zum
anderen Geschlecht und die damit verbundene Fertilität in den Texten von Chamisso und
Hoffmann offensichtlich auch.
Aus Gero von Wilperts Fallbeispielen kann man insgesamt den Schluss ziehen, dass dem Motiv des verlorenen Schattens bzw. Spiegelbilds eine Katalysatorfunktion zukommt. Ist die Beziehung zwischen dem Körper und seinem Abbild gestört, brechen latent vorhandene Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft aus. Die psychischen Dispositionen können auf beiden Seiten überdeutlich zur Darstellung kommen. Mehr Interesse an dem Phänomen des
Doppelgängertums im Zusammenhang mit dem dislozierten Abbild zeigt Susanna Martins
Oliveira.
51
Vgl. ebd.
Vgl. ders., 66.
53
Vgl. ders., 65.
54
Vgl. ders., 52.
55
Vgl. ders., 63.
56
Vgl. ders., 83-111.
57
Vgl. ders., 87.
58
Zum Ausgangs-Stoff, vgl. ders., 84. Hugos von Hofmannsthal Frau ohne Schatten entfernt sich in einigen
Aspekten sehr stark von der Tradition des ‚skandinavischen‘ Motivstranges und bedient sich auch anderer Überlieferungen.
59
Vgl. ders., 96ff.
52
17
Susanna Martins Oliveira: Vom Schatten zum Doppelgänger (2008)
Sie untersucht Schattenmotive seit Peter Schlemihl wundersamer Geschichte in einem überschaubaren Text-Corpus, der sich weitgehend auf das 19. Jahrhundert beschränkt. 60 Begünstigt durch die literaturwissenschaftliche Selektion der Untersuchungsgegenstände werden
zwei Entwicklungen deutlich: (1) der Schatten wird zum autonom agierenden Doppelgänger;
(2) der Schatten übernimmt die Rolle des teuflischen Versuchers. 61 Den Abenteuern der Silvesternacht kommt dabei implizit die Rolle eines ‚evolutionären‘ Bindeglieds zu.
(1) Nachdem der Schatten einmal gedanklich vom Körper einer Figur losgelöst worden ist,
erlangt er zunehmend eine größere Autonomie. Er wird zum identisch aussehenden und handelnden Doppelgänger seines ursprünglichen Besitzers. Ausgangspunkt der Überlegungen ist
ein Schattenbegriff, der als animistisch bezeichnet wird: Personen, Tiere oder Gegenstände,
die keinen Schatten werfen, hätten kein körperliches Dasein.62 Peter Schlemihl höre in Chamissos „phantastischer Fabel“ fast zu existieren auf, nachdem er seinen Schatten aus bürgerlichem Streben, Habgier und Eitelkeit verkauft habe.63 Bei Hoffmann werde der losgelöste
Schatten durch das Spiegelbild ersetzt, das mehr Informationen als die relativ eigenschaftslose
Silhouette biete, nämlich Binnenzeichnung und Farbe. Nur die Dreidimensionalität fehle noch
zur Doppelgänger-Gestalt.64 Schatten und Spiegelbild bewegen sich im dislozierten Zustand
bereits unabhängig vom Körper des ursprünglichen Erzeugers. Sie sind allerdings noch die
‚Marionette‘ dämonischer Besitzer. In Andersens Märchen Skygger (Schatten) wird der Schatten des Gelehrten nicht verkauft oder verschenkt, sondern ‚zufällig‘ abgetrennt. Dieser agiert
völlig autonom als Doppelgänger seines ursprünglichen Herrn und nimmt mit der Zeit
schließlich dessen Platz in der Gesellschaft ein. Der Rollenwechsel wäre vollkommen, wenn
der Mensch zum Schatten würde; doch das verhindert dessen Tod.
(2) Andersens Schatten sei den Teufelsgestalten Hoffmanns und Chamissos ähnlicher als dem
Schatten Schlemihls. Bei Andersen gäbe es aber keine Verführer-Gestalten mehr. Ihr unheimliches Wesen übernimmt der Schatten selbst.65 Dass man den grauen Mann bereits im 19.
Jahrhundert als einen Doppelgänger Schlemihls angesehen hat, sucht Susanna Martins Olivei-
60
Vgl. Martins Oliveira, Susana: Schattenmotive seit dem seltsamen Fall des Peter Schlemihl, in: Jens Halfwassen (Hg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie, Heidelberg 2008, 335-349.
61
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 342.
62
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 335.
63
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 335ff.
64
Zur Beschaffenheit des Schattens, vgl. dieselbe, 335-349, hier 338.
65
Zur Dämonie des Schattens vgl. dieselbe, 335-349, hier 339.
18
ra mittels Buchillustrationen zu belegen.66 Zeitgleiche und spätere Doppelgänger-Geschichten
in der europäischen Literatur werden zwar noch aufgelistet, aber nicht mehr besprochen.67
Für beide Entwicklungen macht Susanna Martins Oliveira die (Wider-) Erfindung der Dualität des Charakters um 1800 verantwortlich.68 Goethes Faust und Hoffmanns Elixiere des Teufels werden als Werke genannt, in denen sie sichtbar wird.69 Lavaters ‚SchattenPsychoanalyse‘, bei der die Persönlichkeit eines Menschen in den Schatten, d.h. in eine Silhouette zur hermeneutischen Auswertung projiziert worden wäre, sei zeitgenössischer Ausdruck dieser neuen Anthropologie und Inspirationsquelle des Schattenmotivs.70 Ein Blick in
das 20. Jahrhundert fällt auf Freud und Jung, die im Schatten den mythologischen Namen für
das Unbewusste sehen, das sich aus der persönlichen und kollektiven Erfahrung speist.71
Beispiele für literarische Spielarten des Schattenmotivs nach 1900 werden leider nur skizziert,
flüchtig interpretiert oder auf die Psychoanalyse bezogen. Auffällig ist, dass der Verlust des
Schattens bzw. Spiegelbildes in den genannten Texten kaum noch eine Rolle spielt. Peter Pan
bekommt seinen abgerissenen Schatten vom Mädchen Wendy gleich wieder angenäht.72 In
dem Comicband L’ombre d’un homme (1999) von François Schuiten und Benoît Peeters kehrt
Chamisso als erfolgreicher, aber hartherziger Versicherungskaufmann wieder, der nachts von
Alpträumen geplagt wird.73 Die von einem skurrilen Psychoanalytiker verschriebenen Pillen
sorgen für ruhige Nächte und einen farbigen Schatten, der das Ende seiner Karriere herbeiführt und ihn zum gesellschaftlichen Außenseiter macht – bis er die Bekanntschaft mit Mina
macht, die ihn als Muse zum Erfolgsdarsteller eines Schattentheaters macht. Modern soll hier
die Verbindung des Schatten-Aspekts mit Metaphern des Kinos und der Photographie sein.
Von dem Standpunkt meiner Forschungen zur Intermedialität in den Abenteuern der Silvesternacht erweist sich dies als Traditionspflege: die vorfilmische Projektionskunst war farbig –
mit Ausnahme des in Europa schwarz-weißen Schattentheaters (s.u.) – und gab Impulse, autonome Schatten und farbige Spiegelbilder in Worte zu fassen.
Wesentlicher als die Medienmetaphorik erscheint mir für das 20. Jahrhundert die Tatsache,
dass die Loslösung der Trennung von Schatten, Spiegelbild oder Doppelgänger vom Körper
der Protagonisten für einige Künstler zumindest an Attraktivität verliert. Man erzählt Peter
Schlemihls wundersame Geschichte neu, ohne dass der vom ‚Teufel‘ Verführte seinen Schat66
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 339f.
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 343ff.
68
Vgl. ebd.
69
Vgl. ebd.
70
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 342.
71
Vgl. ebd.
72
Vgl. dieselbe, 335-349, hier 341.
73
Alle Ausführungen zu L’ombre d’un homme hier, vgl. dieselbe, 335-349, hier 347.
67
19
ten einbüßt. Timm Thaler (s.o.) verliert nur die Gabe zu lachen. Ohne den Verlust irgendwelcher Wesensmerkmale kommt man in der italienischen Literatur aus, wie Dino Buzzatis
(1906 – 1972) Kurzgeschichte Die verhexte Jacke zeigt.74 ‚Realistischer‘ werden dadurch die
genannten Erzählungen kaum.
Ein Anliegen scheint bei der Neugestaltung des Schlemihl-Stoffes in den letzten 200 Jahren
konstant geblieben zu sein: das originelle Variieren. Nach diesem Schnelldurchgang durch die
literarische Rezeptionsgeschichte von Chamissos Erzählung in Nord-, West-, und Südeuropa,
darf der Blick nach Osten gerichtet werden. Gleich zwei Beiträge spüren der kritischen Rezeption deutscher Romantik in Russland nach, die etliche Eigenheiten aus Hoffmanns Fantasiestück erkennen lassen.
Willy R. Berger: Gogols Nase als Parodie auf Die Abenteuer der Silvesternacht (1978)
Will R. Bergers Interpretation von den Abenteuern der Silvesternacht ist Teil einer Untersuchung des Doppelgängertums, einschließlich seiner Varianten Schatten und Spiegelbild.75
Dabei ginge es ihm nicht um den positivistischen Nachweis des Einflusses von Chamissos
und Hoffmanns Erzählungen auf Gogols Nase, sondern um eine thematologische Gemeinsamkeit der drei Texte.76 Zur Nebensächlichkeit erklärt er das Motiv des Teufelspaktes, 77 das
an das Doppelgängertum in der Darstellungsweise der romantischen Dichter geknüpft ist;
denn es fehlt bei Gogol. Sein Interesse gilt dem Einbruch des Irrationalen in eine bis dahin
solid geordnete bürgerliche Welt,78 der den Vertretern seines Textkonvoluts gemeinsam ist.
Das legitimiert für ihn den Vergleich sonst so unterschiedlicher Werke. Die große Originalität
von den Abenteuern der Silvesternacht bestünde in dem Ineinander von märchenhaftphantastischen Elementen und einer fast exakt zu bestimmenden Erzähltopographie. 79 Gogol
ginge aber noch ein Schritt weiter als Hoffmann und säkularisiere das bei diesem noch an-
74
Ein dämonischer Schneider überlässt kostenlos dem Ich-Erzähler einen Anzug, in dessen linker Tasche die
unerschöpfliche Geldbörse eingearbeitet ist. Da ähnlich dem physikalischen Energieerhaltungssatz die im Umlauf befindliche Geldmenge auf der Erde nicht durch den Teufel manipuliert werden kann, ereignen sich bei der
Nutzung der unerschöpflichen Geldquelle Katastrophen an anderen Orten, die das Verschwinden des Geldes in
der Öffentlichkeit erklären können. Es kommt z.B. zu Raubüberfällen auf Geldtransporte und zu Großbränden,
bei denen immer wieder Menschen ums Leben kommen. Geldakkumulation ist moralisch zu hinterfragen, wie
auch in der wirklichen Welt. Der Ich-Erzähler verschließt irgendwann nicht mehr die Augen vor ‚seiner Blutspur‘ und vernichtet das gefährliche Kleidungsstück. Sein Reichtum verschwindet im Nichts – eine teuflische
Stimme kommentiert den Vorgang mit „zu spät“. Vgl. Buzzati, Dino: Die verhexte Jacke, in: ders.: Die Lektion
des Jahres 1980. Neue Erzählungen, Wien 1962, 24-32.
75
Vgl. Berger, Willy: Drei phantastische Erzählungen. Chamissos „Peter Schlemihl“. E.T.A. Hoffmanns
Abentheuer der Silvester-Nacht“ und Gogols „Die Nase“, in: Arcadia (Sonderheft) 1978, 106-138, hier 110.
76
Vgl. ebd.
77
Vgl. ders., 106-138, hier 111.
78
Vgl. ders., 106-138, hier 108.
79
Vgl. ders., 106-138, hier 124.
20
satzweise vorhandene religiöse Drama restlos.80 Bei Chamisso ziehe das Verlangen nach unbegrenztem Reichtum, bei Hoffmann das Verfallensein an eine finstere Leidenschaft den Verlust von Schatten bzw. Spiegelbild nach sich. Die religiöse Ächtung und Bestrafung von Habgier und Wollust als Todsünden seien noch zu spüren; dagegen würde dem Leser Gogols,
gleich dem betroffenen Kovalev, das Abhandenkommen der Nase und ihr Auftreten als ‚Doppelgänger‘ nur als ein völlig unbegreifbares Missgeschick begegnen. Kovalev habe sein Unglück nicht selbst verschuldet; er würde als unschuldiges Opfer einer absonderlichen Laune
der Natur dastehen. 81 Aus einer ebensolchen Laune scheint auch die Nase nach zwei Wochen
in das Gesicht des Protagonisten zurückkehren. 82 Um diesen Eindruck zu verstärken, würde
Gogol in der zweiten Fassung seiner Parodie des romantischen Doppelgängermotivs83, die in
dem nüchternen Stil eines Polizeiprotokolls gehalten ist84, die Traumeinkleidung tilgen.85
Weder exotische Ferne, noch die dämonische Verfremdung der Nähe wären notwendig, damit
sich das Unglaubliche ereigne.86 Darin bestünde Gogols kafkaeske Modernität, für die Kafkas
Verwandlung als Beispiel herangezogen wird.87 Die Zunahme der satirischen Tendenzen ginge mit der Eliminierung des Unheimlichen einher;88 denn das Lachen vertriebe die Gespenster.89
Was bleibt hinsichtlich der Abenteuer der Silvesternacht festzuhalten? Der Traum ‚erklärt‘
das Phantastische und Grauen erregende. Die Protagonisten sind noch nicht frei von christlichen Moralvorstellungen, obgleich sie diese überschreiten – also deren Gültigkeit zur Disposition steht. Damit bestätigt sich auch die von Fedor Hoffmann rekonstruierte Kritik Brentanos an E.T.A. Hoffmanns Fantasiestück. Mit dieser setzt sich auch Agnes Derjanecz auseinander.
80
Vgl. ders., 106-138, hier 113.
Vgl. ders., 106-138, hier 118.
82
Vgl. ders., 106-138, hier 133.
83
Vgl. ders., 106-138, hier 123.
84
Vgl. ders., 106-138, hier 125.
85
Vgl. ders., 106-138, hier 118f.
86
Vgl. ders., 106-138, hier 125.
87
Vgl. ders., 106-138, hier 137. Dies ist nur insofern bemerkenswert, da Barbara Neymeyr eine deutliche Abhängigkeit von Franz Kafkas erstem literarischem Gehversuch, der Beschreibung eines Kampfes, von Hoffmanns
Abenteuern der Silvesternacht sieht. Vgl. Neymeyr, Barbara: Phantastische Literatur intertextuell. E.T.A. Hoffmanns Abentheuer der Sylvester-Nacht als Modell für Kafkas Beschreibung eines Kampfes, in: Hoffmann Jb 15
(2007), 112-128.
88
Vgl. Berger 1978, 106-138, hier 121.
89
Vgl. ders., 106-138, hier 132.
81
21
Agnes Derjanecz: Chamissos und Hoffmanns Einfluss auf Dostojewskij (2003)
Sie beschäftigt sich mit dem Doppelgängermotiv in den Abenteuern der Silvesternacht.90
Doppelgänger sind für sie der Ausdruck91 einer seelischen Spaltung und verkörpern den
Schatten aus Jungs Psychologie.92 Indem sie dislozierte Schatten und Spiegelbilder von literarischen Figuren als Doppelgänger begreift, kann sie eine ganze Palette von Variationsmöglichkeiten des Phänomens anhand eines Korpus von nur drei Texten nachweisen: sie behandelt neben Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Hoffmanns Fantasiestück und
Dostojewskijs Doppelgänger. Aus dieser eingeschränkten Perspektive steht Hoffmanns Werk
zwischen der romantischen Literatur in Deutschland – dieser Epoche noch zugehörig – und
dem phantastischen Realismus in Russland. Stellte Chamissos Novelle93 noch ein Konglomerat aus romantischen, aufklärerischen und realistischen Elementen dar,94 so stehen märchenhafte, satirische und realistische Anteile in Hoffmanns Erzählung in einem Spannungsverhältnis zueinander.95 Die autobiographische Schreibweise von Hoffmanns und Chamissos Erzählfiguren unterstützten das realistische Gepräge der Geschichten.96 Der Doppelgänger bei
Dostojewskij wird ebenfalls von einem autodiegetischen Erzähler geschildert. Weil er aber als
autonom agierende menschliche Gestalt in Erscheinung tritt, wirkt er ‚realistischer‘ als die
relativ passiven Schatten und Spiegelbilder der beiden zuvor besprochenen Werke. Bis zum
Ende rätselt der Leser, ob der Doppelgänger eine Halluzination oder ein leibhaftiger Mensch
ist, dem als Rivalen des kleinen Beamten mehr Erfolg in Beruf und Liebesangelegenheiten
beschieden ist, weil er die an ihn gestellten Erwartungen besser erfüllt.97 Dieser Usurpator
ersetzt in idealer Weise den psychisch, labilen Prätyp.98 Die Studie läuft auf ein Paradoxon
hinaus: eine Steigerung von Phantastik kann zu einem Zuwachs von Realismus führen. Je
ähnlicher ein Doppelgänger seinem in einer Wirklichkeit angesiedelten Vorbild wird, desto
realistischer erscheint er in dieser. Das Auftreten eines Doppelgängers bleibt aber phantastisch.
90
Derjanecz, Agnes: Das Motiv des Doppelgängers in der deutschen Romantik und im russischen Realismus.
E.T.A. Hoffmann, Chamisso, Dostojewskij (diplomica 7), Marburg 2003. Die Begriffe Romantik, Realismus und
Phantastik erfahren keine grundlegende Würdigung in dieser Studie, wodurch so manche im Folgenden herausdestillierten Ergebnisse, mit Vorsicht zu genießen sind.
91
Die entgegengesetzte Meinung vertritt Albrecht Leonhard Driesen. Der Doppelgänger spalte das Ich. Vgl.
Driesen, Albrecht Leonard: Das Spiegel-Bild in E.T.A. Hoffmanns »Der goldne Topf«, »Die Abenteuer der
Silvesternacht« und »Prinzessin Brambilla«. Einführung in die Poetologie eines literarischen Spiegelkabinetts,
Gießen 1997, 89. – Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich hier eine ‚Henne-Ei-Problematik‘ vorliegt.
92
Vgl. Derjanecz 2003, 11f.
93
Auf eine Darstellung der Gattungsdiskussion kann hier verzichtet werden.
94
Vgl. dieselbe, 40.
95
Vgl. dieselbe, 67f.
96
Vgl. dieselbe, 42 und 67.
97
Vgl. dieselbe, 81.
98
Vgl. dieselbe, 84f.
22
Betrachtet man unter dieser Prämisse Schlemihl und Spikher in Hoffmanns Abenteuern der
Silvesternacht, als ‚Doppelgänger-Kandidaten‘ neben dem Spiegelbild, wird klar, warum
Physiognomien und Schicksale der beiden Wiedergänger des reisenden Enthusiasten nur annähernd ähnlich sind. Eine denkbare, realistische ‚Aufklärung‘ der Ereignisse, wie sie bei
Dostojewskij möglich ist, wird hier unterlaufen.
Sowohl bei Agnes Derjanecz, als auch bei Willy R. Berger wird deutlich, dass DoppelgängerErscheinungen die alltägliche Wahrnehmung der Wirklichkeit auf den Prüfstein stellen. Sie
gehören in den Bereich des Phantastischen, das gerade bei Hoffmann schwierig dingfest zu
machen ist. Die angesprochene Montage märchenhafter, satirischer und realistischer Elemente
sorgt für einen Manierismus, der nicht mit Phantastik gleichgesetzt werden darf.
Arnold Hermann Ulbrich: Manierismus in den Abenteuern der Silvesternacht (1969)
Laut Arnold Hermann Ulbrich äußern sich in den Abenteuern der Silvesternacht die manieristischen Züge von E.T.A. Hoffmanns Werk.99 Nach einer Skizze des Manierismus in seiner
kunst- und kulturgeschichtlichen Bedeutung entwickelt er fünf Kriterien,100 die die enge Beziehung zwischen Manierismus und Romantik anhand einer repräsentativen Textauswahl belegen sollen. (1) Eine Häufung und Überfüllung von subjektiven Gefühlserlebnissen geht mit
einer Ichbetrachtung einher, die in vielen Fällen zu einer Selbstentfremdung führt, die bis zum
Identitätsverlust reichen kann. (2) Der Künstler beraubt die Welt ihres Seinscharakters durch
willkürliche Umformungen, wie durch verfremdende, verzerrte oder karikierte Darstellung.
(3) So werden die Grenzen zwischen wirklicher und unwirklicher Welt aufgehoben und die
Phantasie101 zur Phantastik verabsolutiert. (4) Der Künstler vertritt mit Ironie und Selbstironie
einen kritischen und selbstkritischen Intellektualismus. (5) Dieser artet zu einem selbstgefälligen Spiel mit dem eigenen Können aus, kurz einem Narzissmus, der den Schaffensvorgang
zum Darstellungsobjekt macht. ‚Manieristisch‘ bezeichnet somit antiklassische, antinaturalistische und unnaive Tendenzen.102 Diese finden sich tatsächlich mehr oder minder stark ausgeprägt in den Abenteuern der Silvesternacht.103 Was ist aber nun die zur Phantastik verabsolutierte Phantasie?
99
Ulbrich, Arnold Hermann: Manieristische Züge in E.T.A. Hoffmanns Der goldne Topf, Prinzessin Brambilla,
Der Sandmann, Rat Krespel und Die Abenteuer der Silvesternacht, Massachusetts 1969.
100
Vgl. ders., 19ff.
101
Phantasie selbst ist nicht manieristisch, da sie als Voraussetzung für jegliches dichterische Schaffen angesehen wird. Vgl. ders., 38.
102
Vgl. ders., 17.
103
Vgl. ders., 41ff.
23
1.2.2. Die Abenteuer der Silvesternacht als phantastischer Text
Kenneth B. Woodgate: Die Rekonstruktion von Hoffmanns Phantastik-Begriff (1999)
Kenneth B. Woodgate interpretiert E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht als einen
Text mit phantastischen Elementen.104 Was auf den ersten Blick nicht sonderlich sensationell
wirkt, erweist sich in zweierlei Hinsicht als ein Bruch mit dem main-stream der bis dato praktizierten Phantastik-Forschung:
[Die] meisten modernen Theoretiker [betrachten] das Phantastische als etwas, das auf ganze Texte angewendet werden kann. Sie sprechen von phantastischen Erzählungen und phantastischen Romanen und
wollen das Phantastische in allen Teilen des Textes finden. Dagegen benutzt Hoffmann das Phantastische als Element in seinen Texten. Wie wir schon gesehen haben, enthält unser Märchen das Phantastische und mag wohl vorwiegend phantastisch sein. Aber das hält Hoffmann nicht von der Anwendung
105
anderer literarischer Formen und Kunstgriffe ab.
Was ist aber nun phantastisch? Woodgate verfolgt den Begriff ‚phantastisch / fantastic / fantastique‘ durch die französische Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts und durch die französische Literaturkritik des 19. Jahrhunderts hindurch, bis er auf den literarischen (diffusen) Gebrauch des Begriffs „fantastique“ stößt, den die französischen Belletristen im unmittelbaren
Zusammenhang mit der Rezeption von Hoffmanns Werken prägten.106 Hoffmanns Fantasiestücke in Callot‘s Manier wurden als Contes fantastique (Phantastische Geschichten) übersetzt. Dass es bei dem langen Weg des Begriffs in die moderne Literaturtheorie etliche semantische Verschiebungen gegeben hat, verwundert nicht. Fatal ist aber das Ergebnis: „der Vater
der phantastischen Erzählung schrieb eigentlich recht wenige phantastische Erzählungen, besser gesagt: er schrieb wenige Erzählungen, die mit [… annähernd gegenwärtigen] Theorien
des Phantastischen übereinstimmen“.107
Hoffmann verwendet den Begriff „fantastisch“ selbst in so engen Grenzen, dass er nicht zur
Charakterisierung seiner Werke dienen kann.108 Stets wird das Wort fantastisch von den Figuren benutzt, um Bezug auf das Täuschende zu nehmen.109 Woodgate gibt sich nicht geschlagen und (re)konstruiert einen hoffmannesken Phantastik-Begriff, der nur wenig mit dem Gebrauch des Wortes „fantastisch“ im Werk des Autors zu tun hat. Manifestationen manieristischer Fantasie scheinen am Ende phantastisch zu sein.110
104
Vgl. Woodgate, Kenneth B.: Das Phantastische bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt a. M. 1999.
Woodgate 1999, 55.
106
Vgl. ders., 9f.
107
Ders., 9.
108
Vgl. ders., 160.
109
Vgl. ders., 226.
110
Vgl. ders., 161 und 236. Da die zur Phantastik übersteigerte Phantasie bei Ulbrich ein Merkmal des Manierismus war (s.o., Manierismus-Merkmal Nr.3), wagt es Woodgate offenbar nicht Phantastik mit Manierismus
gleichzusetzen.
105
24
Fantasie umfasst nach Ausweis zeitgenössischer Wörterbücher und Enzyklopädien einen täuschenden (in Hoffmanns Sinne „fantastischen“) und kreativen Aspekt.111 Manierismus ist als
ein Programm ironischer Gegenüberstellungen zu verstehen, das sich von den in der Aufklärung vorherrschenden Theorien einer nachahmendenden bzw. imitativen Kunst abhebt und
dezidiert in der Tradition der gleichnamigen Stilepoche steht.112 Das ‚richtige‘ Betrachten der
Kupferstiche von Callot stimuliert die Phantasie so stark, dass sich diese beleben. Diese Täuschung generiert Geschichten, setzt schöpferische Energien, Kreativität, beim Schriftsteller
frei. Das Gelingen des Medienwechsels113 ist damit wesentlich für das Entstehen der Phantastik in der Literatur verantwortlich.
Die Abenteuer der Silvesternacht stellen sich innerhalb der Fantasiestücke als deutlichster
Versuch dar, einen Text, als ‚Ausgangsbild‘ zu benutzen.114 Sie offenbaren „die negativen
Aspekte einer phantastischen Schreibweise“:115
Die Situationen und Bilder, die Hoffmann dem Leser anbietet, verlieren an Rundung, an Substanz und
an Kohärenz. Die Begegnung mit Chamissos Erzählung bildet den Höhepunkt dieser negativen Entwicklung und weist darauf hin, dass das Phantastische durch die zu ausführliche Wiederverwendung,
Rekombination oder Fortsetzung von Erzählstoffen wahre Kreativität ersticken kann. Wenn man aber
die Abenteuer so liest, dann bilden sie paradoxerweise einen ganz kreativen und originellen Ausdruck
116
dieser Einsicht.
Das ist sicherlich nicht das letzte Wort zu Hoffmanns eigenem Phantastik-Begriff. Der wird
allenthalben rekonstruiert,117 vor dem Hintergrund einer allgemeinen, unübersichtlichen Diskussion des schillernden Begriffs. Ausführlich Bezug auf die Abenteuer der Silvesternacht
nimmt bislang nur noch ein Beitrag von Markus May.
Markus May: Neudefinition des Phantastischen (2003)
Markus May präsentiert die Abenteuer der Silvesternacht als einen typischen Vertreter der
phantastischen Literatur:118
Ausgehend von Jacques Lacans Theoremen zur psychoanalytischen Bedeutung des „Spiegelstadiums“
versucht [er …] nachzuweisen, daß es sich bei den Erscheinungsformen des Phantastischen nicht [–]
119
wie von Todorov[ ] behauptet [–] um einen Konflikt des Realen und des Imaginären, sondern viel111
Vgl. ders., 89.
Vgl. ders., 10.
113
Vgl. ders., 172.
114
Vgl. ders., 231.
115
Vgl. ders., 232.
116
Ebd. Hervorhebung: V.R.
117
Vgl. z.B. Lachmann, Renate: E.T.A. Hoffmanns Phantastikbegriff, in: Neumann 2005, 135-152.
118
Vgl. May, Markus: Im Spie(ge)l des Schreckens und Begehrens. Spiegelphänomene in der phantastischen
Literatur am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Silvester-Nacht, in: Christine Ivanović / Jürgen
Lehmann / Markus May (Hgg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in der Kunst, Literatur
und Film, Stuttgart / Weimar 2003, 127-152.
119
Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur (Übersetzung: Karin Kersten, Senta Merz und
Caroline Neubaur), München 1970, 25-40. Es sei darauf hingewiesen, dass Todorov das Phantastische in E.T.A.
Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht durch eine mögliche allegorische Lesart, die er bestenfalls andeutet,
abgeschwächt sieht. Vgl. ders., 64ff.
112
25
mehr um eine Überschreitung der Grenzen des Imaginären und der symbolischen Ordnungen handelt.
Dies geschieht gerade am Ort, an dem sich der Übergang vom Imaginären zum Symbolischen vollzieht
120
und der dadurch eigentlich den Garanten für die Subjektwerdung darstellt: der Spiegel.
Nachdem May die Erzeugung des Phantastischen auf theoretischer Ebene neu bestimmt hat,
überprüft er seine Hypothese, dass das Spiegelmotiv Themen und (Doppelgänger-)Figuren
der phantastischen Literatur generiere,121 an Hoffmanns Fantasiestück. Dazu beschreibt er
eine Reihe weitgehend unstrittiger Spiegelphänomene im Text. Bei ihrer Systematisierung
fällt auf, dass sie die Konzeption dieser Erzählung nicht nur in thematischer und motivischer,
sondern auch struktureller Hinsicht bestimmen.122 Die Markierungen von intertextuellen Bezügen werden als eine Art Text-Spiegel angesehen.123 Das unterstreicht die Bedeutung, die
der Intertextualität für die Abenteuer der Silvesternacht zukommt. Eigentlich bestätigt May
Woodgates Rekonstruktion des Phantastik-Begriffs bei Hoffmann: der Medienwechsel spiegelt den Inhalt eines Textes, Bildes, Musikstücks, usw. in ein neues Medienprodukt. Ein
wichtiger Indikator für Phantastik werden damit Parallelisierungen und Wiederholungen.
Phantastik ist damit auch polyphon. So verwundert es nicht, dass man auch Michail Bachtins
Literaturtheorien auf das Fantasiestück angewendet hat.
1.2.3. Identität, Spiegel und Gemälde in den Abenteuern der Silvesternacht
Todd Kontje: Die Abenteuer der Silvesternacht als polyphoner Text (1985)
Todd Kontje geht davon aus, dass Hoffmann seine eigenen biographischen Erfahrungen in
eine Serie von drei nahezu parallelen Handlungssträngen überführt.124 Dementsprechend hebt
er bei seiner Darstellung des Inhalts vom Fantasiestück besonders die intratextuellen Übereinstimmungen der Figuren-Schicksale und ihre Parallelen zur Julia-Romanze Hoffmanns
hervor.125 Ricarda Schmidt bemängelt zu Recht, dass er dabei die Unterschiede zwischen den
Geschichten weitgehend ignoriert.126 Im Traum des reisenden Enthusiasten und seinem ab-
120
Ivanović, Christine / Lehmann, Jürgen / May, Markus: Vorwort, in: Ivanović / Lehmann / May 2003, 7-22,
hier 17.
121
Vgl. May 2003, 127-152, hier 138f. May dürfte sich im Klaren sein, dass mit der Analyse eines Textes innerhalb eines Tagungsbandes von begrenztem Umfang kein endgültiger Beweis für das Zutreffen seiner Hypothese
erbracht werden kann. Es muss sich zeigen, ob sich seine Phantastik-Definition an dem Gros der Literatur bewährt, die als Phantastisch angesehen wird. Eine nicht in dieser Arbeit zu behandelnde Frage wäre, ob es phantastische Literatur ohne Spiegelphänomene gibt? Natürlich ist der Begriff des Spiegelphänomens dehnbar. Am
Ende ‚spiegelt‘ Literatur in irgendeiner Form immer eine Wirklichkeit oder gespiegelte Wirklichkeit.
122
Vgl. ders., 142ff.
123
Vgl. ders., 141.
124
Vgl. Kontje 1985, 348-360, hier 349. Er zählt offenbar die Geschichte von Chamissos Peter Schlemihl als
Handlungsstrang mit.
125
Vgl. ebd. und ders., 348-360, hier 355.
126
Vgl. Schmidt, Ricarda: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann, Göttingen
2006, 102.
26
schließenden Blick in den Spiegel erfolge sowohl die Konfusion der Kategorien „ich“ – „die
anderen“, als auch von Realität und Poesie.127
In dem zweiten Teil seines Aufsatzes sucht er Hoffmanns Erzählung sowohl in Kontrast zu
der frühromantischen Poetik eines Novalis (Heinrich von Ofterdingen) zu setzen, als auch
ihre Nachwirkungen auf die Theorie komischer oder polyphoner Romane in Deutschland und
Europa darzustellen. Dabei erweckt er allerdings den Eindruck, dass Hoffmanns künstlerischere Position einem Bachtin näher stehe als Novalis.128 Der Künstler verlöre bei Hoffmann
seine authentische Stimme, mit der er früher ästhetische Welten erschaffen habe; stattdessen
würde er spielerisch verschiedene Diskurse manipulieren.129 Ähnlich sieht das Ergebnis einer
Untersuchung von Nährlich-Slatewa aus.130 Da in beiden Fällen Ricarda Schmidt ihre historische Kontextualisierungen der Werke Hoffmanns in Frage gestellt sieht (dazu unten), fühlt sie
sich letztendlich dazu genötigt, ihre Position mit klaren Worten zu verteidigen: „Eine Literaturwissenschaft, die ihrem Gegenstand allein dadurch Bedeutung zu verleihen mag, daß sie
ihn völlig aus seiner Zeit herauslöst und ihm statt dessen die Erfüllung heutiger theoretischer
Bedürfnisse zuschreibt, beraubt ihren Gegenstand seiner Komplexität“.131 Elena NährlichSlatewa Lesart von den Abenteuern der Silvesternacht kann nicht vorgeworfen werden, zeitgenössische oder historische Sachverhalte zu ignorieren – höchstens ihre zielgerichtete Selektion.
Elena Nährlich-Slatewa: Die Abenteuer der Silvesternacht als Karneval (1995)
Sie versteht Hoffmanns Werke als Zeugnisse einer karnevalesken Kunst.132 Um dies nachzuweisen bedient sie sich jedoch kaum des Textes, der aufgrund seines Inhalts am meisten geeignet erscheint. Das Capriccio Prinzessin Brambilla spielt während des Römischen Karnevals. Sie wendet sich stattdessen einer frühen Erzählung und einem späten Roman Hoffmanns
zu, um die Gültigkeit ihrer Lesart für das gesamte Schaffen des Dichters zu untermauern. Sie
bespricht Die Abenteuer der Silvesternacht und den Kater Murr.
Ihr Autor erscheint geradezu prädestiniert für eine karnevaleske Schreibweise; denn seine
ostpreußische Heimatstadt Königsberg und seine späteren Wirkungsstätten Posen, Plotzk oder
Warschau lagen in einem Raum, der sich durch ein langes Neben- und Ineinander verschiede-
127
Vgl. Kontje 1985, 348-360, hier 349 und 353f.
Vgl. Schmidt 2006, 101.
129
Vgl. Kontje 1985, 348-360, hier 349.
130
Vgl. dieselbe, 103ff. über Nährlich-Slatewa 1995.
131
Vgl. dieselbe, 114.
132
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, hervorgegangen aus dieselbe: Goethe und E.T.A. Hoffmann im Lichte von
Bachtins Konzept der Kultur des Karnevals und der karnevalisierten Literatur. Versuch einer Neulektüre ausgewählter Texte, Jena 1991 [Dissertation: Maschinenschrift].
128
27
ner Sprachen, Konfessionen und Kulturen auszeichnete.133 Eine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen habe der deutschsprachige, gebürtige Protestant besessen, der nebenbei
bemerkt auch mit einer katholischen Polin verheiratet war. Zeitlebens hätte er mit Interesse
die Festkultur im liturgischen Jahreslauf der katholischen Kirche verfolgt und sich mit dem
christlich-heidnischen Volksglauben auseinandergesetzt.134 Die Überlagerung verschiedener
Formen der kalendarischen Zeitrechnung im Alltag müsse ihm bewusst gewesen sein, 135 zumal die Zeit ein zentrales Thema in seinem literarischen Schaffen gewesen sein soll. 136 Die
festliche Traumzeit zwischen Weihnachten, dem Fest der Geburt und Epiphanias (Dreikönig)
sei eine Schaltzeit, die im Aberglauben der Rückkehr der Toten vorbehalten war und mit karnevalesken Riten gefeiert wurde.137 Das Zusammenrücken von Geburt und Tod als karnevaleskes Motiv impliziert die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. 138 Die Abenteuer der Silvesternacht prägen aufsteigende Erinnerungsbilder, Visionen und Träume, in denen das Vorleben der Protagonisten wieder lebendig wird.139 In der Wahrnehmung des reisenden Enthusiasten fielen aber nicht die Innen- und Außenwelt zusammen,140 wie das Vorwort des fiktiven Herausgebers suggeriert. Als Erzähler differenziere er sehr wohl bei seiner Wiederbegegnung mit Julie zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit.141 Dem kann man für den
Abschnitt über „Die Geliebte“ noch nahezu uneingeschränkt zustimmen, doch in den beiden
nachfolgenden Tagebuchkapiteln verliert m.E. der reisende Enthusiast diese Fähigkeit. Den
Auftritt einer literarischen Gestalt wie Peter Schlemihl, die er schon oft gesehen und gedacht
haben will, stellt er letztendlich doch als ein völlig reales Ereignis dar. Indem NährlichSlatewa dem reisenden Enthusiasten die volle Zurechnungsfähigkeit bescheinigt, vermag sie
das antagonistische Verhältnis zwischen Bürger- und Künstlerexistenz zu negieren, das in der
Hoffmann-Forschung beinahe omnipräsent ist.142 Die krisenhafte Zuspitzung von der „Duplizität des Seins“ (Ausdruck aus den Serapions-Brüdern) erfährt bei ihr eine positive Umwertung zur Zweieinheit.143 Der reisende Enthusiast partizipiert am Lebensganzen und bezieht
aus diesem eine formbildende Kraft, die sich in karnevalesker Kunstrezeption und -produktion
133
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 31 und 67f.
Vgl. dieselbe, 63.
135
Vgl. dieselbe, 66 und die dortigen Literaturhinweise.
136
Vgl. dieselbe, 63.
137
Vgl. dieselbe, 61 und 67.
138
Vgl. dieselbe, 60.
139
Vgl. dieselbe, 61.
140
Vgl. dieselbe, 53.
141
Vgl. dieselbe, 55.
142
Vgl. dieselbe, 38ff.
143
Vgl. dieselbe, 45.
134
28
niederschlägt.144 Emphatischer Kunstgenuss und philiströse Kneipenbesuche145 schließen sich
tatsächlich bei ihm nicht aus. Er steht dazu, auch ein Tölpel zu sein, bei dem die gewöhnliche
Ordnung aus dem Gleis gerät.146 Er akzeptiert für sein Wesen die Heterogenität, die für ihn
die groteske Umwelt in Callots Manier beherrscht.147 Das stete „Maskenspiel des irdischen
Lebens“ (AS 335) erscheint offenbar verdichtet in der Traumsequenz des Abschnitts über die
„Erscheinungen“, den karnevaleske Mesalliancen besonders stark strukturieren würden.148
Problematisch wird nur die Duplizität des Seins, wenn ein irdischer Mensch wie Spikher sich
im Himmel wähnend, im höchsten Sonnen- und Traumleben von Liebe und Kunst auf ewig
und immer bleiben will; denn dann vergehe er sich am Lebendigen und beschwöre das Feuer
der Hölle herauf, so dass er bei Mord- und Totschlag landet und die gewöhnliche Bindung an
den Alltag auflösen muss.149 Identifikation und Distanzierung sollten in einem ausgewogenen
Verhältnis stehen.
Peter Schneider: Illusionsbildung und Desillusionierung im Fantasiestück (1981)
Peter Schneider skizziert anhand der Abenteuer der Silvesternacht das Funktionieren von Literatur.150 Die Erzählung thematisiere die für die Wirkung fiktiver Texte konstitutive Illusionsbildung und ihre Bedingungen.151 Sie mache sich selbst zum Gegenstand der ästhetischen
Erfahrung.152 Diese autoreflexive Wendung schaffe eine partielle Distanz zur Illusion ohne
diese aufzuheben.153 Zum theoretischen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen macht er Michael Balints Theorie der primären Liebe und Grundstörung, worunter die seit dem Geburtstrauma bestehende Trennungsangst zu verstehen ist.154 Als Grundkonstante der menschlichen Psyche erschaffe die infantile Trennungsangst in ihrer illusionären Überwindung Freiräume für die Phantasie und Utopien.155 Das radikalste Glücks-, d.h. Liebesverlangen, würde
immerhin in der Literatur das Lustprinzip gegen die alltägliche Unterdrückung behaupten.156
Spikher als sein Anhänger würde deshalb geächtet – und innerhalb der Geschichte von dem
verlorenen Spiegelbild als Teil der Abenteuer der Silvesternacht als Teufelsbündler denun144
Vgl. dieselbe, 42ff.
Vgl. dieselbe, 51.
146
Vgl. dieselbe, 71.
147
Vgl. dieselbe, 61.
148
Vgl. dieselbe, 83.
149
Vgl. dieselbe, 100, bezugnehmend auf AS 346ff.
150
Schneider, Peter: Das Funktionieren von Literatur. Eine Skizze zu zwei Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, in:
Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 27 (1981), 22-27.
151
Vgl. ders. 22-27, hier 22.
152
Vgl. ebd.
153
Vgl. ebd.
154
Vgl. ders., 22-27, hier 22f.
155
Vgl. ders., 22-27, hier 23f.
156
Vgl. ders., 22-27, hier 26.
145
29
ziert.157 Die Hingabe an das Illusionäre sei gefährlich, bedeute aber für den Leser eine Erinnerung158 an den geleisteten Verzicht auf die Befriedigung bestimmter Triebe. Die Weigerung,
das mögliche Glück zu verdrängen, führe bei der Lektüre zu einem zeitweiligen Lustgewinn.159 Julie und Giulietta werden während des Lesens der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild für den reisenden Enthusiasten austauschbar.160 Es wäre Aufgabe einer ausführlichen
Interpretation, die überaus komplizierte Struktur der Erzählung im Einzelnen zu beschreiben
und zu analysieren.161 Dieser ‚Aufgabe‘ hat sich noch keine Interpretation in ausführlicher
Weise gestellt. Dafür ist der legitime Versuch unternommen worden, die Rahmen-Strukturen
völlig zu ignorieren.
Christian Baier: Die Abenteuer der Silvesternacht ohne Erzählrahmen (2010)
Christian Baier bemüht sich die Beziehung der beiden wichtigsten Doppelgängergestalten in
den Abenteuern der Silvesternacht zu klären: dem reisenden Enthusiasten und Erasmus Spikher.162 Ausgehend von der nahezu parallelen Darstellung der Erstbegegnung Spikhers mit
Giulietta und der Wiederbegegnung des reisenden Enthusiasten mit Julia, entwickelt er folgenden Gedanken: Erasmus Spikher und der reisende Enthusiast seien eine Person. 163 Eine
Reihe stichhaltiger Indizien164 bestärkt Baier, die Doppelgänger konsequent in Eins zu denken. Indem er bewusst die Unterscheidung verschiedener Realitäts- und Fiktionsebenen aufgibt,165 erhält er gleichwertige Fragmente einer Lebensgeschichte. Spikhers Aufzeichnungen
über den Verlust des Spiegelbildes lassen sich so als die Vorgeschichte zu den Erlebnissen
des reisenden Enthusiasten in der Berliner Silvesternacht lesen. Spikher, der nach seinem Ichbzw. Spiegelbild-Verlust, seine Identität eingebüßt hat, begegnet als namenloser,166 reisender
Enthusiast seiner Ex-Geliebten Giulietta wieder, die sich nun Julia nennt. Ihr Anblick weckt
im reisenden Enthusiasten die Erinnerung an den unterdrückten Spikher-Anteil seines Ichs.
Dieser wird als bürgerliche Hälfte seiner Persönlichkeit angesehen, 167 da er seit der Trennung
157
Vgl. ebd.
Vgl. ebd. Dies wird offenbar durch die Erinnerungsprozesse, die eine immense Rolle in dem Text spielen,
unterstützt. Vgl. de Mazza 2005, 153-178.
159
Vgl. Schneider 1981, 22-27, hier 27.
160
Vgl. ders., 22-27, hier 25.
161
Vgl. ders., 22-27, hier 24.
162
Vgl. Baier, Christian: Nur der ‚Traum eines Ichs‘? Identitätsspaltung, Ich-Verlust und Doppelgängertum in
E.T.A. Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, in: E.T.A. Hoffmann Jb 18 (2010), 7-24.
163
Vgl. ders., 7-24, hier15.
164
Baier nennt die ähnlichen Schicksale der Figuren, das gleichzeitige Seufzen beim Namen Julia bzw. Giulietta,
das Mitgefühl des reisenden Enthusiasten für Spikher und den Traum des reisenden Enthusiasten. Der reisende
Enthusiast träumt von Julia, die Worte im Mund führt, die nur Giulietta aussprechen kann – über die er aber vor
der Lektüre der Geschichte vom verlornen Spiegelbild nichts wissen kann. Vgl. ders., 7-24, hier 11f.
165
Vgl. ders., 7-24, hier 15.
166
Vgl. ders., 7-24, hier 17.
167
Vgl. ders., 7-24, hier 16f.
158
30
von dem Spiegelbild kein normales Leben mit seiner Familie führen kann. Der reisende Enthusiast verkörpere die Künstlernatur des gespaltenen Menschen. Seine Flucht in die Sphäre
einer gewöhnlichen Kellerkneipe, die mit dem Konsum von Bier und Tabak, den Attributen
bürgerlicher Philister einhergeht, nähert ihn dem anderen Teil seiner Existenz so weit an, dass
sie in der Gestalt Spikhers wieder erscheint – sich aber nicht mit ihm vereinigt.168 Ihre Verwechslung im Gasthof – der Portier weist ihnen beiden dasselbe Zimmer an – sei kein Wunder: sie sind ein und dieselbe Person. Der Schreibstil im Tagebuch des reisenden Enthusiasten
und der Geschichte vom verlornen Spiegelbild gleichen sich logischerweise. Die Schilderung
von Spikhers Erlebnissen in der 3. Person Singular bedeutet somit eine Distanzierung von der
eigenen Vorgeschichte – die Verdrängung der bürgerlichen Seite der Existenz durch den
Künstler. Ein gewichtiges Argument für Baiers Lesart ist, dass der reisende Enthusiast sein
Spiegelbild am Ende der Abenteuer der Silvesternacht nicht erkennt und damit in gewisser
Weise genauso wenig eines besitzt wie Spikher.169 Der Text ist Ausdruck einer Identitätskrise
– wieder einmal, muss man sagen; denn von ihrer Existenz ist die Forschung schon lange
überzeugt.
Ernst-Michael Stiegler: Das Ich im Spiegel von Kunst und Wirklichkeit (1988)
Ihren vollen Umfang suchte Ernst-Michaels Stieglers Studie erstmals auszuloten. Ihn interessiert das Subjekt im Spiegel der Kunst und Wirklichkeit an E.T.A. Hoffmanns Werken.170 Er
beschäftigt sich sowohl mit dem ‚Produzenten‘, als auch mit den ‚Konsumenten‘, die ihre
individuellen Probleme genauso wie die Erzählerfiguren in der Kunst gespiegelt sehen sollen.
Im Idealfall hätte dies zur Erneuerung der aisthesis des Rezipienten geführt.171 Die vorhandene Suggestivkraft der Texte ziele auf eine erhöhte Anteilnahme am Geschriebenen ab: 172 dem
Leser sollen Wahrnehmungen zuteilwerden, als ob er Wirkliches sehen würde.173 Der reisende
Enthusiast in den Abenteuern der Silvesternacht verkörpert deshalb für ihn ein erzähltechnisches Medium für die Darstellung des zu erlernenden subjektiven Wahrnehmens in den Fantasiestücken.174 Julie wird z.B. von ihm einerseits als Bestandteil einer realen, eigenständigen
Wirklichkeit, andererseits als verklärende Projektion eines inneren Bildes wahrgenommen.175
Der Text ist ein unbewusster Versuch des reisenden Enthusiasten seine Lebensprobleme lite168
Vgl. ders., 7-24, hier 22f.
Vgl. ders., 7-24, hier 23f.
170
Vgl. Stiegler, Ernst-Michael: Das Ich im Spiegel der Kunst und der Wirklichkeit. Eine Studie zum anthropologischen Verständnis E.T.A. Hoffmanns, Frankfurt a. M. 1988.
171
Vgl. ders., 9.
172
Vgl. ders., 155.
173
Vgl. ebd.
174
Vgl. ebd. und ders., 157.
175
Vgl. ders., 160.
169
31
rarisch zu bewältigen.176 Die Gestaltung der Spikher-Figur entspringt dem Bedürfnis des reisenden Enthusiasten, den Spiegel des eigenen Ichs im poetischen Text sichtbar werden zu
lassen, um darin Selbstvergewisserung zu finden.177 Der gleiche Wunsch, schriftstellerisch
das eigene Ich gespiegelt zu sehen, um daraus Selbsterkenntnis zu gewinnen, bestimmt den
autobiographischen Zusammenhang zwischen den Abenteuern der Silvesternacht und der
humoristischen Autorenebene.178 Hoffmann habe mit dem Fantasiestück ein Werk geschaffen, in dem er sich dank seiner Selbsterkenntnis von dem idealistischen Glauben in humorvoller Weise distanziert;179 er wolle Julia Mark nicht mehr als eine Verkörperung der reinen Poesie ansehen.180 Letztendlich wird das Geschehen biographisch gedeutet. Die Kunst spiegelt
eine vergangene Erfahrung aus der Wirklichkeit, mit der sich Hoffmann nicht mehr identifizieren kann.
Cynthia Chalupa: Der Spiegel als Verbindung getrennter Bereiche (2006)
Cynthia Chalupa unterzieht die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild einer Interpretation,
relativ isoliert von den Abenteuern der Silvesternacht. Ihrer Ansicht nach bricht sie mit der
bisherigen Forschung, die im Spiegelbild die Verkörperung einer Imagination oder einer
Schuld des Künstlers gesehen habe.181 Für sie repräsentiert der Spiegel als Teil der bürgerlichen Wohnkultur das Phantastische in der Geschichte und symbolisiert damit die komplexe
Beziehung zwischen den Sphären des Wunderbaren und dem Alltäglichen als Grundlage von
Hoffmanns Poetik.182 Der Spiegel verbindet als Portal Innen- und Außenwelt miteinander,
ebenso mimetische und phantastische Kunst, Aberglauben und die Optik als Bestandteil der
Physik zur Zeit der Aufklärung.183 Nachdem Spikher das Spiegelbild verloren hat, gehört er
weder der bürgerlichen Welt, die die Kunstproduktion ermöglicht und zugleich behindert,
noch der Anderswelt an, deren dämonische Vertreter kein Spiegelbild besitzen.184 Er nimmt
eine Position zwischen beiden Sphären ein – und beginnt aus der Distanz zu beiden seine
schriftstellerische Laufbahn.185 Es bleibt dem Leser der Studie überlassen, Spikher als Spiegel
zu begreifen, der sich auf diese Art nicht selbst abbilden kann – also kein Spiegelbild besitzt.
Denkt man dies weiter, dürfte es kein autobiographisches Schreiben seinerseits geben: keinen
176
Vgl. ebd.
Vgl. ders., 161.
178
Vgl. ders., 162.
179
Vgl. ders., 77.
180
Vgl. ders., 162.
181
Vgl. Chalupa 2006, 11-29, hier 11.
182
Vgl. dieselbe, 11-29, hier12.
183
Vgl. dieselbe, 11-29, hier 17ff.
184
Vgl. dieselbe, 11-19, hier16 und 23.
185
Vgl. dieselbe, 11-29, hier 22.
177
32
Text als Selbstbildnis. Seine Aufzeichnungen erweisen sich allerdings innerhalb der Abenteuer der Silvesternacht als die Spiegelungen von Schicksalen aus der ‚realen‘ und ‚fiktiven‘
Welt, denen des reisenden Enthusiasten und Peter Schlemihls. Der reisende Enthusiast
schreibt – um Schlemihls Geschichte wissend – Spikhers Text um (s.u.). Cynthia Chalupas
hätte dabei nicht auf die Erzählrahmen der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild verzichten
müssen, denn ihre Berücksichtigung würde ihre Deutung sogar stützen.
Albrecht Leonhard Driesen: Der Spiegel und das Subjekt (1997)
Nicht die Kunst und Wirklichkeit als Spiegel, sondern der Spiegel in Kunst und Wirklichkeit
ist bei Albrecht Leonhard Driesen das Thema. Sein interessanter Rundgang durch Hoffmanns
literarisches Spiegelkabinett und die kulturellen (Spiegel-)Bildtraditionen186 jenseits der Episteme der Aufklärung kann leider den Abenteuern der Silvesternacht relativ wenig abgewinnen, da andere Texte des Dichters wesentlich mehr Anknüpfungspunkte bieten: Spiegel, magische Spiegel und spiegelnde Objekte. Gerade vor dem Hintergrund des aufgezeigten Spektrums verdienen zwei Aussagen zu dem Gesamtwerk Hoffmanns Beachtung: der Spiegel besitze eine Subjekt und Objekt vereinende Wirkung, so dass das Spiegel- mit dem Doppelgängermotiv in Konkurrenz stehe, das Ausdruck einer Spaltung von Subjekt und Objekt sei.187
Bis auf die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild – und in ihr auch nur mit Einschränkungen
– würde man nirgends auf eine Doppelgänger generierende Wirkung des Spiegels stoßen.188
Da in dem Fantasiestück Doppelgänger auftreten und einige Figuren Blicke in Spiegel vornehmen, nimmt Hoffmann offenbar die Konstruktion und Dekonstruktion von Subjekten vor,
indem er eine Episode aus seinem Leben mit Peter Schlemihls wundersamer Geschichte als
Prätext verwebt.189 Auf denkbare Bezüge zu Fichtes Philosophie der wechselwirkenden IchSetzungen wird nicht eingegangen. In der Thematisierung des überwunden geglaubten Mystizismus der Spiegelmagie und früherem Analogie-Denken beginge Hoffmann affektfrei, aber
vorsätzlich Häresie an der Aufklärung.190
Barbara Schäfer: Auseinandersetzung mit der Identitätsproblematik (2007)
Aufschlussreicher hinsichtlich der Identitätsproblematik erweist sich Bettina Schäfers Aufsatz
über Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht.191 Sie weist auf den Entstehungskontext der
Erzählung hin: die finanzielle Not habe den musikschaffenden Dichter die Rückkehr zu einer
186
Vgl. Driesen 1997, 13 und 83.
Vgl. ders., 89.
188
Vgl. ders., 90.
189
Vgl. ders., 45.
190
Vgl. ders., 84ff.
191
Vgl. Schäfer, Bettina: Die Abenteuer der Silvesternacht, in: Hoffmann Jb 15 (2007), 77-85.
187
33
Doppelexistenz als Jurist und Künstler aufgenötigt.192 Vor diesem Hintergrund wäre der empirische Autor das erzählerische Experiment eingegangen, das allgemein krisenhaft gewordene Konstrukt von Identität (als Erbe der Aufklärung) zur Darstellung zu bringen. 193 Die zerstückelte Form von vier Erzählungen mit Vorwort und Postskript ginge mit der als Auflösung
bezeichneten Dekonstruktion des Erzähler-Subjekts einher. Für die Gefährdung des Subjekts
durch Ich-Dissoziation avanciere der blinde Spiegel als zentrale Metapher:194 das Verhältnis
zwischen dem Spiegel und dem Abbild des Selbst sei defekt.195 Der Betrachtende erkenne
keine Kongruenz zwischen Ideal und Spiegelbild, das Hoffmann als Traum-Ich bezeichnet.
Die Gleichzeitigkeit von Traum und fiktiver Realität lässt eine Figur sowohl sie selbst, als
auch eine andere sein.196 Die Selbstwahrnehmung erweist sich als genauso relativ, wie die
Wahrnehmung der Welt generell,197 die in der Fiktion, nur der Magier Dapertutto, als Maske
der Autorinstanz zu manipulieren behauptet. Ein Ausblick auf die Kunst des 19. Und 20.
Jahrhunderts (Literatur, Film, Malerei) bescheinigt Hoffmanns Welt- und Menschenbild eine
gewisse Modernität.198 Das Subjekt lässt sich nicht mehr fassen, es führt eine ‚geisterhafte‘
Existenz in einer medial geprägten Umwelt.
Helena Frenschkowski: Begegnungen mit Porträts und Spiegeln in der Literatur (1995)
Obwohl ihre Dissertation über die Phantasmagorien des Ich keine intermediale Interpretation
der Abenteuer der Silvesternacht bietet,199 gibt sie wesentliche Impulse, den Text vor dem
Hintergrund von Medienprodukten zu verstehen. Sie behandelt die Motive200 Spiegel und
Porträt in der Literatur des 19. Jahrhunderts anhand von Beispielen aus dem deutschen, englischen und russischen Sprachraum. Da sie positivistische Materialfülle textisolierter Versatzstücke ablehnt,201 findet offenbar die in diesem Zeitraum nicht unbedeutende, französische
Literatur keine Berücksichtigung. Es geht ihr um die Analyse der ästhetischen Struktur von
Texten vor einem motivgeschichtlichen Hintergrund und nicht umgekehrt.202 In der ersten
Hälfte ihrer Arbeit untersucht sie Texte, in denen Porträts ‚lebendig‘ werden; im zweiten Teil
192
Vgl. dieselbe, 77-85, hier 77.
Vgl. dieselbe, 77-85, hier 78.
194
Vgl. ebd.
195
Vgl. dieselbe, 77-85, hier 83.
196
Vgl. dieselbe, 77-85, hier 85.
197
Vgl. ebd.
198
Vgl. ebd.
199
Vgl. Frenschkowski, Helena: Phantasmagorien des Ich. Die Motive Spiegel und Porträt in der Literatur des
19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995.
200
Der Begriff scheint insofern weitgefasst zu sein, da sie auf eine Abgrenzung der Begriffe Motive, Stoff, Thema und Symbol ausdrücklich verzichtet. Vgl. dieselbe, 15.
201
Vgl. dieselbe, 16. Positivistische Materialfülle gibt es in der Arbeit durchaus; wie weit ihre Vermeidung von
textisolierten Versatzstücke geht, ist Ermessenssache.
202
Vgl. ebd.
193
34
ihrer Ausführungen Begegnungen mit Spiegelbildern. Da die Protagonisten in den Abenteuern
der Silvesternacht sowohl leidvolle Erfahrungen mit Spiegeln, als auch mit ‚lebendigen Gemälden‘ machen, ist die Positionierung der Analyse am Übergang beider Abschnitte stimmig.
Allerdings spielen bei der Behandlung von Hoffmanns Text die Vergleiche etlicher Figuren
mit Porträts eher eine untergeordnete Rolle. Der Blick in den Spiegel und das Experimentieren mit tradierten Erzählformen203 erweisen sich als Ausdruck einer desillusionierenden Suche nach der eigenen Identität: „Individualität erscheint […] als etwas Doppeltes, Wiederholbares, Austauschbares, womit sie letztlich in ihrer ursprünglichen Bedeutung als Einmaligkeit
negiert wird“.204 Konsequenterweise bliebe der reisende Enthusiast als Erzählinstanz namenlos und erkenne in allem Erlebten, sogar in der Nähe seiner Geliebten Julie, bloße Erscheinungen bzw. Spiegelungen von bereits Vorhandenem.205 Aus dem Widerstreit der durch
Spiegel und Porträt206 entfesselten Phantasie mit der Alltagsrealität entstünden die inneren
und äußeren Konflikte, denen Spikher und der reisende Enthusiast ausgesetzt sind.207 Erotisch
gefärbte Ästhetik und spießbürgerliche Ethik208 vertragen sich nicht miteinander: das „Motiv
des Spiegelbildverlustes wird hier also zum Symptom der Unvereinbarkeit einer bürgerlichen
und gleichzeitig künstlerischen Existenz“.209 Die Tragik Spikhers bestünde darin, dass ihn der
Verlust des Spiegelbildes seiner Imaginationskraft beraube und er somit nicht mehr die Alltagsrealität poetisieren könne – wie der reisende Enthusiast, der sie mit Ironie bewältige.210
Dass sich im spielerisch-humorvollen Umgang mit dem abgründigen Thema des Selbstverlustes211 nicht nur für den Autor, sondern auch für das Lesepublikum neue und ästhetisch befriedigende Bewältigungsmöglichkeiten eröffnen, zeige Hoffmanns Erfolg. 212 Er versteht offenbar die Gestaltung von Spiegelszenen.
203
Vgl. dieselbe, 129.
Dieselbe, 138.
205
Vgl. ebd.
206
Vgl. dieselbe, 142.
207
Vgl. dieselbe, 143.
208
Ebd.
209
Dieselbe, 145.
210
Vgl. dieselbe, 145f.
211
Die damit einhergehende Ich-Dissoziation erzeugt Doppelgänger wohl in Form von Phantasmagorien des Ichs
– zu Deutsch Geisterversammlungen des Ichs, wie in der Kellerszene der Abenteuer der Silvesternacht. Vgl.
dieselbe, 135. Der Begriff der Phantasmagorie, der (wie bei Hoffmann) nur hier und im Titel von Frenschkowskis Abhandlung fällt, besitzt bei ihr keine Definition als ‚Spiegelbild‘, wodurch die behandelte Problematik
der Identität trefflich zum Ausdruck gebracht wird. Eine Auseinandersetzung mit den medialen Implikationen
des Fantasiestücks, wie sie im Folgenden bezweckt wird, muss den Begriff leider mit zeitgenössischer Bedeutung füllen (s.u.) und somit entmystifizieren.
212
Vgl. dieselbe, 148. In gewisser Weise wird damit Ernst Michael Stieglers Studie bestätigt (s.o.).
204
35
Christiane Dahms: Spiegelszenen in Literatur und Malerei (2012)
Diese Selbstbegegnungen von Figuren vor einer Reflexionsfläche untersucht Christiane
Dahms in Literatur und Malerei.213 Als methodischen Zugang zu Spiegelphänomenen in der
Kunst wählt sie die Thematologie – in deutlicher Abgrenzung zur Stoff- und Motivgeschichte,
die wegen ihrer positivistischen Herangehensweise in Verruf geraten ist. Thematologie bedeutet für sie die „Erforschung der Inhaltselemente der Literatur“:214
[diese] sucht über den Einzeltext hinausgehend das Referenzsystem nachzuzeichnen, in dem sich Stoffe,
Motive und andere Textbausteine durch Literaturgeschichten und Disziplinen bewegen, und verbindet
inhaltliche mit gestalterischen und poetologischen Fragestellungen. Indem sie diachron und synchron
forscht, Sprach-, Kultur- und andere Wissenschaftsdiskurse bei der Analyse berücksichtigt, arbeitete die
215
Thematologie dezidiert diskursanalytisch.
Ein Blick auf das Ergebnis der alternierenden Betrachtung von Literatur und bildender Kunst
verdeutlicht die Qualität und Modernität der Abenteuer der Silvesternacht. Hoffmanns Werk
berücksichtigt nahezu alle Aspekte des Themas bzw. Motivs des Spiegels seit dem 19. Jahrhundert:
In den Selbstbegegnungen wird der Spiegel zur Projektionsfläche für Imaginationen, die im zeitgenössischen Kontext der relevanten Identitätsproblematik und ihrer diskursiven Verschränkungen virulent
werden. Changierend zwischen Realität und Illusion, Bekanntem und Unbekannten, Ablehnung und
Akzeptanz, Identität und Alterität verweigert sich das Spiegelbild den Eindeutigkeiten und enthüllt […
stattdessen] Distanz und Nähe zum eigenen Ich. Verbunden mit dem tradierten Bedeutungsgehalt des
Spiegels als Symbol für Vanitas und Superbia werden jetzt neue Implikationen sichtbar, zu denen vor
allem Narzißmus als gesteigerte Eitelkeit und als Autoerotismus, ferner Wahnsinn und Multipersonalität
als Wahrnehmungsstörung und Identitätsverweigerung sowie eine umfassende Verlust-Motivik gehö216
ren.
Christiane Dahms folgt Helena Frenschkowski dahingehend, dass Spikher die Fähigkeit der
Illusionsbildung abhandenkommt217 und damit die kritische Distanz zur Kunst, jeglichen Realitätsbezug und damit auch die Erinnerung an die Vergangenheit verliert. 218 Christian Baiers
jüngst vorgeschlagene Lesart (s.o.) des Textes liegt in der Luft, in Spikhers Italienreise die
verdrängte Vergangenheit des reisenden Enthusiasten zu sehen. Festzuhalten bleibt:
Die intertextuellen, intermedialen und autoreflexiven Bezüge deuten auf das Prinzip der Spiegelung als
Erzählverfahren, das zusammen mit dem Prinzip der Heterogenität die Dynamik des Textes ausmacht.
[… Dieser nutzt ferner] die Spiegelung als strukturelles Muster für Vorausdeutungen, Wiederholungen,
219
Variationen und die Oppositionierung szenischer Konfigurationen.
213
Vgl. Dahms, Christiane: Spiegelszenen in Literatur und Malerei, Heidelberg 2012, 13.
Dieselbe, 24.
215
Dieselbe, 24.
216
Dieselbe, 218.
217
Vgl. dieselbe, 85.
218
Vgl. dieselbe, 87.
219
Dieselbe, 77.
214
36
Ricarda Schmidt: Die Rolle „malerischer Intertexte“ (2006)
Von Ricarda Schmidt werden erstmals intermediale Schreibweisen in den Abenteuern der
Silvesternacht aufgezeigt.220 Für sie sind in Hoffmanns Werken mehrere Künste im Spiel.
Dabei ist sie sich im Klaren, dass sich die Referenzen auf Medienprodukte in den einzelnen
Erzählungen nicht „demokratisch“ auf alle Kunstformen verteilen – wie ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lehrt. Da die im Entstehungszeitraum der Studie stattfindende Diskussion von
Modellen der Intermedialität erst bedingt Niederschlag in ihrer Methodik und Begrifflichkeit
gefunden hat,221 bleibt die Qualität der intermedialen Bezüge noch zu kategorisieren. Ein unreflektiertes Herangehen an die Analyse der Texte Hoffmanns ist ihr ausdrücklich nicht vorzuwerfen. Ihre deutliche Kritik an Hoffmann-Deutungen,222 die angeblich den Entstehungskontext der Werke ausblenden, findet in theoretischer Hinsicht eine Würdigung in Irmtraud
Hnilicas Rezension. Nach dieser grenzt sich Schmidt deutlich vom New Historicism ab und
kassiert en passant poststrukturalistische Intertextualitätskonzepte, um als Anhängerin einer
Re-Philologisierung der Literaturwissenschaft und der Hermeneutik den Wert des Positivismus neu zu durchdenken.223 Die Kontextualisierung der Werke in zeitgenössischen Diskursen
mit einer ihnen inne wohnenden Vergangenheitsdimension scheint Schmidt wichtig zu sein.
Im Zusammenhang mit den Abenteuern der Silvesternacht interessiert sie sich nicht für die
intermedialen Bezüge zur Malerei allein. Sie bespricht Gemälde und Radierungen des 17.
Jahrhunderts224 als malerische Intertexte; denn ihre Interpretation gewinnt sie aus Texten, die
das Verständnis durch einige Rezipienten bezeugen.225 Die verschiedenen Protagonisten des
Fantasiestückes würden nämlich mit Hilfe kultureller Produkte und dem Wissen darüber ihre
Wirklichkeit deuten und strukturieren. Sie selbst vergleichen jede Person, die für ihre Geschichte bedeutsam ist, pauschal mit Bildern von van Mieris, Rubens, Rembrandt und Callot.
Ricarda Schmidt wertet die Personenbeschreibungen, die sie implizit als rudimentäre
Ekphrasis versteht, aus und identifiziert, v.a. in der Dresdner Galerie Alter Meister, die Hoffmann bekannt war, eine ganze Reihe in Frage kommender Werke.226 Diese würden das tradi220
Vgl. Schmidt 2006. Anm.: In diesem Buch vertieft die Autorin ihre Gedankengänge von: Schmidt, Ricarda:
Narration – Malerei – Musik. Mediale Interferenz am Beispiel E.T.A. Hoffmanns, in: KulturPoetik 1/2 (2001),
182-213.
221
Es gibt z.B. keinen Hinweis auf Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen 2002, da die Entwicklung auf
dem Gebiet der Theorie die offenbar weiter zurückliegende Konzeption des Ganzen (vor 2001, siehe vorangegangene Anmerkung), überholt hat.
222
Vgl. Schmidt 2006, 12.
223
Vgl. Hnilica, Irmtraud: [Besprechung von] Ricarda Schmidt: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006; in: E.T.A. Hoffmann Jb 18 (2010), 134138, hier 134.
224
Vgl. Schmidt 2006, 107.
225
Vgl. dieselbe, v.a. 109ff.
226
Vgl. dieselbe, 92ff.
37
tionelle christliche Motiv der Warnung vor den irdischen Genüssen thematisieren und an die
Menschen – eigentlich Männer – in sehr unterschiedlicher malerischer Direktheit appellieren,
diesen zu entsagen.227 Dabei verkennt sie nicht, dass die malerischen Warntafeln (vgl. AS
340) gleichzeitig dem schwelgerischen Genuss an den weiblichen Formen frönen. 228 Die
durch die intermedialen Referenzen beschworene Gefahr für den reisenden Enthusiasten und
Erasmus Spikher bestünden darin, das konkrete Ideal einer Frau leibhaftig besitzen zu wollen.229 Kunst, Leben und Idealität können in keinem ausgewogenen Verhältnis zueinander
stehen: „Ein konservatives Weiblichkeitskonzept [aus der Malerei und ihrer Rezeption] fungiert als Vehikel der Umformulierung des frühromantischen Utopieversprechens und bahnt
den Weg für eine moderne desillusionierende Anerkennung der Differenz zwischen Ideal und
Wirklichkeit – ohne auf das Ideal zu verzichten“.230 Hoffmann antizipiert in Schmidts Augen
keine neuen literarischen oder literarturtheoretischen Konzepte,231 da er keine Alternative zu
bestehenden bietet. Man fragt sich allerdings, ob der Zweifel an dem sogenannten, frühromantischen Utopieversprechen nicht doch ein erster Schritt zu seiner Überwindung ist? Eigentlich bestätigt sie damit den Mainstream der Hoffmann-Forschung, von dem sie sich abzusetzen sucht. Originalität erscheint das Ideal zu sein, von dem sie sich nicht verabschieden
will. Dass diese nur bedingt möglich ist, lehren die intermedialen Bezüge auf die Malerei in
den Abenteuern der Silvesternacht.
Die Figuren erinnern an heute noch erhaltene Gemälde und rufen die mit ihnen verbundenen
Geschichten ins Gedächtnis. Intermedialität wiederholt kulturelles Wissen. Sowohl der empirische Autor, als der Rezipient muss sich möglichst an dasselbe erinnern, sonst funktioniert
die Kommunikation nicht. Dem Komplex des Erinnerns und dem damit verbundenen Vergessen widmet sich Ethel Matala de Mazza.232
Ethel Matala de Mazza: Das Verhältnis von Erinnern und Vergessen (2005)
Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Erinnerungen, Wiederholungen und Löscharbeiten zueinander,233 nachdem sie ein Problembewusstsein für deren Auftreten innerhalb des
Textes geschaffen hat. Sie vergegenwärtigt dazu drei kulturgeschichtliche Kontexte des 19.
227
Vgl. dieselbe, 107.
Vgl. ebd.
229
Vgl. dieselbe, 101.
230
Vgl. dieselbe, 107.
231
Vgl. dieselbe, 12.
232
Vgl. Mazza 2005, 153-178.
233
Unter Löscharbeiten wird offenbar das Löschen von Erinnerungen verstanden: das Vergessen und Verdrängen – in einer anachronistischen Analogie zur Manipulation des Gedächtnisses eines Computers durch den User.
228
38
Jahrhunderts und ‚erinnert‘ an (1) mediale Techniken und Praktiken, (2) die Entstehungs- und
Rezeptionsgeschichte des Werks und (3) die Biographie E.T.A. Hoffmanns.
(1) Zunächst entwirft sie die Dämonie einer sogenannten Schattenwirtschaft, in der Handel
mit fixierten Menschenbildern getrieben wird.234 Die Herstellung von Silhouetten, später Fotografien, habe für eine dauerhafte Entzweiung von Körper und Abbild gesorgt, obwohl die
mimetische Reproduktion es der Obrigkeit zunehmend erleichtert habe, Personen zu identifizieren.235 Peter Schlemihls wundersame Geschichte zeige dieses Drama auf: die künstliche
Trennung des Protagonisten von seinem Schatten.236 Eine etwas bemüht wirkende Pointe leitet zu der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Hoffmanns Fantasiestück über.
(2) Schlemihl verlöre nicht nur seinen Schatten, sondern auch seine wundersame Geschichte,
die Hoffmann in den Augen etlicher Zeitgenossen stiehlt.237 Letzterer reproduziere bzw.
„wiederhole“ dessen Lebensbeichte als Plagiat.238 Von diesem Vorwurf sucht die Verfasserin
explizit den Beschuldigten freizusprechen.239 Als Kronzeuge führt sie Jacques Offenbach an,
den Komponisten der Oper Hoffmanns Erzählungen (Les Contes d’Hoffmann).240 Deren Libretto greift inhaltlich zwei Episoden aus den Abenteuern der Silvesternacht auf und wiederholt damit die Wiederholung von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte. Offenbach soll
sein Werk folgendermaßen gerechtfertigt haben: „Das Stück, das entsteht, läßt jenes vergessen, das abstirbt … es handelt sich um eine Reihe von Bildern, die wie in der Laterna magica
dahinfliegen“.241 Diese Selbst-Interpretation der Oper überträgt Ethel Matala de Mazza auf
die später besprochenen Abenteuer der Silvesternacht, bedient sich aber ihrer eigenen Begrifflichkeit (s.u.). Unter Ausblendung des medialen Aspektes könnte man in ihrer Diktion Offenbachs Aussage in nachfolgender Weise reformulieren: das Stück, das als scheinbare Wiederholung entsteht, löscht jenes aus, an das erinnert wird. Es wird mit ‚Updates‘ ‚überschrieben‘
– will man sich sprachlich tatsächlich an ein ‚Computer-Deutsch‘ anlehnen.
Bei der medialen Metapher, der Bilderreihe einer Laterna magica bzw. dem Bilderreigen der
Zauberlaterne,242 muss inne gehalten werden. Weil Erinnerungen, Wiederholungen und
Löscharbeiten in Hoffmanns Fantasiestück genauso wie in dem musikdramatischen Werk
vorkommen und die Medienmetapher schon in anderen Erzählungen Hoffmanns entdeckt
234
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 154.
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 154f.
236
Vgl. ebd.
237
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 155f.
238
Vgl. ebd.
239
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 156f.
240
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 157.
241
Zit. nach Safranski, Rüdiger: Über E.T.A. Hoffmann und Jacques Offenbach, in: E.T.A.Hoffmann Jb 8
(2000), 69-80, hier 72f.
242
Vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 157 und 159.
235
39
worden sind, wagt de Mazza, die „Opern-Laterne“ als eine Wiederholung einer „LiteraturLaterne“ zu interpretieren, die keine Bilder wiedergibt, sondern Schriften reproduziert.243 Sie
weiß allerdings weder in dem von Offenbach vertonten Libretto, noch in den Abenteuern der
Silvesternacht unanfechtbare Belege für explizite Medien-Metaphern beizubringen. Die behauptete intermediale Schreibweise Hoffmanns bleibt also noch zu belegen, was in Zusammenhang mit dieser Arbeit betont werden muss. Der Nachweis einer Ästhetik projizierter Bilder kann mittels stichhaltiger Kriterien erbracht werden, die allerdings erst erarbeitet werden
müssen.
(3) Eine letzte Annäherung an das Thema des Erinnerns, Wiederholens und Löschens bietet
Hoffmanns Biographie.244 Als ‚brotloser Künstler‘ und Gesangslehrer verliebte sich der Dichter-Komponist unglücklich in seine Bamberger Schülerin Julia Mark. Obwohl das Mädchen
aus gut bürgerlichem Hause zurückhaltend bis ablehnend auf seine Avancen reagierte, verheiratete man sie wohl sicherheitshalber rasch mit einem Hamburger Kaufmann – womit ein
weiterer, persönlicher Umgang beider für immer unterbunden worden war. Im Kontext dieser
Verlusterfahrung beginnt Hoffmann, der bislang nur als Gelegenheits-Rezensent musikalischer Werke an die Öffentlichkeit getreten ist, seine Karriere als Dichter der Fantasiestücke.
In ihnen erschafft er den Kapellmeister Kreisler und den reisenden Enthusiasten als seine alten Egos. De Mazza weist auf Memoria von den Geburtstagen Hoffmanns und Julias in den
Werken und dem Leben des Dichters hin, die für ‚uneingeweihte‘ wenig augenfällig sind.
Offenbar sind die Erinnerungen gezielt literarisch überformt worden, um eine Differenz zwischen empirischen Autor und seinen Figuren aufzubauen und die Verlust-Erfahrungen in ihrer
primären Gestalt löschen. Hoffmann wollte sich auflösen und unsichtbar machen. Dementsprechend beabsichtigte er ursprünglich nicht, als Verfasser der Fantasiestücke in Erscheinung treten. Sein Autoren-Abbild verweigerte er schließlich dem ‚Schattenhandel‘ des literarischen Markts nur deshalb nicht, weil seine finanzielle Lage es nicht erlaubte, das ökonomisch vielversprechende Vorwort Jean Pauls zu unterdrücken. Es lüftet das Inkognito des
empirischen Autors.
Eine Analyse von den Abenteuern der Silvesternacht klärt schließlich das Verhältnis von Erinnern, Wiederholen und Vergessen: „Die Wiederholung ist Erneuerung und Zerstörung in
einem; sie sichert den Fortgang des Erzählkomplexes und trennt sein Gewebe zugleich an
243
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 176.
Vgl. den folgenden Absatz mit derselben, 153-178, hier 160ff. Aufschlussreich zu der Julia-Marc-Romanze
auch Marc, Julie: Erinnerungen an E.T.A. Hoffmann (1837). Mit einer Einleitung Hans von Müllers †. Mitgeteilt
von Friedrich Schnapp, Bamberg 1965.
244
40
allen Stellen auf“.245 Erinnerung und Wiederholung stehen im Verhältnis von Simulation und
Dissimulation zueinander. 246
Wiederholen ist mimetische Reproduktion und Variation zugleich. Daraus muss man als Leser schließen, dass das Aufgreifen biographischer, medialer und literarischer Erfahrungen, v.a.
wenn sie miteinander kombiniert werden, wie z.B. die Lektüre von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, kein Plagiat darstellen. Mit dem Erkennen und Verkennen selbst heraufbeschworener Bilder werde durch den Erzähler ein Vexierspiel betrieben.247 Jedes Erlebnis-Bild
wird als Trugbild desillusioniert und in eine Gegenstandslosigkeit verwiesen.248 Die Folge ist
Orientierungslosigkeit bei den Protagonisten.
Barbara Neymeyr: Intertexte und Intermedien als Ursache oder Folge einer massiven Identitätskrise? (2004/2005)
Diese stellt den Ausgangspunkt für Barbara Neymeyrs Überlegungen zu dem Hoffmann-Text
dar.249 Seine Figuren seien dem Spannungsfeld von Phantasie und Alltagswahrnehmung massiv ausgesetzt.250 Dieses erlebt offenbar der reisende Enthusiast, die Erzählerfigur, besonders
stark. Seine innere Zerrissenheit führe zur Dekomposition des Textes und zur Abspaltung von
Persönlichkeitsanteilen. Mit diesem Prozess der fortschreitenden Ich-Dissoziation bzw. Identitätsauflösung gehe das Auftreten von Doppelgängergestalten in der Handlung einher. 251 In
einem metaphorisch verstandenem Sinne können sie als Projektionsfiguren gelten, die aus
dem Innern des ‚Tagebuch‘ schreibenden, reisenden Enthusiasten stammen.252 Er versucht so
ein eng miteinander verbundenes Identitäts- und Liebestrauma zu bewältigen.253 Letzterem
meint er zu entkommen, indem er der Geliebten den Status malerischer Fiktion zuspricht. Das
daraus resultierende ‚Spiel‘ mit den Fiktionsebenen254 bewirke auch eine Desorientierung
beim Leser.255 Relativierende Perspektiven und objektivierende Wertungsmaßstäbe werden
245
Dieselbe, 153-178, hier 171.
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 160.
247
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 169ff.
248
Vgl. ebd. Dies geschieht wohl über die gesetzten, literarischen Rahmen und Personenbeschreibungen. Eine
konsequente Auswertung der Ekphrasis von Physiognomien erfolgt allerdings nicht.
249
Ihre Interpretation von den Abenteuern der Silvesternacht liegt in zwei unterschiedlich ausführlichen Versionen vor, die beide in kurzer Folge beim Reclam-Verlag erschienen sind: Neymeyr, Barbara: Die Abentheuer der
Sylvester-Nacht. Romantische Ich-Dissoziation und Doppelgänger-Problematik, in: Günter Saße (Hg.): E.T.A.
Hoffmann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 2004, 60-74 und Neymeyr, Barbara: Nachwort, in: Hoffmann,
E.T.A.: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Hg. v. Barbara Neymeyr, Stuttgart 2005, 63-92. Besprochen wird
hier die längere, allerdings ältere Fassung von 2004.
250
Vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier 60.
251
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 61.
252
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 64.
253
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 67.
254
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 63 und 68.
255
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 61.
246
41
ihm vorenthalten,256 wovor der fiktive Herausgeber im Vorwort deutlich warnt: die fehlende
Abgrenzung von innerem und äußeren Leben (vgl. AS 325). Der verfremdete Realitätsbezug
ergibt sich aus der Umkehrung des Mimesis-Konzepts: in der künstlerischen Fiktion ahme die
geschilderte Wirklichkeit die Kunst nach.257 Eine Vielzahl von intertextuellen und intermedialen Bezügen löse die Wirklichkeit in das Phantasmagorische auf,258 das bei ihr nicht näher
erläutert wird. Neymeyr stellt in diesem Zusammenhang einen bislang in der Forschungsliteratur unausgesprochen gebliebenen Prätext zur Diskussion: Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht,259 die – völlig unabhängig von ihrer Deutung – nach Monika
Schmitz-Emans aus einer Reihe phantasmagorischen Figuren besteht.260 Eine ‚Verwandtschaft‘ beider Werke scheint damit über den Titel hinaus gegeben zu sein, bleibt nach den
knappen Ausführungen von Neymeyr aber noch ein Forschungs-Desiderat, das in vorliegender Arbeit u.a. eingelöst werden soll. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Neymeyr Die
Abenteuer der Silvesternacht als einen Schlüsseltext für die phantastische Literatur der Moderne ansieht.261 Die rezeptionsgeschichtliche Anschlussfähigkeit des Fantasiestücks scheint
im Zusammenhang mit seiner Intertextualität und Intermedialität zu stehen, wird allerdings im
Rahmen der Deutung nicht erklärt oder überhaupt reflektiert. Es bleibt darüber hinaus zu konstatieren, dass Barbara Neymeyr mit der Bedeutung des Textes für die Moderne noch fast zu
kurz greift. Er ist nicht nur ein Schlüsseltext für die kommende, phantastische Literatur, sondern auch, die medialen Grenzen überschreitend, für den frühen deutschen Stummfilm.
256
Vgl. ebd.
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 63.
258
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 67.
259
Vgl. dieselbe, 60-74, hier 72. Ein ‚suggestiver‘ Hinweis auf den Prätext findet sich in Albrecht Leonhard
Driesens Rundgang durch Hoffmanns literarisches Spiegelkabinett. In seinem Abschnitt über Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht findet sich die Abbildung einer der Illustrationen Alfred Kubins zu Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft in der Neujahrsnacht, bar jeglicher Erklärung in der Beschriftung oder dem Fließtext. Vgl.
Driesen 1997, 47.
260
Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Redselige Träume. Über Traum und Sprache bei Jean Paul im Kontext des
europäischen Romans, in: Peter-André Alt / Christiane Leiteritz (Hgg.): Traum-Diskurse der Romantik, Berlin /
New York 2005, 75-110, hier 94.
261
Vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier 72ff.
257
42
1.3. Problemstellungen und Vorgehensweise
Hoffmanneske Stoffe erfreuten sich in der experimentellen Frühphase des Films großer
Beliebtheit. Der Regisseur Paul Wegener greift im Student von Prag (1913) z.B. Motive aus
Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, den Abenteuern der Silvesternacht und E.A. Poes
Doppelgänger-Geschichte William Wilson auf.262 Wegener ist von den neuen technischen
Möglichkeiten fasziniert. Er tritt im Film ‚gleichzeitig‘ als Balduin und dessen verkauftes,
doppelgängerisches Spiegelbild auf.263
So verwundert die immer wieder geäußerte Feststellung nicht, Hoffmann habe sich einer filmischen Schreibweise bedient: „Die Kurzschrittigkeit seines Erzähltempos hat einen vergleichbaren Effekt wie das filmische Äquivalent im Stummfilm, wenn die rasche Szenenabfolge keine längere Identifikation ermöglicht“.264 Solche Vergleiche sorgen für Anschaulichkeit, sind aber anachronistisch.265 Anfang des 19. Jahrhunderts konnte man nur keine Bezüge
zu einem Medium herstellen, das es noch gar nicht gab. Lässt man sich von der Verfilmung
romantischer Stoffe zu Vergleichen hinreißen, verkehrt man wider Willen die Abhängigkeitsverhältnisse. Die Medienwissenschaft kennt das Bestreben vieler Schöpfer von Medienprodukten, den Rezipienten die perfekte Illusion, Unmittelbarkeit im Erleben, zu erzeugen, wobei
sie sich aller gegenwärtig vorhandenen Medien bedienen – und nennt das Phänomen „Remediation“.266 Rückprojektionen heutiger Technik auf Konzepte der Vergangenheit sind legitim,
wenn man sie begründet – wie gerade mit der Kurzschrittigkeit des Erzähltempos geschehen
ist.
Deshalb greift man auch zum 250. Geburtstag von Jean Paul 2013 bedenkenlos auf Remediatisierungsstrategien zurück, um dessen ‚unleserlichen‘ Werke einem breiteren Publikum
schmackhaft zu machen. Jean Paul habe die Möglichkeiten der Digitalisierung antizipiert.
262
Vgl. Neymeyr 2007, 112-128, hier 121 und Schäfer 2007, 77-85, hier 85.
Vgl. Gruber, Bettina: Hoffmann, Chamisso, Caligari. Der Student von Prag und Das Cabinett des Doktor
Caligari: zu den romantischen Prämissen zweier deutscher Stummfilme, in: Hoffmann Jb 13 (2005), 117-132
und Bär, Gerald: Das Motiv des Doppelgängers in der Literatur und dem deutschen Stummfilm, Amsterdam /
New York 2005, 552ff.
264
Frenschkowski 1995, 133. Auch in Jean Pauls Werken fließen Bilder im Innern der Protagonisten filmartig
vorüber. Vgl. Allert, Beate: Vernichtung und Vision. ‚Leere Augenhöhlen‘ und ‚durchsichtige‘ Bilder in Jean
Pauls Dr. Katzenbergers Badereise, in: Sabine Eickenrodt (Hg.): Blindheit in Literatur und Ästhetik (17501850), Würzburg 2012, 175-198, hier 193.
265
Mit demselben Recht könnte man sagen Hoffmann habe sich einer malerischen Schreibweise bedient; denn er
„gehört zu den am meisten illustrierten Autoren der Weltliteratur“ Schemmel, Bernhard: Vorwort, in: Museen
der Stadt Bamberg / Kulturamt der Stadt Bamberg (Hgg.): E.T.A. Hoffmann und sein Werk im Spiegel der Graphik. Bestände der Staatsbibliothek Bamberg, der Museen der Stadt Bamberg, des Kunstvereins Bamberg, aus
Privatbesitz, Bamberg 2009, 4f., hier 4.
266
Vgl. Bolter, Jay David / Grusin, Richard: Remediation – Zum Verständnis digitaler Medien durch die Bestimmung ihres Verhältnisses zu älteren Medien, in: Gisela Febel / Jean-Baptiste Joly / Gerhart Schröder: Kunst
und Medialität, Stuttgart 2004, 11-36.
263
43
Bezeichnend dafür ist ein Beitrag zum Symposium „Jean Paul und die literarische Moderne“
(2013), Birgit Sicks Vortrag „Im Netz der Texte – Hypertextstrukturen als Produktionsbedingung und genetischer Wegweiser bei Jean Paul“.267
Weniger gewagt ist es freilich, Analogien zu zeitgenössischen Medien zu suchen: bei Jean
Paul z.B. Enzyklopädien und Wörterbücher mit denen ihnen eigenen Verweissystemen. Was
könnte sich nun hinter Hoffmanns „filmischer Schreibweise“ verbergen? In Betracht könnten
damals verbreitete „optische Vorstellungen“ kommen, wie das Schattentheater oder die Projektions-Spektakel mittels Zauberlaternen und Camera obscura.
Um nicht in die Materie dieser Studie abzugleiten, ehe die ihr zu Grunde liegenden Fragen
gestellt worden sind, muss hier ein Schnitt gemacht werden. Eine Rückschau auf die gerade
noch besprochene Forschungsliteratur ist angeraten. Dabei darf zunächst einmal eine ziemlich
unstrittige ‚Tatsache‘ festgehalten werden. Alle Beiträge aus den Literatur- und Kulturwissenschaften gehen davon aus, dass das Fantasiestück der phantastischen Literatur zuzurechnen ist
oder immerhin stark von phantastischen Elementen geprägt ist – obgleich keine Einigkeit darüber herrscht, was denn das Phantastische ausmacht. In diesem weitem Feld weltanschaulicher Forschungskontroversen jenseits der Abenteuer der Silvesternacht gilt es sich nicht zu
verrennen, zumal das „feststehende“ Endergebnis nur wenig Erkenntniswert für das Werk
Hoffmanns verspricht.
Identität bzw. Identitäten, werden in dem Fantasiestück als Konstrukte aus Fremd- und
Selbstwahrnehmung thematisiert. Seine Doppelgänger-Protagonisten erleben harsche Wechsel zwischen dem Gefühl der Zugehörigkeit und des Ausgeschlossen-Seins. Wie die Subjekte
damit umgehen bzw. nicht umgehen können, ist durchaus strittig. Wo die einen IchDissoziation sehen, erkennen andere aus ‚heutiger‘ Sicht mit dem schon leicht ‚angestaubten‘
Bachtin groteske ‚Patchwork-Identitäten‘.
Phantastik und Identitätsproblematik laufen also im Hintergrund der beiden zentralen Forschungs-Perspektiven stets mit. Diese wären die früher einsetzende Intertextualitätsforschung
und die jüngere Intermedialitätsforschung. Zu beiden sind einige Bemerkungen zu machen.
Die Intermedialitätsforschung behält zwar die Intertextualität im Auge, vernachlässigt diese
jedoch hin und wieder als bereits erforscht. Was bedeutet das gleichzeitige Auftreten beider
Phänomene im Text, in welcher Beziehung stehen sie zueinander?
Die Intertextualitätsforschung nimmt zwei Perspektiven ein: eine vorwärts- und eine rückwärtsgewandte. Die Abenteuer der Silvesternacht werden als Post-Text von Peter Schlemihls
wundersamer Geschichte gelesen, oder als Prätext später entstandener Erzählungen. Hier
267
http://www.jean-paul-2013.de/jubilaeum/veranstaltungen/tagung-der-jean-paul-gesellschaft.html (26.6.2013).
44
zeichnet sich ein Problem ab. Viele phantastische Texte erlauben aufgrund der ihnen innewohnenden Spiegelphänomene268 mehr oder minder berechtigte intertextuelle Vergleiche.
Textimmanente Markierungen von Referenzen sind leider nicht immer als Beweismittel vorhanden.
Außer den bekannten und allgemein akzeptierten Abhängigkeiten zu Peter Schlemihls wundersamer Geschichte von Chamisso soll es noch unbekannte Bezüge zu Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft in der Neujahrsnacht geben. Daraus resultieren zwei Fragen für diese Arbeit. Lässt sich die behauptete Intertextualität zu dem Werk Jean Pauls durch weitere Anhaltspunkte stützen? Wie gestaltet sich in Hoffmanns Text das Verhältnis der beiden Referenzsysteme zueinander? Informiert man sich über die Rolle der Intertextualität in Hoffmanns
Werk generell, so stellt man fest, dass sie geradezu charakteristisch für sein Schreiben ist.
Eine produktive Auseinandersetzung mit bereits intertextuell verfasster Literatur scheint charakteristisch zu sein:
Hoffmann erwähnt gerne vor allem solche Autoren oder ihre Werke oder weist auf sie implizit hin (z.B.
Shakespeare, Cervantes, Tieck, Sterne, Gozzi u.a.), denen selbst eine „intertextuelle“ oder – mit
Bachtins Terminologie – „dialogische“ Schreibweise eigen ist, wodurch der Hoffmannsche intertextuel269
le „Dialog“ noch mehrschichtiger wird.
Wie intertextuell sind die Texte von Chamisso und Jean Paul? Wenn ja, was bedeutet dies für
die Abenteuer der Silvesternacht, die implizit eine Auseinandersetzung mit literarischer Produktion darstellen? Werden mono- oder plurimediale Medienprodukte für intermediale Bezüge bevorzugt? Darüber hinaus: wie intermedial sind die Prätexte?270 Wie verhält sich Intertextualität und Intermedialität zur Identitäts- und Wahrnehmungsproblematik? Will man das alles
beantworten, läuft man Gefahr den Überblick zu verlieren, weshalb eine übergreifende Nomenklatur für die Bezüge in einem Theorieteil zu erarbeiten und eine klare Gliederung notwendig ist. Letztere sei hier skizziert.
Trotz einer gleichberechtigten Behandlung von Intertextualität und Intermedialität bestimmt
die Annahme von zwei Prätexten für sein Fantasiestück die Grundstruktur der Arbeit. Erst
nachdem eine ganze Reihe von Themen anhand der Texte Hoffmanns, Chamissos und Jean
Pauls untersucht worden sind, werden im Posttext die Markierungen der intertextuellen Bezüge zusammen mit konkreten inhaltlichen Übernahmen nachgewiesen und abgehandelt. Dabei
268
Vgl. May 2003, 127-152.
Orosz, Magdolna: Identität, Differenz, Ambivalenz. Erzählstrukturen bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt a. M. /
Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2001, 159.
270
Hinweise auf intermediale Bezüge in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte vgl. z.B. Lommel, Michael:
Peter Schlemihl und die Medien des Schattens, in: Athenäum. Jb f Romantik 17 (2007), 33-50.
269
45
würde es den Rahmen der Monographie sprengen, zu den Prätexten von den Abenteuern der
Silvesternacht ausführliche Forschungs-Überblicke zu geben.271
Eine augenfällige Gemeinsamkeit sind komplexe Strukturen von Erzählrahmen in Verbindung mit den drei Texten. Aber hier ist Vorsicht geboten! Um 1800 sind die stets in der Literatur präsenten Erzählrahmen stark in Mode.272 Da sie für das Verständnis verantwortlich
sind, ist ihre Besprechung am Anfang der Arbeit sinnvoll. Hinterher wird man sehen, ob konkrete Strukturen übereinstimmen oder nicht.
Allen drei Fiktionen ist gemeinsam, dass in ihnen ähnliche Figuren auftreten, handeln bzw.
nicht handeln. Natürlich gilt dies für viele Texte in der Literatur. Mit den Protagonisten verbinden sich notwendigerweise Eigenschaften im Laufe des Erzählvorgangs.273 Für diese bildet
die Person einen „Rahmen“, folglich werden diese im Anschluss an die Frame-Analyse besprochen. Um ihnen innere und äußere Gestalt zu verleihen, müssen nolens volens die drei
Autoren Position im zeitgenössischen physiognomischen Diskurs nehmen. Dieser ist implizit
auch einer über Medien und ihre Bedeutung.274 Bei einem Vergleich von Figurenbeschreibungen sollen auch Anknüpfungspunkte zur Intermedialität und Fragen der Wahrnehmung
herausgearbeitet werden.
Da die menschliche Wahrnehmung in Analogie zu Projektionsmedien gesehen wird, erfolgt
eine Rekonstruktion ihrer Dispositive, um anschließend Referenzen auf diese nachzuweisen.
Hier ist Grundlagenforschung nötig, im Gegensatz zu leichten Analogie-Setzungen zum filmischen Schreiben, dessen Theorie schon mit Rajewsky im Hintergrund steht.275 Intermedialität zu Projektionsvorführungen treten in allen drei Texten auf, wo man doch bei Hoffmann die
Musik erwarten würde. Nach Goethe ist alles „[R]omantische täuschend wie die Bilder einer
Zauberlaterne, wie ein prismatisches Farbenbild, wie die athmosphärischen [sic!] Farben“.276
271
Für Peter Schlemihl sei auf die Deutungsgeschichte des Schattens im Physiognomik-Kapitel und für die kaum
erforschte Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht auf die Sammlung kurzer Inhaltsparaphrasen des ‚rätselhaften‘ Geschehens in der Erzählrahmen-Analyse hingewiesen. Bei ‚unbedeutenderen‘ Prätexten der Abenteuer der Silvesternacht und ihren Prä-Prätexten wird darauf sogar verzichtet.
272
Vgl. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editorale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München 2008.
273
Dies gilt auch für Peter Schlemihl, der schon in Anlehnung an Musils Romantitel als Mann ohne Eigenschaften bezeichnet worden ist. Vgl. Blamberger, Günter: „Ein anderer ist nun der wirkliche Anfang“: Die Weltreisenden Peter Schlemihl und Adelbert von Chamisso, in: Holger Helbig / Bettina Knauer / Gunnar Och (Hgg.):
Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst
Neumann, Würzburg 1996, 109-117, hier 111.
274
Z.B. Voßkamp, Wilhelm: Semiotik des Menschen. Bildphysiognomie und literarische Transkription bei Johann Caspar Lavater und Georg Christoph Lichtenberg, in: Matthias Bickenbach (Hg.): Korrespondenzen, Köln
2002, 150-163.
275
Vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den
giovanni scrittori der 80er zum pulp der 90er, Tübingen 2003.
276
Goethe im Gespräch mit Riemer am 28.8.1808 (?), in: Goethe, Johann Wolfgang von: Begegnungen und
Gespräche 1806-1808, Bd. 6. Hg. v. Renate Grumach, Berlin / New York 1999 (Goethe, Johann Wolfgang von:
46
Referenzen auf andere Medien werden dennoch registriert. Schließlich liegt die Vermutung
nahe, dass Hoffmann Medienprodukte mit intermedialen Bezügen oder Medienkombinationen
aus seiner Erfahrung mit dem Bamberger Theater gewählt hat.
Aus dem Zusammenwirken von Intermedialität und Intertextualität stellt sich ein zweites Mal
die Frage nach der Zuverlässigkeit von Wahrnehmung, den Grenzen von Wahnsinn, Phantasie
und Traum: diesmal weniger von philosophischer, als von dichterischer Seite.
Schließlich wird nach Markierungen von intertextuellen Bezügen und Parallelen in den Handlungsabläufen gesucht, was man von einer Studie über Intertextualität zuerst erwarten würde.
Soweit die Prä-Prätexte für Die Abenteuer der Silvesternacht bis dahin nicht schon in anderen
Zusammenhängen besprochen worden sind, werden auch diese noch abgehandelt.
Begegnungen und Gespräche, 14ff. Bde. Begründet von Ernst Grumach u. Renate Grumach, Berlin / New
York1965, Bd. 1), 520-521, hier 520.
47
2. Intermedialität und Intertextualität von der theoretischen Seite
Am Anfang einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, die Erzählungen der literarischen Romantik hinsichtlich ihrer Intermedialität und Intertextualität untersuchen will, ist es unumgänglich, dass Begriffe, wie „Medium“ und „Text“ geklärt werden; ferner sind die theoretischen
Grundlagen für die Beschreibung und Interpretation der Phänomene zu legen. Daher wird
man auf den nächsten Seiten nur wenige Bezüge auf die zu untersuchenden Werke finden.
Nach der Auseinandersetzung mit dem Begriff „Medien“ (2.1.1.) und den verschiedenen
Formen der „Intermedialität“ (2.1.2.), wird das Verständnis von „Text“ (2.2.1.) dargelegt und
ein Beschreibungsmodell der „Intertextualität“ (2.2.2.) entwickelt. Zuletzt rücken „Paratexte“
bzw. „Frames“ (2.3.) in den Fokus des Interesses, da sie das Zusammenspiel von Medienprodukten aller Art regulieren können.
2.1. Die Intermedialität von Texten
2.1.1. Der problematische Begriff des ‚Mediums‘
Eine allgemein befriedigende Definition des Begriffs ‚Medium‘ existiert nicht; und jeder versteht nur fast dasselbe darunter.277 Da die ausgewählten literarischen Texte noch vor der Mitte
des 19. Jahrhunderts entstanden, können sie sich nur auf analoge Medien beziehen.278 Für den
Untersuchungszeitraum ist die theoretische Durchdringung digitaler Medien irrelevant. Medien sollten vor 200 Jahren, genauso wie heute, störungsfrei alle Anforderungen der kommunikativen Praxis erfüllen. Folglich wird an ihnen so lange verbessert, bis neue Organisationsformen entstanden sind. Die Benutzerfreundlichkeit wirkt sich massiv auf die Beliebtheitsskala der gleichzeitig existierenden Kommunikationsmittel aus. Angebot und Nachfrage des
Marktes bestimmen weitgehend die Weiterentwicklung von Technik und Kunstwerken, selbst
wenn deren Schöpfer sich zuweilen diesen Gesetzen zu entziehen suchen.
Ohne die Visionen möglicher Medien und den ‚Verschleiß‘ realisierter, technischer Apparaturen, bliebe ihre ‚Evolution‘ stehen. Dies bedeutet, dass man zwischen realen und imaginierten
Medien unterscheiden muss. Da Utopien und Science Fiction meistens nur die absehbaren
Weiterentwicklungen realer Medien bieten, ist dieses Problem bei der Definition des Begrif-
277
Vgl. Hoffmann, Stefan: Geschichte des Medienbegriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft), Hamburg 2002.
278
Zur Unterscheidung von analogen und digitalen Medien. Vgl. Paech, Joachim: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen, in: Jörg Helbig (Hgg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin 1998, 14-30, hier 19 und Joachim Paech / Jens Schröter (Hgg.):
Intermedialität. Analog / Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008.
48
fes als marginal anzusehen. Hier soll als Medium nur das verstanden werden, was bereits seine technische Realisierung erfahren hat.
Was ist nun ein Medium? Ein Minimalkonsens lautet: „Alles kann zu einem Medium werden
– sofern es als Medium gebraucht wird“.279 Was heißt nun, etwas als ein Medium zu gebrauchen? Ein „Medium gebrauchen“ heißt i.d.R. „kommunizieren“. Dies ist schon in den lateinischen Ursprüngen des Begriffes angelegt:
medius meint ›in der Mitte befindlich‹, ›dazwischen liegend‹, auch ›gewöhnlich‹, ›unparteiisch‹, ›zweideutig‹, ›störend‹ und ›vermittelnd‹. Die substantivische Form medium meint ›Mitte‹, ›Mittelpunkt‹,
›Mittelstraße‹, ›Öffentlichkeit‹, ›tägliches Leben‹, ›Publikum‹, ›menschliche Gesellschaft‹, ›Gemein280
wohl‹ [als Synonym für Gemeinwesen und Staat] usf.
In der Mittellage können sich Gegenstände, Menschen und Meinungen im gesellschaftlichen
Kontext befinden, deren Rolle von der Öffentlichkeit als Publikum unterschiedlich bewertet
wird: störend, vermittelnd, parteiisch, unparteiisch oder gar doppeldeutig. So stellen sich die
Beziehungen dar, die Kommunikationsprozesse herstellen. Das Medium überbrückt den Zwischenraum zwischen Sender und Empfänger bei der Vermittlung von Informationen, die nicht
immer sinnhaft sein müssen. Der Begriff „Information“ ist gegenüber „Botschaft“ und ‚Inhalt‘ vorzuziehen, da sie weniger neutral das Übertragene bezeichnen.281
Die Vermittlung lässt sich an der Organisation, Fixierung und Performanz von Information(en) beobachten. Im Idealfall einer glückenden Kommunikation sind ein Sender, ein Empfänger, ein zu dekodierendes Zeichensystem und störungsfreie Übertragungs-Kanäle festzustellen:
Im alltäglichen Umgang bleiben die Medien unterhalb der Schwelle des bewussten Wahrnehmens, weil
die Auseinandersetzung mit der Information zur Konstruktion der Botschaft von den Vermittlungspro282
zessen ablenkt, so dass sich überspitzt formuliert der Vollzug der Medien in ihrem Entzug realisiert.
Der Normalfall, dass ein Mensch mit einem anderen Menschen kommuniziert, ohne dass
technische Hilfsmittel im Einsatz sind, wird kaum wahrgenommen – und im Alltag als Script
oft auf Situationen übertragen, die komplexere Organisationsmuster aufweisen. Die Medienwissenschaft muss sich natürlich mit der tatsächlichen Faktenlage auseinandersetzen. Sie unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Medien voneinander.283 Einsatz und Verwendungsweise von technischen Hilfsmitteln sind ausschlaggebend für die Kategorienbildung.
Ursprünglich, d.h. primär, gab es nur die Konstellationen „face to face“ im individuellen Aus279
Arbeitsgruppe „Medien“ (Ulrike Bohle, Nadia Ghattas, Sybille Krämer, Alice Lagaay, Annette Jael Lehmann,
Ludger Schwarte, Andrea Sieber, Irina Rajewsky, Kirsten Wagner): Über das Zusammenspiel von „Medialität“
und „Performativität“, in: Paragrana 13/1 (2004), 129-185, hier 130.
280
Knut Hickethier (Hg.): Einführung in die Medienwissenschaft, 2. aktual. u. überarb. Aufl., Stuttgart 2010, 18.
281
Vgl. Kloock, Daniela / Spahr, Angela: Medientheorien. Eine Einführung, 4. aktual. Aufl., München 2012,
39ff. und 77ff.
282
Arbeitsgruppe „Medien“ 2004, 129-185, hier 131.
283
Der folgende Absatz stellt eine Paraphrase u.a. von Hickethier 2010, 22f. dar.
49
tausch mittels Sprache, Gesten oder Mimik. Bedient sich die Senderseite jedoch eines Gerätes, um seine Information zu vermitteln, liegt ein sekundäres Medium in dem Prozess vor.
Wenn zusätzlich der Empfänger zur Rezeption des Vermittelten auch noch einen technischen
Apparat benötigt, findet ein tertiäres Medium seine Verwendung. Die drei Mediengruppen
sind nacheinander entstanden, wobei es die jüngeren nicht geschafft haben, die älteren zu substituieren. Nur die Anwendungsmöglichkeiten haben zugenommen.
So einleuchtend die Einteilung auf den ersten Blick wirkt, so problematisch ist sie. Sekundäre
Medien weisen zwei, tertiäre Medien, also drei Vermittlungsprozesse im Kommunikationsprozess auf, die nach der Auffassung von Medium oben als eine Verkettung von medialen
Vermittlungen angesehen werden müssten. Die potentielle Zerlegbarkeit von Vermittlungsprozessen würde Medien entstehen lassen, die man nicht singulär als solche wahrnimmt:
Schreibbewegungen und Sehen von Zeichen an Stelle von Schrift. Wie sind Medien zu begrenzen? Wie weit reicht die „Mitte“ als Information? Sie hat Sender und Empfänger als Anknüpfungspunkte und damit zwangsläufig zwei Seiten: Kodierung und Dekodierung. Wahrgenommen wird gewöhnlich nur die Information und ihre Dekodierung aus der Empfänger
(und Beobachter-Perspektive), so dass es bezeichnend ist, dass der Anglist Werner Wolf bei
seinem Modell der Intermedialität nur zwei Erscheinungsformen eines Mediums kennt, ein
Werk und seine Aufführung.284
Ein anderes Abgrenzungsproblem des Begriffs ‚Medium‘ wird im Zusammenhang mit dem
Film als tertiärem Medium deutlich. Speicherformen und Abspielgeräte der ‚bewegten Bilder‘
haben in den letzten 100 Jahren einen so starken Wandel vollzogen, dass die ‚Gleichsetzung‘
von Medien und Geräten in der Alltagssprache die Konstanz in der technischen Entwicklung
verdecken würde. Würde man sich darauf einlassen, wären primäre Medien nur noch zu begrifflich festzulegen, indem man den Menschen zu einer Maschine erklärt. Wenn später im
Zusammenhang mit den Textanalyse von ‚Projektionsmedien‘ gesprochen wird, ist das ein
Notbehelf. Eine Projektion ist kein Projektor und impliziert nicht zwingend das ‚bewegte
Bild‘ eines Kino-Filmes von der Rolle, für dessen Wahrnehmung Standbilder nicht konstitutiv
sind.
284
Vgl. Wolf, Werner: Intermedialität und mediale Dominanz. Typologisch, funktionsgeschichtlich und akademisch-institutionell betrachtet, in: Uta Degner / Norbert Christian Wolf (Hgg.): Der neue Wettstreit der Künste.
Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität, Bielefeld 2010, 241-259, hier 244.
50
Letztendlich lässt sich jeder Gegenstand zu einem Medium erklären, wenn es sich als Medium
gebrauchen lässt – was ready-mades in der Kunst, z.B. Duchamps berühmtes Pissoir, zeigen.285
Zum wiederholten Mal zeigt sich die Bedeutung der Wahrnehmung für das, was als Medium
bezeichnet wird. Sie ist beim Sprechen über Medien genauso wenig zu hintergehen, wie bei
einem praktischen Umgang mit ihnen. Aus diesem Grund ist die Determinante ‚sichtbar‘ zu
machen entscheidend bei ihrer Analyse. Dem Bewusstmachen der Wahrnehmungsdimension
dient das medienwissenschaftliche Konstrukt des Dispositivs.286 Es umfasst dieses komplexe
Beziehungsgeflecht, bei dem physische und psychische Systeme von Individuen mit technischen Apparaturen vor einem gesellschaftlichen Hintergrund in Interaktion treten. Durch ihre
wechselseitige Determination (Antizipation) verändern sich soziale Konventionen, institutionalisierte Praktiken, die ästhetischen Erscheinungen, gegebenenfalls architektonische und
technische Voraussetzungen bei der Nutzung von Medien. Produktion und Rezeption wirken
auf die Dispositionen der Wahrnehmung und Einbildungskraft von Subjekten bzw. Kollektiven, von denen sie wiederum abhängen. Synchron sind Zustände, diachrone Entwicklungen von Dispositiven zu beschreiben. Auf der Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten eines Dispositivs und der eigenen Positionierung darin, beruhen die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts und seine intendierten, mehr oder minder erfolgreichen Veränderungen der Verhältnisse.
Es ist unschwer zu erkennen, dass der Begriff des ‚Dispositivs‘ aus der Soziologie stammt.
Michel Foucault bediente sich erstmals des französischen Wortes ‚dispositif‘, um diskursive
und nicht-diskursive Praktiken und Manifestationen der Macht zu beschreiben. Obwohl Medien bei der Bildung von Dominanzverhältnissen eine Rolle spielen, interessierte er sich nicht
für die Überschneidungen seiner Machtdispositive mit Mediendispositiven. Der Begriff Dispositiv stellt die verschiedensten Abstrakta, Prozesse und Gegenstände aus dem Bereich der
menschlichen Wahrnehmung ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, das Gefahr läuft,
sich in der Analyse der angrenzenden Dispositive zu verlieren.
285
Vgl. Wetzel, Michael: Das Ready-made als Stolperstein. Duchamp und Bourdieu über die Inframedialität des
feinen Geschmacks, in: Thomas Becker (Hg.): Ästhetische Erfahrung der Intermedialität. Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation, Bielefeld 2011, 33-56.
286
Der folgende Absatz über das Dispositiv stellt eine Kompilation und Paraphrasierung von Aussagen zum
Begriff Dispositiv dar und versucht bekannte Probleme in einer Neufassung der Definition zu tilgen, was auf den
nun genannten Vorlagen beruht: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Claus Pias / Joseph Vogel / Lorenz Engell / Oliver Fahle / Britta Neitzel (Hgg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 2004 5, 381-404; Artikel "Dispositiv",
in: Helmut Schanze / Susanne Pütz (Hgg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft. Ansätze –
Personen – Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar 2002, 65f.; Bührmann, Andrea D. / Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositiv-Analyse, Bielefeld 2008, 12f., 68 und 109; Paech,
Joachim: Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik, in: ders.: Der Bewegung einer Linie folgen
… Schriften zum Film, Berlin 2002, 85-111 und Hickethier 2010, 186-187.
51
Abhilfe versucht (nicht expressis verbis) die Frame- bzw. Rahmen-Theorie des Anglisten
Werner Wolf zu schaffen, die auf medial verfasste Kunst als Anwendungsbereich zugeschnitten ist.287 Sie stellt wie das Dispositiv keine Methode dar, sondern steckt ein Forschungsfeld
ab, in dem man Fragen formulieren kann. Das Konzept ist transmedial und damit in seinem
Fall auch intermedial konzipiert.288 Ihm geht es sowohl um die Abgrenzung und den Austausch medial verfasster Kunstwerke bzw. ihrer Bestandteile mit deren medialen und sozialen
Umwelt, die anhand gegebener und kognitiv konstruierbarer Rahmen zu erschließen bzw.
jeweils neu zu definieren sind.289
Werkexterne Rahmen wären Theaterbauten, Freilichtbühnen, Kirchen, Plätze und Räumlichkeiten, an denen Schauspiele, Opern, Musik, Pantomimen, Ballette, Rituale, etc. aufgeführt
werden.290 Diese werkexternen Faktoren der Aufführungen können werkintern reflektiert,
kommentiert und simuliert werden. Paratexte, Rahmengeschichten, Illustrationen am Werkeingang, Erwähnungen von Tür- und Spiegelrahmen wären im Fall der Literatur beispielsweise genauso zu untersuchen, wie die ‚Rahmen‘ in und um Bilder oder Musikstücke.291 Sie sind
ein inter- und intramediales Phänomen, das dem Rezipienten Orientierung bietet oder verweigert. Rahmenstrukturen treten in verschiedenen Komplexitätsgraden, Formen und Zuständen
auf. Als Markierung von Grenzen zwischen verschiedenen Medienarten und -produkten sind
sie nur mit Vorsicht zu genießen. Wird in einem literarischen Text ein Gemälde beschrieben,
sein Titel, sein Maler und seine Hängung als Rahmen genannt, lässt sich über den Realitätsstatus nur mit Kontextwissen eine Aussage treffen. Intermedialität kann teilweise fingiert
sein, wenn auf näher bestimmte Kunstwerke Bezug genommen wird. Da oben Visionen zukünftiger Medien als Untersuchungsgegenstand ausgeschlossen worden sind, bliebe dennoch
eine Referenz auf ein anderes Medium nachweisbar.
287
Vgl. Wolf, Werner: Introduction. Frames, Framings and Framing Borders in Literature and Other Media, in:
Werner Wolf / Walter Bernhart (Hgg.): Framing Borders in Literature and Other Media (SIM 1), Amsterdam /
New York 2006, 1-40, hier 13.
288
Vgl. ders., 1-40, hier 10f.
289
Vgl. ders., 1-40.
290
Vgl. ders., 1-40, hier 12f. und Pochat, Götz: Framing, Actual and Virtual: The Crossing of St. Peter’s in
Rome, in: Wolf / Bernhart 2006, hier 93-112.
291
Vgl. Wolf, Werner: Defamiliarized Initial Framings in Fiction, in: Wolf / Bernhart 2006, 295-328; Wolf
2006, 1-40, hier 5, 13 und 29; Dembeck, Till: (Paratextual) Framing and the Work of Art. E.T.A. Hoffmann’s
Prinzessin Brambilla in: Wolf / Bernhart 2006, 263-293; Wolf, Werner: Multiperspektivität: Das Konzept und
seine Applikationsmöglichkeit auf Rahmungen in Erzählwerken, in: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hgg.):
Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des
18. bis 20. Jahrhunderts, Trier 2000, 79-109, hier 100f. und Allmer, Patricia: Framing the Real: Frames and
Processes of Framing in René Magritte’s Œuvre, in: Wolf / Bernhart 2006, 113-139, hier 115.
52
2.1.2. Modellvorstellungen von Intermedialität
Intermedialität bezeichnet die unterschiedlichen Beziehungen, die Medienprodukte miteinander eingehen, die zwei verschiedenen ‚Arten‘ von Medien angehören: z.B. Text und Bild
– nicht Text und Text oder Bild und Bild. Wenn später Intermedialität in den literarischen
Texten untersucht wird, erfolgt dies in den Dispositiven künstlerisch gestalteter Medienprodukte, die mehr oder minder stark von gesetzten Frames organisiert werden. Werner Wolf292
und seine Doktorandin Irina Rajewsky entwickelten nahezu zeitgleich zwei ähnliche, aber
doch unterschiedliche Modelle der Intermedialität. Rajewskys wesentlich ausführlicher publizierte und rezipierte Theorie und Systematik der Intermedialität soll zunächst die Ausgangsbasis meiner methodischen Überlegungen in diesem Bereich und der Intramedialität werden.293 Jörg Türschmanns Einschätzung, dass ihre „Publikation auf lange, wahrscheinlich sehr
lange Sicht wegweisend“ sei,294 hat sich inzwischen bewahrheitet. Dabei äußert sich nicht nur
dieser Rezensent sehr kritisch zu den konzeptionellen Vorgaben. Einer positiven Beurteilung
von Rajewskys wenig später erschienener Dissertation295 über intermediales Erzählen in der
italienischen Literatur der Postmoderne steht eine massive Kritik an ihren Vorstellungen von
Intermedialität im Allgemeinen gegenüber. Sie gipfelt in dem pointiert formulierten Fazit von
Joachim Paech: ihre Theorie der Intermedialität schließe die Beziehungen zwischen den Medien aus.296
Der Titel verspricht offenbar für ihn mehr, als der Text in medienwissenschaftlicher Hinsicht
schließlich halten kann.297 Zwei der drei Hauptkategorien ihres Systems, „Medienwechsel“
und „Medienkombination“ erfahren keine weitere Ausdifferenzierung im Vergleich zu der
Formenvielfalt der „intermedialen Beziehungen“. Verbindungen der drei Kategorien werden
postuliert, „verschwinden“ aber in der graphischen Umsetzung des Analyse-Systems im
292
Vgl. Wolf, Werner: Intermedialität: ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft,
in: Herbert Foltinek / Christoph Leitgeb (Hgg.): Literaturwissenschaft: intermedial, interdisziplinär, Graz 2002,
163-192.
293
Vgl. Rajewsky 2002.
294
Türschmann, Jörg: Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke 2002, 216 S. (UTB 2261), in:
Romanistische Forschungen 115 (2003), 367-372, hier 372.
295
Vgl. Rajewsky 2003.
296
Vgl. Paech, Joachim: Irina O. Rajewsky: Intermedialität, in: MEDIENWEISENSCHAFT 3/1 (2003), 62-66,
hier 66. Joachim Paech versteht nach Ausweis seiner Veröffentlichungen (gefasst in Rajewskys Terminologie)
unter intermedialen Erzählen die Darstellung von Medienwechseln und Medienkombinationen, sowie ihre Verbindung miteinander in einem Medienprodukt. Vgl. stellvertretend Paech, Joachim: Smoke (Paul Auster – Wayne Wang). Intermediales Erzählen, in: Anne Bohnenkamp-Renken (Hg.): Interpretationen. Literaturverfilmungen, Stuttgart 2005, 332-348, erg. u. aktual. Ausgabe 2012, 369-386; und Paech, Joachim: Doch die Bewegung
selbst bewegt sich nicht. Die Darstellung von Bewegung als (inter-)mediale Form im europäischen AvantgardeFilm, in: Gisela Febel / Jean-Baptiste Joly und Gerhart Schröder (Hgg.): Kunst und Medialität, Stuttgart 2004,
123-140.
297
Hierzu vgl. Hoffmann, Torsten: Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen, Basel (Francke) 2002 (= UTB
für Wissenschaft; Bd. 2261). 216 Seiten, in: Komparatistik [4](2002/2003), 183-188, hier 184.
53
Schaubild. Auf ihr Zusammenspiel wird in der Arbeit auch nicht näher eingegangen. Dabei
liegt nahe, dass sich auf dieser Ebene eigene Strukturmuster ergeben. Das Verhältnis zwischen der Intermedialität und den Phänomenen der Transmedialität wird gesetzt, aber eigentlich nicht geklärt. Trotzdem billigt man ihrer Theorie eine große Relevanz für „primär literaturwissenschaftlich interessierte Leser“ zu.298
Rajewskys Doktorvater Werner Wolf bemängelt bei allem Wohlwollen, dass sie ohne Not die
Transmedialität bei ihrer Theoriebildung ausgegrenzt habe, um auf sie in der noch zu reflektierenden Subkategorie „Systemkontamination“ doch zurückzugreifen. 299 Der referierte Sachverhalt zeugt von einer Inkonsequenz, die in dieser Hinsicht gar nicht gegeben ist. Wenn die
Verfasserin die Intermedialität der Transmedialität unterordnet, werden die Phänomene auf
allen Ebenen der Intermedialität als transmedial interpretierbar angesehen. Die Verbesserung
der Konzeption durch Werner Wolf etabliert die Transmedialität als vierte Hauptkategorie
der Intermedialität.300 Diese Abgrenzung zu den anderen Hauptformen der Intermedialität
wäre fatal, wenn nicht schon bei Rajewsky das Zutreffen mehrerer Beschreibungskategorien
für ein konkretes Phänomen zulässig wäre. Seinem Umbau des Modells ist zu folgen, da es
den Benutzer „zwingt“, sich transmediale Erscheinungen klar zu machen.
Transmedial sind theoretisch medienunspezifische Phänomene, die gerade wegen ihrer fehlenden oder geringen medialen Spezifität in mehr als nur einem Medium auftreten können,
ohne dass ein Ursprungs- oder Quellmedium angenommen werden muss.301 Wolf nennt empfindsamen Pathos, Deskriptivität, Metareferenz, Narrativität oder Frames als Beispiele.302
Unter Narrativität fällt auch Zeit- und Figurengestaltung. Er wirft leider nicht die Frage auf,
wie sich „Stoffe“ von Geschichten, die schon allein in einem Medium auf unterschiedliche
Weise erzählt werden, zur Transmedialität stehen. Alle Behandlungen des Stoffes „Romeo
und Julia“, den Shakespeare keineswegs erfunden hat, arbeiten sich an dem Drama ab, sowohl
die literarischen, als auch die nicht literarischen: Opern, Ballette, Verfilmungen und bildliche
Darstellungen. Ist ein ‚Ursprungsmedium‘ aufgrund der Überlieferungslage nicht mehr bekannt oder dienten verschiedene Medien als Inspirationsquellen für eine neue Gestaltung eines Stoffes, wird der Kategorie Medienwechsel303 der Fixpunkt entzogen, an dem man den
Wechsel beschreiben kann. Noch deutlicher wird dies anhand geschichtlicher Ereignisse, die
298
Ebd.
Vgl. Wolf, Werner: Irina o. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen / Basel: Francke (UTB 2261), 2002. 216 S.,
in: Poetica 34 (2002), 456-461.
300
Vgl. Wolf 2002, 163-192, hier 170ff. und Wolf 2010, 241-259, hier: 244.
301
Vgl. ders., 241-259, hier 343.
302
Vgl. ebd. und Wolf 2006, 1-40, hier 10.
303
Bei Wolf als intermediale Transposition bezeichnet. Vgl. Wolf 2002, 163-192, hier 178 und Wolf 2010, 241259, hier 244.
299
54
von ihren Zeitgenossen unabhängig voneinander oftmals ihre Ausgestaltung in Geschichtsbüchern oder fiktionalen Werken finden, ehe beide Quellen-Ensembles auf die künstlerische
Produktion anderer Zeitzeugen und ‚Nachgeborenen‘ Einfluss nehmen.
Rajewsky behilft sich in diesen Fällen der Definition des Terminus „Produktsubstrat“, der
sich freilich nicht gegen die Nebenkategorie „Transmedialität“ behaupten muss. Bei ihr transformiert der Medienwechsel ein medienspezifisch fixiertes Produkt bzw. Produktsubstrat in
ein anderes, konventionell distinktiv wahrgenommenes Medium, das schließlich materiell nur
noch präsent ist.304 Ein Beispiel dafür wären symphonische Dichtungen im Bereich der Musik, die auf Vorlagen aus der Literatur oder bildenden Kunst basieren.305
Es ist sinnvoll die Verfilmung einer konkreten Stoffvorlage als einen Medienwechsel zu betrachten, wenngleich der Stoff an sich transmedial ist.306 Obwohl sich beim Medienwechsel
außer der mehr oder weniger freie Übersetzungstätigkeit, die Herkunftsfrage als Differenzierungskriterien anbieten würden, soll hier das Modell nicht weiter ausgebaut werden; denn
Medienwechsel sind nur innerhalb der vorzunehmenden Dispositiv-Rekonstruktionen zu erwarten: z.B. Abelard und Heloise als Bestandteil eines Projektionsspektakels, auf das E.T.A.
Hoffmann in den Abenteuern der Silvesternacht rekurriert (s.u.).
Am Medienwechsel sieht man etwas, das grundlegend für die ganze Konzeption der Intermedialität ist. Rajewsky und Wolf ordnen die Literaturverfilmung dem Medienwechsel als Standardbeispiel zu, wohl in der Meinung, dass Vertreter aller geisteswissenschaftlichen Richtungen mit ihm etwas anfangen können. Ihre Komplexität wird, im Vergleich zu den intermedialen Bezügen, kaum reflektiert. Eine Literaturverfilmung bedeutet i.d.R. nicht das Abfilmen
von Buchseiten, die jemand umblättert. Sie ist die Inszenierung einer schriftlich fixierten Geschichte, die von mehreren Filmkameras aufgezeichnet und aus den gewonnenen, unterschiedlichen Kameraeinstellungen zusammengeschnitten wird.
Werner Wolfs Konzept von Intermedialität kennt zwei Erscheinungsformen eines medialen
Produkts: das Werk als Informationsspeicher und dessen Aufführung als performativer Akt
(s.o.), was vor dem Hintergrund des Dispositiv-Ansatzes auch legitim ist. Damit lässt sich das
Problem lösen. Die Buchseitenverfilmung vollzieht den Medienwechsel auf der Ebene des
Werks, die Literaturverfilmung auf der Ebene der Performanz.307 Dass bei der Performanz
304
Vgl. Rajewsky 2002, 16.
Der weite Begriff der Programmmusik bezieht sich auch auf Realitätskonstrukte jenseits des medialen Angebots, z.B. auf ein Hochgebirge wie bei der Alpensymphonie von Richard Strauss. Hier liegt kein Medienwechsel
vor.
306
Zum Problem mit dem Stoff in Rajewskys Modell vgl. Türschmann 2003, 367-372, hier 371f.
307
Im Zusammenhang mit Literaturverfilmungen gibt es auch noch den Fall, dass der Roman erst in ein Drehbuch umgeschrieben werden muss. Vor dem Medienwechsel findet ein kreativer Prozess statt, dessen Ergebnis
die Erschaffung eines Posttextes ist, der intertextuelle Bezüge zur Vorlage aufweist.
305
55
selbst zwischen reinem Vorlesen und schauspielerischer Umsetzung (in welchem Rahmen
auch immer) noch zu differenzieren wäre, liegt auf der Hand – aber es geht hier nicht um die
systematische Erfassung aller Formen des Medienwechsels, sondern um die Janusköpfigkeit
von Medienprodukten innerhalb ihres Dispositivs, dem stets Rechnung zu tragen ist.
Am bedeutendsten im Zusammenhang mit dieser Arbeit hier sind die intermedialen Bezüge.
Sie sorgen in den Abenteuern der Silvesternacht überhaupt erst dafür, dass man transmediale
Referenzen auf die Ästhetik der Projektionskunst registriert. Intermediale Bezüge manifestieren sich in einem kontaktnehmenden Medium, das auf unterschiedliche Art und Weise Referenzen zum kontaktgebenden Medium aufbauen kann. Eine vollkommene Angleichung oder
Berührung ist technisch wegen der „intermedial gap“ nicht möglich. 308 In der Wahrnehmung
kann sie beim Rezipienten allerdings durch Illusionsbildung verschwinden – weshalb die Medienwissenschaft neuerdings an dem Phänomen der Synästhesie Interesse zeigt. 309 Selbst
wenn nur ein „Kanal“ von einem Medium „beansprucht“ wird, erfährt der (körperlich unversehrte) Mensch stets die Reize seiner Umwelt mit allen Sinnen. In fiktiven Welten ergänzt die
Phantasie die Leerstellen fehlender Sinnesreize.
Neben intermedialen Einzelreferenzen auf bestimmte Medienprodukte lassen sich verschiedenen Arten von Systemreferenzen konstatieren.310 Beide Begriffe stammen aus der Intertextualitätsforschung, wo Genres oder Diskurstypen als semiotische Systeme bezeichnet wurden.311
Eine Gleichsetzung von Text und System findet nicht statt. System wird als ein neutraler Begriff verstanden. Insofern ist es verwunderlich, dass Medienwissenschaftler die Substitution
des Medienbegriffs durch System missbilligen und ‚Medienreferenzen‘ lieber als Systemreferenzen sähen.312 Im Bereich der Intermedialität stellen für Rajewsky Systeme offenbar Strukturen oder Formen von Dispositiven bzw. Teilen von ihnen dar, die größer bzw. kleiner als
ein bestimmtes Medienprodukt sein können. Es besteht aufgrund fehlender Eingrenzung des
Systembegriffs die Gefahr, dass die ‚ganze‘ Welt als ein beschreibbares bzw. darstellbares
System betrachtet wird; dennoch wird für diese Arbeit auf eine Festlegung des Systembegriffs
verzichtet; denn dieser könnte den Blick auf die Medien- und Wahrnehmungskonzepte der
Autoren verstellen, die besprochen werden sollen.
308
Vgl. Rajewsky 2002, 70f.
Vgl. Roloff, Volker: Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen, in:
Paech / Schröter 2008, 15-29, hier 20ff.; und Rieger, Stefan: Synästhesie. Zu einer Wissenschaftsgeschichte der
Intermedialität, in: Paech / Schröter 2008, 61-77.
310
Rajewsky verzichtet darauf Einzelreferenzen ausführlich zu behandeln, da sie Systemreferenzen indizieren.
Vgl. dieselbe, 76.
311
Vgl. dieselbe, 60.
312
Vgl. Paech 2003, 62-66, hier 63.
309
56
Intermedialität
Einzelreferenz
Intermediale Bezüge
Explizite
Systemerwähnung (1.1.)
Evozierende
Systemerwähnung (1.2.1.)
Systemerwähnung qua
Transposition (1.2.)
Simulierende
Systemerwähnung (1.2.2.)
Systemreferenz
Teilreproduzierende
Systemerwähnung (1.2.3.)
Medienwechsel
Systemaktualisierung qua
Translation (2.1.)
Medienkombination
Systemkontamination (2.)
Teilaktualisierende
Systemkontamination
(2.2.)
Rajewskys Modell der Intermedialität in einer neuen graphischen Aufbereitung.
Da im folgenden Text eine Auseinandersetzung mit den z.T. sehr ähnlich klingenden Begriffen stattfindet, wurden Ziffern als Orientierungshilfe in das Schaubild und den Text eingebunden.
Die Systemreferenz äußert sich bei Rajewsky entweder als Systemerwähnung (1) oder Systemkontamination (2).313 Beide Formen weisen wiederum Unterkategorien auf, die das Modell bei einer ersten Annäherung unübersichtlich erscheinen lassen. Um die Orientierung zu
erleichtern, werden die Gliederungsebenen als „Pfade“ mit eingeklammerten Ziffern des Weiteren markiert, wie gerade begonnen.
(1) Als erstes sollen die verschiedenen Formen der Systemerwähnung behandelt werden.
(1.1.) Mit einer expliziten Systemerwähnung werden Elemente eines fremden Mediums benannt und reflektiert.314 Rajewsky gesteht dieser Form von Systemreferenz lediglich eine rezeptionslenkende Kraft zu, d.h. bei einem alleinigen Auftreten sorgt die explizite Systemerwähnung noch nicht für eine (mediale) Illusionsbildung. Eine solche wäre eine einfache Feststellung wie: „Er besucht häufig Stummfilme.“
(1.2.) Rajewskys Meinung nach verbindet alle Arten der Systemerwähnung qua Transposition, dass sie andere Medien thematisieren.315 Leider klärt sie nicht auf einer abstrakten Ebene,
inwiefern sich „thematisieren“ von „benennen und reflektieren“ unterscheidet. Sie trennt die
Kategorien über die Analyse von Beispielen. Wie sich für mich die Sachlage darstellt, fehlt
dem „Thematisieren“ in semantischer Hinsicht das reflexive Moment.
(1.2.1.) Eine evozierende Systemerwähnung suggeriert ein fremdes Medium durch explizite
Vergleiche mit bestimmten Komponenten des Bezugssystems; zudem sind andere Formulie313
Vgl. Rajewsky 2002, 79ff.
Vgl. dieselbe, 113f.
315
Vgl. dieselbe, 114.
314
57
rungen, die das „als ob“, das Irreale der behaupteten Deckungsgleichheit zum Ausdruck bringen, möglich.316 Es bringt also nichts, mit der Wortsuche-Option von Textverarbeitungsprogrammen, sich alle Konstruktionen mit dem Vergleichspartikel „wie“ anzeigen zu lassen.
Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, mit sehr vielen nicht-medialen Vergleichen konfrontiert zu werden, zum anderen fallen alle komplexer formulierten, evozierenden Systemerwähnungen durch das Suchraster. Man betrachte die beiden folgenden Beispielsätze, „Er
brachte keinen Ton heraus wie die Protagonisten der Stummfilme.“, und, „Seine übertriebenen Gebärden entsprachen immer mehr Bewegungen von Stummfilmschauspielern.“
(1.2.2.) Eine simulierende Systemerwähnung imitiert Mikroformen des narrativen Diskurs
eines anderen Mediums.317 Was sind nun Imitationen eines narrativen Diskurses, fragt man
sich, wenn man die Darstellung dieser Form intermedialer Bezüge liest? Bei der Besprechung
der Beispiele wird dies auch nicht sonderlich klar.318 Zu beobachten ist, dass es sich bei allen
ausgewählten Fällen um Textabschnitte handelt, die evozierende Systemerwähnungen enthalten. In deren näheren Umfeld wird die Wahrnehmung des kontaktgebenden Mediums kurz als
‚Ablauf‘ geschildert. Diese visuellen und akustischen – auch taktilen und olfaktorischen –
Eindrücke können offenbar durch Onomatopoetika in ihrer illusionsbildenden Funktion verstärkt werden: ein „zack“ zwischen disparaten Bildern markiere das Zappen im FernsehDispositiv oder Lautketten „simulierten“ den Klang von Musik bzw. Gesang. 319 Insgesamt
präsentieren sich die simulierenden Systemerwähnungen lediglich als eine Ausschmückung
und Erweiterung der zuvor besprochenen Form von intermedialen Bezügen.
(1.2.3.) Die teilreproduzierende Systemerwähnungen entstehen durch das Reproduzieren
transmedialer Elemente und Strukturen von Medienprodukten, die als besonders typisch für
diese angesehen werden – also hauptsächlich inhaltlicher und stofflicher Natur sind.320
Rajewsky führt hier eine Kussszene vor laufendem Fernseher an, die ein Erzähler entsprechend der Liebesszenen von „Hollywood-Filmen“ inszeniert und fokussiert, so dass man sich
die zugehörigen Kameraeinstellungen vorstellen kann.321
Wenn ein kontaktnehmendes, monomediales Werk auf ein plurimediales Bezugsystem, also
eine Medienkombination rekurriert, in dem auch das kontaktnehmende Medium als Bestandteil präsent ist, lässt sich ebenfalls eine teilreproduzierende Systemerwähnungen auf der Basis
316
Vgl. Rajewsky 2002, 91.
Vgl. dieselbe, 94ff., bes. 95 und 101. Aus Rajewskys Ausführungen ergibt sich implizit, dass sie in Mikroformen noch kleinere Einheiten als Subsysteme sieht. Man könnte sie wohl auch als Systembausteine bezeichnen.
318
Vgl. Rajewsky 2002, 94ff.
319
Vgl. dieselbe, 94ff.
320
Vgl. dieselbe, 104ff.
321
Vgl. dieselbe, 106ff.
317
58
von Intramedialität herstellen.322 Eine „intramediale“, teilreproduzierende Systemerwähnung
stellt Rajewskys Beispiel dar, in dem ein Erzähler das Abgehen eines Protagonisten mit emotionalen Worten, Übertreibungen, Redundanzen und fragmentierten Sätzen sowie Ausrufen
schildert – als ob ein Fußballspiel übertragen wird.323 Der Text einer Tonspur wird geliefert,
nicht aber das dazu gehörige Bild. Insofern ist der Vorgang der Reproduktion defizitär, nur
„teilweise“ gelungen.
(2) Die Systemkontamination bezeichnet systematisch über ein gesamtes Werk ausgebreitete
Referenzen auf ein Fremdmedium, was Wolf zu Recht begrifflich einen „unglücklichen Terminus“ nennt.324 Bei der Kontamination assoziiert man im Deutschen Verstrahlung und Verseuchung.325 Neutral gebraucht, soll der Begriff zum Ausdruck bringen, dass ein Medium mit
Referenzen zu einem anderen durchsetzt ist.
(2.1.) Die Systemkontamination qua Translation unterscheidet sich von den drei Formen der
Systemerwähnung qua Transposition durch die Überwindung des Als-ob-Charakters bei der
Simulation eines anderen Mediums.326 Trotzdem beharrt Rajewsky auf der Notwendigkeit
einer Markierung,327 die in illusionsbildender Hinsicht sowohl förderlich, als auch kontraproduktiv anzusehen ist. Die durchgehende Bezugnahme auf ein fremdmediales System macht
wohl mit der Zeit die Markierung vergessen. Präsentisches, pseudo-performatives Erzählen
eines (direkt) erlebenden Subjekts soll (!) ebenfalls den Vorgang der Illusionsbildung unterstützen, da nicht über das Erleben einer Figur, sondern unvermittelt das Erleben einer (Erzähler-)Figur geschildert wird.328
(2.2.) Zur teilaktualisierenden Systemkontamination heißt es, dass medienunspezifische und /
oder medial deckungsgleiche Bestandteile eines fremdmedialen Systems – markiert – kontinuierlich und den Regeln des Bezugssystems konform verwendet werden.329 Rajewskys Beispiel ist die Darstellung des Drehs eines Filmes in einem literarischen Werk, bei dem die
Schauspieler in ihrer Rolle aufgehen und diese vom Leben kaum noch unterscheiden kön-
322
Mit deutlich anderen Worten vgl. dieselbe, 109. In diesem Zusammenhang ist nicht unproblematisch, dass
intramediale Beziehungen zu einem Teilmedium einer Medienkombination als eine intermediale Beziehung
gewertet werden muss. Hier versteht man Joachim Paechs Kritik an der Reduzierung intermedialen Erzählens
auf intermediale Bezüge bei der theoretischen Ausdifferenzierung des Intermedialitäts-Modells (s.o.).
323
Vgl. Rajewsky 2002, 106.
324
Vgl. Wolf 2002, 456-461, hier 457.
325
Scholler, Dietrich: Digitale Rückkoppelung: zur Darstellung der neuen Medien in Giuseppe Calicetis ‚Tagebuchcollage‘ Pubblico/Privato 0.1, mit einem methodischen Vorspann zu Problemen der Intermedialität, in:
PhiN-Beiheft 2 (2004), 184-213, hier 188.
326
Vgl. Rajewsky 2002, 124ff., bes. 128.
327
Vgl. dieselbe, 132.
328
Vgl. dieselbe, 124ff.
329
Vgl. Rajewsky 2002, 137.
59
nen.330 Die transmediale, metamediale Dimension dieses Fallbeispiels scheint keine konstitutive Rolle bei der Bestimmung der Erscheinungsform von der Systemreferenz zu spielen.
Wie kommt sie auf die Beschreibungskategorie der Systemkontamination? Ihr Analysemodell
stellt einen Versuch dar, Penzenstadlers Vorstellungen von Intertextualität auf die Intermedialität zu übertragen.331 Seine Definition von Systemaktualisierung reibt sich nach Rajewskys
Auffassung an der intermedial gap.332 Die Systemaktualisierung bestehe darin, dass ein Verfasser bei der Erzeugung eines Textes ein semiotisches System benutze; insofern es sich dabei
um ein solches handele, bedeute Systemaktualisierung nicht einfach die Reproduktion von
Elementen und Strukturen eines Systems, sondern die Applikation und Einhaltung teils präskriptiver, teils reskriptiver Regeln.333
Überspitzt ausgedrückt, Rajewskys Kategorie der Systemkontamination entstand im Rahmen
einer Systemaktualisierung des Intertextualitätsmodells von Penzenstadler. Die vollständige
Einhaltung derartiger regulativer Zwänge wäre im Bereich der Intermedialität beim Medienwechsel gegeben. Ist dadurch die vollkommene Materialität des Zielmediums erreicht, ist
Rajewskys „Axiom“ der „intermedial gap“ für alle Phänomene der Intermedialität nicht verletzt. Ein Quellmedium kann nie restlos in ein anderes Medium übersetzt werden. Teilreproduzierende Systemerwähnung und Medienwechsel sind damit benachbarte Phänomene. Vor
diesem Hintergrund kann man Werner Wolf beipflichten, dass die Kategorie Systemkontamination verzichtbar sei, was er allerdings mit einem anderen, zutreffenden Argument bergründet:
Die scharfe Trennung zwischen Systemerwähnung und Systemkontamination verunklärt ferner, dass die
Unterkategorien beider Formen weitgehend identisch sind, und zwar die ‚Systemkontamination qua
Transposition‘ mit der ‚simulierenden Systemerwähnung‘ und die ‚teilaktualisierenden Systemkontamination‘ mit der (teil-)reproduzierenden Systemerwähnung‘. 334
Wolf sieht in der Praxis der Analyse Distinktionsprobleme auf den Nutzer von Rajewskys
Modell zukommen. Als einzigen Unterschied zwischen Systemerwähnung qua Transposition
und Systemkontamination bleibt für ihn die Markierung der expliziten Systemerwähnung;
diese fehle bei der Systemkontamination.335 Diese Markierung ist aber schon eine eigene Kategorie und kann nicht als Unterscheidungsmerkmal herhalten. Das Streichen der Systemkon330
Vgl. dieselbe, 135ff.
Vgl. dieselbe, 65ff. und Penzenstadler, Franz: Elegie und Petrarkismus. Alternativität der literarischen Referenzsysteme in Luigi Alamannis Lyrik, in: Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hgg.): Der Petrarkische Diskurs.
Spielräume und Grenzen (Text und Kontext 11), Stuttgart 1993, 76-114.
332
Vgl. Rajewsky 2002, 118ff.
333
Vgl. Penzenstadler 1993, 77-114, hier 82.
334
Vgl. Wolf 2002, 456-461, hier 459.
335
Vgl. ders., 456-461, hier 459. Betrachtet man den unteren Rand des Schaubilds von Rajewsky 2002, 157, ist
die Aussage falsch, doch eine einmalige Markierung ist im Verhältnis einer über weite Teile eines Werk ausgebreiteten Systemkontamination ein ‚Nichts‘.
331
60
tamination als Kategorie ist ohne Schaden für das Modell möglich. Die vollkommenste Systemaktualisierung im Sinne Penzenstadlers ist der Medienwechsel. Alle ‚unvollkommenen‘
Systemaktualisierungen sind nur Systemerwähnungen. Allerdings muss der Begriff „teilreproduzierende Systemerwähnung“ noch eine semantische Nachjustierung erfahren. Da das
kontaktgebende System nach Rajewsky nur teilweise reproduziert wird, kontaminiert auch die
Reproduktion nur teilweise das kontaktnehmende Medium.
Durch das Wegfallen der Systemkontaminationen gibt es unter der Rubrik Systemreferenzen
nur noch verschiedene Formen der Systemerwähnungen, was begrifflich inkonsequent erscheint.336 Zur Unterscheidung der Systemreferenzen qua Transposition von der expliziten
Systemerwähnung337 wäre es sinnvoll, die übrigen drei „Systemerwähnungen“ als „Systemreferenzen“ zu bezeichnen. Da man in einer möglichst genauen Analyse sich nie des unschönen
Begriffs „Systemreferenz qua Transposition“ bedienen würde, streiche ich diese Gliederungsebene. So stehen „evozierende, simulierende und teilreproduzierende Systemreferenzen“ neben der expliziten Systemerwähnung. Dies hätte auch den Vorteil, die enge Verwandtschaft
von der expliziten Systemerwähnung und der evozierenden Systemreferenz sichtbar zu machen. Im Grunde genommen liegt eine graduelle Skala der ausgestalteten Intensität von Systemreferenz vor, deren Einheiten die vier Unterformen darstellen. Ich spreche anders als
Rajewsky von Intensität und nicht von Illusionsbildender Kraft der Systemreferenzen, da
Werner Wolf zu Recht bezweifelt, ob es immer zu einer altermedialen Illusionsbildung
kommt.338 Es handelt sich mehr um quantitative, als um qualitative Unterschiede.339 Die Illusionsbildung auf Rezipientenseite kann schon kein Gradmesser der Systemreferenzen sein, da
bei „ausgestorbenen“ Medien die Illusionsbildung aufgrund fehlender Medienkompetenz behindert bzw. verhindert wird.
Mit Einzelreferenzen beschäftigt sich Rajewsky nicht näher. Es liegt aber auf der Hand, dass
man sich auf ein bestimmtes Medienprodukt genauso unterschiedlich intensiv beziehen kann,
wie auf die Medienprodukte eines altermedialen Systems. Ich bilde also in Analogie zu den
336
Scholler unterscheidet unter dem Begriff Systemreferenz, Systemerwähnungen und Systeminterferenz. Da er
letztere anders als ich unterteilt, bleibe ich zur besseren Unterscheidbarkeit von meinem und Schöllers Modell
beim Begriff „Referenz“ auf dieser Ebene der Kategorisierung. Vgl. Scholler, Dietrich: Digitale Rückkoppelung:
zur Darstellung der neuen Medien in Giuseppe Calicetis ‚Tagebuchcollage‘ Pubblico/Privato 0.1, mit einem
methodischen Vorspann zu Problemen der Intermedialität, in: PhiN-Beiheft 2 (2004), 184-213, hier 188.
337
Dietrich Scholler geht hier von drei Unterkategorien aus: einer indizierenden, einer besprechenden und einer
darstellenden Systemerwähnung. Vgl. Scholler 2004, 184-213, hier 189. Diese Unterkategorien übernehme ich
nicht in mein Modell, da eine Besprechung oder Darstellung eines altermedialen Systems sinnvollerweise die
Reproduktion von mehreren Systemelementen erfordert und sich so eine punktuelle „Erwähnung“ zu einer „durativen Systeminterferenz“ nach Scholler entwickeln kann.
338
Vgl. Wolf 2002, 456-461, hier 458.
339
Vgl. Scholler 2004, 184-213, hier 187.
61
Modellvorstellungen zur Systemreferenz meine Unterkategorien zur Einzelreferenz. Natürlich
ist ein monomediales Medienprodukt immer als pars pro toto für ein ganzes Medium repräsentativ. Wenn es um die Untersuchung von Einzelrefenzen auf ein, bestimmtes fremdmediales Medienprodukt geht, muss es um seine Charakteristika gehen, die es in inhaltlichästhetischer Hinsicht von anderen Vertretern des gleichen Mediums unterscheidet. Stoffe,
Handlungsschemata, Themen und Motive oder ihre Absenz sollten als Systemmerkmale für
Einzelrefenzen auf ein konkretes Medienprodukt eine Rolle spielen.
Wie sieht nun eine Medienkombination aus? Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage
könnte vordergründig bei der Behandlung scheinbar rein literarischer Texte überflüssig erscheinen. Sowohl das Titelkupfer von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, als auch
der physiognomische Diskurs konfrontieren einen mit dem Zusammenspiel von Bild und
Text. Rajewsky erklärt die Begriffe Multimedialität, Plurimedialität, Polymedialität und Medienfusion zu Synonymen ihrer „Medienkombination“, was kleinere Bedeutungsnuancen außer Acht lässt.340 Betrachtet man sich „Plurimedialität“ als Begriff, so ist er ziemlich neutral,
impliziert eigentlich nur das Parallellaufen zweier Medien, während „Medienfusion“ die Verschmelzung zweier Medien suggeriert. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich in der Tat
die Medienkombination im Sinne Rajewskys. Über die Qualität der Verbindung wird nichts
ausgesagt. Ein anderer Begriff, der „Medienverbund“, muss deutlich davon abgegrenzt werden.341 Janoschs Schöpfungen zur Unterhaltung von Kindern sind bezeichnend: der Tiger und
der Bär sind in Bilderbüchern, Zeichentrickfilmen und Hörspielen als Figuren präsent und
existieren sogar als Plüschtiere.
Unter Medienkombination342 versteht Rajewsky konkret die additive Verbindung von mindestens zwei Medien (einschließlich deren Resultat), die infolge gesellschaftlicher Konventionen
als Konstrukte distinktiv voneinander wahrgenommen werden. Die betroffenen Medien müssen in ihrer jeweiligen Materialität präsent sein und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische
Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen.
Indem sie die Bedeutungs-Konstitution durch eine Klammer in Frage stellt, weist sie auf das
im Zusammenhang mit der Begrifflichkeit angeklungene Problem bei der Medienkombination
hin. Es können vollkommen willkürlich zwei Medien nebeneinander platziert und zum
Kunstwerk erklärt werden. Man positioniere ein batteriebetriebenes Kofferradio neben einer
öffentlich zugänglichen Skulptur, stelle den nächsten besten Sender ein und erkläre dies zur
340
Vgl. Rajewsky 2002, 15.
Vgl. dazu Heidtmann, Horst: Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. Veränderungen von Lesekultur, Lesesozilisation und Leseverhalten in der Mediengesellschaft, in: Karin Richter / Sabine Riemann (Hgg.):
Kinder- Literatur – „neue“ Medien, Baltmannsweiler 2000, 20- 35.
342
Definition der Medienkombination im folgenden Absatz, vgl. ebd.
341
62
Kunst. Eine Medienkombination liegt zweifelsfrei vor, aber die Verbindung von Ton und
Plastik ist vollkommen willkürlich. Selbst wenn ein Künstler so vorginge und die Beziehung
als willkürlich bezeichnen würde, schriebe der Rezipient diesem Vorgang eine Bedeutungsdekonstruktion von Medienkombinationen zu – oder würde irgendeine nicht intendierte sinnhafte Beziehung konstruieren. Der künstlerischen Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Dass im übertragenen Sinne zwei Medien sich wie Puzzle-Steine zusammenfügen oder eine
Symbiose eingehen können, ist das andere Extrem. Ein Liedtext traurigen Inhalts lässt sich
von einer musikalischen Begleitung in einer Molltonart stützen – durch eine Durtonart auf
komische Weise konterkarieren. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Tonarten in ihrer
Wirkung kulturell tradiert sind und an sich nichts aussagen. „Konvergierende“ und „divergierende“ Verbindungen erweisen sich als Analysekriterium von Medienkombinationen ungeeignet, da ihre Wahrnehmung sehr von der Perspektive abhängt.
Trotzdem lassen sich die Verbindungsarten systematisieren: entweder stellen der oder die
Urheber aller beteiligten Medien zwischen diesen Beziehungen durch Verweise her oder
nicht. Ein einseitiger Verweis auf ein bestimmtes Bild wäre z.B. in einem Text die Phrase
„siehe Abbildung, Seite XY“. Damit ist noch nicht gesagt, dass sich Text und Bild inhaltlich
decken. Dieser Verweis kann auch mittels intratextueller Referenz zwischen Text und einer
Bildunterschrift hergestellt werden. Wird der Text vom Bild gerahmt bzw. umgekehrt oder ist
der Text ins Bild gedruckt wird durch die Positionierung („Gleichzeitigkeit“) eine wechselseitige Beziehung suggeriert. Ein Bild kann wiederum durch Schriftbestandteile Bezug auf einen
Text oder eine Legende nehmen.
Realien lassen sich durch Texte und Bilder unabhängig voneinander beschreiben und ohne
Indices miteinander kombinieren, so dass die transmedial möglichen Deskriptionen in ihrem
Bezug auf denselben Gegenstand erkannt werden. So kann der Rezipient indirekt doch eine
Beziehung zwischen Text und Bild herstellen. Die Beziehung zwischen Text-Abbild und
Bild-Abbild der Wirklichkeit wäre sowohl als Medienwechsel, als auch nicht markierte intermediale Beziehung zwischen Scripts zu interpretieren. Natürlich können auch intermediale
Beziehungen zwischen Bild und Text im Zusammenhang mit den genannten Verweisstrukturen auftreten. Hier wird an die Physiognomik gedacht, die in Wort und Bild das Äußere von
Menschen festhält und ggf. zu einem „Steckbrief“ zusammenfügt.
Ein letzter Fall ist bei Medienkombinationen mit mehr als zwei Medien denkbar. Das Verhältnis zweier Medien kann über ein hinzukommendes Medium (oder noch weitere) bestimmt
werden. Bei modernen Pop-Up-Kinderbüchern mit Text- und Bildanteilen, die beim Auf-
63
schlagen jeder Doppelseite eine Tonspur wiedergeben, ist dies denkbar.343 Der Text könnte
zwischen Bild und Ton vermitteln.
Teilreproduzierende
Einzelreferenz
Simulierende
Einzelreferenz
Einzelreferenz
Evozierende
Einzelreferenz
Transmedialität
Explizite
Einzelerwähnung
Intermedialität
Intermediale Bezüge
Teilreproduzierende
Systemreferenz
Simulierende
Systemreferenz
Systemreferenz
Medienwechsel
Medienwechsel bei der
Speicherform des
Medienprodukts
Medienwechsel bei der
Aufführung eines
Medienprodukts
Evozierende
Systemreferenz
Explizite
Systemerwähnung
Einseitiger Verweis
Wechselseitiger Verweis
Medienkombination
Hinweis von dritter Seite
(Keine evidente
Bezugnahme)
Versuch eines neuen Modells der Intermedialität, auf der Basis von Wolfs und Rajewskys Vorschlägen.
„Neu“ gegenüber dem vorangegangenen Schaubild ist die Ausdifferenzierung der Medienkombination
und der Einzelreferenz, sowie die Streichung der beiden Formen von Systemkontamination; dadurch
lässt sich die Untergliederung der Systemreferenz in der graphischen Darstellung vereinfachen.
343
Vgl. Davies, Val / Pledger, Maurice: Zauberklang der Vögel. Mit verschiedenen Tierstimmen. Soundeffekte
und Pop-ups, Ravensburg 2010.
64
2.2. Die Intertextualität von Texten
Nach der theoretischen Auseinandersetzung mit dem möglichen Spektrum von Referenzformen, die Vertreter verschiedener Medien miteinander eingehen können, soll ein Sonderfall
der Intramedialität344 betrachtet werden: die Intertextualität. Hier bezieht sich – vereinfacht
ausgedrückt – ein Text auf einen anderen Text. Beide Medienprodukte sind abhängig von
gleichen Dispositiven. Das ist der Unterschied zur Intermedialität. Die Texte sollten von verschiedenen Autoren stammen und müssen nicht literarischer Herkunft sein. Was ist nun aber
ein Text?
2.2.1. Das Konstrukt des Text-Begriffs
Ähnlich wie beim Terminus „Medium“ gibt es keine allgemein konsensfähige Definition für
das, was ein Text ist. Als Text wird hier unter Vorbehalt eine sprachliche Äußerung bzw. eine
mehr oder minder segmentierte Abfolge von Phonemen verstanden. Diese kann in Graphemen
fixiert oder als Lautäußerung bzw. Tonaufnahme wahrgenommen werden. Im Extremfall ist
ein Text ein Graphem bzw. Phonem lang. Ein Textzeuge besitzt einen Anfang und ein Ende
in seiner akustischen oder visuellen Erscheinungsform, auch als Fragment. Ein Text kann in
verschiedenen Reproduktionen (Textzeugen) und Typographien vorliegen, wenn der Graphem-Bestand identisch ist. Eine Übersetzung des Textes in eine andere Sprache oder Mundart, lässt einen neuen Text entstehen. Vorangegangene und nachfolgende Versionen des Textes (im Sinne von Textstufen) sind als eigene Texte aufzufassen. Eine Ansammlung von
(kleinen) Fragmenten zu einem größer konzipierten Text stellt eine Ansammlung von Texten
dar. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten von Textsegmenten verschiedener Texte sind als
Intertextualität bzw. Intratextualität zu beschreiben. Werden Texte eines Autors (von diesem
selbst) aneinandergereiht, bilden sie einen neuen Text. Werden Texte mehrerer Autoren aneinandergereiht, ist von unterschiedlichen Texten auszugehen, denen keine übergreifende Konzeption zu Grunde liegen muss. Setzten sie sich mehr oder minder nahtlos fort, ergibt sich ein
neuer Text. Dieser kann einen oder mehrere Verfasser besitzen, die ihn in mehreren Textstufen (als Texte verstanden) nacheinander entstehen ließen.
344
Unter dem Begriff „Intramedialität“ fasst man alle Beziehungen zwischen zwei oder mehreren monomedialen
Medienprodukten zusammen. Vgl. Rajewsky 2002, 12.
65
2.2.2. Modellvorstellungen von Intertextualität
Damit ist nun ein enger, schrift-zentrierter Text-Begriff unter weitgehender Ausblendung der
Inhaltsdimension sprachlicher Äußerungen skizziert worden, bei der das Phänomen der Intertextualität mitbedacht werden muss. Ausgeweitete Text-Begriffe sehen sogar nicht-sprachlich
verfasste Medienprodukte als Texte an, da Diskurse transmedial in Erscheinung treten. Dieser
Tatsache tragen Konzepte eines „texte général“ Rechnung.345 Dass Texte ein Mosaik aus Zitaten darstellen, andere Textquellen absorbieren und transformieren,346 soll gar nicht in Abrede
gestellt werden. Jede sprachliche Äußerung eines Senders, also auch ihre schriftliche Fixierung, wäre unmöglich und unverständlich, wenn nicht die Vorbenutzer sprachlicher Strukturen Bedeutungen phonetischer und verbaler Sequenzen mitetabliert hätten. „Text“ im engen
Sinn als „Intertext“ zu definieren, führt zu einer tautologischen Begrifflichkeit. Intertextualität ist der Oberbegriff für alle nicht fingierten Verfahren, über die ein Text (Posttext) unabhängig vom Bewusstsein eines Verfassers auf eine noch zu bestimmende Weise Bezug auf
einzelne Text-Vorlagen (Prätexte oder Referenztexte), Gruppen von diesen oder ihnen zu
Grunde liegende Codes und Sinnsysteme nimmt.347 Der Zeitfaktor ist also die Bedingung für
das Zustandekommen von Intertextualität.348 Ein Text kann abhängig von der Perspektive
Prä- und Posttext zugleich sein.349 Vereinfacht vorgestellt: wenn ein Text zu einem zweiten
inspiriert, kann es dieser zu einem dritten, usw., so dass sich ganze Ketten von Abhängig-
345
Vgl. Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität, in: Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hgg.):
Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 31-47, hier 6ff.
346
Vgl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Boris Eichenbaum / Viktor Šklovskij /
Jurij Tynjanov (Hgg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven 3 (Zur linguistischen
Basis der Literaturwissenschaft II), Frankfurt a. M. 1972, 345-375, hier 348.
347
Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, in: Broich / Pfister 1985, 1-30, hier 15 und Stocker 1998,
15 und 38.
Hypertext und Hypotext als Synonyme für Posttext und Prätext werden in dieser Monographie nicht verwendet,
da „Hypertext“ im Zusammenhang mit den digitalen Medien eine weitere semantische Dimension bekommen
hat – und in verlinkten Texten eindeutige, hierarchische Strukturen nicht zwingend vorliegen. Vgl. Bachleitner,
Norbert: Hypertext als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Probleme der Rezeption einer Form digitaler
Literatur, in: Foltinek / Leitgeb 2002, 245-266. Die Verwendung der Begriffe läge durch die Gründung von
Rajewskys Intermedialitäts-Modells auf Penzenstadler 1993 nahe. Fingierte Intertextualität, d.h. Referenzsignale
für intertextuelle Bezüge, die sich ins Leere richten, sind natürlich nicht intertextuell. Vgl. Holthius, Susanne:
Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993, hier 45.
Als Kontexte werden in dieser Arbeit das historische Umfeld eines bestimmten Textes oder eines bestimmten
Textkonvoluts betrachtet, das nicht nur aus Texten oder Mediendispositiven besteht. Kontexte sind für das Textverständnis notwendig bzw. erleichtern dies. Die Diskurslinguistik bezeichnet sie als Implikaturen im Falle zu
ergänzender Inhalte, Präsuppositionen im Falle von voraussetzbaren Inhalten. Vgl. Spitzmüller, Jürgen / Warnke,
Ingo H.: Methoden und Methodologie der Diskurslinguistik – Grundlagen und Verfahren einer Sprachwissenschaft jenseits textueller Grenzen, in: dieselben (Hgg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche
Zugänge zur transtextuellen Ebene (Linguistik – Impulse & Tendenzen 31), Berlin / New York 2008, 3-54, hier
28.
348
Vgl. Karrer, Wolfgang: Intertextualität als Elementen- und Struktur-Reproduktion, in: Broich / Pfister 1985,
98-115, hier 108.
349
Vgl. Broich 1985, 31-47, hier 41f.
66
keitsbeziehungen bilden können. Posttexte stehen oftmals in mehrfacher Hinsicht in einem
Konkurrenzverhältnis zu ihren Vorlagen.350 Es gilt eine Position zu revidieren, zu bekämpfen,
zu ergänzen oder die eigene Originalität unter Beweis zu stellen. Natürlich gibt es auch die
Strategie, den eigenen Text mit Bezügen auf Vorlagen aufzuwerten bzw. abzusichern, die
gerade hohe Wertschätzung bei den anderen Diskursteilnehmern erfahren. Auf ausschweifende Reflexionen über wissenschaftliche Texte kann hier verzichtet werden.
Da von ihnen verlangt wird, dass sie über ihre Quellen Auskunft geben, veranschaulichen sie
deutlich die Menge der Mosaik-Steine (s.o.). Man sieht, dass unüberschaubare Datenmassen
bei der tiefgreifenden Analyse von literarischen Texten nach intertextuellen Bezügen entstehen könnten. Der Erkenntnisgewinn dieses positivistischen ‚Schreckgespenstes‘ wäre äußerst
gering zu veranschlagen. Die von Bachtin inspirierte Vorstellung einer Dialogizität der Texte
ließ Kristeva die zeitintensive Darstellung des gesamten intertextuellen Beziehungsgeflechts
bei der Analyse eines literarischen Werkes fordern, was weder praktikabel, noch sinnvoll
ist.351
Intertextualität als Analysekriterium in der Literaturwissenschaft dient in erster Linie nicht
einer wertenden Plagiatsforschung, um im juristischen Sinne Urheberrechtsfragen zu klären.
Natürlich kann diese interessant im Zusammenhang mit historischen und gegenwärtigen Originalitäts-Debatten in der Ästhetik oder Poetik sein:
In der romantischen Poetik gibt es zwei Elemente, die dem Konzept der Intertextualität zuwiderlaufen.
Das eine ist, wie wir gerade gesehen haben, die wahre Stimme des Gefühls: ein Gedicht, das aus dem
Innersten des Dichters kommt, sollte keine äußerlich sichtbaren Stützen benötigen. Das andere Element
ist dagegen deutlich sichtbar: es ist dies der Einsatz des Geschliffenen und Kultivierten durch das
Volkstümliche, der literarischen Sprache durch die Sprache des Volkes. 352
Das bedeutet aber nicht, dass in der Zeit keine Intertextualität gegeben habe. Originalität, aufgefasst als die Auffälligkeiten eines Textes, droht bei Kristeva aus dem Blick zu geraten,
wenn alle „Text-Einheiten“ auf das Prinzip der Intertextualität reduziert werden. Anhand von
Differenzen und Gemeinsamkeiten sollten besonders dominante Textvorlagen ermittelt werden, um die Funktionen der mehr oder minder erfolgreich gesteuerten Konstruktion bzw. Dekonstruktion von Bedeutung auf der Rezipientenseite zu erschließen. 353 Auch wenn „Quellen“
und „Einflüsse“ von Nicht-Historikern vor dem Hintergrund des Positivismus in der Literaturwissenschaft zu Unwörtern abgestempelt worden sind, dient die Ermittlung von Zitaten
350
Vgl. Suerbaum, Ulrich: Intertextualität und Gattung: Beispielreihen und Hypothesen, in: Broich / Pfister
1985, 58-77, hier 72.
351
Vgl. Kristeva 1972, 345-375.
352
Vgl. Lerner, Laurence: Romantik, Realismus und negierte Intertextualität, in: Broich / Pfister 1985, hier 278296, hier 283.
353
Vgl. Morgan, Thaȉs E.: Is there an Intertext in this Text? Literary and interdisciplinary Approaches to Intertextuality, in: American Journal of Semiotics 3/4 (1985), 1-40, hier 17.
67
und Anspielungen der Erkennung von Parodien, Travestien, Imitationen, Übersetzungen und
Adaptationen.354 Intertextualität sorgt dafür, dass Prä- und Posttexte für sich allein bzw. zusammen eine Zusatzkodierung bekommen oder dass jenseits der Texte eine Metaebene entsteht.355
Natürlich ist hier weniger eine latente, als eine intendierte Intertextualität mit performativen
Referenzsignalen vorausgesetzt, bei der sich idealerweise Produktions- und Rezeptionsintertextualität überschneiden – die Prätextkenntnis von Autor und Leser identisch ist.356 Allerdings muss ein Autor auch nicht die Existenz eines oder mehrere Prätextete markieren: die
Bekanntheit der Vorlage357 oder Distanzierung von derselben rechtfertigt dies.
Zudem mag die Kenntnis des Prätextes für den Rezipienten als unwichtig erachtet werden
oder der Autor gönnt dem Leser Entdeckerfreude: „Ein Autor kann […] bestimmte intertextuelle Bezüge zunächst im werkimmanenten Kommunikationssystem markieren und dann,
wenn das Intertextualitätsbewusstsein des Lesers geschärft ist, auf eine Markierung auf dieser
Ebene verzichten“.358 Abhängig vom Dispositiv gibt als stärkere und schwächere Markierungen von Intertextualität,359 wobei die Signalschwelle einem historischen Wandel unterliegt:
einerseits nehmende „ablenkende“ zeitgenössische Kontexte im kulturellen Gedächtnis ab,
andererseits sorgt das Vergessen für das „Verschwinden“ verständnisrelevanter historischer
Kontexte aus dem Bewusstsein des Rezipienten.360 Die intermedial gap existiert auch zwischen Texten.
Es ist zwar richtig, dass ein Text nicht mit einem anderen kommuniziert, aber sich stets
asymmetrisch „Inhalte“ eines anderen Textes aneignet.361 Die intertextuellen Referenzen
kommunizieren auf Erzähler- und Figurenebene miteinander,362 allerdings vor dem Hintergrund der Erinnerung an das Original beim Rezipienten. Intertextuelle – und auch intermediale – Referenzen sind selbstreferentiell.363 An ihnen ist abzulesen, wie der Posttext gemacht ist
354
Vgl. Pfister 1985, 1-30, hier 15.
Die vier Funktionstypen der Intertextualität vgl. Schulte-Middelich, Bernd: Funktionen intertextueller Textkonstitution, in: Broich / Pfister 1985, 197-242, hier 214.
356
Begrifflichkeiten vgl. Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Karlheinz Stierle / Rainer
Warnung (Hgg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11), München 219962, 133-138, hier 134ff und Plett,
Heinrich F.: Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik, in: Broich / Pfister 1985, 78-97, hier 92.
357
Vgl. Broich 1985, 31-47, hier 32.
358
Broich 1985, 31-47, hier 42.
359
Vgl. ders., 31-47, hier 33.
360
Ders., 31-47, hier 34.
361
Lachmann 21996, 133-138, hier 143ff.
362
Vgl. Pfister 1985, 1-30, hier 3.
363
Vgl. Wolf, Werner: Metareference across Media. The Concept, its Transmedial Potentials and Problems,
Main Forms and Functions, in: Werner Wolf (Hg.): Metareference across Media: Theory and Case Studies
(SIM4), Amsterdam / New York, 2009, 1-75, hier 60.
355
68
und wie er mit seinen Prätexten umgeht,364 ob er sich dekonstruierender, summierender oder
rekonstruierender Verfahren der Referenz bedient.365 Die Festlegung solcher Verfahren ist
Interpretation, die auf der Analyse eines zunächst mutmaßlichen Posttextes anhand von quantitativer und qualitativer Kriterien, wie sie etwa Pfister nicht unkommentiert auflistet.366
Stockers Analyseraster zur Klassifizierung von Formen der Intertextualität verdeutlicht noch
einen anderen Aspekt der derselben: Texte können Bezug auf Einzeltexte und ganze Textklassen nehmen, indem sie diese zitieren bzw. demonstrieren, thematisieren oder imitieren.367 Das
kann nicht in Abrede gestellt werden, doch das Analyseraster schafft ein massives Problem:
Textklassen sind nur als Konstrukt eines idealen Einzeltextes oder als ‚typisch‘ zu erachtender
Vertreter greifbar.
Text-Synopsen, Randglossen oder wissenschaftliche Kommentare von Werksausgaben, 368 die
nicht vom Schriftsteller selbst stammen, bleiben hier z.B. unberücksichtigt. Was Stocker als
Intertextualität bislang versteht, entspricht in dem Bereich der Intermedialität weitgehend den
‚intermedialen Bezügen‘. Darf man aber das anhand von Rajewsky und Wolf entwickelte
Modell der Intermedialität auf die Intertextualität übertragen?
Im Sinne einer einheitlichen Beschreibungssprache in dieser Monographie wäre dies wünschenswert. Rajewsky hat den Weg in umgekehrter Richtung beschritten: sie hat sich des von
Penzenstadler skizzierten Systematisierungsversuchs der Intertextualität bedient, um ihre und
Wolfs Vorstellungen von Intermedialität auszudifferenzieren.369 Ihre Skrupel dabei haben zur
Betonung der intermedial gap geführt.
Wenn man das nun oben erarbeitete Modell der Intermedialität auf die Intertextualität anwenden will, sollte dieses wenigstens bei allen anderen Formen von Intramedialität funktionieren,
z.B. in der Musik und Malerei. Es darf beim Aufbau von Referenzen keine Rolle spielen, ob
die aufeinander bezogenen Medienprodukte dem gleichen oder verschiedenen Dispositiven
angehören. Die vier Hauptformen der Intermedialität werden deshalb im Folgenden auf ihre
Übertragbarkeit auf die Intertextualität hin geprüft und über Ziffern mit einer abschließenden
Graphik verknüpft, die die verschiedenen Erscheinungsformen der Intertextualität zur Darstellung bringt.
364
Vgl. Wolf 2001, 49-81, hier 51ff., bes. 56.
Lachmann 21996, 133-138, hier 134.
366
Vgl. Pfister 1985, 1-30, hier 29.
367
Vgl. Stocker 1998, 69.
368
Mit diesen setzt sich Genette auseinander. Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe.
Frankfurt am Main 1993. Sein äußerst enger Intertextualität-Begriff kommt für diese Arbeit nicht in Frage. Vgl.
ebd., 10.
369
Vgl. Penzenstadler 1993, 76-114. Da das Hauptanliegen des Aufsatzes eine Lyrikanalyse ist, können seine
theoretischen Vorstellungen nur in dem überschaubaren Rahmen von 38 Seiten skizziert werden.
365
69
(1) Transmedialität bezeichnet oben medienunspezifische Merkmale von Medien. In der
Übertragung auf die Intramedialität wäre also ein Begriff zu finden, der medienunspezifische
Merkmale innerhalb der Grenzen eines Mediums in sich bündelt – und das kann nur das Dispositiv sein.
(2) Dass in Texten unterschiedlich stark ausgeprägte, inhaltliche und formale Bezüge auf andere Texte gefunden werden können, muss nicht näher erläutert werden. Diese intramedialen
Referenzen lassen sich als intertextuelle Bezüge entsprechend der Vorgaben des Modells der
Intermedialität behandeln. Systemreferenzen beziehen sich auf Textgattungen, wie Roman,
Drama, Lyrik, Protokoll, Bericht, etc.; Einzelreferenzen auf bestimmte Texte. Unter die
Rubrik Einzelreferenz fiele die detaillierte Nacherzählung einer Handlung oder die Übernahme einer Figur aus einem anderen Text.370 Da es keine „intermedial gap“ innerhalb eines Mediums geben kann, ist die perfekte Nachahmung eines Textes denkbar, das absolute Plagiat. In
dem Fall stellt die Kopie keinen Posttext dar.371 Hinsichtlich der Intertextualität muss auf eine
zumindest kleine Differenz zwischen dem kontaktnehmenden und -gebenden Medienprodukt
bestanden werden. Liebhaber des Englischen können das „textual gap“ nennen. Intramediale
Bezüge sind in der Malerei und Musik keine Seltenheit. Beispiele brauchen deshalb nicht genannt werden. Werden Handlungen, Zeit und Ort durch teilreproduzierende Einzelreferenzen
in einen anderen Text übertragen, bietet es sich an, ein Script als tertium comparationes aufzustellen, dessen Anschlussstellen (slots) Prä- und Posttext durchaus unterschiedlich (mit fillers) inhaltlich füllen können.372 Den Parallelen zwischen Abenteuer der Silvesternacht, der
Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht und Peter Schlemihls wundersamer Geschichte soll so beigekommen werden.
(3) Was könnte nun ein ‚intramedialer Medienwechsel‘ sein? Broich und Pfister beschreiben
in ihrer Phänomenologie der Intertextualität Versetzungsformen: Gattungswechsel von Texten
und ihre Übersetzungen in andere Sprachen, allerdings auch intermediale Medienwechsel.373
Letztere kommen für eine Kategorie ‚intertextueller Medienwechsel‘ nicht in Betracht. Aus
Gründen der begrifflichen Unterscheidbarkeit von Phänomenen der Intermedialität und Intertextualität empfiehlt es sich, Text-Übertragungen in andere Gattungen und Sprachen als Um370
Letzteren Fall ist ein wichtiges Gestaltungsmoment von den Abenteuern der Silvesternacht; er wird schon
berücksichtigt bei Broich 1985, 31-47, hier 40.
371
Direkte Zitate werden als Einzelreferenzen nicht wegdefiniert, solange es sich nicht um die komplette Textquellte handelt. Direkte und klare Fälle, indirekte Zitate werden, egal ob sie kenntlich oder nicht kenntlich gemacht werden, mindestens als eine explizite Einzelreferenz gewertet. Wahrscheinlich transportieren sie mit
wachsendem Umfang zunehmend Informationen des Prätextes. Dementsprechend können „Zitate“ verschiedenen Unterkategorien der Einzeltextreferenzen zugeordnet werden.
372
Vgl. Busse, Dietrich: Diskurslinguistisk als Epistemologie – Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand
linguistischer Forschung, in: Spitzmüller / Warnke 2008, 57-87, hier 73.
373
Vgl. Broich, Ulrich: Zu den Versetzungsformen der Intertextualität, in: Broich / Pfister 1985, 135-136.
70
schriften zu bezeichnen. In der Malerei gibt es derartige Fälle des Umarbeitens ebenfalls, z.B.
wenn ein Bild auf ein anderes Trägermaterial abgemalt wird, andere Farben oder Arbeitstechniken zum Einsatz kommen. In der Musik wäre die Transponierung einer Tonart in eine andere, eine Transkription oder Orchestrierung eines Notentextes als Umschriften anzusehen. Zuletzt sei der Blick auf die ‚intramedialen Medienkombinationen‘ gerichtet.
(4) Aus der Perspektive der Intertextualität werden sie von Textsammlungen repräsentiert,
die verschiedene Autoren, respektive ein oder mehrere Herausgeber, in eine konzeptionelle
Ordnung bzw. Unordnung gebracht haben und ggf. über Indizes miteinander kommunizieren
lassen. Die Fantasiestücke in Callot’s Manier wären eine Sammlung von Hoffmanns Erzählungen, zu der die später zu besprechenden Abenteuer der Silvesternacht zählen. Textsammlungen mit den Texten lediglich eines Autoren wären der Intratextualität zuzuordnen – und
am besten einer Frame-Analyse zu unterziehen. Dazu unten mehr. Wo werden in der Malerei
und Musik die Schöpfungen verschiedener ‚Autoren‘ nebeneinander gestellt? Thematische
Ausstellungen in Museen, Notenausgaben wie „Die schönsten Weihnachtslieder“ oder Konzertprogramme mit Motto kommen einem da in den Sinn. Vor einigen Jahren tourte der StarGeiger Gidon Kremer mit seinem Kammerorchester Kremerata baltica und spielte alternierend sämtliche Sätze von Antonio Vivaldis und Astor Piazzollas Vier Jahreszeiten.
71
Intertextuelle,
teilreproduzierende
Einzelreferenz
Intertextuelle, simulierende
Einzelreferenz
Intertextuelle Einzelrefernz
Intertextuelle,
evozierende Einzelreferenz
Intertetxtualität
Dispositiv (1)
Intertextuelle, explizite
Einzelerwähnung
Intertextuelle Bezüge (2)
Intertextuelle,
teilreproduzierende
Systemreferenz
Umschriften (3)
Intertextuelle,
simulierende Systemreferenz
Intertextuelle Systemreferenz
Intertextuelle, evozierende
Systemreferenz
Einseitiger Verweis
Intertextuelle, explizite
Systemerwähnung
Wechselseitiger Verweis
Textsammlungen (4)
Hinweis von dritter Seite
(Keine evidente Bezugnahme)
Das Modell der Intermedialität, angewendet auf die Intramedialität, hier den Sonderfall der Intertextualität.
72
2.3. Paratexte und Frames
Paratexte und Frames können die Wahrnehmung von literarischen Texten beeinflussen und
ihre Rezeption somit „steuern“.374 Beide Begriffe zielen auf die Beschreibung von Strukturen
ab, können aber nicht unbedingt miteinander gleichgesetzt werden. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass in den Geistes- und Kulturwissenschaften selten völlige Einigkeit über die Definition von Begrifflichkeiten herrscht.
Der Paratext-Begriff, nachhaltig von Gérard Genette geprägt, basiert auf dem Buch, wie der
Untertitel der deutschen Übersetzung von Seuils nahelegt: „Das Buch vom Beiwerk des Buches“;375 der Frame-Begriff geht von Mediendispositiven bzw. kognitiv-linguistischen Strukturen aus (s.u.). Mit Paratexten werden tendenziell „transtextuelle“ Phänomene,376 mit Frames
„transmediale“ bezeichnet.
Was bringt die Auseinandersetzung mit der Paratext- und Frame-Theorie für die vorliegende
Arbeit? Es besteht die Hoffnung, Markierungen von Intertextualität und Intermedialität, sowie
Selbstreferenzen zu finden. Ferner ergibt sich aus der Freilegung von Strukturen die Möglichkeit Konstruktions-Muster von Texten miteinander zu vergleichen. Dadurch lässt sich das
Erzählverhalten von Verlegern, Autoren und Erzähler-Figuren analysieren und aufeinander
beziehen.
Gérard Genettes Konzept der Paratexte soll nun soweit skizziert werden, wie es für das Verständnis der bei der Erzählrahmenanalyse zu verwendenden Begriffe notwendig ist. Der Paratext eines literarischen Werkes zerfällt in zwei Elemente: den Epitext und den Peritext.377
Bei den Epitexten378 handelt es sich um Kontexte jenseits eines Buch-Bandes. Überlieferte
bzw. allgemein bekannte biographische Fakten des Autors, öffentliche Verlautbarungen vom
Verleger wie Werbung, Interviews mit dem Autor, seine Tagebuchaufzeichnungen, Gespräche, Skizzen, spätere Fassungen eines Werkes und Kommentare werden als Epitexte angesehen.
Der Peritext379 ergibt sich aus der Materialität des Buches, ggf. inklusive Umschlag, seinem
Layout, den Illustrationen, dem Klappentext, Vor- und Nachworten, Anmerkungen, den thematischen bzw. rhematischen Titeln und Zwischentiteln.380
374
Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 2001, 9 und Wolf
2006, 1-40, hier 6.
375
Vgl. Genette 2001.
376
Vgl. Genette 1993, 10ff.
377
Vgl. Genette 2001, 13.
378
Vgl. hierzu ders., 328ff.
379
Vgl. ders., 22ff.
380
Thematische Titel bezeichnen den Inhalt eines Buches, rhematische Titel die Gattung. Es gibt Mischformen.
Vgl. ders., 82ff.
73
Obwohl andere Medien im Buch, wie Illustrationen Beachtung finden, denkt Genette nicht
sonderlich intermedial. Sie werden als „Text“ wahrgenommen, wie auch z.B. die „Interviews“
im Bereich des Epitextes.
Peritexte und Epitexte werden als wandelbar angesehen, weil sie sich von Ausgabe zu Ausgabe, von Auflage zu Auflage ändern können.381 und sich oft wechselseitig aufeinander beziehen. Es ergeben sich also intertextuelle Abhängigkeiten, wenn man nicht Genettes engen Begriff der Intertextualität verwendet.382
Genette schärft besonders den Blick für die Widersprüchlichkeit von Paratexten, den Grad
ihrer Authentizität und dem Rollenverhalten der Adressanten.383 Vorworte und Nachworte
können authentisch, fiktiv oder apokryph sein.384 Ihre Verfasser können auktoriale, allographe
(verschiedene) und aktoriale Rollen einnehmen.385 Aus der Kreuzung der Kategorien von Rollen- und Authentizitätsgraden ergeben sich neun Möglichkeiten zur Beschreibung entsprechender Text-Einheiten.386 Genettes Ausführungen erwecken bei mir den Eindruck, dass Paratexte stets als deutlich isolierte Bausteine zu erkennen sind, während die Struktur gebenden
„Rahmen“ der Frame-Theorien in den literarischen Werken, ihren Paratexten und Dispositiven offen oder verborgen zu Tage treten.
Werner Wolf hat die Frame-Theorie in Anschluss an seine Habilitationsschrift entwickelt. In
ihr setzt er sich mit Illusionsbildung und -brechung in der (englischsprachigen) Literatur auseinandersetzt.387 Illusionsbildung entsteht durch Fokussierungen, gezielte Ausgrenzung illusionsstörender Elemente, wie Rahmen und Metafiktion.388 Intertexte und Intermedien sind je
nach Art ihrer Integration der Illusion dienlich oder abträglich.389 Ihre Wirkungsweisen regulieren ebenfalls die Frames.
Störungen in der Beziehung zwischen Rahmen und Gerahmten, die zur gezielt Desorientierung des Rezipienten eingesetzt werden, verdienen eine besondere Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft, wenn sie Orientierungshilfen geben will. Es geht um die Analyse von
381
Vorworte verschwinden, werden ersetzt, oder kommen hinzu. Vgl. ders., 11.
Für ihn sind Intertexte lediglich Plagiate, Zitate und Anspielungen im Sinne indirekter Zitate. Vgl. Genette
1993, 10.
383
Vgl. Genette 2001, 173ff., v.a. 176 (Schaubild).
384
Fiktiv ist ein Vorwort, das einer imaginären Person zugeschrieben wird, apokryph ein Vorwort, das fälschlicherweise einer wirklichen Person zugeschrieben wird. Vgl. ders., 174.
385
Wenn sich nicht ein allwissender Erzähler oder eine Figur des literarischen Textes zu Wort meldet, scheint
ein allographer Paratext vorzuliegen. Vgl. ders., 173.
386
Vgl. ders., 173ff. Genette geht hier selbst auf die Problematiken dieses Schemas ein.
387
Vgl. Wolf, Werner: Ästhetische Illusionsbildung und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und
Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörendem Erzählen, Tübingen 1993.
388
Vgl. ders., 163ff.
389
Vgl. ders., 280ff.
382
74
Rahmenbrüchen, den sogenannten Metalepsen.390 Sie entstehen z.B., wenn Erzählebenen miteinander kurzgeschlossen werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Einer gewissen
Beliebtheit erfreut sich die mise en abyme, die durch begriffliche Ausdifferenzierung inzwischen ihre begriffliche Eindeutigkeit verloren hat.391 Da in den zu besprechenden Texten nur
die mise en abyme nach Wolfs Verständnis in Erscheinung tritt, sei hier allein dieses Phänomen beschrieben. In ihrem Fall korrespondieren bestimmte Aspekte einer untergeordneten
Erzählebene punktuell mit einer übergeordneten.392 Werner Wolf führt das Ende von Poes
Erzählung, der Untergang des Hauses Usher als Beispiel an: der Erzähler liest seinem Freund
Roderick eine fantastische Ritterromanze vor, in der die geschilderten, grauenvollen Geräusche mit denen im Haus synchron gehen, die von der Selbstbefreiung von Rodericks scheintoter Schwester aus dem Sarg herrühren.393
Wolf ist – wie bereits angeklungen – nicht der einzige Urheber bzw. Reformulierer eines
Frame-Ansatzes. Diesen stellt er in einem einleitenden Essay seines Sammelbandes Framing
Borders across the Media dar; die darin folgenden Modellanalysen anderer Geisteswissenschaftler zeigen in interdisziplinärer Manier (mit dem Mut zur Lücke) die Vielfalt der Erscheinungsformen: von haptisch erfahrbaren physischen Rahmen (Bilderrahmen), akustischen
Rahmen bis hin zu Rahmen-Geschichten in der Literatur.394 Christoph Leitgeb positioniert in
seiner Rezension des Bandes den Ansatz in der Wissenschaftslandschaft. Er unterscheidet
zwei Arten von Frame-Theorien: die einen sollen die Speicherung, die anderen die Koordination semantischen Wissens erklären.395 Der letzteren Gruppe ordnet er den Beitrag von Werner Wolf zu, womit er dessen theoretischer Selbstfindung durch Abgrenzung, in seinem Sinne
wohl die Frame-Setzung, Vorschub leistet. Wolf will unter Frames nicht ganz allgemein kulturspezifische Schemata und Skripts verstehen, sondern diskursive Austauschprozesse, die im
Wesentlichen Produktion und Rezeption von Literatur und anderen Medien organisieren.396
Die ‚Gegner‘ bezeichnen transmedial beobachtbare Diskurse als Frames und verfolgen inzwischen ähnliche Zielsetzungen:
390
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 9.
Werner Wolf stellt ihr als spiegelbildlichen Vorgang die mise en cadre zur Seite; die mise en abyme und mise
en cadre können einmalig (mise en reflet) oder mehrfach (mise en série) in einem Text auftreten. Vgl. Wolf
2001, 49-81, hier 61ff.
392
Vgl. ebd.
393
Vgl. ebd.
394
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 5.
395
Vgl. Tannen, Deborah / Wallat, Cynthia: Interactive Frames and Knowledge Schemas in Interaction: Examples from a Medical Examination / Interview, in: Deborah Tannen (Hg.): Framing in Discours, New York /
Oxford 1993, 57-76, hier 59; zit. n.: Leitgeb, Christoph: Anwendungen der Frame-Theorie mit Rahmen [Rezension zu: Werner Wolf / Walter Bernhart (Hgg.): Framing Borders in Literature and Other Media (SIM 1), Amsterdam / New York 2006.], in: Sprachkunst 37/2 (2006), 387-394, hier 387.
396
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 2.
391
75
Es geht bei der methodischen Umsetzung der Diskurslinguistik um eine sprach- und wissensbezogene
Analyse, die die Produktionsbedingungen und die Wirkungsmacht spezifischer medialer Umgebungen
397
und die Interessen der Diskursteilnehmer als Untersuchungsgegenstand ernst nimmt.
Warum man sich hier nicht auf das Dispositiv als Frame des Untersuchungsbereiches verständigt, muss offen bleiben. Der einzige Unterschied zu Wolf scheint der weitere Anwendungsbereich zu sein: letzteren interessieren nur die Dispositive von Kunstwerken, einschließlich
dieser Medienprodukte selbst. Was ist nun Rahmen und Gerahmtes konkret? Wolf äußert sich
erstaunlich vorsichtig nach seiner selbstsicheren Abgrenzung:
Framings may […] be defined as codings of abstract cognitive frames that exist or are formed within, or
on the margins [Rändern / Grenzen] and in the immediate context of the framed situation or phenomena
– like the corresponding frames – have an interpretative, guiding and controlling function with the ref398
erence to it.
Er hebt zwar die lenkende und kontrollierende Funktion von Rahmen hervor, die auf der
„Koordination von Wissen“ beruhen, kommt aber um abstrakte, kognitive Rahmen nicht herum, die die Speicherung von Wissen betreffen: hier schleichen sich hinterrücks Schemata und
Scripts in seine Theorie ein. In der linguistischen Diskurstheorie bestehen diese aus Anschlussstellen (slots), die als „Rahmen“ Informationen in Form von Füllungen (fillers) aufnehmen können.399 Der deutsche Begriff Anschlussstelle macht deutlich, dass man eine Offenheit der Schemata und Skripts, also deren Entwicklungsfähigkeit im Auge hat. Dies ist der
Wandelbarkeit von Diskursen bzw. Dispositiven geschuldet. Variabilität und Stabilität der
Wissensrahmen seien (auch) ein Ausdruck ihrer nichtsprachlichen Bestandteile.400 Wenn man
Wolf Frames als ein Meta-Konzept oder als eine Konfiguration von Konzepten betrachtet,401
die Stereotype dynamisieren und Dynamiken fixieren, sieht man, dass er an keinem Pol klebt.
Die Linguisten scheinen nur eine bottom-up-Perspektive einzunehmen, während er eine topdown-Strategie verfolgt. Seine Rahmen können auch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt
sein und hierarchische Strukturen bilden.402 Bei epistemischen Rahmenstrukturen gehen Linguisten davon aus, dass Wissensrahmen wieder Teile von anderen sein können.403 Wie dies
aussehen kann, belegt Sieglinde Voigts Dissertation aus der Deutschdidaktik, die die Verständlichkeitsgrade von Lehrbuchtexten anhand der Komplexität des Verstehens relevanter
Schemata und Scripts klären will.404 Netzförmige, z.T. hierarchische Gebilde entstehen. Tatsächlich geht es Werner Wolf nicht um eine solche Feinarbeit. Mikro- und Makrostruktur
397
Spitzmüller / Warnke 2008, 3-54, hier 17.
Wolf 2006, 1-40, hier 6.
399
Vgl. Busse 2008, 57-87, hier 73.
400
Nach ders., 57-87, hier 70.
401
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 4f.
402
Vgl. Wolf, Werner: Framing Borders in Frame Stories, in: Wolf / Bernhart 2006, 179-206, hier 185.
403
Vgl. Busse 2008, 57-87, hier 74.
404
Vgl. Voigt, Sieglinde: Framesemantische Strukturen des Textes als Beitrag zur Textverständlichkeit. Untersuchungen von Lehrbuchtexten, Berlin 1997, 86ff.
398
76
schließen sich nicht aus, sondern greifen – zuweilen sehr komplex – ineinander. Es handelt
sich mit anderen Worten um die literaturanalytisch wenig praktikable Vorstellung des ZitatenMosaiks von Kristeva. Wolf geht es also im Falle einer Analyse (von literarischen Texten) um
Makrostrukturen.
Innerhalb dieser interessieren ihn die Hauptfunktionen der Rahmen, das Stiften von Beziehungen zwischen Phänomenen und die Fokussierung auf bestimmte Inhalte.405 Familiarizing
frames und defamiliarizing Frames regulieren das Verhältnis von Leser und (fiktiven) Autor
zum Gerahmten.406 Sie machen mit diesem vertraut oder sorgen für Distanz durch irritierende
Aussagen.407 Auf die Rezeptionsprozesse können Frames mit zahlreichen Formen Einfluss zu
nehmen suchen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, hat Werner Wolf die wesentlichen Formen von Rahmen nach einer Reihe von Diffenzierungsmerkmalen tabellarisch erfasst. Diese
‚Checkliste‘ für die Frame-Analyse gewährleistet nicht die Isolierung von Rahmen, erlaubt
aber eine präzise Klassifizierung von Textabschnitten, die als Rahmen erkannt worden sind.
Aus diesem Grund wird hier eine Übersetzung in leicht überabeiteter Gestalt wiedergegeben.408
Unterscheidungskriterien für Rahmen
Ausrichtung
Dimensionierung
Medium
Autorisierung
Verlässlichkeit
Lokalisierung
Lokalisierung im
Rezeptionsprozess
Formen der Rahmen
senderbezogen
adressatenbezogen
informationsbezogen
kontextbezogen
offen [ Rahmenfragment] oder geschlossen
dominant oder weniger dominant
hetero- bzw. homomedial
autorisiert (werkintern / werkextern)
nicht-autorisiert (werkintern / werkextern)
explizit vs. implizit
(nur bei textuellen Rahmen)
para- vs. intratextuelle Rahmen
(nur bei textuellen Rahmen von Medien in zeitlicher Ausdehnung)
eröffnende, verinnerlichte, abschließende
Arbeitet man an einem Text die Differenzierungsmerkmale ab, ergeben sich fast von selbst
Rückschlüsse auf die Funktionen der gesetzten Rahmen. Äußert man sich in der Analyse zu
jedem dieser Punkte, besteht allerdings die Gefahr, dass ein Text entsteht, in dem so häufig
das Wort Rahmen bzw. Frame steht, dass der Leser abschaltet und die Attribute „senderbezogen“, „adressatenbezogen“, „informationsbezogen“, usw. als Matrix kein plastisches Bild von
dem Besprochenen mehr abzugeben vermögen. Die Lösung des Problems kann also nur in
405
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 13f.
Vgl. Wolf 2006, 295-328.
407
Vgl. Wolf 2009, 1-75, hier 66.
408
Die folgende Tabelle beruht weitgehend auf Werner Wolf. Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 15 (Figur 1).
406
77
einer Auswahl von bedeutenden Differenzierungsmerkmalen bei einer Frame-Analyse und
Schilderung der Sachverhalte bestehen, ohne sie stets mit dem elaborierten Vokabular zu ‚etikettieren‘. In den folgenden Erzählrahmen-Analysen der Werke von Hoffmann, Chamisso
und Jean Paul wird bewusst das Vokabular nur in Maßen eingesetzt.
Zum Inhalt der Tabelle will ich mich dementsprechend auch nicht detailliert äußern. Für die
genaue Bestimmung der Begriffe verweise ich auf Werner Wolf, der sie vorbildlich erläutert
hat.409 Die meisten Bezeichnungen sind glücklicherweise so gewählt, dass sie für sich selbst
sprechen. Klärende Worte bedürfen meines Erachtens lediglich die „Dimensionierung“ und
die „Verlässlichkeit“. Mit der Dominanz geraten die Größenverhältnisse der Textabschnitte
zueinander ins Blickfeld, die als Rahmen und Gerahmtes angesprochen werden. Nähert sich
die Extension ihrer Umfänge so stark an, dass sie jeweils 50% ausmachen, ist eine Unterscheidung von Rahmen ohne andere Anhaltspunkte wie Lokalisierungen kaum mehr möglich.
Dass von Wolf explizite und implizite Rahmen namhaft gemacht werden, ist dem bereits erwähnten Isolierungsproblem von Frames geschuldet. Rahmen bedürfen selbst einer Markierung, die der Produzent bzw. der Rezipient idealerweise im Sinne einer unsichtbaren Anlage
setzt.
Fazit: nicht immer markieren Frames Intertextualität und Intermedialität, nicht immer werden
Frames markiert. Mit autorisierten und weniger autorisierten, expliziten und impliziten Fällen
wird man leben müssen. Versteckte Frames müssen stärker als markierte begründet werden.
Bei der Beschreibung werkinterner und -externer Markierungen greifen die Klassifikationsmodelle für intermediale und intertextuelle Referenzen, die aus der Auseinandersetzung mit
Rajewskys Modell der Intermedialität hervorgegangen sind. Viele intratextuelle Referenzen
lassen sich dagegen besser vor dem Hintergrund von Genettes Paratext-Theorie und Wolfs
Frame-Theorie beschreiben, besonders die Vor- und Nachworte, sowie die Erzählrahmen. Sie
enthalten oftmals Wissensrahmen, Begriffe, die das Charakteristische für das Gerahmte begrifflich auf den Punkt bringen, womit noch lange keine eindeutig festgelegte Interpretation
vorgeschrieben wird: z.B. wundersame Geschichte, Propheten der Zeit, Silvesternacht, Erscheinungen, Phantasmagorien, etc.
409
Vgl. Wolf 2006, 1-40, hier 15.
78
3. Erzähl-Rahmen und andere Rahmen bei Hoffmann, Chamisso und Jean Paul
Aus den vorangegangenen Ausführungen wurde ersichtlich, dass explizite und implizite
Rahmenstrukturen von Kunstwerken eine bedeutende Orientierungsfunktion für den Rezipienten besitzen. Sie ermöglichen ihm ein mehr oder minder erfolgreiches Navigieren durch die
fiktiven Welten eines Medienproduktes. Da schon bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht und den Prätexten dieser Erzählung
massiv Rahmungen verschiedener Art ins Auge stechen, empfiehlt es sich, mittels einer Frame-Analyse sich einen Überblick zu verschaffen. Da nicht alle Werke in dem germanistischen
Lektürekanon enthalten sind, werden die gerahmten ‚Geschichten‘ bei der Rekonstruktion der
Frame-Strukturen paraphrasiert. Rahmen bzw. Markierungen, die auf Intermedien und Intertexte fremder Autoren hinweisen, werden hier noch nicht besprochen. Folgende Rahmen sollen gewürdigt werden:
(a) die Textsammlungen,410 in die zwei der drei interessierenden Werke eingebunden sind.
(b) die Erzählrahmen, die die drei Werke strukturieren.
(c) begriffliche bzw. interpretatorische Rahmen für das (Schreib-)Geschehen: z.B. Tagebuch,
Abenteuer, Traum oder Vorrede.411
3.1. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht als Teil der Fantasiestücke in Callot‘s Manier
3.1.1. Die Fantasiestücke in Callot’s Manier
Die Abenteuer der Silvesternacht eröffnen den vierten Band von E.T.A. Hoffmanns Fantasiestücken in Callot‘s Manier.412 Diese enthalten unterschiedlich lange Prosawerke – Essays,
Briefe, Erzählungen, Märchen und Experimente mit der Dramenform –, die der Untertitel der
Text-Sammlung als Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten deklariert. Wer
nun halbwegs datierte Einträge von Reflexionen und Erlebnissen erwartet, wie z.B. in E.T.A.
Hoffmanns eigenem Arbeitsjournal, wird weitgehend enttäuscht werden. Nur zweimal tritt der
sogenannte reisende Enthusiast413 mit Sicherheit als Protagonist und autodiegetischer Erzähler
in den neun Texten der Fantasiestücke auf. Der Essay Jacques Callot (vgl. AS* 17ff.), der
eine Rezeptionsanleitung und eine Erklärung des Haupttitels darstellt, ist die Schilderung ei410
Die Ebene über den Textsammlungen, das Gesamtwerk, ist im Falle der Wundersamen Gesellschaft von Jean
Paul auch noch zu berücksichtigen, s.u.
411
Hier ist Vollständigkeit nicht beabsichtigt. Später wird es noch Ergänzungen geben.
412
Band I-III sind ursprünglich Epitexte, die Kreisleriana im Band IV ein Peritext, da die große Erzählsammlung
zunächst erschien; betrachtet man die Erzählsammlung als ein Werk (in einem Buch) sind alle Texte vor und
hinter den Abenteuern der Silvesternacht Peritexte.
413
Zum romantischen Begriff des Enthusiasmus vgl. Karoli, Christa: Ideal und Krise enthusiastischen Künstlertums in der deutschen Romantik (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 46), Bonn 1968.
79
ner individuellen Betrachtungsweise von Kupferstichen, die man nach der Frame-Setzung
problemlos als Tagebuch-Eintrag lesen kann. Die phantastische Begegnung eines IchErzählers mit dem verstorbenen Komponisten Ritter Gluck wird als Eine Erinnerung aus dem
Jahre 1809 bezeichnet (vgl. AS* 19ff.), lässt sich wiederum als Tagebuch-Eintrag verstehen.
Textnummer
Titel der Fantasiestücke in Callot’s Manier von E.T.A. Hoffmann
Bandzahl
1
[Vorrede, von Jean Paul]
I.
Jacques Callot
II.
Ritter Gluck
III.
Kreisleriana
1.
2.
3.
4.
5.
IV.
Don Juan
V.
Nachrichten von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza
VI.
Der Magnetiseur
6.
2
.
(Brief)
(Brief)
(Tagebuch)
(Billet)
3
VII.
Der goldne Topf
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
4
VIII.
Die Abenteuer der Silvesternacht
I.
IX.
II.
III.
IV.
Kreisleriana
I.
II.
Die Tabelle zeigt den Aufbau der Fantasiestücke in Callot’s Manier und deutet die Erzählrahmen innerhalb der einzelnen Werke an.
80
Vor dem Hintergrund der nun erfolgenden Strapazierungen der Tagebuchform414 kann dies
nicht deutlich genug betont werden. ‚Fremdmaterialien‘ finden Eingang in die Textsammlung
und ein bislang nicht in Erscheinung getretener, fiktiver Herausgeber wird unmerklich aktiv.
Ein informativer Rahmen eröffnet explizit die erste Abfolge von sechs Kreisleriana (vgl. AS*
32ff.), den nachgelassene Schriften des als wahnsinnig geltenden Kapellmeisters Johannes
Chrisostomos Kreisler. Ob der reisende Enthusiast oder schon der Herausgeber sich für die
Einführung dieser Künstler-Figur verantwortlich zeigen, bleibt offen, genauso wie das Verhältnis beider Erzählinstanzen zu dem Kapellmeister. Eine zweite Reihe Kreisleriana (vgl.
AS* 360ff.) beendet die Fantasiestücke in Callot‘s Manier. Beide Kreisleriana bilden eine
Klammer für fünf weitere Texte.415 Das Aktivwerden des bereits erwähnten Herausgebers
verhindert, dass diese ebenfalls als Kreisleriana angesehen werden. Er bezeichnet den ersten
Don Juan (nach der ersten Reihe Fremdmaterialien) mittels eines Untertitels als „Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen“ (vgl. AS* 83ff.).
Der Rezipient wird damit massiv an die Fiktion erinnert, dass er das Tagebuch des reisenden
Enthusiasten liest.
Ähnlich wie beim Ritter Gluck findet eine in der Realität schier unmögliche Begegnung statt.
Der reisende Enthusiast besucht eine Aufführung von Mozarts Oper Don Giovanni und verliebt sich in die Sängerin der Donna Anna, die sich fortan auf der Bühne und in der Loge zugleich aufhält und nach der Vorstellung unter rätselhaften Umständen stirbt. Das Motiv der
verlorenen Geliebten, das für Abenteuer der Silvesternacht konstitutiv ist, kündigt sich an.
Don Juan und Die Abenteuer der Silvesternacht bilden innerhalb der beiden Kreisleriana einen zweiten Rahmen. Die geschilderten Erlebnisse sind dank des Herausgebers klar dem reisenden Enthusiasten als Erzähler zuzuordnen. Im Fall der Abenteuer der Silvesternacht äußert
sich der Herausgeber sogar in einem Vorwort über den reisenden Enthusiasten. Seine Identität
wird in einer Metalepse vom reisenden Enthusiasten selbst aufgedeckt: er heißt Theodor
Amadäus Hoffmann (vgl. AS 359).
Die neuesten Schicksale des Hundes Berganza (vgl. AS* 101ff.) werden in einer Unterhaltung
zwischen Ich-Erzähler, wahrscheinlich dem reisenden Enthusiasten, und dem Tier zur Sprache gebracht, die in szenischer Form notiert ist. Nur Einleitung und Schluss, die Schilderungen der Situation enthalten, sind als Prosa-Erzählung gestaltet. Eine Fußnote mit expliziter
414
Vgl. Dennoch kann man Ethel de la Mazza im Großen und Ganzen zustimmen, dass in dem Tagebuch, das
die Fantasiestücke sein sollen, nirgendwo das Genre des intimen Journals bedient wird. Vgl. Mazza 2005, 153178, hier 162.
415
In diesem Rahmen bilden der Don Juan und Die Abenteuer der Silvesternacht mit dem reisenden Enthusiast
als Ich-Erzähler nochmals eine Klammer, für drei Werke. Man stelle sich dies wie eine russische Puppe vor –
oder betrachte im Schaubild mit den Rahmen die mit unterschiedlichen Mustern unterlegten Text-Einheiten.
81
Erwähnung eines Einzeltextes markiert weitere intertextuelle Bezüge in der Folge. Sie benennt die deutsche Übersetzung einer Erzählung des spanischen Dichters Cervantes. 416 Das
Motiv der verlorenen Geliebten tritt in einer skurrilen Variation auf: der Hund Berganza hat
das angehimmelte Frauchen verloren, nachdem er aus Eifersucht deren Bräutigam in der
Hochzeitsnacht angegriffen hat.
Der Magnetiseur. Eine Familienangelegenheit (vgl. AS* 178ff.) folgt keiner konkreten Vorlage. Der Erzähltext enthält fingierte Quellen,417 die sich mittels Überschriften und Absätzen
deutlich abgrenzen. Im Schlussabschnitt wird hinter den Quellen-Autoren und dem IchErzähler ein Herausgeber als übergeordnete Erzählinstanz sichtbar.418 Dieser meldet sich erst
zu Beginn der Abenteuer der Silvesternacht wieder zu Wort.
Den dritten Band füllt die längste Erzählung der Fantasiestücke komplett aus: Der goldne
Topf. Ein Mährchen aus der neuesten Zeit (vgl. AS* 229ff.). Hier ist nur bemerkenswert, dass
der homodiegetische Erzähler (reisender Enthusiast?) sich in die Welt der Handlung begibt,
um den letzten Rest der Geschichte zu erfahren und schließlich das Ende des Märchens markieren zu können (AS* 315ff.). Das Märchen basiert wohl auf keiner gehörten Erzählung oder
einer schriftlichen Vorlage. Es besteht aus Motiven, die man in Tausendundeine Nacht, Gozzis Fiabe und Schikaneders Libretto zu Mozarts Zauberflöte ausgemacht hat.419
Fazit: Kunstwerke, die in unterschiedlichen Medien verfasst sein können, lösen möglicherweise beim reisenden Enthusiasten Tag- oder Nachtträume aus, die er in dichterische Fantasiestücke umsetzt. Letztere werden in seinem Tagebuch gesammelt, das somit nur Spuren
realer Ereignisse enthält. Diese bestehen in der Rezeption von Kunstwerken, die mehr oder
minder stark als intermediale und intramediale Referenzen in Erscheinung treten. Erstaunlicherweise zeigt sich das phantasierte Text-Konvolut hochgradig geordnet. Die symmetrische
Frame-Struktur der heterogenen Sammlung – der Magnetiseur wäre als Spiegelachse anzusehen – ist offenbar das Werk eines Herausgebers, der sich mit evidenten Eingriffen in die Ta-
416
Das spanische Original Colloquio de los perros, das in den Rahmen der Erzählung El casamineto engañoso
(dt.: Die trügerische Heirat) eingefügt ist, erschien als zwölfte und letzte Geschichte der berühmten Sammlung
Novelas ejemplares (1613; dt.: Exemplarische Novellen). Hoffmann benutzte, wie er in der Fußnote angibt, die
Ausgabe von D. W. Soltau, die 1801 in Königsberg 1801 unter dem Titel Lehrreiche Erzählungen erschienen
war (in Bd. 3, XI: Die betrügliche Heirath, nebst dem Gespräch der beyden Hunde, Scipio und Berganza; die
Zwischenüberschrift lautet: Gespräch zwischen Scipio und Berganza, zwey Hunden im Hospital zur Auferstehung in Valladolid, vor dem Thor del Campo, gewöhnlich die Hunde des Mahudes genannt). Angaben dieser
Fußnote: vgl. Steinecke, Hartmut: Fantasiestücke in Callot’s Manier [=Kommentar], in: Hoffmann, E.T.A.: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, Bd. 2/1. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M. 1993, 533-858, hier 704.
417
Das sind: Mariens Brief an Adelgunde, Fragment von Alban’s Brief an Theobald, Aus Bickerts Tagebuch.
Vgl. AS* 178ff.
418
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 732.
419
Vgl. ders., 533-858, hier 754.
82
gebuch-Abschnitte zurückhält. Dadurch wirkt es sehr authentisch. Er meldet sich am Ende des
Magnetiseurs in einer illusionsstörenden Metalepse zu Wort:
„Ihren Brief vom Schlosse T., wo Sie sich als freiherrlicher Kommissarius gütlich tun, cum annexis,
habe ich erhalten und aus letzteren, die sich auf die wunderbaren Begebenheit, welche sich dort zugetragen, beziehenden Blätter der Fantasiestücke in Callots Manier, einem Buche, das Sie jeden Tag lesen
können, da es die Zensur passiert hat, und öffentlich verkauft wird, beigefügt. Diese Callots werden
sich hoffentlich noch vermehren“ (AS* 225. Hervorhebung: V.R.)
Der fiktive Herausgeber äußert sich selbstreferentiell zur Entstehung der Fantasiestücke und
bekundet daran Interesse, neue ‚Phantasieprodukte‘, die Tagebuchblätter des reisenden Enthusiasten, mit ‚Zutaten‘ weiter zu phantasieren. Daraus ergibt sich eine implizite Rezeptionsanleitung, den Wirklichkeitsgehalt der authentisch daher kommenden Geschichten zu misstrauen: „Denn ich versende ja dieses Billet, sondern lasse es am Schlusse des zweiten Bändchens
abdrucken, da ich hierzu meinen guten Grunde habe, und am Ende auch nicht einmal recht
weiß, ob Sie wirklich existieren, mein wertester Justizrat“ (AS* 225, Hervorhebung:
V.R.). Gibt es keinen Justizrat, ist ein Großteil der in den Magnetiseur eingearbeiteten Quellen Erfindung. Wenn es keinen Justizrat in der fiktiven Welt gibt, bleibt als Verfasser der eingearbeiteten Materialien nur der Herausgeber übrig. Sind auch die Blätter aus dem Tagebuch
des reisenden Enthusiasten sein Werk? Am Anfang von den Abenteuern der Silvesternacht
warnt er die Leser von der Phantasie des reisenden Enthusiasten fortgerissen zu werden (vgl.
AS 325). Die Erfahrung hat er offenbar schon beim Magnetiseur gemacht. In den Abenteuern
der Silvesternacht baut der reisende Enthusiast Spikhers Geschichte vom verlorenen Spiegelbild in sein Tagebuch ein (s.u.). Was der Herausgeber beim Magnetiseur gemacht hat, kann
auch er. Es drängt sich nicht nur der Verdacht auf, dass der reisende Enthusiast und der Herausgeber ein und dieselbe Person sind, sondern auch Spikher und der reisende Enthusiast.420
In den Fantasiestücken erleben die Rezipienten ein intratextuelles Vexierspiel, an dem auch
die einzelnen Textabschnitte von den Abenteuern der Silvesternacht partizipieren. Die hier
auftretenden Erzählrahmen sollen nun zusammen mit dem Inhalt in kleinen Schritten behandelt werden.
420
Dies würde Christian Baiers Leseweise von Abenteuern der Silvesternacht stützen. Vgl. Baier 2010, 7-24.
83
3.1.2. Die Erzählrahmen von den Abenteuern der Silvesternacht und eine Inhaltsskizze
Der thematische Titel „Abenteuer der Silvesternacht“ verspricht dem Leser einen Text, in
dessen Zentrum ein Jahreswechsel steht. Dieser wird ihm allerdings vorenthalten, da ihn der
Erzähler vermutlich verschläft. Immerhin spielen sich die geschilderten Ereignisse zwischen
Silvesterabend und dem Mittag des nachfolgenden Neujahrstages ab.421
Auch eine Reihe von Abenteuern ist zu erwarten, die die begrenzte Zeitspanne einer Nacht
ausfüllen und strukturieren. Ob die handlungsbedingten Zäsuren mit der vorhandenen Kapitelgliederung harmonieren, hängt von der zeitgenössischen Bedeutung des Begriffs „Abenteuer“ ab?422 Nach Ausweis des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm handelt es sich um
einen vielschichtigen Ausdruck: „Mit […] abenteuer nun verknüpft sich stets die vorstellung
[1.] eines ungewöhnlichen, seltsamen, unsichern ereignisses oder [2.] wagnisses, nicht nur
[2.a.] eines schweren, ungeheuern, unglücklichen, sondern auch [2.b.] artigen und erwünschten“.423 Auch im Sinne von Liebesabenteuer und Affäre wird der Begriff gebraucht. 424 Die
Abenteuer der Silvesternacht handeln von seltsamen Ereignissen und Amouren mit unglücklichem Ausgang. Während wir heutzutage gewohnt sind, mit dem Abenteuer hauptsächlich
äußeres Geschehen zu assoziieren, ist bei Hoffmann die subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit und des Traumes entscheidend. Bei Bodmer ist alles Wunderbare abenteuerlich.425
Vor diesem semantischen Hintergrund kann man sagen, dass die durchnummerierten Kapitel
je ein Abenteuer umfassen. Ihre Überschriften bieten zudem eine gewisse Orientierungshilfe.
Nummerierung
Kapitelüberschriften
VORWORT DES HERAUSGEBERS
I.
II.
III.
IV.
[V.]
DIE GELIEBTE
DIE GESELLSCHAFT IM KELLER
ERSCHEINUNGEN
DIE GESCHICHTE VOM VERLORNEN SPIEGELBILDE
Postskript des reisenden Enthusiasten
Die Kapitel und Erzählrahmen von den Abenteuern der Silvesternacht
421
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 54.
Bettina Schäfer geht vom Abenteuer-Begriff am Ende des 20. Jahrhunderts aus und stellt fest, dass eine „Reihe spannender Erlebnisse“ bestenfalls im „Inneren der Protagonisten“ stattfinden. Beide Zitate 2007, 77-85, hier
78.
423
Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Abentheuer, in: dieselben: Deutsches Wörterbuch, 1. Bd. (A – Biermolke),
Leipzig 1854, 27.
424
Vgl. ebd.
425
Vgl. Lachmann 2005, 135-152, hier 138f. über Bodmer, Johann Jacob: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes
Joh. Miltons von dem verlohrenen Paradiese; der beygefüget ist Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte, Zürich 1740.
422
84
Die Abenteuer der Silvesternacht beginnen mit einem kurzen, inhaltlich fiktiven ‚Peritext‘:426
dem VORWORT DES HERAUSGEBERS, dessen sich fiktiv-allograph präsentierender Verfasser wohl identisch mit dem Theodor Amadäus Hoffmann ist (vgl. AS 459), der im Postskript des reisenden Enthusiasten angesprochen wird. Beide Textabschnitte stellen keinen
geschlossenen Rahmen dar, weil sie nicht demselben Schreiber zuzuordnen sind, also unterschiedlichen Erzählebenen angehören. Das VORWORT ist an den „günstigen Leser“ gerichtet
(AS 325). Es hat die Funktion einer Rezeptionsanleitung, die den reisenden Enthusiasten als
unzuverlässigen Erzähler des Don Juan aus dem ersten Band der Fantasiestücke in Erinnerung ruft.427 Wichtig für die Frame-Analyse ist die Thematisierung verdeckter Frames im folgenden Text, denen eine illusionsbildende Kraft zugeschrieben wird:
Der reisende Enthusiast, aus dessen Tagebuche abermals ein Callotsches Fantasiestück mitgeteilt wird,
trennt offenbar sein inneres Leben so wenig vom äußern, dass man beider Grenzlinie kaum zu unterscheiden vermag. Aber eben, weil du, günstiger Leser! diese Grenze nicht deutlich wahrnimmst, lockt
der Geisterseher dich vielleicht herüber und unversehens befindest du dich im fremden Zauberreiche[.]
(AS 325)
Wider erwartend desillusioniert der reisende Enthusiast im Postskript alle Erscheinungen der
Silvesternacht. Sämtliche Figuren werden zu Medienprodukten reduziert, zu Kunst-Objekten
mortifiziert. Kein Bild bleibt von der ‚Enttäuschung‘ verschont, bloßes Trugbild zu sein –
nicht einmal das ihrer eigenen Repräsentation.428 Indem er selbst die Ereignisse in Textpassagen, die der Leser als ‚real‘ ansehen ‚muss‘ zu Phantasieprodukten erklärt, zieht er eine „falsche“ Grenze zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und Phantasie. Da der ganze Text fiktiv
ist und von ihm verfasst worden ist, hat er allerdings auch Recht, wenn er das gesamte Geschehen in seinem Inneren verortet. Damit werden implizit die Aussagen des fiktiven Herausgebers relativiert. Es gäbe keine Außenwelt im Text. Auch er wäre nur als ein unzuverlässiger
Erzähler in diesem Vexierspiel anzusehen, was besonders der Titel des dritten Kapitels, „Erscheinungen“, deutlich macht. Seine semantische Doppeldeutigkeit vermag sowohl das Erscheinen von Spikher und Schlemihl auf der Szene zum Ausdruck bringen, als auch die Möglichkeit eines bloß wahnhaften und halluzinierten Geschehens suggerieren. 429 Auch andere
vieldeutige Begriffe setzten weite Interpretationsrahmen wie Traum,430 Abenteuer, Geliebte,
426
Die Anführungszeichen setze ich, da ich als Peritext zu den Abenteuern der Silvesternacht oben den gesamten
4.Band der Fantasiestücke jenseits der Erzählung vom „Vorwort des Herausgebers“ und dem „Postskripts des
reisenden Enthusiasten“ bezeichnet habe.
427
Vgl. Berger 1978, 106-138, hier 114f.
428
Mazza 2005, 153-178, hier 169.
429
Vgl. Berger 1978, 106-138, hier 115.
430
Es ist bekannt, dass Träume eine ähnliche Funktion wie Schwellen, Passagen, Spiegel, Rahmen, Fenster oder
integrierte Gemälde besitzen. Vgl. Kremer, Detlef: Traum als Präfiguration, topologische Schwelle und Verdichtung des romantischen Textes, in: Alt / Leiteritz 2005, 113-128, hier 119.
85
Sturm, Überraschung, die anlassbezogen zusammen mit den Erzählrahmen besprochen werden.
Vor einer Betrachtung der Frames, die dem Herausgeber-Rahmen untergeordnet sind, erscheinen ein paar Beobachtungen zu seiner maximalen Ausdehnung angebracht zu sein. Der
sogenannte Tagebuch-Text besitzt zwei Fußnoten, die sowohl vom Herausgeber, als auch
vom reisenden Enthusiasten stammen können.431 Nachdem auf Peter Schlemihls wundersame
Geschichte verwiesen worden ist (vgl. AS 337), identifiziert ein weiterer Kommentar das im
Text vorkommende Gift, das eine rasche tödliche Wirkung entfaltet (vgl. AS 355). Es kommt
in einem Abschnitt des Tagebuchs zum Einsatz, in dem der reisende Enthusiast eine fremde
Erzählung paraphrasiert und möglicherweise auch selbst kommentiert. Da er aber mit der Zusendung des Manuskripts an den fiktiven Herausgeber Hoffmann seine Macht darüber verloren hat, hat dieser letztendlich gestalterischen Zugriff auf den kompletten Text erhalten. Die
Überschrift „Postskript des reisenden Enthusiasten“ ist sicherlich als Eingriff des fiktiven
Herausgebers anzusehen.
Das Fantasiestück aus dem Tagebuch des reisenden Enthusiasten wird von durchnummerierten Überschriften in vier größere Abschnitte eingeteilt. Die ersten drei folgen zusammen mit
einem Postskript (nach dem vierten Abschnitt) einer chronologischen Anordnung. Diese wird
allein von dem vierten Abschnitt, Der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild, durchbrochen,
da sie als eingearbeitetes Fremdmaterial weiter zurückliegende Ereignisse als der übrige Text
behandelt.432
Im Zentrum des ersten Kapitels steht Die Geliebte,433 vielmehr seine Ex-Geliebte. Als autodiegetischer Erzähler schildert er einen heftigen Zustand psychischer Erregtheit, dessen Folge
eine Flucht ist: „Wild rannte ich Hut und Mantel vergessend hinaus in die finstre stürmische
Nacht!“ (AS 325). Er macht sich bewusst, dass auch in seinem Inneren ein Sturm tobt und
beruhigt sich. Langsam erinnert er sich an die vorangegangenen Ereignisse. Die Floskeln einer vertrauten, mündlichen Redesituation „Du weißt es ja“ (AS 326) oder „Das weiß ich recht
gut“ (ebd.) nehmen ab. Man erfährt allmählich, was man eigentlich schon alles wissen soll.
Die Ausgangssituation der Handlung stellt sich folgendermaßen dar. Der reisende Enthusiast
wird auf einer Straße Berlins von einem Justizrat angesprochen und zu dessen Neujahrs-
431
Es bleibt unklar, ob diese fiktiven Anmerkungen, als allographe (Urheber: fiktiver Herausgeber) oder als
aktoriale Kommentare (Urheber: reisender Enthusiast) zu interpretieren sind, bedient man sich der Begrifflichkeit Genettes. Dadurch, dass sie auf jeden Fall vom empirischen Autor stammen, besteht theoretisch auch die
Möglichkeit einer authentischen auktorialen Äußerung.
432
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 49.
433
Im Gegensatz zur verwendeten Werksausgabe werden hier die Kapitelüberschriften kursiv gesetzt und nicht
in Großbuchstaben wiedergegeben.
86
Gesellschaft eingeladen. Eine Überraschung wird dem Musikliebhaber versprochen – vermutlich der Auftritt des berühmten Klaviervirtuosen Berger. Für den reisenden Enthusiasten bedeutet das allerdings die Wiederbegegnung mit einer schönen Frau. Nach anfänglichen Zweifeln erkennt er in ihr seine Ex-Geliebte Julie, die er fortan mehr oder minder ungeschickt erneut umwirbt. Freundschaftlich bis kühl fallen deren Reaktionen auf die Avancen aus. Sie ist
inzwischen verheiratet. Das Auftreten ihres angetrunkenen Ehemanns434 schlägt den abermals
überraschten reisenden Enthusiasten in die Flucht: „Auf ewig verloren! schrie ich auf. …
Hinaus – hinaus rannte ich in die stürmische Nacht. –“ (AS 330).
Inhaltlich ist nun der Beginn des Abschnitts über Die Geliebte wieder erreicht. Es könnte jetzt
erneut die psychische Verfassung der Eingangssequenz geschildert werden:435 „Ich hatte den
Tod, den eiskalten Tod im Herzen“ (AS 325). Anfang und Ende des dargestellten Zeitraums
scheinen fast willkürlich gesetzt worden zu sein. Die dem Abschnitt vorangehende Überschrift und die Markierung des nächsten Kapitels isolieren also eine Texteinheit, die als verschriftlichte Endlosschleife von Gedanken, die um die Erinnerung an die verlorene Geliebte
kreisen, konzipiert worden ist. Im Inneren des Enthusiasten wiederholt sich pausenlos das
äußere Geschehen – will man sich die Rezeptionsanleitung des fiktiven Herausgebers in Erinnerung rufen.
Der zweite Teil des Tagebucheintrags, Die Gesellschaft im Keller, knüpft zeitlich an die
Flucht des reisenden Enthusiasten aus der Gesellschaft des Justizrates an, die in den Teufelskreis der Erinnerung geführt hat. Obwohl die nun folgende Episode keine zyklische Struktur
aufweist, wiederholt sich der Aufbau des vorangegangenen „Abenteuers“ in groben Zügen.
Nächtliche Jagden durch die Straßen des sturmgepeitschten Berlins rahmen den Aufenthalt in
einer Kellerwirtschaft mit Bierausschank. Den räumlichen Wechsel von außen nach innen
markiert ein Dialog der Wirtsleute, der in Dramenform notiert ist (vgl. AS 331f.). Dieses auf
den ersten Blick nur redundant erscheinende Gespräch wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang wohl deshalb vernachlässigt, weil es E.T.A. Hoffmann in der zweiten
Auflage der Fantasiestücke tilgt.436
Diese kurze, szenisch notierte Episode, verdeutlicht mehrere inhaltliche und strukturelle
Sachverhalte. Erstens gibt es ein gesellschaftliches Oben und Unten, das Auswirkungen auf
434
Dass Ehemann und Justizrat miteinander identisch sind, lässt sich nicht anhand des Textes erhärten, wird aber
zuweilen behauptet. Vgl. z.B. Derjanecz 2003, 51.
435
Vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 167 und May 2003, 7-22, hier 147.
436
Textstriche bedeuteten Textveränderungen und ein Honorar. In den Lesarten der Werksausgabe ist der Textstrich korrekt als Ersetzung markiert, wodurch er allerdings wenig ins Auge fällt. Vgl. Steinecke 1993, 533-858,
hier 810f.
87
die Raumordnung hat.437 Zweitens ‚bestätigt‘ sich die Unzuverlässigkeit des reisenden Enthusiasten als Erzähler.438 Drittens muss sich die folgende Episode zu vorgerückter Stunde abspielen. Es sind keinerlei Gäste mehr in der Schankstube; die Wirtsleute rechnen ab. Selbst
angeheiterte Soldaten befinden sich auf dem Heimweg in die Kaserne. Der Jahreswechsel
muss sich unmerklich vollzogen haben.
Das unfreiwillig belauschte Gespräch lässt den reisenden Enthusiasten von der Absicht Abstand nehmen, den Thiermannschen Laden zu betreten und stattdessen in die Kellerkneipe
hinabzusteigen. Die perplexen Wirtsleute wagen nicht, den unzureichend bekleideten Stammgast von der Schwelle zu weisen und bedienen ihn wie üblich. Nach und nach finden sich im
Keller noch zwei weitere Gäste ein, deren ungewöhnliches Verhalten die Neugier des reisenden Enthusiasten weckt. Seine Versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und bekannt zu
werden, scheitern am Misstrauen derselben. Die Szene kann als eine einzige Kommunikationsstörung betrachtet werden.439 Das Ahnen gemeinsamer Verlusterfahrungen erschreckt die
Tischgenossen, da sie die Entdeckung und Thematisierung ihrer defizitären Erscheinungsbilder fürchten. Der reisende Enthusiast bemüht sich, einen weniger persönlichen Gesprächsstoff
zu finden, wechselt in das Gebiet der Kunst und ergeht sich in einem „enthusiastischen“ Lob
des Malers Philipp: er habe im übertragenen Sinne das Bild der Prinzessin aus dem Spiegel
gestohlen. In der folgenden Auseinandersetzung, ob überhaupt eine solche Mimesis in der
Kunst möglich sei, lüften die Unbekannten gegenseitig ihre Geheimnisse. Sie kennen sich
bereits. Der große Mann entpuppt sich als Peter Schlemihl, der seinen Schatten verkauft hat;
der kleine Mann als ein Mensch, der sein Spiegelbild verschenkt hat. Die Identität des letzteren wird erst im Kapitel IV gelüftet: er heißt Erasmus Spikher – und nicht Suwarow. Den
Namen des russischen Generals verbindet man mit Spektrophobie. Im Keller kommt es spätestens zur Diffusion der Wahrnehmung von inneren und äußeren Vorgängen, die laut Herausgeber charakteristisch für das Erleben des reisenden Enthusiasten ist. Peter Schlemihl ist
437
Der ärmliche Bierausschank hat zu Silvester Umsatzeinbußen erlitten, weil der auf Straßenniveau befindliche
Thiermannsche Laden alle „vornehmen Herren“ als Kunden abgezogen hat (AS 332), so dass nur zehn oder elf
Menschen im Keller zechten. Der Nachbar lockt mit Gemälden an den Wänden und dem Ausschank von Modegetränken die Leute in seine Verkaufsausstellung von Kunstwerken seiner Zuckerbäckerei. Der Thiermannsche
Laden tritt mit Rum und italiänischem [sic!] Salat in Konkurrenz zu Stettiner Bier und „Wein des Nordens“ (AS
335), also Produkten aus dem deutschen Sprachraum. Hier deutet sich bereits der Nord-Süd-Gegensatz an, der
für die Spannungen in der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild sorgt. Die Vermengung der ‚Oberwelt‘ und
der ‚Unterwelt‘ in der Traumsequenz des dritten Kapitels zu einem „italiänischen Salat“ (ebd. u. vgl. AS 340f.)
ist noch nicht erfolgt.
438
Die Wirtsleute wundern sich also über das Ausbleiben des Stammgastes als zwölften Kunden, der „zuweilen
allerlei närrisches Zeug vorschwatzt“ (AS 332). Damit bestätigen wohl weniger gebildete Leute als der Herausgeber im (!) Text des reisenden Enthusiasten dessen Selbst- und Fremdeinschätzung, desorientiert zu sein.
439
Vgl. Frenschkowski 1995, 135.
88
die fiktive Figur einer literarischen Erzählung Chamissos.440 Selbst wenn der Leser diesen
intertextuellen Bezug mangels Vorwissens nicht erkennt, bleibt ihm kaum das Eindringen des
Phantastischen in die bislang ‚realistisch‘ anmutende Welt der Handlung verborgen. Am Ende
fliehen Spikher und Schlemihl, deren Geheimnisse durch sie selbst offenbar geworden sind.
Der Wirt setzt daraufhin den reisenden Enthusiasten wegen seines Umgangs mit den unheimlichen Personen auf die Straße. Seine Flucht aus der Gesellschaft des Justizrates in Kapitel I
hat also noch kein Ende gefunden. Da mit seinem Mantel auch der Haustürschlüssel dort zurückgeblieben ist und die taube Aufwärterin (vgl. AS 338) nicht ohne Ruhestörung der Nachbarschaft zu verständigen ist, steuert der reisende Enthusiast ein Ausweichquartier im dritten
Kapitel an.
Die Überschrift desselben lenkt die Aufmerksamkeit auf Erscheinungen, für die ein Zimmer
im „Goldenen Adler“ den situativen Rahmen abgibt. Es bleibt dem Leser überlassen, was er
als Erscheinung wertet. Die erste könnte bereits die „spukhafte“ Gestalt Spikhers sein (AS
341), die der reisende Enthusiast schlafend im Bett vorfindet. Von einem Kellner wird tatsächlich am nächsten Tag die Doppelbelegung des Zimmers und damit die Existenz Spikhers
– unabhängig von den Wirtsleuten der Kellerschenke – bestätigt. Eine potentielle Erscheinung
hat der Schminktisch zu bieten, dessen Spiegel der reisende Enthusiast enthüllt. Eine wohl
imaginierte Metamorphose verwandelt sein Gesicht in ein Porträt der verlorenen Geliebten.
Sehnsucht und Liebe lassen ihn „Julia“ seufzen – und unwillentlich einen Alptraum bei Spikher induzieren, die Erinnerung an seine fatale Liebesbeziehung zu Giulietta, deren Namen er
schließlich ebenfalls seufzt. Traumgestalten sind möglicherweise die zentralen Erscheinungen
in diesem Kapitel. Auf die Betrachtung eines Träumenden, folgt ein relativ umfangreiches
‚Traumprotokoll‘ des reisenden Enthusiasten. Den Perspektivwechsel markiert eine kurze
Konversation mit Spikher, den er geweckt hat. Rasch klärt man die Situation. Nach Spikhers
Bekunden übt der reisende Enthusiast eine solche Gewalt über ihn aus, dass er sich genötigt
sieht, seine Leidensgeschichte dem „Unglücksgenossen“ zu erzählen. Allerdings ist er der
damit verbundenen, emotionalen Belastung nicht gewachsen. Die Stimme versagt ihm. Beide
Männer werfen sich auf dieselbe Weise in das gleiche Bett.
Erasmus Spikher findet keine Ruhe. Nach der gescheiterten mündlichen Mitteilung seiner
Geschichte, greift er zur Feder. Sein Adressat erwacht schließlich durch den blendenden
Schimmer (vgl. AS 340) der Morgensonne und schläft über der Beobachtung des Schreibenden wieder ein. Offenbar löst die Antizipation der Geschichte nun einen Alptraum bei ihm
aus: erneut ist er auf einer Gesellschaft des Justizrats, doch außer seiner Geliebten sind auch
440
Dazu mehr im Kapitel „9. Die Intertexte von Hoffmanns Erzählung Die Abenteuern der Silvesternacht“.
89
Peter Schlemihl und Spikher anwesend. In den Gästen sieht er lebendig gewordene Zuckerfiguren aus dem Thiermannschen Laden, auf dessen Auslagen er immerhin einen flüchtigen
Blick geworfen hat. Nach und nach verwandeln sie sich in Tiere. Zusammen mit dem Justizrat
greifen sie den Träumenden an. Ihm bleibt nur noch die unbewusste Flucht in den Wachzustand, um sein Leben zu retten.
Spikher ist inzwischen fort. Auf dem Tisch liegt ein Blatt Papier, von wem auch immer beschrieben.441 Diese Einschränkung muss man machen, da der reisende Enthusiast in seinem
Postskript die selbst gesetzten Grenzen seines Traumes in Frage stellt. Mindestens das dritte
Kapitel, wenn nicht sogar die kompletten Abenteuer der Silvesternacht werden zum Traum
erklärt. Traum und fiktive Wirklichkeit sind aus der Perspektive des reisenden Enthusiasten
nicht zu unterscheiden.442 Damit diese Lesart nicht gestört wird, werden einzig und allein die
„Erscheinungen“ in der Überschrift des Kapitels markiert. Spikher wäre nur einer von vielen
Doppelgängern, die von der Phantasie des reisenden Enthusiasten erzeugt werden. Beide Alpträume stehen am Anfang und Ende des gemeinsamen Zimmeraufenthaltes und bilden somit
einen sich selbst spiegelnden Rahmen ihrer kurzen Unterredung. Der Leser macht die wiederholte Erfahrung, dass die Protagonisten im Traum ihr Schicksal verarbeiten und in modifizierter Form wiederholen. Dies korrespondiert mit der Erzählsituation. Sowohl Spikher als auch
der reisende Enthusiast schreiben ihre Erlebnisse auf, nachdem sie Spiegeltisch und Bett miteinander getauscht haben.443 Zudem durchlebt der reisende Enthusiast zweimal Spikhers
Schicksal: zunächst bei seiner Lektüre der Aufzeichnungen und dann bei der folgenden Überarbeitung. Da diese Teil der Fiktion ist, liegt eine mise en abyme vor.444
Er schickt dem fiktiven ‚Herausgeber-Hoffmann‘ nicht das Original oder eine Abschrift von
Spikhers Text, sondern fasst den Inhalt zusammen. Dies ergibt sich aus dem folgenden Passus: „Spikher hat manches Abenteuer aufgeschrieben, das ihm auf seiner Reise begegnete.
Am merkwürdigsten ist der Vorfall, welcher zuerst den Verlust seines Spiegelbildes ihm recht
seltsam fühlen ließ“ (AS 352).445 Bei diesem Vorgang ist offenbar auch der Wechsel von der
ersten Person Singular in die dritte Person Singular erfolgt. Diese Distanzierung vom Schicksal Spikhers hat der reisende Enthusiast konsequent durchgehalten. Bei der Absicht, das frisch
beschriebene Blatt zusammenzufassen (vgl. AS 341), muss er aber gescheitert sein. Natürlich
441
Bei Christian Baier sind Spikher und der reisende Enthusiast eine Person. Vgl. Baier 2010, 7-24, hier 15.
Schäfer 2007, 77-85, hier 84.
443
Vgl. dieselbe 2007, 77-85, hier 80 und Mazza 2005, 153-178, hier 172.
444
Vgl. dieselbe, 153-178, hier 173.
445
Wird hier auf die vom empirischen Autor Chamisso gestrichenen Abenteuer Peter Schlemihls mit den Siebenmeilenstiefeln angespielt, die ein Vakuum in der fertigen Erzählung hinterlassen haben? Vgl. Rogge, Helmut:
Peter Schlemiels Schicksale. Die Urschrift des Peter Schlemihl, in: Chamisso, Adalbert von: Peter Schlemiels
Schicksale. Hg. v. Helmut Rogge, Leipzig 1922, 1-16, hier 7.
442
90
ist die „Geschichte von dem verlorenen Spiegelbild“ wesentlich kürzer als Peter Schlemihls
wundersame Geschichte. Diese kann aber nicht als das Maß für die fiktive Vorlage gelten. Es
ist nur von einem Blatt die Rede. Selbst wenn man eine geringe Schriftgröße, einen engen
Zeilenabstand und eine beidseitige Verwendung des Blattes bis zu seinen Rändern durch
Spikher annimmt, erscheint die Inhaltsangabe umfangreicher als das Original zu sein.
Spikher kann in der Kürze der Zeit, keine umfangreichen Memoiren wie Schlemihl geschrieben haben – schon gar nicht mit Feder und Tinte einen mikroskopischen Text, der allerdings
schon bei einer ordentlichen Ausführung eine Abschrift notwendig machen würde. Der reisende Enthusiast ist demnach beim Entziffern und Zusammenfassen in ein stellenweise ausführlicheres Nacherzählen geraten. Dafür sind Abenteuer gestrichen worden, die ihn oder den
fiktiven Herausgeber nicht interessiert haben.446 Der reisende Enthusiast will sein eigenes Ich
aus dem I. Kapitel schriftstellerisch im IV. Kapitel gespiegelt sehen.447 Die Abenteuer der
Silvesternacht präsentieren sich als eine Geschichte des mehrmaligen, fantasievollen Abschreibens.
Der gesamte Tagebuchtext umfasst zusammen mit dem Postskript des reisenden Enthusiasten
als Rahmen das 4. Kapitel, Spikhers Geschichte vom verlorenen Spiegelbild. Da der reisende
Enthusiast seine Version von Spikhers Schicksal darbietet, entsteht keine intradiegetische
Erzählebene par excellence. Die erzählerische Einheit begrenzt die Setzung eines markanten
Frames. Er besteht aus der Überschrift und dem „Ende von der Geschichte von dem verlornen
Spiegelbild“ (AS 359). Aufgrund ihrer zahlreichen Leerstellen lässt sie sich nicht sinnvoll
zusammenfassen, ohne ergänzende Annahmen hinzuzufügen. Durch Hervorhebung der Faktenlage wird versucht, hier die Interpretation und das Grundverständnis dieses Textabschnittes
deutlich zu machen. Erasmus Spikher unternimmt – möglicherweise zu Bildungszwecken448 –
eine Reise nach Italien. In seiner Heimat nördlich der Alpen lässt er eine offensichtlich sehr
gut versorgte Familie zurück. Nach dem Abschied von der ‚namenlosen‘ Ehefrau und dem
noch jungen Sohn Rasmus wechselt der Schauplatz nach Florenz. Dort schließt sich Spikher
anderen Deutschen an, die ihr Junggesellendasein mit einheimischen Damen genießen. Seine
eheliche Treue macht ihn zum Außenseiter in diesem libertären Kreis. Auf einem Gartenfest
scheint man direkt eine Kurtisane auf ihn anzusetzen. Am Ende unterliegt er Giuliettas Ver446
Es gibt nicht nur redigierende, kürzende Eingriffe in den Text. Vgl. Wilpert 1978, 61.
Vgl. Stiegler 1988, 160: wenig überzeugend mit Derjanecz 2003, 60 begründet.
448
Schwache Indizien sprechen dafür, dass Spikher ein Maler ist. Die Bezugnahme auf Gemälde (s.u.) in dem
Textabschnitt, setzen zumindest gewisse Kenntnisse in dem Bereich der bildenden Kunst voraus. Zudem existiert
ein Aquarell von Hoffmann, das folgende Bildunterschrift besitzt: „Der Kapellmeister Kreisler in Haustracht,
nach dem Leben gezeichnet von Erasmus Spikher“, das auf Anfang 1815 datiert wird. Vgl. die Abbildung und
Beschriftung bei Kleßmann, Eckhart: E.T.A. Hoffmann oder die Tiefe zwischen Stern und Erde. Eine Biographie, Stuttgart 1988, 341.
447
91
führungskünsten und verliebt sich in sie. Ihr entgegenkommendes Verhalten hält er fälschlicherweise für Gegenliebe. Spikher ignoriert ihren schlechten Ruf, für den auch ihr stadtbekannter Verkehr mit dem allseits gefürchteten Scharlatan und Wunderdoktor Dapertutto verantwortlich ist. Auf einem zweiten Gartenfest, das Giulietta auf ihrem Landsitz ausrichtet,
spielt die „Geliebte“ Spikher und einen italienischen Verehrer mit großer Wahrscheinlichkeit
mutwillig gegeneinander aus. Die Situation eskaliert. Die Eifersüchtigen geraten aneinander.
Der unbewaffnete Spikher wird Ziel einer Messerattacke, die ihn zur Notwehr zwingt und mit
dem Totschlag des Angreifers endet.449 Giulietta rettet Spikher vor den aufgebrachten Gästen
in ihr Landhaus und organisiert seine Flucht vor der Obrigkeit mittels Kutsche. Vorher gelingt
es ihr, ein Liebespfand zu erpressen: sein Spiegelbild. Er kann es nur mit Leib und Seele wieder auslösen, wozu er völlig frei sein muss, d.h. sich seiner Familie entledigen muss. Den
Folgen seines Handelns wird er sich erst langsam bewusst. Als er im Lenker des Fluchtfahrzeuges Dapertutto erkennt, springt er panisch ab. Überall wo er nun erscheint, selbst in seinem eigenen Haus, verbreitet er Angst und Schrecken, sobald das Fehlen des Spiegelbildes
bemerkt wird. Dapertutto und Giulietta verfolgen ihn wie böse Geister an jeden Ort und versuchen ihn in den vorbereiteten Teufelspakt zu treiben, der logischerweise ihm und seiner
ganzen Familie das Verderben bringen würde. Durch die Anrufung des Heilandes zusammen
mit seiner Frau schafft dieser wohl dauerhaft die „Höllengesindel“ (AS 357) zu bannen. Die
Gatten finden zwar wieder zueinander, aber die Frau verlangt, dass Spikher aus gesellschaftlichen Gründen das Haus meidet.
449
Vgl. Berger1978, 106-13, hier 109. Dies muss betont werden, da auch in der Literatur von Mord zuweilen die
Rede ist. Vgl. z.B. Derjanecz 2003, 53.
92
3.2. Die Erzählrahmen von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte
Will man die Funktionsweise der erzählerischen Rahmen von Peter Schlemihls wundersamer
Geschichte verstehen, muss man sich auf diese einlassen. Da Chamisso von Auflage zu Auflage das komplexe Gefüge der beigegeben Paratexte verändert, wird einem beim Nachvollziehen ihrer Entwicklung ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt. Das sensible Reagieren der Frames auf die Rezeptionsgeschichte rechtfertigt die Auseinandersetzung mit den Arrangements von 1825 und 1835, obwohl Hoffmann († 1822) nur die Textfassung von 1814
erlebt hat. Seine Abenteuer der Silvesternacht (erste Januarwoche 1815) reagieren unmittelbar
auf die Erstauflage (1814). Ihr hoch virtuoses Spiel mit Faktualität und Fiktion setzt er fort.
Hoffmanns Werk ist auch einer von Chamissos Anlässen, die Karten neu zu mischen.
In allen Frame-Systemen Chamissos geht es um die Konstruktion einer fiktiven Geschichte
des Manuskripts von Peter Schlemihls Memoiren, das in Realität der empirische Autor Chamisso geschrieben hat. Suggeriert wird aber folgendes: nicht er, sondern Schlemihl sei der
Verfasser. Chamisso habe nur den Text erhalten. Damit vollzieht sich seine Metamorphose
zur Figur innerhalb der Fiktion. Diese legt die tatsächliche Entstehungsgeschichte von Peter
Schlemihls wundersamer Geschichte offen. Darum sei sie kurz der Bestand an epitextuellen
Vortexten referiert.450
Chamisso hat im Spätsommer 1813 Peter Schlemihls wundersame Geschichte in Schloss
Kunersdorf bei Wriezen verfasst. Das erhaltene Manuskript präsentiert sich mit seinen zahlreichen Spontankorrekturen als eine Reinschrift, die bis zur Veröffentlichung wenige, aber
deutliche Überformungen erfahren hat. Sie betreffen den Titel und die Wanderung mit den
Siebenmeilenstiefeln gegen Ende des Werks. In Helmut Rogges Rekonstruktion der „Urschrift“ stehen noch das beschleunigte Reisetempo und die ausgedehnte Wegbeschreibung im
Widerstreit miteinander. Chamissos ‚Verbesserung‘ des Abschnitts mittels eines umfangreichen Textstrichs berücksichtigen bereits die beiden Abschriften, die unbekannte Kopisten für
ihn angefertigt haben. Nachdem er sie in sprachlicher Hinsicht noch einmal durchkorrigiert
hat, gehen sie an seine Freunde, den Buchhändler Eduard Hitzig und den Dichter Friedrich de
la Motte-Fouqué. Beide haben großen Anteil an der Entstehung des Werks genommen.
Da Hitzigs Exemplar geringfügig vom Wortlaut des Druckes abweicht, kann es nicht die Vorlage des Setzers gewesen sein. Dies bestätigt nur, dass hauptsächlich Fouqué für die Herausgabe von Chamissos Werk verantwortlich gewesen ist. Seine Kopie gilt als verschollen, genauso wie die Druckvorlage, mit der sie möglicherweise identisch ist. So bleibt offen, wer der
450
Eine ausführliche tabellarische Auflistung der Textstufen und ihrer Unterschiede möge die Orientierung in
den folgenden Ausführungen unterstützen. Tabelle und folgender Absatz beruhen auf der Rekonstruktion von
Helmut Rogge. Vgl. Rogge 1922, 1-16.
93
empirische Autor des inhaltlich fiktiven Briefes Fouqués an Hitzig ist: Chamisso oder Fouqué. Nur das mit Fouqué gezeichnete Gedicht, das in die Rahmen von Peter Schlemihls wundersame Geschichte eingefügt ist, stammt nachweislich nicht von Chamisso. Fouqué hat es in
1807 sein Stammbuch eingetragen.451 Weil man in Chamissos Freundeskreis mit kollektiven
Schreibweisen experimentiert hat,452 dürfte ein kurzer Textbeitrag Fouqués als Herausgeber
des Peter Schlemihls wahrscheinlich sein.
Die Textstufen von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
In den Entwürfen zur Urschrift (nicht mehr erhalten)
(1) A. Schlemiel … (von Helmut Rogge geschlussfolgert)
Urschrift (später im Besitz des befreundeten Botanikers Schlechtendahl)
(2) W.A. Schlemiels Abentheuer, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.
Cunersdorff MDCCCXIII. [=1813]
Zeitweilig ist ein Untertitel vorgesehen: Als Beitrag zur Lehre des Schlagschattens.
Weil Hitzig hinter W.A. Schlemiel den näher bekannten A.W. Schlegel vermutet, ändert der überraschte Chamisso den Namen. Vermutlich ist zu diesem Zeitpunkt die ausführliche Reisebeschreibung noch nicht gestrichen.
(3) Peter Schlemiels Schicksale, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.
Cunersdorff MDCCCXIII.
Schon hier ist die Wanderung mit den Siebenmeilenstiefeln teilweise gestrichen.
Abschriften
für Fouqué (verschollen)
und Hitzig (in Walzel 1890 abgedruckt)
mit Widmung an Hitzig, Postskriptum der Vorrede und Schlusswort
(4a) Peter Schlemiels sonderbare Geschichte, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.
Cunersdorff MDCCCXIII. (vor der Korrekturlesung des Kopisten-Textes)
(4b) Peter Schlemiels wundersame Geschichte, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.
Cunersdorff MDCCCXIII. (nach der Korrekturlesung des Kopisten-Textes)
Druckvorlage (verschollen)
(5) Peter Schlemihl‘s wundersame Geschichte, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso.
Cunersdorff MDCCCXIII.
Druck der Erstauflage
(6) Peter Schlemihl‘s wundersame Geschichte, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso und herausgegeben von Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Nürnberg 1814.
Die fiktive Geschichte des Manuskripts nimmt nicht bei Chamisso, sondern bei Peter Schlemihl ihren Ausgang. Letzterer zeichnet seine Lebensgeschichte auf, um sie in Kunersdorf
einem Hausangestellten zu übergeben, der sie Chamisso aushändigt. Der Empfänger liest das
Manuskript und schickt es an Hitzig. Er solle es nach seiner Lektüre an den gemeinsamen
Freund Fouqué weitergeben. Dieser reicht den Text an einen Verlag weiter, der für seine Ver451
Vgl. Feudel, Werner: Anmerkungen, in: Chamisso, Adelbert von: Prosa, Bd. 2. Hg. v. Werner Feudel u.
Christel Laufer, Leipzig 1982, 691-776, hier 700.
452
Vgl. Theisohn 2009, 304ff.
94
vielfältigung und Verbreitung sorgt. Das Vorwort macht die zahlreichen Vermittlungsprozesse bewusst, die zwischen dem empirischen Autor und dem Publikum liegen. Damit wird eine
Distanz aufgebaut, die paradoxerweise gleichzeitig relativiert wird. Der Leser findet faktisch
eine Aufnahme in Schlemihls Freundeskreis, für den allein Schlemihls Memoiren bestimmt
sind.
Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814)
Titelkupfer
Titelseite
Widmungsgedicht des Herausgebers (Fouqué),
adressiert an den ersten Gewährsmann (Chamisso)
Widmung an Julius Eduard Hitzig
Vorwort
Brief des Herausgebers (Fouqué),
adressiert an den zweiten Gewährsmann (Hitzig)
Kürzerer Brief
in Tagebuchform
vom ersten Gewährsmann (Chamisso),
adressiert an den zweiten Gewährsmann (Hitzig)
Schlemihls lange, autobiographischen Aufzeichnungen,
adressiert an Chamisso
Die Erzählrahmen von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte.
3.2.1. Die Rahmen der ersten Auflage von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
Den äußersten Rahmen des Werkes bildet das Titelkupfer von Franz Joseph Leopold, da es
konventionell (links) neben der Titelseite (rechts) in das Buch eingebunden wird.453 Es präsentiert sich als Medienkombination bzw. als heteromedialer Frame. Eine Graphik und ein
geschwungener, handschriftlicher Schriftzug werden miteinander verzahnt.454 Die über eine
angedeutete Wiese schreitende Figur bekommt den Namen ‚Peter Schlemihl‘ zugeordnet.
Üppiger Bartwuchs und der männliche Vorname stabilisieren (abhängig vom Weltwissen) den
wechselseitigen Verweis. Die abgebildete Person entnimmt das erwähnte Manuskript einer
Botanisiertrommel. Auch der fehlende Schatten wird antizipiert.
453
Dazu Artikel "Titelkupfer", in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Bd.
185, Berlin 1844, 347 (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier http://www.kruenitz.uni-trier.de/,
17.10.2013): „Titelkupfer, ein Kupferstich, welcher dem Titel beigegeben, zur Seite des Titels gebunden wird,
und irgend einen Gegenstand im Werke anschaulich macht oder erklärt. Ist dieses der Fall, so ist die Seitenzahl
darauf bemerkt, wo man diese Stelle im Texte findet; ist das Kupfer aber eine bloße Zugabe zur Verzierung des
Werkes, oder enthält es das Bildniß des Verfassers oder einer andern hohen oder ausgezeichneten Person, so
fehlt natürlich jede auf das Buch sich beziehende Bemerkung, es ist dann als eine bloße Zugabe zur Auszeichnung des Werkes zu betrachten.“
454
Die Oberlängen der Buchstaben reichen in das unbegrenzte Bildfeld.
95
Auf der folgenden Titelseite erscheint der Name ‚Peter Schlemihl‘ erneut. Die bibliographischen Daten werden entsprechend der fiktiven Entstehungsgeschichte des Werkes inszeniert.
Der Hinweis auf das vorangegangene ‚Kupfer‘ erklärt sich aus der bekannten, zeitgenössischen Praxis, Bücher ungebunden zu verkaufen. Die Graphik und die aufzuschneidenden
Druckbögen haben erst zusammen finden müssen. Mit der Angabe kann der Rezipient die
Vollständigkeit des Medienprodukts prüfen, ehe er es ggf. zum Buchbinder bringt.
Auf die Titelseite folgt ein Gedicht Fouqués „An Adelbert von Chamisso“ (vgl. PS 79). Seine
beiden Strophen beziehen sich auf die zeitgeschichtliche politische Situation. Infolge der Koalitions- und Befreiungskriege haben ‚deutsche‘ und ‚französische‘ Soldaten gegeneinander
gekämpft.455 Eine wohlwollende Aufnahme deutschsprachiger Literatur aus der Feder eines
Exil-Franzosen ist offenbar keine Selbstverständlichkeit gewesen. Poetischer Wettstreit zwischen Freunden wird als konstruktive Form der Konfliktbewältigung angesehen, Krieg als
wechselseitige Schädigung von Verfeindeten abgelehnt. Umarmende Reime und ein Pluralis
majestatis betonen den Einsatz für den Frieden.
Fouqué übernimmt als bereits etablierter Dichter die Rolle eines Anwalts für den unbekannten
Chamisso, der sich als Verfasser von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte nirgendwo
offen zu erkennen gibt.456 Er spricht als Deutscher, was bei seinem Namen verwundern mag.
Seine Vorfahren sind Hugenotten gewesen, die nach der Aufhebung des Toleranzedikts von
Nantes 1685 das katholische Frankreich verlassen haben und über den Rhein geflohen sind.
Seine Familie lebt also nicht erst seit der Französischen Revolution, wie in Chamissos Fall,
im deutschen Exil. Die Rezipienten sollen sich von dem Zeitgeschehen lösen und Fouqués
tolerante Haltung einnehmen: „Wir treffen uns auf höherm Feld“ (ebd.).
Dies ersetzt keine Entschuldigung für die unerlaubte Publikation von Schlemihls Memoiren
gegenüber dem fiktiven Chamisso. Sie fehlt in auffallender Weise im späteren „Vorwort“, in
dem sich Fouqué einzig und allein für sein Vorgehen bei Hitzig rechtfertigt. Lediglich diesem
„Regierungs-Assessor und Buchhändler J.E. Hitzig in Berlin“ gilt auch die Widmung des
Werkes,457 für die in der Fiktion nur Fouqué, in der Realität dagegen Chamisso verantwortlich
sein kann.
Das bereits erwähnte „Vorwort“ vereinigt als eröffnendes Rahmenfragment zwei Briefe. Ihre
Inhalte bestätigen die Anordnung entgegen der chronologischen Progression, die aus den Datumsangaben hervorgeht. Peter Schlemihls autobiographische Aufzeichnungen setzten die
455
Vgl. Braun 2007, 226.
Es handelt sich um einen allographen authentischen Peritext, da Fouqué die Verse in Chamissos Stammbuch
schrieb (s.o.).
457
Erste Auflage vgl. Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Nürnberg 1814.
456
96
antichronologische Reihe der Brieftexte bis in die Vergangenheit bruchlos fort. Sie sind der
älteste Teil des Werkes. Mehrere metaleptische Anreden des Adressaten Chamisso verleihen
den Memoiren einen Briefcharakter.458 Schlemihl, Chamisso und Fouqué beschäftigen sich
retroperspektiv mit zurückliegenden Erlebnissen und rechtfertigen ihr Handeln.
Fouqués Brief an Hitzig ist ein allographer Peritext, bei dem es offen bleiben muss, ob er
authentisch von Fouqué verfasst wurde oder apokryph von Chamisso seinem Freund untergeschoben wurde. Der Brief jedenfalls richtet sich im letzten Absatz explizit an Peter Schlemihl,
dem der fingierte Raubdruck seines Manuskripts durchaus in die Hände fallen könnte: „[Dem]
Genius [für „die gedruckten Bücher“ (PS 19)], mein sehr lieber Schlemihl, vertraue ich Dein
Lächeln und Deine Tränen an, und somit Gott befohlen!“ (ebd.) Hinter der imaginären
Schicksalsmacht verbirgt sich der tatsächliche Autor des Frames. Indem er ständig das Publikum thematisiert, lenkt er dessen Aufmerksamkeit auf die appellativen Subtext. Schließlich
erfolgt die „Wiederverwendung“ des Briefes durch den Herausgeber Fouqué willentlich. Dem
Schriftstück kommt eine Kontrollfunktion innerhalb des Rezeptionsprozesses zu:
Auf allen Fall hat [d]er [Genius] ein unsichtbares Vorhängeschloß vor jedwedem ächten Geistes- und
Gemütswerke, und weiß mit einer ganz untrüglichen Geschicklichkeit auf- und zuzuschließen. (PS 19)
[… Welcher] Sterbliche kann die Schicksale eines Manuskriptes bestimmen, eines Dinges, das beinah
noch schlimmer zu hüten ist, als ein gesprochenes Wort. Da mach ichs denn wie ein Schwindelnder, der
in der Angst lieber gleich in den Abgrund springt: ich lasse die ganze Geschichte drucken. (PS 18)
Ob der Verfasser an die Wirksamkeit seiner Worte glaubt, sei dahingestellt. In der abenteuerlichen Argumentation schwingt eine gewisse Ironie mit. Man beachte den doppeldeutigen
Vergleich mit einem Schwindelnden. Fouqué beschönigt seine Indiskretion ferner mit einem
therapeutischen Wert des „grundehrliche[n] Buch[s]“ (PS 19): viele unbekannte Herzensverwandte sollen es mit uns lieben lernen und als Balsamtropfen für ihre heißen Wunden (vgl. PS
19) erhalten. Dreist rechtfertigt er sein rücksichtsloses Verhalten gegenüber Schlemihl, Chamisso und Hitzig als einen Akt von Nächstenliebe. Immerhin nimmt er alle ‚Schuld‘ auf sich
und wahrt so seinem Mittelsmann Hitzig das Gesicht.459
Der nun abgedruckte Brief Chamissos, ein auktorialer authentischer Peritext, wendet sich
hauptsächlich an Hitzig: „Dir nur, Eduard, meinem nächsten […] Freunde, […] vor dem ich
kein Geheimnis verwahren kann, teil ich es mit, nur Dir und, es versteht sich von selbst, unserm Fouqué, gleich Dir in meine Seele eingewurzelt“ (PS 17). Hinter dem Geheimnis verbirgt sich „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ als „Beichte“ (ebd.). Die Neugier des
Lesers wird geweckt. Mit Spannung erwartet er Enthüllungen.
458
Vgl. Braun 2007, 223.
Ob er ihm das Manuskript persönlich übergeben hat, oder mit begleitenden Worten zugeschickt hat, bleibt
offen. Eine schriftliche Äußerung aus seiner Feder fehlt in auffallender Weise; wird auch nicht in den folgenden
Auflagen „nachgereicht“.
459
97
Nebenbei erfüllt das Schreiben auch die Funktion einer Exposition. Es klärt die Beziehung
von Chamisso, Hitzig und Fouqué zu Schlemihl. Alle vier verbinden Erinnerungen an eine
gemeinsam verlebte Jugendzeit. In poetischen Teegesellschaften haben sie sich als SonettenDichter versucht (vgl. PS 17). Schlemihl hat dafür am wenigsten Interesse und Talent gezeigt.
Während des Schreibens sei er eingeschlafen, so dass er wegen seiner Trägheit als faul gegolten habe (vgl. ebd.). Nun hat er erstaunlicherweise ein längeres Manuskript, immerhin ein
„Heft“ (ebd.), zu Stande gebracht. Allerdings sei dessen Geschichte „unter des guten Mannes
Feder […] albern geworden“ (PS 18). Mit dieser metanarrativen Aussage gesteht der implizite
Autor ein, dass das Werk seiner Selbstkritik nicht völlig standhält. Wäre das gesamte Werk
nicht mit Gallizismen im Ausdruck und der Grammatik durchsetzt, läge nur eine Aktualisierung von traditionellen, literarischen Bescheidenheits- und Unfähigkeitstopoi vor. Der empirische Autor Chamisso, auf den sich Fouqués Gedicht bezieht, kann sich nicht verleugnen. Zeitlebens kämpfte er mit dem Deutschen, machte Grammatikfehler und gebrauchte die Worte
stilistisch heikel,460 so dass er auf Muttersprachler als Korrekturleser seiner Texte angewiesen
war. Aus der Not wird eine Tugend gemacht. Die tatsächlichen Mängel des fingierten Textes
dienen dem Beweis der Authentizität von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte.461 Sie
unterstützen die fingierte Negation ihrer Fiktionalität.
Dass die behauptete Faktualität der Geschichte nicht ernst zu nehmen ist, lässt sich an den
wiederholten Hinweisen auf die literarische Qualität des „Stoffes“ festmachen. Den ersten
gibt Chamisso preis, als er über die Weitergabe von Peter Schlemihls Memoiren befindet.
Hitzig solle nach seiner Lektüre das Manuskript an Fouqué weiterreichen, es aber bloß dem
Freunde, nicht dem Dichter mitteilen (vgl. PS 17): „Ihr werdet einsehen, wie unangenehm es
sein würde, wenn etwa die Beichte, die ein ehrlicher Mann in Vertrauen auf meine Freundschaft und Redlichkeit an meine Brust abgelegt, in einem Dichtwerke an den Pranger geheftet
würde[.] (PS 17)“ Der Briefschreiber befürchtet die Aneignung und literarische Veredelung
des Manuskripts durch Fouqué, der daraufhin ‚nur‘ für seine Veröffentlichung sorgt. Da sie
noch die angesprochenen Mängel aufweist, sind wohl Fouqués Texteingriffe gemäß der Herausgeberfiktion als gering zu veranschlagen.
Natürlich kann man aufgrund dieses paratextuellen Spiels462 den falschen Schluss ziehen, der
reale Dichter Fouqué habe eine Erzählung mit eingebauten Schönheitsfehlern verfasst. Bezeichnenderweise gibt man ihn auf dem Wiener Theaterzettel einer zeitgenössischen Dramati460
Vgl. Krusche, Dietrich: Der Fremde standhalten – aus der Fremde schöpfen, in: ders. (Hg.): Der gefundene
Schatten. Chamisso-Reden 1985 bis 1993, München 1993, 87-96, hier 88.
461
Vgl. Braun 2007, 228.
462
Vgl. ders., 223ff. Hier erfolgt eine Diskussion, ob Genettes Begriff „Paratexte“ auf diesen Fall anwendbar ist.
98
sierung von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte als Dichter der Vorlage an.463 Der
empirische Autor hat es wohl darauf angelegt, dass völlig Unwissende seine literarischen
Doppelgänger für eine Figur Fouqués halten. Schließlich ist Chamisso vor lauter Freundschaft
tief in Fouqués „Seele eingewurzelt“.
Nachdem die größte Unsicherheit hinsichtlich der Autorschaft hergestellt worden ist, bekommt ihre Historizität ein weiteres Fragezeichen verpasst. Ein zweites Mal werden die literarischen Qualitäten der Geschichte hervorgehoben: „Was würde nicht Jean Paul daraus gemacht haben!“ (PS 18) Je mehr der implizite Autor das Fiktive verschleiert, desto offensichtlicher wird es. Dieser Schwebezustand zwischen den Polen von Fiktionalität und Faktualität
ist gewollt. Man erinnere sich an Fouqués paradoxe Behauptung, der beste Schutz eines Geheimnisses, sei seine Veröffentlichung. Fiktionalität bestimmt das Geheimnis des Manuskripts.
Was verbirgt sich nun hinter dem Autoren-Label464 am Kulminationspunkt des peritextuellen
„Lügengebäudes“. Die Erwähnung des damals „populären“ Dichters Jean Paul evoziert ein
Gesamtwerk, das als literarisches System noch im Entstehen begriffen ist. Es partizipiert exzessiv an einer Modeerscheinung innerhalb der deutschsprachigen Literatur um 1800: dem
„Versteckspiel“ empirischer Autoren in fiktiven Herausgeber- und Verfasser-Rollen.465 Die
Analyse der erzählerischen Rahmen von der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht
wird es exemplarisch vorführen. Fazit: die wohl aufrichtige Huldigung an Jean Paul stellt eine
Leseanleitung für den Umgang mit den Rahmen von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte dar. Man darf sie weder zu ernst, noch zu leicht nehmen. Ein positiver Nebeneffekt
ist sicherlich, dass sich Jean-Paul-Leser in ihrem Geschmack bestätigt fühlen und dem Werk
Sympathie entgegenbringen.
Nach Ausweis der (als Epitexte zu betrachtenden) Quellen hat auch der Geehrte selbst Notiz
von der Geste genommen. Der Vielleser bittet seinen Freund Christian Georg Otto in einem
Brief, sich Peter Schlemihls wundersame Geschichte zu beschaffen, damit sie sich über dieses
seltsame Werk unterhalten könnten.466 Von dem Gespräch haben sich keinerlei Zeugnisse
463
Vgl. Wilpert 1978, 55. Der Name Chamisso hat demnach in der Habsburger Monarchie nicht jedem etwas
besagt, obwohl er schon mit Lyrik an die Öffentlichkeit getreten ist und sich an der Herausgabe eines MusenAlmanach beteiligt hat. Auch auf einer englischen Übersetzung des Peter Schlemihls gab man Fouqué als Verfasser an. Vgl. Hitzig, Julius Eduard: Vorrede des Herausgebers [zu: Peter Schlemihls wundersamer Geschichte],
Nürnberg 1839, abgedruckt in: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Hg. v. Dagmar Walach, Stuttgart 2003, 73-79, hier 77.
464
Hierzu vgl. Niefanger, Dirk: Der Autor und sein ›Label‹. Überlegungen zur »fonction classificateure«
Foucaults (Mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer), in: Heinrich Detering (Hgg.): Autorschaft. Positionen
und Revisionen, Stuttgart / Weimar 2002, 521-539.
465
Vgl. Wirth 2008.
466
Vgl. Jean Paul an Christian Otto, 1814 oder 1815 (?), Briefe 1809-1814, III. Abt., Bd. 6, 416.
99
erhalten. Jean Paul wird sich des Stoffes467 nicht bedienen, aber E.T.A. Hoffmann. Dass er
sich mit Jean Paul messen will, lässt sich nicht beweisen, wäre aber psychologisch nachvollziehbar. Jean Paul hat Hoffmanns Werke mit einem halben Verriss bedacht – und zwar nicht
irgendwo, sondern ausgerechnet im Vorwort der Fantasiestücke, das aus Marketing-Gründen
von Hoffmanns Verleger Kunz in Bayreuth bestellt worden war. Der Neuling auf dem literarischen Markt hat diesen Abdruck ertragen müssen.
Zurück zu Peter Schlemihl: der fiktive Chamisso schildert zuletzt, wie ihm Schlemihl das
Manuskript zugespielt hat. Wegen des fehlenden Schattens gibt er es in der Morgendämmerung ab, als der Empfänger noch im Bett liegt. Chamissos Postskriptum erwähnt eine Zeichnung als Anlage des Schreibens. Sie ist vom benachbarten Maler Leopold angefertigt worden,
der offenbar nach Motiven am Fenster gelauert hat. Zufälligerweise hat er den unfassbaren
Schlemihl auf Papier gebannt. In technischer Hinsicht kann seine Skizze nur als Vorlage für
die Druckplatte des Titelkupfers gedient haben,468 doch verweist es (von dritter Seite) auf
diese Medienkombination.
3.2.2. Peter Schlemihls Manuskript
Peter Schlemihls Memoiren konzentrieren sich auf seine mittlere Lebensphase, die Jahre zwischen Jugend- und Greisenalter. Ein einleitender Rahmen mit Angaben über seine Person und
Herkunft fehlt, gleichwohl ein rhetorisch herbeigeführter Schluss existiert (vgl. PS 78f.). Seine Adressaten kennen ihn. Die elf Kapitel seines Textes schildern rückblickend wenige
Kernerlebnisse ausführlich,469 die immer wieder mit dem Flucht-Motiv verknüpft sind.470 Die
dazwischen liegenden Zeiträume werden eher summarisch behandelt.471 Nur sechs Tage stehen im Fokus des erzählerischen Interesses, denn in ihnen fallen die Entscheidungen seines
Lebens. Sie rahmen in Dreier-Blöcken das Jahr, in dem er sich vergeblich in der bürgerlichen
Gesellschaft zu behaupten sucht. Auf die beiden schicksalshaften Wendepunkte seines Lebens
lässt er knappe Skizzen seiner Träume unkommentiert folgen.472
Zum Auftakt des ersten Drei-Tages-Block landet ein Schiff mit Peter Schlemihl an Bord im
Hafen einer norddeutschen Stadt. Seine finanzielle Situation lässt ihn sofortigen Gebrauch
467
Um Missverständnissen vorzubeugen: grob gesprochen: Hoffmann bedient sich Jean Pauls Formen, um den
Inhalt Chamissos zu transformieren. Beide Prätexte haben kaum etwas miteinander zu tun.
468
Vgl. Braun 2007, 234.
469
Vgl. ders., 215.
470
Vgl. Lehmann, Ruth: Der Mann ohne Schatten in Wort und Bild. Illustrationen zu Chamissos "Peter Schlemihl" im 19. und 20. Jahrhundert“ (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur
1487), Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995, 25.
471
Vgl. Braun 2007, 215.
472
Vgl. ders., 216.
100
von einem Empfehlungsschreiben machen, das an den wohlhabenden Sir Thomas John gerichtet ist. Dieser feiert im Garten seiner Villa gerade ein Fest. Er empfängt den Bittsteller,
um ihn mit einer Einladung zu dem gesellschaftlichen Ereignis ruhig zu stellen. Schlemihl
mischt sich glücklos unter die Gäste. Für ihn interessiert sich letztendlich nur der Teufel. In
der harmlos wirkenden Gestalt eines grau gekleideten Mannes gelingt es ihm, Schlemihl zu
einem scheinbar vorteilhaften Tauschhandel zu verführen. Sein Opfer verzichtet auf den Besitz seines Schlagschattens und erhält dafür einen Geldbeutel, dessen Inhalt unerschöpflich
ist.
Trotz dieses plötzlichen Reichtums kann Schlemihl kein sorgenfreies Leben genießen; denn
ohne Schatten fällt er überall auf. Sein defizitäres Erscheinungsbild erregt Mitleid, Spott und
vor allem Angst. Man verfolgt ihn, wenn er es nicht verbirgt. Da der graue Mann mit seiner
Beute schneller abgereist ist, als Schlemihl auf eine Annullierung des Geschäfts dringen kann,
muss er ein Jahr in Angst und Schrecken leben, bis ihn der Teufel erneut besucht.
Obwohl Schlemihl massiv unter seiner eingeschränkten Handlungsfreiheit leidet, erfüllt sich
die Hoffnung seines Widersachers nicht. Der Leidende lässt sich ein Jahr später zu keinem
weiteren unvorteilhaften Handel mehr nötigen. Die inzwischen erworbene Vorsichtigkeit und
Selbstdisziplin helfen ihm, der perfiden, psychologischen Kriegsführung473 des grauen Mannes zu widerstehen. Er kauft nicht den Schatten zurück und behält seine Seele. Der graue
Mann setzt daraufhin auf Zermürbungstaktik. Solange Schlemihl den Teufelspakt nicht unterschrieben hat, weiche er ihm nicht mehr von der Seite. Nach drei Tagen unterläuft dem dämonischen Begleiter in völliger Verkennung der Lage ein entscheidender Fehler. Bei einer
Machtdemonstration verrät er, wie er zu bannen ist. Schlemihl zögert keinen Augenblick, sich
von dem magischen Geldbeutel zu trennen. Er wirft ihn in eine Schlucht. Für ihn ist er kein
Glückssäckel474 mehr. Die Wirkung der symbolisch-rituellen Handlung bleibt nicht aus. Der
graue Mann verschwindet tatsächlich. Mit den geringen Überbleibseln seines Reichtums erwirbt Schlemihl auf einem Jahrmarkt ein Paar gebrauchte Stiefel, um für künftige Fußmärsche gerüstet zu sein. Nach wenigen Schritten stellt er fest, dass ihm die göttliche Gnade Siebenmeilenstiefel zugespielt hat. Nun kann es kein Verfolger mehr mit ihm aufnehmen.
Er siedelt sich in einer verlassenen Eremiten-Wohnhöhle in Ägypten an. Sie dient ihm in den
folgenden Jahren als Operationsbasis für naturwissenschaftliche Forschungen auf weiten
473
Vgl. Schwann, Jürgen: Vom ‹Faust› zum ‹Peter Schlemihl›. Kohärenz und Kontinuität im Werk Adelbert von
Chamissos [sic!] (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Tübingen 1984, 218ff.
474
Chamisso schreibt stets „Glücksseckel“ (z.B. PS 28). Jenseits der Zitate wird in dieser Arbeit die moderne
Schreibweise bevorzugt.
101
Teilen des Globus, die ihm ein gewisses Maß an Zufriedenheit bescheren. Er gibt die Hoffnung auf Erlösung auf und findet sich mit seinem Schicksal ab.
Seine neue Lebenseinstellung bildet einen starken Kontrast zu seinem Glücksstreben in dem
Jahr nach dem Verkauf des Schattens (zwischen den beiden Drei-Tages-Blöcken), das in
der Darstellung der Handlung bislang weitgehend übergangen worden ist. Voller Hoffnung
auf die Wiederbegegnung mit dem grauen Mann versucht er um jeden Preis gegen die Folgen
seiner Schattenlosigkeit anzukämpfen und die finanzielle Freiheit auszukosten. Er wird nachtaktiv, lebt in Luxus und feiert rauschende Feste. Als er mit der schönen Fanny flirtet, entdeckt
sie im Mondschein seine Schattenlosigkeit. Überstürzt flieht er aus der Hafenstadt und türmt
im wahrsten Sinne des Wortes über alle Berge. Jenseits des Gebirges siedelt er sich in einem
Badeort an. Er hofft sich unter den reichen Kurgästen verstecken zu können, da sie für außergewöhnliche Lebensgewohnheiten bekannt sind. Da man ihn fälschlicherweise für den preußischen König hält, der inkognito seine Lande visitiert, steht er im Fokus des allgemeinen
Interesses. Der Öffentlichkeit entkommt er nicht. Alles wiederholt sich, nur schmerzlicher als
das erste Mal. Schlemihl verliebt sich diesmal in die Tochter eines Försters; diese Mina
scheint ihm allem Anschein nach aufrichtig zugetan zu sein und seine Schattenlosigkeit geflissentlich zu übersehen. Eine geplante Hochzeit vereitelt die Intrige von Schlemihls Diener
Rascal. Nachdem er seinen Herrn gründlich bestohlen hat, verrät er dessen Geheimnis und
heiratet Mina gegen ihren Willen. Noch nicht zufrieden, treibt er seine kriminellen Machenschaften so auf die Spitze, dass er ins Visier der Justiz gerät und hingerichtet wird.
Das Unglücksjahr von Schlemihl und sein selbstzufriedenes Forscherdasein verbindet die
Mina-Nebenhandlung. Die noch vermögende Witwe gründet zusammen mit dem ehrlichen
Bendel (vgl. PS 68), einem anderen Ex-Diener Schlemihls, ein Hospital namens ‚Schlemihlium‘ (vgl. PS 76f.). In dieses wird sein Namensgeber unerkannt eingeliefert und gesund gepflegt, als er einen Unfall mit den Siebenmeilenstiefeln erleidet. Der völlig veränderte Protagonist gibt sich bis zu seinem Abgang nicht zu erkennen, was seine Schicksalsergebenheit
unterstreicht. Nur einen Zettel lässt er zurück: „Auch Eurem alten Freunde ergeht es nun besser als damals, und büßet er, so ist es Buße der Versöhnung“ (PS 77).
102
3.3. Chamissos Peter Schlemihl und Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht
Peter Schlemihls wundersame Geschichte wird als solitäres Werk Chamissos präsentiert. Anders als E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht ist es konzeptionell nicht in eine
mehrbändige Erzählsammlung eingebunden. Will man die Erzählrahmen beider dichterischer
Erzeugnisse miteinander vergleichen, muss man Hoffmanns Fantasiestück vorübergehend
isoliert betrachten. Der Durchgang von vier Bänden Fantasiestücken in Callot‘s Manier war
aber keineswegs umsonst. Er zahlt sich erst bei der Auseinandersetzung mit Hoffmanns Bezügen auf Jean Pauls Text richtig aus. Hoffmann und Chamisso bedienen sich bereits etablierter Formen primär ‚faktual‘ wahrgenommener Textgattungen, um einzelne Abschnitte ihrer
Erzählprosa zu gestalten. Das sind der Brief, das Tagebuch und die Memoiren, für die autodiegetische Erzähler bezeichnend sind.475 Entsprechend leicht können ihre schreibenden Subjekte die Grenzen der jeweils mit ihnen verbundenen Kommunikationssituationen überwinden. Schlemihls Memoiren erweisen sich letztendlich als ein langer Brief an Chamisso, der in
reflexiven Passagen angesprochen wird. Ein zunächst unbestimmtes „Du“, das erst im Postskript des reisenden Enthusiasten als Theodor Hoffmann zu identifizieren ist, wird bereits in
dem Tagebucheintrag über die Abenteuer der Silvesternacht angesprochen. Die vorgegebene
Indiskretion der ‚Briefempfänger‘ erklärt in der Fiktion die Publikation intimer EgoDokumente durch die empirischen Autoren. Gleichzeitig erweckt sie den Eindruck von Authentizität. Das unbestimmte Du des reisenden Enthusiasten sorgt stärker als bei Chamisso für
eine intensive Einbindung des Lesers ins Geschehen. Diese Sogwirkung bereitet der Konfusion von innerem und äußerem Geschehen den Boden, vor der der fiktive Hoffmann das Publikum im Vorwort warnt. Bei Chamisso wird nirgendwo der ‚Endverbraucher‘ direkt angesprochen.
Eine oberflächliche Betrachtung beider Werke wäre damit an ihrem Ende angelangt, doch die
aufgezeigten Gemeinsamkeiten verdecken eher tiefer greifende Parallelen. Nimmt man Peter
Schlemihls wundersame Geschichte nicht – wie gewöhnlich – in der Ausgabe letzter Hand
wahr, fallen die miteinander übereinstimmenden Strukturen deutlicher ins Auge. Drei Erzählebenen stehen einander gegenüber, nur ihr textlicher Umfang ist unterschiedlich gewichtet.
Sowohl bei Chamisso, als auch bei Hoffmann ereignet sich innerhalb der Fiktion gleich
zweimal die Aneignung fremder Texte.
475
Für Peter Schlemihl vgl. Braun 2007, 203.
103
Fouqué
Hoffmann
(Hitzig)
Chamisso
Der reisende Enthusiast
Schlemihl
Spikher
Chamisso schickt innerhalb der Fiktion vermutlich unverändert Schlemihls Manuskript an
Hitzig, der in der Erstausgabe mit keinem Brief in Erscheinung tritt. Erlaubterweise hat er das
Manuskript an Fouqué weitergegeben, der Chamissos Brief und Schlemihls Memoiren drucken lässt – mit einer Entschuldigung für sein Vorgehen bei Hitzig. Fouqués offener Brief,
wie auch die beiden nachfolgenden Texte, lassen keine Eingriffe von seiner Seite her erkennen. Gleichwohl ist ihm Alles zuzutrauen. Sobald ein Manuskript aus der Hand gegeben ist,
verliert sein Verfasser in der Fiktion, genauso wie in der Wirklichkeit, seine uneingeschränkte
Gewalt darüber. Hoffmanns Fantasiestück, das eine deutliche Aneignung eines fremden Textes ist, setzt sich intensiv mit dem Thema auseinander. Der reisende Enthusiast schreibt seine
Version von Spikhers Geschichte in das Tagebuch: er wechselt die Erzählperspektive, kürzt
und erweitert die Vorlage. Was darüber hinaus geschieht, bleibt der Phantasie überlassen. Der
Tagebucheintrag bzw. Brief wird von seinem Empfänger Hoffmann, dem fiktiven Herausgeber, mindestens um ein kommentierendes Vorwort bereichert, wenn nicht gar mit Fußnoten
ausgestattet. Der gewiss anfänglich höchst erregt wirkende Tagebuchschreiber dürfte sich
kaum mit dem sofortigen Anbringen von Fußnoten aufgehalten haben, da dieses den Schreibfluss hemmt. Die dargestellten, massiven Eingriffe in die fiktiven Original-Dokumente, werfen ein Schlaglicht auf die Aneignung des Intertextes durch den empirischen Autor Hoffmann
selbst. Er verändert und plagiiert nicht, wie ihm ab der 2. Auflage von Chamissos Peter
Schlemihl vorgeworfen wird. Der fiktive Herausgeber Fouqué bedient sich dagegen der
Druckerpresse aller Wahrscheinlichkeit nach als ‚Kopiergerät‘.476 Die Abenteuer der Silvesternacht folgen trotz allen Transformierens der Vorlage immer der Anordnung ihrer einzelnen
Textabschnitte.477 Die überarbeiteten Dokumente der verschiedenen Erzähler sind in abstei-
476
Das Problem der Raubdruckerei, die den Autoren vor den Zeiten des Urheberrechts das Überleben schwer
machten, werfen beide Texte nicht auf.
477
Schlemihls Memoiren werden hier als ein Textabschnitt betrachtet, obwohl dieser aus elf Kapiteln besteht.
104
gender Hierarchie geordnet. Je weiter die Erlebnisse zurückliegen, desto später werden sie im
Text in mehr oder minder chronologischer Progression geschildert. 478 Der Lesevorgang als
Ganzes ist als ein Zurück-Erinnern zu charakterisieren. Man muss sich wundern, dass Peter
Schlemihls wundersame Geschichte bislang in der Forschung kein Modell für die Rahmen
von Hoffmanns Fantasiestück abgegeben haben soll. Äußere Übereinstimmungen sah man
allein in den vorgeschobenen Erzählern.479
Zu diskutieren wäre noch, ob Hoffmann die sogenannte „Urschrift“ von Peter Schlemihls
wundersamer Geschichte näher in Augenschein nehmen konnte bzw. ob er von seinem
Freund Chamisso oder den gemeinsamen Bekannten Näheres über den Entstehungsprozess
der Erzählung erfahren hat? An der „Urschrift“ ist noch immer ablesbar, dass Chamissos Text
eine Zeit lang den Titel „W.A. Schlemiels Abentheuer, mitgetheilt von Adelbert von Chamisso“ getragen hat. Er hat mit dem Titel genauso gerungen, wie mit dem Deutschen, weshalb er
sich bekanntlich (s.o.) einer Menge marginaler ‚Co-Autoren‘ bedient hat. Hoffmanns Fantasiestück, das in der Fiktion seine Entstehung thematisiert, trägt als ‚Gemeinschaftswerk‘ einen
Titel, der „Abenteuer“ verspricht – nicht zu Unrecht, wenn man die zeitgenössische Wortbedeutung zu Grunde legt.
478
Auf die gegenläufige Zeitstruktur, die sich in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte durch die Rahmen
ergibt, hat erst Peter Braun hingewiesen. Vgl. Braun 2007, 225.
479
Vgl. Wilpert 1978, 60.
105
3.4. Die Erzählrahmen von Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft in der Neujahrsnacht
Jean Paul ist als Meister der Digression, der Verzögerungstaktik beim Erzählen, berühmt und
berüchtigt: Vorworte und Vorreden schieben sich, um jede Auflage vermehrt, vor die eigentlichen Texte; Extrablätter, Enklaven und Leseranreden bremsen ständig den Fortgang der
Handlung aus; Appendixe und komische Anhänge lassen die Werke nicht enden. Dies stößt
damals, wie heute, nicht unbedingt auf Gegenliebe bei den Lesern. Will man sich diesem
‚Wildwuchs‘ angemessen annähern, ist man selbst genötigt, scheinbar abzuschweifen. Dass
dies keine Folge von fehlender Distanz ist, soll die nachfolgende Skizze einer zielgerichteten
Vorgehensweise nahelegen. Zunächst werden Schlaglichter auf die Entstehungsgeschichte
von der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht geworfen und geistesgeschichtliche,
wie auch biographische Kontexte angedeutet (3.4.1.). In einem weiteren Schritt folgen die
Positionierung des Untersuchungsgegenstandes in dem Gesamtwerk Jean Pauls (3.4.2.) und
die Einbettung desselben in einen Sammelband des Dichters (3.4.3.). Schließlich kommt die
Sprache auf die Binnenstruktur der Erzählung und den gerahmten Inhalt (3.4.4). Die bisherige
Uneinigkeit über diesen rechtfertigt einen Überblick über die rudimentäre Forschung. Nach
dieser letzten Abschweifung wird die Handlung dann aus meiner Sicht zusammengefasst.
3.4.1. Die Entstehungsgeschichte und biographischen Epitexte der Niederschrift
Die Entstehungsgeschichte der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht ist lang, denn
etliche Ideen, die in dem Text ihre virtuose sprachliche Umsetzung gefunden haben, lassen
sich anhand schriftlicher Quellen aus Jean Pauls Feder relativ weit zurückverfolgen. Seine
Erzählung geht, wie die mit ihr verwandten ‚Traumdichtungen‘, auf eine Vanitas-Erfahrung
des Autors zurück.480 Am 15. November 1790 sah Jean Paul sich in einem Wachtraum als
Toter im Bett liegen und kam zum Schluss, dass es in Anbetracht der Ewigkeit gleich sei, ob
er jetzt oder erst in 30 Jahren sterben werde. Diese Erkenntnis hält das Tagebuch für den
wichtigsten Abend seines Lebens fest. Da er den erlittenen, psychischen Schock seiner „inneren Geisterbahnfahrt“481 in irgendeiner Form bewältigt musste, notierte er unmittelbar nach
seinem Erlebnis ein morbides ‚Szenario‘.482 Meiner Ansicht nach erhält es mit der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht eine Ausarbeitung. Es trägt den Titel Alten Jahres
480
Vgl. Pfotenhauer, Helmut: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie, München 2013, 89ff.
Zaremba, Michael: Jean Paul. Dichter und Philosoph. Eine Biographie, Köln / Weimar / Wien 2012, 91.
482
Zusammenhänge zwischen biographischer Erfahrungen und literarischer Werke sind immer Ermessenssache.
481
106
Abend – angezündeter Brantewein.483 Am Silvesterabend treffen sich in der Dämmerstunde
das sprechende Ich und vier Freunde, damit sie einander im fahlen Licht als Tote sehen können. Gemeinsam wollen sie visionär ihren Tod vorwegnehmen, den sie in etwa 30 Jahren erwarten. Dieses Gedankenexperiment verselbstständigt sich: der Engel der Zeit tritt auf und
zählt die Seufzer und Tränen des Menschengeschlechts – der nämliche erscheint zwar nicht in
der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht, doch den drei Propheten der Zeit ermöglicht er es dort, sich über die deprimierende Leidensgeschichte der Menschheit zu äußern. In
beiden Texten verdrängen allegorische Figurationen die Plastizität und vielleicht auch die
Evidenz des Absichtslosen. Ein denkbares Vorbild für das ‚spaßhafte‘ Gesellschaftsspiel der
vier Freunde am Alten Jahres Abend mögen die Gespräche in dem Reiche der Todten sein, die
der junge Jean Paul verschlungen haben soll: das mehrbändige Werk Davis Faßmanns erschien zwischen 1717 und 1740.484
Neun Jahre nach dem sogenannten November-Erlebnis hat die Nichtigkeit jeglicher Existenz
Jean Paul als Thema noch immer nicht losgelassen. In dem Notizheft, das Gedanken [aus dem
Jahr] 1799 enthält, findet sich folgender Eintrag:
Das Jahrhundert septembrisieren – das Ausläuten desselben – le[t]zte Akt desselben – Schwanengesang
– ihm die letzte Ehre erweisen – seine Bartholomäusnacht – kan[n] nicht erleben und ersterben – 2 To485
de[s]arten oder 2 Tauftage wie König von Frankreich – bei Leichen ludi funebres –
Zumindest die ersten fünf Stichpunkte haben Eingang in die Wunderbare Gesellschaft gefunden, wie meine folgende Zitat-Montage zeigt (alle Hervorhebungen: V.R.): Drei Propheten
der Zeit weissagen dem Erzähler die Zukunft bis „das Jahrhundert dezembrisiert ist“ (NG
1126), wobei sein inneres Ohr den zwölften Schlag (vgl. NG 1135) der Glocke begehrt. Nach
den schrecklichen Prophezeiungen ist er für „die letzte Szene des fünften Akts ganz kalt“
(NG 1136). Hermine singt „ihr liebstes Abendlied“ (NG 1138) dem „sterbenden Säkulum“
(NG 1123). Ihm wird die letzte Ehre erwiesen, ein Trauerflor angelegt, nachdem der Erzähler
sein „Inneres mit einem Trauertuch“ (NG 1124) ausgeschlagen hat.
Im Juni 1800 entstand schließlich die interessierende Erzählung – mitten in einer biographischen Umbruchsituation. Der wenig erfolgreiche Satiren-Dichter ist mit den Romanen Die
Unsichtbaren Loge und dem Hesperus schlagartig berühmt geworden; er lernte die meisten
483
Alle Äußerungen zu dem Text, vgl. Pfotenhauer, Helmut: Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur
Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu, in: Helmut Pfotenhauer / Sabine Schneider (Hgg.):
Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum. Die Halbschlafbilder in der Literatur, Würzburg 2006, 7-36, hier
30ff.
484
Vgl. Pfotenhauer 2013, 26.
485
Paul, Jean: Gedanken 1799, [Nr.] 146, in: ders.: Gedanken. Teil I: Text, II. Abt., Bd. 8. Hg. v. Eduard Berend
u. Winfried Feifel, Weimar 2000 (Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der
Preußischen Akademie der Wissenschaften, begründet v. Eduard Berend, 56ff. Bde. Hg. von Eduard Berend,
Weimar, I. Abt., Bd. 1, 1927), 21 (Hervorhebungen: V.R.).
107
Geistesgrößen seiner Zeit persönlich kennen.486 Zudem dachte er daran, sesshaft zu werden
und zu heiraten.487
Am Neujahrstag 1801 äußerte sich der Philosoph Johann Gottlieb Fichte zu einem satirischen
Angriff Jean Pauls auf seine Wissenschaftslehre. In der Auseinandersetzung mit der Clavis
Fichtiana,488 dem vorgeblichen Schlüssel zu seinem philosophischen System, kommt er zu
dem Ergebnis, dass dieser nicht passen würde. Daraufhin trifft man sich, diskutiert heftig miteinander und schließt eine Art Waffenstillstand.489
Auch von Seiten der Romantiker wird Jean Paul für kurze Zeit angegriffen. Im Poetischen
Journal 1800 veröffentlichte Ludwig Tieck Das jüngste Gericht, das sich über den HesperusDichter lustig macht und ihn im Himmel mit dem Spätaufklärer Friedrich Nicolai zusammentreffen lässt.490 Im Leben begegnete er diesem alten Herrn – im Übrigen ein Fichte-Gegner
(s.u.) – tatsächlich im Winterhalbjahr 1800.491 Tiecks Fiktion und die Realität sind gar nicht
so weit voneinander entfernt.
Theatralität, eine apokalyptische Vision, sowie Fichtes und Nicolais Gedankengut spielen –
selbst unter völliger Ausblendung der suspekten, biographischen Umstände – eine wichtige
Rolle in Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft; da sie mehr oder minder stark durch intertextuelle Bezüge markiert sind (s.u.). Vor diesem Hintergrund sei eine kleine Sammlung biographischer Details gewagt, die sich im Text wiederfinden: der Winter 1799/1800 war sehr
kalt;492 ein ungekämmter Jean Paul empfing, lediglich mit einem Schlafrock bekleidet und
einer Nachtmütze auf dem Kopf, seine Gäste493 – zudem litt er häufig auch an starker Migräne, die er bis zu seinem Lebensende mit Bier, Laudanum und Opium zu bekämpfen suchte. 494
Die fiktive Welt ist in tiefsten Winter versunken, der Erzähler leidet in seinem Arbeitszimmer
an Schüttelfrost und Kopfschmerzen; die rote Maske, eine der drei kostümiert erscheinenden
Propheten der Zeit, trägt eine Schlafmütze, während sie ihre unangenehmen Zukunftsvisionen
zur Sprache bringt. Unter dem Sofa sitzt ein Spitz, ein Hund, wie ihn Jean Paul später selbst
hielt.495 Im Frühjahr 1800 lernte er Karoline Mayer kennen, die er ein Jahr später – im Gegen486
Vgl. Pfotenhauer 2013, 135ff.
Vgl. Pfotenhauer 2013, 255.
488
Im Winter 1799/1800 geschrieben vgl. Pfotenhauer 2013, 220.
489
Alles zum Thema Fichte vgl. Langner, Beatrix: Jean Paul. Meister der zweiten Welt. Eine Biographie, München 2013, 308 und Pfotenhauer 2013, 220.
490
Vgl. Langner 2013, 344f.
491
Vgl. dieselbe, 307
492
Vgl. dieselbe, 292.
493
Vgl. dieselbe, 326
494
Vgl. Zaremba 2012, 73,163 und 204. Dass man den Biertrinker Jean Paul im Jubiläumsjahr 2013 auf den
braunen Sehenswürdigkeiten-Tafeln an den Autobahnen als Apostel der „Genussregion Oberfranken“ feiert, hat
in Hinblick auf sein Leiden schon komische Züge.
495
Vgl. Pfotenhauer 2013, 260.
487
108
satz zu seinen vorangegangenen Verlobten – tatsächlich heiratete.496 Eine verlobte ‚DichterGeliebte‘ lernt der Leser am Ende der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht kennen. Dazu unten mehr.
Weg von diesen ‚zufälligen‘ Parallelen: im Herbst 1800 nahm Jean Paul auch seine Arbeit an
seinem Hauptwerk, dem Titan wieder auf,497 das sich nach verbreiteter Ansicht an der Weimarer Klassik abarbeitet.498 Ihre Protagonisten hatte er gerade erst nach der Veröffentlichung
seines Erfolgsromans, des Hesperus, kennengelernt. Dass er nicht mit dem erlauchten Kreis
fraternisierte und sich beide Seiten von Anfang an missverstanden, ist bekannt. Gerade deshalb kann es von Bedeutung sein, dass Die wunderbare Gesellschaft in Weimar geschrieben
worden ist. Ob sich hinter den obskuren Masken und Charakteren der Geschichte etwa illustre
Mitglieder der Weimarer Gesellschaft verbergen, ist nicht bekannt.499 Würde man dem von
Michael Zaremba skizzierten, durchaus plausiblen Interpretationsansatz folgen, müsste man
den Text in Analogie zu einem Schlüsselroman lesen. Dies wird allerdings hier nicht geschehen. Da Jean Paul aber für eine auf Exzerpten basierte Montage-Technik bekannt ist, dürften
die Gedanken entsprechender Geistesgrößen auch auf intertextueller Ebene in dem „philosophischen Capriccio in Form eines Traumes“500 nachweisbar sein.
3.4.2. Jean Pauls „Jean Paul“ – der Erzähler vieler Werke
Der Jean-Paul-Biograph Michael Zaremba sieht in den Geschichten des Dichters – wohl nicht
zu Unrecht – die Modifikationen einer einzigen Meta-Erzählung, deren Gespinst von Bezügen
sich nur den Viellesern der Werke erschließe.501 Dementsprechend ist auch der äußerste Rahmen von Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht zu behandeln. Diese präsentiert sich als Teil eines komplexen Verbunds von Werken, der hier als Epitext nur soweit
skizziert wird, wie er zum Verständnis notwendig ist. Der empirische Autor Johann Paul
Friedrich Richter, den ich entsprechend der germanistischen Konventionen der Einfachheit
halber mit seinem wirkungsmächtigen Pseudonym „Jean Paul“ bezeichne, hat sich unter diesem Namen einen literarischen Doppelgänger geschaffen: einen Schriftsteller mit einer eindeutig fiktiven Biographie, der in verschiedenen Publikationen als Erzählerfigur und Protago-
496
Vgl. ders., 255ff.
Vgl. Langner 2013, 307.
498
Vgl. Pfotenhauer 2013, 237ff.
499
Vgl. Zaremba 2012, 169.
500
Vgl. Langner 2013, 313.
501
Vgl. Zaremba 2012, 306
497
109
nist auftritt.502 Für seinen Roman Hesperus oder 45 Hundposttage erhält der Schriftsteller 45
Lieferungen biographisches Material durch einen Botenhund zugespielt, die er im Auftrag
eines Korrespondenten literarisch ausgestaltet.503 Es handelt sich um die Schicksale von unehelichen Kindern zweier Adeliger, die in Pflegefamilien z.T. mit anderen Kindern aufgewachsen sind. Im Erwachsenenalter beginnt sich die durch Geheimniskrämerei unübersichtliche Situation weiter zu verwirren, da Liebe und Intrigen ins Spiel kommen. Als sich die Abstammungsverhältnisse am Ende klären und die Beziehungen neu geordnet werden, entpuppt
sich der Erzähler als eines der sieben unehelichen Kinder des verstorbenen Fürsten Jenner.504
Damit ändern sich die Lebensbedingungen des ‚fiktiven‘ Jean Pauls schlagartig. Er antizipiert
sein zukünftiges Glück, schreibt Briefe und einen bevorstehenden Lebenslauf, die sogenannte
Konjekturalbiographie von 1799.505 In ihr stellt er einen Plan für sein weiteres Leben als
dichtender Rittergut-Besitzer auf.506 Nachdem er ein „Schlösslein in Mittelspitz“ erworben
hat, will er eine junge Dame namens Hermine heiraten.507 In der Wunderbaren Gesellschaft in
der Neujahrsnacht begegnet man einem namenlosen Ich-Erzähler, der Schlossherr in Mittelspitz ist. Eine junge Frau namens Hermine lebt mit ihm zum Jahreswechsel 1800/1801 unter
einem Dach. Er hat sie vor dem Abfassen der Palingenesien geheiratet und ist „am neuen Jahre als ihr ewiger Hausfreund auf die Freundschaftsinsel der Ehe“ gezogen.508 Ihre Hochzeit
muss am 1.1.1797 stattgefunden haben; denn die im Buch beschriebene Nürnberg-Reise findet im Frühjahr 1797 statt.509 Das Ende der Wunderbaren Gesellschaft ist also der dritte
502
Der namenlose Schriftsteller (Ich-Erzähler) der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht wohnt im
Schloss Mittelspitz, das in der Fiktion der Konjekturalbiographie ausdrücklich der Schriftsteller Jean Paul bewohnt. Daraus ist zu schließen, dass dieser fiktive Jean Paul des Vorsatzes der mit dem Erzähler der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht identisch ist. Die Nachweise folgen im Haupttext. – Die historische, faktisch einmal existente Person Jean Paul dichtete also über einen anderen, ‚fiktiven‘ Jean Paul. Bei meiner Auseinandersetzung mit der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht wird der namenlose Schriftsteller ‚Erzähler‘ genannt, damit eine Verwechslung mit dem empirischen Autor ausgeschlossen wird.
503
Alles Inhaltliche zu dem Roman, vgl. Paul, Jean: Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung,
in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 1. Hg. v. Norbert Miller, München 1970 (Sämtliche Werke, 10. Bde. Hg. v. Norbert
Miller, München 1974ff., II. Abt., Bd. 1), 471-1236, besonders 506f. und 1217ff.
504
Vgl. Pfotenhauer 2013, 127.
505
Vgl. ebd.
506
Aus der Konjektural-Biographie erfährt man, dass er am Titan weiterarbeiten will; die vorangehenden Briefe
legen nahe, dass er den Reichsmarktflecken Kuhschnappel aufgesucht hat, in dem der Siebenkäs-Roman spielt,
der als Handlungsstrang des Titans, von dem empirischen Autor Jean Paul aus dem vierbändigen Werk ausgegliedert worden ist. Vgl. Paul, Jean: Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf, in: ders.: Werke, I. Abt.,
Bd. 4. Hg. v. Norbert Miller, München 1967, 925-1080.
507
Nach der Hochzeit wird der fiktive Jean Paul sie in Rosinette umbenennen, in Andenken an seine Mutter
Rosina. Vgl. ebd., hier 1036.
508
Vgl. Paul, Jean: Palingenesien. Zwei Bändchen, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 4. Hg. v. Norbert Miller, München 1967, 717-924, hier 741. Hermine ist eine Freundin Natalies, der Verlobten des Armenadvokaten Siebenkäs
– der Hauptfigur des gleichnamigen Romans des fiktiven und empirischen Autors Jean Paul Vgl. ders., 717-924,
hier 747ff.
509
Vgl. Och, Gunnar: Von der Unmöglichkeit „vornen heraus“ zu logieren. Erlangen in Jean Pauls Palingenesien, in: Gunnar Och / Georg Seiderer (Hgg.): Jean Paul, Erlangen und die „Alexandrinische Universität“. Eine
Ausstellung im Gedenkjahr 2013, Erlangen 2013, 22-31, hier 24.
110
Hochzeitstag des Paares. Hermina gelingt es offenbar schon vor dem Anbruch des neuen Säkulums, die immer wieder spätabends aufkommenden, düsteren Reflexionen über die Zeitläufe und die Zeitlichkeit des Menschen bei Jean Paul mit ihrer Zuwendung zu vertreiben.510
Ohne das Hintergrundswissen aus den drei früheren Werken bliebe einiges bei der Wunderbaren Gesellschaft unklar oder missverständlich: ein freischaffender Dichter im Besitz eines
Schlosses ist um die Jahrhundertwende noch eine Utopie.511 Man müsste sich fragen, ob nicht
ein allein gelassener Hauslehrer selbstherrlich den Schreibtisch seines Herrn in dessen
Schloss okkupiert. Die plötzlich erscheinende Hermine, deren Beziehung zum Erzähler – zu
Recht – als bekannt vorausgesetzt wird, könnte man sonst auch für eine Schwester, eine Familienangehörige des Arbeitsgebers oder gar eine imaginierte Muse halten, da die vorangehenden Visionen stark an der Glaubwürdigkeit des Erzählers zweifeln lassen.
3.4.3. Die Peritexte der Wunderbaren Gesellschaft
Im Juni des Jahres 1800 verfasst der empirische Autor Jean Paul Die wunderbare Gesellschaft
in der Neujahrsnacht für Jacobis Taschenbuch auf 1801, doch ungünstige Umstände vereiteln
die Publikation. Einen Monat später stößt das doppelt so umfangreiche Heimliche Klagelied
der jetzigen Männer bei einer anderen Zeitschrift ebenfalls auf Ablehnung. Jean Paul unterzieht daraufhin das jüngere Werk einer Überarbeitung und vereinigt beide Erzählungen unter
dem Titel Das heimliche Klagelied und die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht.
So gelangen seine ‚Ladenhüter‘ erst im April 1802 auf den Buchmarkt. 512 Ein authentisches
auktoriales Vorwort, die Vorrede zu Vorreden, verspricht keine werkübergreifende Konzeption. Der Inhalt der miteinander kombinierten Texte könnte kaum unterschiedlicher sein.
Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer macht den Anfang. Man ‚singt‘ es im fiktiven
Krähwinkel, dessen kleinstädtisches Milieu Nährboden für spießbürgerliche Scheinmoral ist.
Zwei Verheiratete haben über Jahre eine feste Beziehung, ohne dass die miteinander befreundeten Ehepartner Verdacht schöpfen. In beiden Familien kommt ein Kind zur Welt, in der
einen ein Junge, in der anderen ein Mädchen. Alles wäre in Ordnung, wenn sie nicht ein und
denselben Vater hätten. Als Halbbruder und Halbschwester herangewachsen sind, verlieben
sie sich ineinander und wollen heiraten. Zur Verhinderung des Inzestes muss der Ehebruch
510
Vgl. Jean Paul, Palingenesien, Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 4, 717-924, hier 747ff. und 752f.
Der empirische Autor Jean Paul ist davon weit entfernt, obgleich er angeblich von den Einnahmen seiner
Werke als erster Schriftsteller existieren kann – und zudem noch eine Familie mit drei Kindern zu ernähren vermag. Er lebt bis zu seinem Tod in engen Mietwohnungen. Vgl. Pfotenhauer 2013.
512
Alles zur Entstehungsgeschichte, vgl. Miller, Norbert: Anmerkungen. Das heimliche Klagelied und die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht, in: Paul, Jean: Werke, I. Abt., Bd. 4. Hg. v. Norbert Miller, München
1967 (Sämtliche Werke, 10. Bde. Hg. v. Norbert Miller, München 1974ff., II. Abt., Bd. 1), 1221-1224.
511
111
den beiden Liebenden und zumindest einem der betrogenen Gatten gestanden werden. Alle
Opfer der Affäre zeigen sich einsichtig: sie verzichten auf eine Hochzeit. Da sie, genauso wie
die Täter, um ihre Reputation in der Öffentlichkeit fürchten, verschweigt man einhellig den
Skandal. Sowohl Männer, als auch Frauen leiden still und heimlich unter der Situation, so
dass der thematisch-rhematische Titel der Geschichte viel zu kurz greift.
Mit der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht gibt ein Dichter Einblick in seine
Schreibwerkstatt. Dieser sinniert am letzten Abend des 18. Jahrhunderts über die Zeitläufe
und die Nichtigkeit der menschlichen Existenz. In der Einsamkeit seines Arbeitszimmers
imaginiert er schließlich eine Reihe selbsternannter „Propheten der Zeit“ (NG 1125), damit
sie die besten seiner trüben Gedanken (vgl. NG 1123) für die Veröffentlichung des vorliegenden Werkes aussprechen.
Während der erste Text den Umgang mit moralischen Verfehlungen zur Diskussion stellt,
setzt sich der zweite mit transzendenten Fragestellungen auseinander. Nur ihre Stimmung ist
ähnlich. Beide Erzählungen verbindet ein (an)klagender Gestus. Die unglücklichen Einzelschicksale repräsentieren die Nichtigkeit des menschlichen Strebens, die sich der Erzähler in
der Silvesternacht bewusst macht. Wieder stellt sich die Frage, wie man mit unangenehmer
Wahrheit umgeht. Insofern passen die unterschiedlichen Werke tatsächlich zusammen.
Das heimliche Klagelied und die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht
Vorrede zu Vorreden
[mit Vorrede zum heimlichen Klagelied der jetzigen Männer]
Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer
Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht
[Vorrede]
[Die drei Propheten der Zeit]
[Hermina]
Die Einbindung der Wunderbaren Gesellschaft der Neujahrsnacht in den Kontext der Publikation
In der rhematisch betitelten Vorrede zu Vorreden meldet sich „Jean Paul Fr. [= Friedrich]
Richter“ (NG* 1085) zu Wort, um die Textgattung „Vorrede“ apologetisch zu verherrlichen.
Aus ihr ergeben sich ästhetische Normen, die nur beiläufig für „sämtliche Literaturhistoriker,
Programmenschreiber [sic!], Anzeiger, Schulmänner und Humanisten“ (NG* 1085) propagiert werden. Seiner Vorstellung entsprechend, hätten sie die Vorworte von den Büchern zu
lesen, die sie dann einem Publikum erschließen (vgl. ebd.). Letzteres soll offenbar nur die
Werke selbst lesen und braucht für den Frame nicht zu berücksichtigt werden. Andererseits
integriert er die Vorreden nach der Vorrede in die beiden späteren Werke. Sie beginnen mit
räsonierenden Erzählern, die allmählich in die Handlungen ‚einsteigen‘. Da sie als Abschnitte
112
kaum von den Haupttexten abgesetzt sind, kann sie auch kein Rezipient überschlagen. Ein
Absolutheitsanspruch darf demnach den ästhetischen Äußerungen nicht beigemessen werden.
Ohnehin spricht der (selbst)kritisch-ironische Unterton, in dem Jean Paul zeitgenössische Rezeptionspraktiken behandelt und seine Vorstellungen artikuliert, für die spielerische Konstruktion und Dekonstruktion eines Regelwerks, mit dem der ‚Dichter-Feldherr‘ (vgl. unten)
souverän umgeht. Geradliniges Argumentieren wird durch ‚Unordnung‘ und beispielhafte
Vorwegnahmen von Themen, die der kommenden Vorrede zum Heimlichen Klagelied vorbehalten sein sollten, kaschiert.513 Hauptsache der ‚Dichter-Feldherr‘ fährt als Allegorie am Ende der Ausführungen auf dem Triumphwagen vor, so dass ihm alle Kritiker huldigen müssen.
Um die Handhabung von Jean Pauls Regeln für Vorreden an dem eröffnenden Frame der
Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht zu studieren, ist es unerlässlich diese auf den
Punkt zu bringen. Unter dem oben genannten Vorbehalt ihrer Relativität, seien sie an dieser
Stelle in mehr oder minder kausaler Anordnung aufgeführt.
(1) Die Vorrede habe die Schreibgeschichte des folgenden Werkes zu enthalten, wobei ausdrücklich Bezug auf Lessing genommen wird (vgl. NG* 1083).
(2) Dementsprechend habe eine Vorrede paradoxerweise nach der Niederschrift eines Textes
zu entstehen, wenn der Verfasser bereits reifer geworden sei (vgl. NG* 1085).
(3) Die Vorrede diene der Autorinszenierung. Hierzu konstruiert er eine Allegorie, die die
biblische Genesis mit den dichterischen Schöpfungsgeschichten im Bild des Triumphzuges
der römischen Antike verbindet. Der Dichter spielt in diesem ‚Welttheater‘ alle Haupt- und
Nebenrollen zugleich:
am ersten Tage – im Buche – wird Licht geschaffen, am letzten – in der Vorrede – der Mensch, der Autor; er kommt, wie der römische Feldherr, im Triumph erst zuletzt selber gefahren und geht (er sitzt bekränzt im Triumphwagen der Vorrede) zugleich als Volk nebenher, das auf ihn schimpft, und steht
(denn er muß das alles allein spielen) auch als der Kerl hintenauf, der ihn unaufhörlich zuruft: gedenke,
daß du ein Mensch bist; und so lässet er uns wie jeder guter Historiker tief genug in die Schwachheiten
des menschlichen Herzens blicken, in seine Eitelkeit und Heuchelei. (NG* 1085)
(4) Aus Vorreden sollten Kritiker ihren „Doktorschmaus“ (NG* 1084) „fischen“ (NG* 1085).
(5) Wegen der Bücherflut müssten sich die Literaturhistoriker auf die Lektüre von Vorworten
bei Neuerscheinungen beschränken (vgl. NG* 1084).
(6) Aus diesem Grund habe man Vorreden singulär im Buchhandel zu vertreiben. Seine bisherigen Bemühungen darum folgten nur den Zeichen der Zeit:
In literarischen Städten, welche zur Gelehrtenbank der Städte [im Reichstag] gehören – wie Residenzen
zur Ritterbank –, auf akademischen (z. B. Jena, Erlangen, etc.) ist daher längst die gute Einrichtung getroffen, daß irgendein mäßiger Sortimentsbuchhändler eine Leihbibliothek von bloßen Vorreden errich513
Das zweite Werk der Erzählsammlung dient weniger als Demonstrationsobjekt. Aus diesem Grund endet die
Vorrede zu Vorreden mit folgender Passage: „Was den zweiten Teil dieses Büchleins anbelangt, die wunderbare
Nachtgesellschaft [sic!]: so wünscht‘ ich von Herzen hier in der Vorrede manches gute Wort zu seiner Zeit ihr
vorzureden“ (NG* 1085).
113
tet, welche nachher unter den gelehrten Mitarbeitern umlaufen, sowohl in der Stadt als auf dem Lande;
Werke, denen (wie bei den Goethischen, Schillerschen oft der Fall ist) Vorreden fehlen, können daher
(es sind keine spruchfertigen Akten) entweder schwer beurteilt werden, oder ihre Titel zirkulieren.
(NG* 1084)
Werke ohne Vorreden hätten es demnach auf dem Buchmarkt schwerer als angepasste Produkte. Goethe und Schiller wären in dieser Hinsicht altmodische Autoren.
(7) Die Vorrede sei als Blüte und Kuppel eines Werks die Hauptsache eines jeden Buches
(vgl. NG* 1085).
Letztendlich ‚erzwingt‘ sie also einen idealen Rezeptionsprozess bei jedem Kritiker und Humanisten (s.o.). Diesen ‚idealen‘ Lesern schmeichelt der implizite Autor, indem er sie mit
allgemeinen „Schwachheiten des menschlichen Herzen“ (s.o.) auf Kosten der oberflächlichen
Rezipienten erheitert. Wer sich nur mit Vorreden beschäftigt, setzt sich oberflächlich mit einem Werk auseinander und ist noch lange kein idealer Leser.
114
3.4.4. Die Erzählrahmen in der Wunderbaren Gesellschaft und Skizzen ihres ‚rätselhaften‘
Inhalts
Im eröffnenden Rahmen der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht wendet sich ein
autodiegetischer Erzähler an seine Leser, um ihr Vertrauen und Wohlwollen zu gewinnen. Er
beschwört mit thematischen Titel und dem nachfolgenden Text eine gemeinsame Rezeptionserfahrungen mit ‚romantischer‘ Literatur:
Wir haben alle schon verdrüßliche Geschichten gelesen, die uns mit der lieblichsten Irrhöhle voll Verwicklungen bezauberten und ängstigten und uns unruhig nach einem hellen Ausgang bogenlang herumgreifen ließen, bis endlich die unerwartete Zeile »als ich erwachte« uns die ganze Höhle unter den Füßen wegzog. Bei dem zweiten Lesen fanden wir dann alles durchsichtig und hell und waren nicht mehr
zu peinigen. Eine solche trockne Historie ist gottlob meine von der wunderbaren Nacht-Gesellschaft
nicht; ich war leider bei der Erscheinung derselben so wach als jetzt und saß am Fenster. (NG 1123)
Man dürfe eine spannende „Historie“ erwarten, die Merkmale einer Traumerzählung aufweist.
Frames, die die Ränder von Träumen markieren, verabscheue er. Nur die Unsicherheit hinsichtlich der Extension des Traumes wirke dem Aufkommen von Langeweile bei der zweiten
(!) Lektüre entgegen. Diese ästhetische Position entbehrt nicht einer gewissen Komik. Eine
Phrase von drei Worten – „und er erwachte“ – entscheidet über die Qualität eines Textes. Zudem hält sich der Erzähler selbst an diese Regel nur vordergründig. Indem er die Phrase auf
einer Metaebene hebt und die Schilderung von Träumen thematisiert, wird diese zur Markierung eines Traumes. Darüber hinaus besteht eine Diskrepanz zwischen der ästhetischen Norm
und dem bisherigen Schaffen des empirischen Autors. Das träumende Subjekt in Jean Pauls
Siebenkäs-Roman meint am Ende der Rede des toten Christus vom Dach der Kirche, daß kein
Gott sei, zu erwachen.514
Als „guter Historiker“ (s.o.) seines literarischen Werkes lässt der Erzähler „tief genug in die
Schwachheiten des menschlichen Herzens blicken, in seine Eitelkeit und Heuchelei“ (s.o.).
Belesenheit und Allgemeinbildung demonstriert er mit weit hergeholten Vergleichen im gerahmten Text und seinen Fußnoten. Die in der Vorrede zu Vorreden geforderte Darstellung
der Entstehungsgeschichte bietet dem Autor eine Bühne zur Selbstdarstellung. Der Leser
müsse sich einige Personalien von ihm gefallen lassen, die sein erbärmliches Benehmen gegen die Nacht-Sozietät erklären, das mehr seinen Mut verberge als zeige (vgl. NG 1123). Worin sein erbärmliches Verhalten besteht, worin er Mut zeigt, lässt das Folgende bestenfalls
erahnen. Er bringt den Mut zum ‚vorbehaltlosen‘ Reflektieren auf und verfällt angesichts seiner beängstigenden Phantasien zunehmend in Melancholie und eine Art Schockstarre. Harmlos beginnt er zu dichten: „[Ich] hatte besonders über den unabsehlich-langen, […] Strom der
514
Vgl. Paul, Jean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten
F. St. Siebenkäs, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 2. Hg. v. Norbert Miller, München 1971, 7-566, hier 275.
115
künftigen Zeit meine schwermütigen Gedanken, wovon ich am Neujahrstage die besten ausklauben und niederschreiben wollte für dieses Werkchen“ (NG 1123, Hervorhebung: V.R.).
Selbstmitleidig stilisiert sich der auch physisch kranke Erzähler zum Märtyrer, der bereitwillig für seine religiösen Überzeugungen stirbt: „Mir war nicht wohl, sondern etwa so in meiner
Haut, als hätte sie mir Nero harzig anpichen und annähen lassen, um mich in seinem Garten
[anzuzünden]“ (NG 1124). Migräne, Kälte- und Hitzewallungen wirken auf den Schreibprozess ein, für den (sonst) optimale Bedingungen herrschen. Bestens versorgt, sitzt er im Arbeitszimmer seines Schlösschens Mittelspitz. Da Hermina eine kranke Freundin in der Stadt
besucht, stört ihn abends niemand beim Dichten. So kann auch keiner die Existenz der wunderbaren Gesellschaft außerhalb der individuellen Wahrnehmung bezeugen. Angebliches Wachen entkräftet nicht den Verdacht, dass man mit einer Schilderung von Phantasieprodukten,
Fieberphantasien oder Träumen als wirkliches Geschehen konfrontiert wird. Entsprechend der
Vorrede zu Vorreden ist der Verfasser beim Niederschreiben seines Werks reifer geworden
und hat über sich selbst mehr Klarheit erlangt. In diesem verkappten Vorwort ist eine geistige
Entwicklung inszeniert. Der einleitende Rahmen der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht realisiert wiederholt das aufgestellte Programm im authentischen auktorialen Peritext. Man könnte das verkappte Vorwort mit Genette als „Spiegel“ bezeichnen, da er den Autor beim Schreiben eines Art Vorworts vorführt.515
Da der eröffnende Frame das Dispositiv schildert, das auf die Wahrnehmung des Dichters
einwirkt, gestaltet sich der Übergang zur Handlung, dem Phantasieren und Dichten, fließend.
Spätestens mit dem Erscheinen der wunderbaren Gäste, ist eine andere Erzählebene erreicht:
„Während dieser Phantasien war mir einige Male gewesen, als hört' ich leise Worte; endlich
vernahm ich nahe an mir diese: »Die drei Propheten der Zeit«; ich tat die Hand vom Auge – –
die wunderbare Nacht-Gesellschaft war im Zimmer“ (NG 1125).
Rätselhaftes ereignet sich nun. Anders als bei den hier besprochenen Werken von E.T.A.
Hoffmann und Adelbert von Chamisso existieren zu dem Text von Jean Paul keinerlei Spezialforschungen. Nur wenige, widersprüchliche Erwähnungen finden sich in der sonst so reichen Sekundärliteratur zu den Werken des Dichters. Das Risiko einer Interpretation bringt
Ulrich Fleischhut in seiner Dissertation über Die Allegorie bei Jean Paul deutlich zum Ausdruck: „In dieser faszinierenden, stark verschlüsselten und noch nicht gedeuteten Allegorie
treffen die drei Propheten der Zeit, das alte achtzehnte und das junge neunzehnte Jahrhundert
zusammen“.516 Drei Propheten repräsentieren nur zwei Jahrhunderte. Das ist unlogisch.
515
516
Vgl. Genette 2001, 279f.
Fleischhut, Ulrich: Die Allegorie bei Jean Paul, Bonn 1977, 68.
116
Ebenso geht bei Jean Paul eine Rechnung im Text nicht völlig auf. Drei Propheten der Zeit
(vgl. NG 1125) geben den semantischen Frame für die fünf Mitglieder der wunderbaren Gesellschaft ab. Da zwei der Figuren relativ stumm sind, betätigen sich tatsächlich nur drei als
Propheten der Zeit.
Nicht das 18. und das 19. Jahrhundert werden einander gegenübergestellt, sondern die komplette Vergangenheit und Zukunft. Seit Anbeginn der biblischen Schöpfung wiederholt sich
das Werden und Vergehen bis zur fernen Apokalypse in zahllosen Variationen. Alle Epochen
und Schicksale gleichen sich. Der Text ist mehr als nur Science Fiktion im Jahre 100.000.517
Wenigstens den richtigen Zeitraum umreißt eine ältere Erwähnung der Erzählung im Kontext
von Jean Pauls Traumdichtungen:
Auch dieses Traumstück enthält ein Urteil über die Zeit – die „Propheten der Zeit“ treten auf, ihre Reden – gesteigert vom Satirischen zu ernstem, fast pathetischen Ton – umfassen immer weitere Zeiträume und messen die Gegenwart an kommenden Weltaltern. Die hier gefundene Form, ein Gericht über
518
die Zeit aussprechen, setzt sich dann im [„]Traum der Nachmitternacht 1812[“] fort.
Ursula Gauhe arbeitet eine Liste von 26 literarisch gestalteten Träumen ab,519 konzentriert
sich aber ohne Angabe von Gründen auf andere Beispiele. Offenbar appliziert sie die Deutung
eines 11 Jahre jüngeren Werks des Dichters auf den Text. Ein abgehaltenes Gericht über die
Zeit legt wiederum eine allegorische Deutung nahe. Gibt es aber in der Wunderbaren Neujahrsgesellschaft überhaupt Hinweise auf ein Gerichtsverfahren? Und richtet sich es dann
gegen die Zeit?
Der Erzähler beschreibt sein Arbeitszimmer als Bibliothek und Museum, nicht als Gerichtssaal. Obwohl ein Prozess auch an diesen Orten durchgeführt werden kann, verlangt er wenigstens einen Angeklagten und einen Richter, der ein Urteil fällt.520 Insofern verwundert, dass
keine Figur, einschließlich des Erzählers, expressis verbis nach einer Schuld forscht. Persönliche Unzufriedenheit mit den Weltläufen klagt eher Gottes Vorsehung, als ‚die Zeit‘ an. Wenn
sich der Erzähler in seiner Identitätskrise521 die Nichtigkeit der eigenen Existenz vor Augen
führt, macht er bestenfalls seiner „Eitelkeit“ (s.o.) den Prozess. Aus den ‚Prophezeiungen‘
wird die Unvollkommenheit aller Menschen ersichtlich. Ein abschließendes Urteil bringt nur
das Jüngste Gericht: „Gott hat den Donner und den Sturm in der Hand und den Schmerz und
ordnet die Ewigkeit“ (NG 1134). Eine allegorische Deutung des Geschehens als Gerichtsszene ist äußerst fraglich. Drei Systemerwähnungen der literarischen Gattung Tragödie (vgl. NG
517
Dies behauptet einer der Begleitbände des Jean-Paul-Wanderwegs durch Oberfranken, der Auszüge aus der
Wunderbaren Gesellschaft auf die Stationen 105 bis 107 verteilt. Vgl. Karla Fohrbeck (Hg.): Jean Paul in Oberfranken. Der Jean-Paul-Wanderweg von Joditz bis Sanspareil, Bayreuth 2012, 202ff.
518
Vgl. Gauhe, Ursula: Jean Pauls Traumdichtungen, Bonn 1936, 67.
519
Vgl. dieselbe, 129.
520
Ankläger, Anwälte, Zeugen und Sachverständige sind nur im Idealfall beteiligt.
521
Vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier 72.
117
1135ff.) und darüber hinaus das selbstdarstellerische Gebaren des Erzählers legen eher eine
(Welt-) Theater-Allegorie nahe, für die auch zahlreiche, prägnante Parallelstellen in den Werken Jean Pauls sprächen.
Eine aktuelle Interpretation des Textes kippt über sehr zutreffende Beobachtungen in eine
Rückprojektion unserer Gegenwart in Jean Pauls Prophezeiungen der Zukunft:
Dieses groteske Fastnachtsensemble [der wunderbaren Gesellschaft] spricht zu dem Autor, wobei namentlich der Rotgeschminkte das Bild einer modernen Welt mit Visionen von gleichsam apokalyptischem Ausmaß entwirft. [… Vielfältige] Anspielungen auf die Bibel [evozieren] die prophetische Bildhaftigkeit eines Jeremia, Daniel oder Johannes […]. Die Schrecken einer hochgradig arbeitsteiligen,
globalisierten Gesellschaft werden ebenso ausgemalt wie Kälte und das Hasard einer überaufgeklärten
Kultur, in der tradierte Inhalte wie Spielbälle gehandhabt werden. Schließlich erkennt sich der Autor
selbst im Spiegel vor dem Hintergrund einer Weltgemeinschaft, deren seelische Kälte im umgekehrten
Verhältnis zur Verbesserung ihrer technischen Ausstattung und einem steigenden Lebenskomfort
522
steht.
Die meiner Meinung nach treffendste Inhaltsangabe und Interpretation bietet die jüngst erschienene Jean-Paul-Biographie von Helmut Pfotenhauer:
Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht ist eine jener vielen Traum- oder besser Halbschlafvisionen, die Jean Paul an der Schwelle der Zeiten und an der Schwelle des Bewußtseins ansiedelt. Hier
ist es die Nacht des Übergangs zum 19. Jahrhundert, die Silvesternacht 1799. Das erzählende Ich, von
der Frau kurz verlassen, findet sich in seinen Einbildungen den Eingebungen des Dämmerzustandes –
zwischen Tag und Nacht, zwischen den Zeiten, zwischen Wachen und Schlaf – ausgeliefert. Ihm erscheinen die Traumgestalten, die zumeist Alptraumgestalten als Verkörperungen der kommenden Zeit
sind. Da findet sich ein »mageres Wesen mit einem Schwedenkopf«, welches den philosophischen Egoismus und die Gottlosigkeit, Tendenzen des jetzigen, vor allem Jenaer Zeitalters, in die Zukunft projiziert. Der Schwedenkopf gleicht verdächtig dem Kopf Fichtes. Ein Zeitalter der Vernunft und der Reflexion wird da prognostiziert, bloß Kopf, ohne Herz. Ein anderer, ein bleicher Jüngling, groß, unbeweglich voller Glanz, spricht von der Unermeßlichkeit der Zeit, vom Ineinanderrinnen der Milchstraßen
und vom Verschwinden des Ich in der Unermeßlichkeit der Welt. Auch das berichtende Ich wird sich
des Veraltens seiner Autorschaft bewußt; im kommenden Jahrhundert, in den kommenden Jahrhunderten, wird es nicht mehr gelesen werden, wird es vergessen sein. Prophetische Worte, vielleicht. Im Text
selbst darf dieses Ich noch einmal erwachen: Hermina, die Frau ist noch vor Mitternacht zurückgekehrt.
523
Die Treue des Herzens siegt über das künftige Verstummen und die taube Zeit.
Orientiert man sich bei dem theatralem Spektakel an den „Auf- und Abtritten“ der Figuren,
erlebt der Erzähler als „Zuschauer“ und „Mitspieler“ zwei Szenen in seinem Arbeitszimmer.
Die eigentliche Erzählung besteht auch aus zwei Abschnitten.
Im ersten ist die fünfköpfige Gesellschaft zugegen, die sich nur unzureichend vorstellt. Ihr
seltsames Äußeres, ihr ungewöhnliches Benehmen und Reden rechtfertigt die Setzung des
semantischen Frames „wunderbar“. Die Selbstbezeichnung der wortführenden, männlichen
Figuren als die „drei Propheten der Zeit“ hat ihre Berechtigung. Sie sprechen nur von der Zukunft, in den drei, nun lose aufeinanderfolgenden Monologen, die in wörtlicher Rede widergegeben werden.
Pfeifenberger, der einzige der Propheten, der (s)einen Namen nennt, äußert sich emotionslos
über die künftige Zeit (vgl. NG 1126f.). In ihr würden „freie Reflexion und spielende Phanta522
523
Zaremba 2012, 169.
Pfotenhauer 2013, 234.
118
sie regieren“ (NG 1126ff.), alle Formen der Zeitrechnung aufgehoben sein und Religionen,
Völker und Geschlechterrollen vergehen. Der freien Liebe stünden keine gesellschaftlichen
Schranken mehr im Wege. Dichter, Sprachgelehrte und Geschichtsforscher würden die jetzige
Gegenwart aufgrund ihrer Fremdheit und lückenhaften Überlieferung fehlinterpretieren. Individuelle Leistungen der Vergangenheit würden Kollektiven zugeschrieben. Vom Werk des
Erzählers gäbe es keine Spur mehr.
Nach diesen Feststellungen fragt die rote Maske, wann „die Geisterstunde der ErdErscheinungen“ (NG 1132) in der Ewigkeit enden würde? Ihre äußerst ausufernde Aufzählung von 27 Entwicklungen im gesellschaftlichen, medizinischen, technischen und sprachlichen Bereich lässt keinen Endpunkt erkennen. Der „bleiche Jüngling“ wendet sich daraufhin
mit einem Rat an den Erzähler. Der Mensch solle nicht über die Vergänglichkeit der Dinge
nachdenken und sich in die zeitlose Ewigkeit fügen. Die Existenz der Menschheit, der Erde
und der übrigen kosmischen Körper sei endlich; sie zerfalle in ein Chaos, das Gott als Beherrscher der Ewigkeit neu ordne.
Der Erzähler wendet sich ab und blickt aus dem Fenster. „Luftschiffe voll unbekannter Gestalten“ (NG 1135) und innig geliebter Menschen, die er an das Grab verloren hat, fliegen
vorüber. Ein erneuter Perspektivwechsel führt ihm im Arbeitszimmer ein „ringende[s] Geister-Chaos“ (NG 1135) vor Augen und einen Doppelgänger im dort befindlichen Spiegel. Er
imaginiert einen Angriff des ‚Spiegelmenschen‘ auf sein Leben und setzt sich zur Wehr.
Scherben, Blut und ein Verblassen der Geistererscheinungen sind das Ergebnis.
In dem letzten Abschnitt der Erzählung kehrt mit dem Erscheinen seiner (vgl. NG 1136)
Hermina ein Stück weit Normalität wieder zurück. Zu seiner Verwunderung sind die Propheten der Zeit entgegen ihrer Verlautbarung eine Stunde vor dem Ablauf des Jahrhunderts verschwunden. Dank der Zuwendung Herminas vergisst der Erzähler über die Zeit nachzudenken. Am Ende lösen sich „sanft und kaum bemerkt die Jahrhunderte einander ab“ (NG 1138).
Pfeifenbergers Vision von Freiheit wird antizipiert: „Weich, aber gestillt stand ich mit Hermina am Fenster vor dem zauberisch wie ein Frühlingshimmel auf die winterliche scharfe Erdennacht erhaben herunterleuchtenden Sternengewölbe, und wir feierten sanft die ernste
Stunde“ (NG 1137). Die Figuren fügen sich, zumindest während der Jahrhundertwende, in die
Ewigkeit, was entsprechend des Rats vom Jüngling als Gottesdienst zu interpretieren ist und
die aufkommende sakrale Stimmung erklärt.
119
3.5. Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft und Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht
Zum besseren Verständnis der Erzählrahmen und des Inhalts der Wunderbaren Gesellschaft
der Neujahrsnacht wurde weit ausgeholt. Der Text des ‚fiktiven‘ und zugleich realen Jean
Pauls sind im Schaffen ‚beider‘ Dichter verortet worden. Die Konzeption einer werksübergreifenden Erzählerfigur, die Züge eines Doppelgängers zum empirischen Autor annimmt,
findet sich im reisenden Enthusiasten bei Hoffmann wieder. Der angebliche Verfasser der
Fantasiestücke, zu denen die Abenteuer der Silvesternacht gehören, tritt auch jenseits der vier
veröffentlichten Bände des fiktiven Tagebuchs in Erscheinung. Sowohl der reisende Enthusiast, als auch der Jean Paul der Fiktion sind mit Künstlerfiguren bzw. anderen Wiedergängern
ihrer Schöpfer bekannt, die ebenfalls über ein persönliches Umfeld in der fiktiven Welt verfügen. Diese Vernetzungen in den Werken der empirischen Autoren Hoffmann und Jean Paul
können in einem zusammenfassenden Vergleich nicht über die vorangegangenen Andeutungen hinaus vertieft werden. Zwei berechtigten Einwänden sei aber Platz eingeräumt. Hoffmann baut das Vernetzungs-System weniger stark als Jean Paul aus. Man kann sich z.B. nicht
sicher sein, dass der Theodor aus dem ‚Dichter-Club‘ der Serapionsbrüder mit dem Herausgeber Teodor Hoffmann identisch ist, an den der reisende Enthusiast seine Tagebuchblätter
adressiert. Da die Fantasiestücke erst den reisenden Enthusiasten ‚ins Spiel bringen‘, ist dieser nicht durch vorangegangene Werke vorkonturiert: er besitzt noch keine bekannte Vorgeschichte – in den Abenteuern der Silvesternacht deutet sich lediglich eine Episode aus dieser
an: die Romanze mit Julia, die lange vor der geschilderten Neujahrsnacht ihr Ende gefunden
hat. Der reisende Enthusiast wird auch weiterhin eine ziemlich diffuse Gestalt bleiben.
Er und Jean Pauls Erzähler (Jean Paul) leben in der ‚Gegenwart‘ der Verfasser, die ihre jüngste Vergangenheit und Zukunfts-Visionen einschließt. Nimmt der ‚fiktive‘ Jean Paul als Verfasser des Hesperus, des Siebenkäs, der Palingenesien oder des Heimlichen Klageliedes der
jetzigen Männer den Platz eines homodiegetischen Erzählers ein, so verengt sich in der Darstellung der wunderbaren Gesellschaft sein Fokus so stark auf das Erleben seiner eigenen Person, dass er in diesem Werk als autodiegetischer Erzähler bezeichnet werden muss. Der
kränkliche Dichter erweist sich als ein unzuverlässiger Erzähler, wie auch der vor Fieber glühende reisende Enthusiast: wo das Halluzinieren bzw. Erträumen ihrer wunderbaren Nachtgesellschaften beginnt und aufhört, versuchen die Selbstdarsteller und Alleinunterhalter 524 im
Nachhinein durch Rahmensetzungen zu markieren. Bei Jean Paul ist die mise en abyme angelegt, die Hoffmann ausführt. Jean Paul macht sich Notizen für das Werk, das erst nach dessen
524
Titel eines heutigen Theaterstücks, abgedruckt in Kusz, Fitzgerald: Alles Gute, Frankfurt a. M. 1997.
120
‚Finale‘, ab dem nächsten Morgen ausgearbeitet wird. Der reisende Enthusiast erreicht als
Tagebuchschreiber die Gegenwart, den Neujahrsmorgen, und schreibt seine Version von
Spikhers Geschichte bis zum Postskript innerhalb der erzählten Zeit. Jean Pauls Erzähler formuliert seine Notizen aus, wie auch der reisende Enthusiast die vorgefundenen Notizen eines
vielleicht nur geträumten Spikhers – in diesem Fall seine eigenen. Im Zentrum der beiden
Erzählungen Jean Pauls und Hoffmann stehen Selbstwahrnehmungen des Innenlebens, entsprechend überschaubar sind die Vorgänge der äußeren Handlung. Den zeitlichen Rahmen für
die Abenteuer der wunderbaren Reisen ins Innere bilden die Nächte zum Jahreswechsel.
Hoffmann gelingt es, den an sich relativ einfach strukturierten Text Jean Pauls „Wirklichkeit
– Traum – Wirklichkeit“ in das komplexe System der Erzählrahmen von Chamissos Peter
Schlemihl zu integrieren: die Aneignung und mögliche Umgestaltung fremder Texte wird
durch die Ausarbeitung fremd gewordener, eigener Texte ersetzt. Während Chamisso in den
Rahmen von Schlemihls Memoiren sich in verdächtiger Weise alle Mühe gibt, die wundersame Geschichte als einen Tatsachenbericht erscheinen zu lassen, um die Existenz Schlemihls
zu bekräftigen, dekonstruiert Hoffmann dieses ‚Lügengebäude‘ als Fiktion. Dem fiktiven Herausgeber und dem reisenden Enthusiasten darf man nicht trauen, erst recht nicht Spikher.
Folglich nimmt der Höllenspuk in der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild zu. Statt eines
unauffälligen Gentlemans, dem Mann im grauen Rocke, tritt dem Protagonisten ein funkensprühender Scharlatan als Teufel entgegen, der sich am Ende samt seiner Komplizin in Rauch
auflöst. In allen drei Werken stellen die Rahmen in Verbindung mit dem Gerahmten in unterschiedliche Weise die Wahrnehmung der Protagonisten, aber auch der Leser in Frage. Diese
Sein-Schein-Problematik findet sich in dem physiognomischen Diskurs, wie in der zeitgenössischen Philosophie, die in den nächsten Kapiteln behandelt werden.
121
4. Der physiognomische Diskurs
4.1. Physiognomik als Wissenschaft und Unterhaltung
4.1.1. Fragmente – der Diskurs über die Physiognomik
In der Zeit der Aufklärung erfuhr die Vernunft des Menschen eine neue Wertschätzung. Mit
der Empfindsamkeit versuchte man das aufklärerische Denken um eine menschliche Komponente zu ergänzen. Weite Teile des im Entstehen begriffenen Bürgertums bemühten sich um
die Selbst-Kultivierung ihrer Charaktere und Affekte. Dadurch blühte der Diskurs über die
Physiognomik auf, der seit der Antike eine unterschiedlich bedeutsame kulturgeschichtliche
Konstante darstellt.525 Niederschlag fand er auch in der Literatur ab den 1770er Jahren, nicht
nur in den Texten von Chamisso, Hoffmann und Jean Paul.
Da die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung unserer Tage mit dem Diskurs über die
Physiognomik bereits sehr weit gediehen ist, könnten hier lediglich die kaum noch zu überschauenden Ergebnisse referiert werden.526 Fruchtbarer für die folgenden Textanalysen dürfte
ein selektiver Blick auf die Veröffentlichungen der beiden Antipoden Lavater und Lichtenberg sein, an denen selbst Studien über entlegenere Akteure in der gesellschaftlichen Debatte
nicht vorbei kommen. Strittig war, ob man die Fertigkeit erlangen kann, von dem Äußeren
eines Menschen zuverlässig auf sein Inneres zu schließen.527
Warum werden Lavater und Lichtenberg als Hauptkontrahenten angesehen? Das liegt zum
einen an der Breitenwirkung beider, zum anderen an der reizvollen Konstellation. Ein reformierter Schweizer Pfarrer fand in einem wortgewandten Physiker seinen Kontrahenten. Johann Caspar Lavater (1741-1801) veröffentlichte zwischen 1775 und 1778 vier Bände Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, die in
Europa eine große Verbreitung Europa fanden.528 Trotz ihrer luxuriösen Ausstattung mit Il-
525
Vgl. Käuser, Andreas: Die Physiognomik des 18. Jahrhunderts als Ursprung der modernen Geisteswissenschaft, in: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 41 (1991), 129-144, hier 129.
526
Eine sehr gut lesbare Geschichte des Diskurses in der abendländischen Kultur bis zur ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts bietet Breitenfellner, Kirstin: Lavaters Schatten. Physiognomie und Charakter bei Ganghofer, Fontane und Döblin. Mit einem Exkurs über den Verbrecher als literarische Gestalt von Schiller bis Böll und einer
systematischen Bibliographie zum Thema „Physiognomie und Charakter“ (Artes liberales. Beiträge zur Theorie
und Praxis der Interpretation 5), Dresden / München 1999, 17-44.
527
Vgl. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und
Menschenliebe, Bd. 1, Leipzig / Winterthur 1775, 13.
528
Vgl. Joost, Ulrich: „Die Silhouetten sind Abstracta. Seine Beschreibung ist eine bloße Silhouette“ – Georg
Christoph Lichtenberg, der Schattenriß und die Physiognomik, in: Marion Ackermann / Helmut Friedel (Hgg.):
SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts, Ostfildern-Ruit 2001, 61- 80, hier 61.
122
lustrationen und dem damit verbundenen hohen Anschaffungskosten erschienen 55 Ausgaben
bis 1810, darunter 16 deutsche und 15 französische.529
Johann Caspar Lavater (1741-1801) stellt den ersten Band seiner Physiognomik unter das
Motto „Gott schuf den Menschen sich zum Bilde!“530 Dieses erweist sich nach einer Sammlung diesbezüglicher Bibelzitate als ein Dogma, das die Objektivität seiner Schrift stark beeinträchtigt. Es soll Grundlage und Erkenntnisziel seiner ‚wissenschaftlichen‘ Tätigkeit sein,
was einen endlosen Zirkelschluss in Gang setzt, der nicht nur wegen der Materialfülle ein
Fragment im übertragenen Sinne bleiben musste. Nur unzureichend wird der logische Bruch
überspielt, den Stephan Pabst aus unserer heutigen Perspektive konstatiert. Die Setzung des
Individuums sei zwar modern, der Glaube an die Vorsehung aber konservativ.531 Der Schweizer Pfarrer geht von einem Kausalzusammenhang zwischen innerem und äußerem Erscheinungsbild des Menschen in seiner ‚Definition‘ der Physiognomie aus:
In so fern ich von der Physiognomik als einer Wissenschaft rede – begreif ich unter Physiognomie alle
unmittelbaren Äußerungen des Menschen. Alle Züge, Umrisse, alle passive und active Bewegung, alle
Lagen und Stellungen des menschlichen Körpers, alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch
unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er seine Person zeigt – ist der der Gegenstand der Physiognomik.532
Die Hypothese wird zum Faktum in der Gewissheit der Ergebnisse seines ‚Forschens‘:
Allein ich getraue mir zu behaupten, der preiswürdige Schöpfer habe eine solche Proportion oder Analogie zwischen allen Theilen der Maschine des menschlichen Körpers festgesetzt, daß ein höherer, ein
englischer Verstand aus einem Gelenke oder Muskel die ganze äusserliche Bildung, und den allseitigen
Contour des ganzen Menschen bestimmen könnte, und daß folglich ihm ein einziger Muskel hinreichend wäre, den ganzen Charakter des Menschen daraus zu calculieren.533
Christliche Konfessionen, Sekten, Berufe, Stände und Temperamente soll der ideale Physiognom erkennen können.534 Diese hätten Einfluss auf verschiedene Arten von Physiognomien:
die Anatomische, die Physische, die Medizinische und die Intellektuelle.535 Exklamationen
ersetzen Explikationen, Leser-Anreden die Sachbezüge, Fragen, Aufforderungen, Schlagworte ganze Sätze, Metaphern die abstrakten Begriffe.536 Kurz, suggestive, rhetorische Kommentare begleiten die Bildtafeln der Physiognomischen Fragmente. Lavater versucht i.d.R. mittels
seiner Erfahrung die Intuition der Leser zu kultivieren, nicht aber klar formulierte Regeln zur
Diskussion zu stellen, da die Physiognomie offenbar noch nicht so weit ist. 81 Seiten „Physi529
Vgl. Voßkamp 2002, 150-163, hier 150.
Lavater 1775, 1.
531
Vgl. Pabst, Stephan: Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei
Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Heidelberg 2007, 33.
532
Lavater 1775, 13
533
Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik, in: ders.: Werke 1771-1773, Bd. 4. Hg. v. Ursula CaflischSchnetzler, Zürich 2009 (Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, 10. Bde. Hg. v. Ursula CaflischSchnetzler, Zürich 2001ff., Bd. 2), 517-712, hier 568.
534
Vgl. ders., 517-712, hier 621ff.
535
Vgl. Lavater 1775, 14.
536
Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Die „Sprache“ der Bilder als Anlass des Schreibens: Spielformen des literarischen Bildkommentars bei Lavater, Lichtenberg, Jean Paul und Calvino, in: JbJPG 30 (1995), 105-164, hier 118.
530
123
ognomische Uebungen zur Prüfung des Physiognomischen Genies“ stellt er an das Ende des
ersten Bandes. Eine zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichte Schrift von 1789 enthält schließlich 100 kurze Maximen, von denen 55 illustriert sind.537 Erdichtete Silhouetten538 wären
wohl ein Resultat dieser Anstrengung. Eine Konzentration auf Gesichtszüge539 erklärt sich aus
der notwendigen Einschränkung des weiten Forschungsfeldes und der relativ leichten Zugänglichkeit für den Beobachter. Eine Verwissenschaftlichung der Beobachtung muss das
Ziel sein, da die meisten Zeichner nur Nebel und Gewölk sähen und die graphische Darstellung vor aller Interpretation zu wünschen übrig ließen.540 Folglich bemühte er sich um die
Reduzierung der handwerklichen Anforderungen.541 Er entwickelte einen Stuhl zum Silhouettieren, bei dem das Freihandzeichnen oder -schneiden der Profillinie zum Abpausen wurde.
Ähnliches gilt für die Lochkamera, die andere als Hilfsmittel einsetzten.542 Ein Instrument
zum Vermessen der menschlichen Stirn lieferte zuverlässige Daten über deren Proportionen.543
Zur Verwissenschaftlichung der Zuordnung von Charakter und Physiognomie im heutigen
Sinn trägt Lavater nichts bei. Seine Fragmentierung des beobachteten Objekts in Stirn, Nase,
Augen, Lippe, etc. erleichtert das Vergleichen. Parallelisierungen und Kontrastierungen könnten aber nur zu Erkenntnisgewinnen führen, wenn genügend valide Innen-AußenBeziehungen ermittelt worden wären. Als Ersatz für solche dienen ihm Kunstwerke als Speicher physiognomischer Erfahrungen und subjektives Wissen über Verwandte, Freunde und
Bekannte. Idealisierung, Dämonisierung und Typisierung stellen sich auf diese Weise ein.
Fehlurteile sind nahezu ‚vorprogrammiert‘. Noch ehe er sich bei dem Bild eines ihm vorgelegten Schwerverbrechers furchtbar geirrt und blamiert hatte, gestand er die Möglichkeit massiver Fehler bei der Interpretation prophylaktisch ein.544 Der zunehmende Rechtfertigungs-
537
Es handelt sich um Lavaters Vermischte physiognomische Regeln. Manuscript für Freunde mit einigen charakteristischen Linien. Erstes Hundert, zum Besten der Armen, beschrieben in: Rosenberg, Raphael: Johann
Caspar Lavater: Die Revolution der Physiognomie aus dem Geist der ästhetischen Linientheorie, in: Matthias
Haldemann (Hg.): LINEA. Vom Umriss zur Aktion. Die Kunst der Linie zwischen Antike und Gegenwart, Ostfildern 2010, 72-85, hier 77ff. Dieses ‚Werk‘ erschien posthum und wird auch in der Sekundärliteratur als fünfter
Band der Physiognomischen Fragmente bezeichnet; z.B. bei Voßkamp 2002, 150-163, hier 150.
538
Vgl. Lavater 1775, 122.
539
Vgl. ders., 13.
540
Vgl. ders., 145 und Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 3, Leipzig / Winterthur 1777, 15.
541
Vgl. Joost 2001, 19-36, hier 62.
542
Vgl. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und
Menschenliebe, Bd. 2, Leipzig / Winterthur 1776, 92 und Bernhard Zeller (Hg.): Luise Duttenhofer. 5.April
1776 – 16. Mai 1829. Eine Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar zum 150. Todestag (Marbacher Magazin 13, Sonderheft), Marbach 21990, 4.
543
Vgl. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und
Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig / Winterthur 1778, 239ff.
544
Vgl. z.B. Lavater 1775, 7.
124
druck, dem er sich ausgesetzt fühlt, nötigt ihn zunehmend, seine Beschränkung auf das Gesicht aufzugeben. Schädel, Hände, Handschriften, Krankheitsbilder und das ganze Tierreich
sollen die Allgemeingültigkeit der Physiognomik beweisen.545 Die Flora scheint sich ihm zu
widersetzen, obwohl er die bäuerliche Ernteprognose als physiognomische Tätigkeit ansieht.546 Die Auswertung von „tierischen“ Merkmale beim Menschen, die die Aktivierung
kulturell festgelegter Klischees zum Verhalten bestimmter Tierarten impliziert und noch der
Renaissancegelehrte della Porta in Anlehnung an die Antike praktizierte, lehnt er vollständig
ab.547
Stellt sich am Schluss die Frage, wozu das Ganze gut sei? Lavater sieht einen Nutzen für viele
Berufs- und Personengruppen im Umgang miteinander: für Regenten, Richter, Prediger, Seelsorger, Ärzte, Maler, Eltern, Kinderlehrer, Reisende, Freunde, Philosophen.548 Sie soll der
moralischen Verbesserung des Individuums und der „Beförderung der Menschenliebe“ dienen, aber ausdrücklich nicht dessen Verurteilung.549 Hier stellen sich ethische Fragen.
Kritisiert man Physiognomik, gibt es eine methodische und eine ethische Seite. Letztere wird
umso virulenter, je weniger Zuverlässigkeit physiognomischen Studien beigemessen werden.
Die Synopse Lavaters bewegte sich zum letzten Mal in den Grenzen dessen, was zeitgenössisch für wissenschaftlich gehalten wurde.550 Die Existenz einer Physiognomik war nicht das
Skandalon gewesen, sondern die Behauptung ihrer Wissenschaftlichkeit.551
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) war Experimentalphysiker in Göttingen, Philosoph, Kritiker und Schriftseller in einer Person.552 Mit zwei Dingen forderte ihn die Physiognomik heraus. Erstens dürfte er sich als lebender Beweis für das Nichtzutreffen der Lehre
Lavaters gefühlt haben. Als körperlich missgebildeter Mensch, der nicht dem Idealbild eines
schönen Mannes entsprach, hätte er einen schlechten Charakter haben müssen.553 Zweitens
kritisierte er das Wissenschaftsverständnis Lavaters.
In seiner Streitschrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen von 1777 stilisiert er sich
zum Liebhaber der Physiognomik, der sich bislang in der Existenz gesicherter Resultate stets
545
Vgl. Lavater 1776, 137ff.; Lavater 1776, 137ff.; Lavater 1777, 101ff. und 365ff.; sowie Lavater 1778, 356ff.
Vgl. Lavater 1775, 48.
547
Vgl. Lavater 1776, 218 und Paolella, Alfonso: Die Physiognomie von Della Porta und Lavater und die
Phrenologie von Gall, in: Morgen-Glantz. Zeitschriftschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 18
(2008), 139-151, hier 147.
548
Vgl. Lavater, Von der Physiognomik, Ausgewählte Werke, Bd. 4, 517-712, hier 612.
549
Vgl. 1775, VI (nicht paginierte Vorrede) und 100.
550
Vgl. Pabst 2007, 13.
551
Vgl. ders., 21.
552
Vgl. Joost 2001, 61- 80, hier 61.
553
Vgl. ders., 61-80, hier 64ff.
546
125
betrogen sah.554 Er glaubt an keine physiognomischen Genies mehr. Sein Begriff von Physiognomik ist enger gefasst als der von Lavater:
daß wir das Wort Physiognomik in einem eingeschränkten Sinn nehmen, und darunter die Fertigkeit
verstehen, aus der Form und Beschaffenheit der äußeren Teile des menschlichen Körpers, hauptsächlich
des Gesichts, ausschlüßlich aller vorübergehenden Zeichen der Gemüthsbewegungen, die Beschaffenheit des Geistes und Herzens zu finden; hingegen soll die ganze Semiotik der Affekten oder die Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemüthsbewegungen, nach allen ihren Gradationen und Mischungen
Pathognomik heißen.555
Damit gehört nicht mehr das zur Physiognomik, was die Gesichtszüge formt. Die pathognomischen Phänomene sind sein wunder Punkt. Er grenzt sie aus seinen Beobachtungen aus, da
sie die Gesichtszüge überdecken. Lichtenberg befürchtet, dass ein Physiognom mit einstudiertem Mienenspiel getäuscht werden könnte.556 Dementsprechend meint er, dass es nützlicher
wäre, „aus bekannten Handlungen eines Menschen, und die zu verbergen er keine Ursache zu
haben glaubt, andere nicht eingestandene zu finden“.557 Lavaters riesige Silhouetten-, Gemälde- und Kupferstich-Sammlung ist damit als Erkenntnisquelle wertlos. Sie wird „in ihrem
eigenen Fett ersticken“.558
Suggestive Rhetorik, Willkür bei der Interpretation und die Auswertung von Christusköpfen
erregen seinen Anstoß.559 Er will gar nicht ausschließen, dass die Physiognomie vom Inneren
des Menschen abhängt, aber er sieht keine Möglichkeit zur Verwissenschaftlichung der Methodik.560 Fehlurteile, die von Willkür bei der Interpretation zeugen, sind zwangsläufig die
Folge. In seinem nicht veröffentlichten Fragment von Schwänzen als Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten von 1783 parodiert er für seinen Freundes- und Bekanntenkreis Lavaters Werk.561 Schweineschwänze und Zöpfe von Studenten werden in durchaus sexueller
Konnotation besprochen.562 Dabei erfahren die Schweine eine massive Anthropomorphisierung.563 Werden Schwänze in ihrem Wuchs noch vom Körper bestimmt, ist dies bei den Perü554
Lichtenberg, Georg Christoph: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu[r] Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: ders.: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte [und] Erklärung der Hogarthischen
Kupferstiche, Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1972 (Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg. v. Wolfgang
Promies, Darmstadt 1967ff., Bd. 2), 256-295, hier 260ff.
555
Ders., 256-295, hier 264.
556
Vgl. ders., 256-295, hier 282.
557
Ders., 256-295, hier 293.
558
Ders., 256-295, hier 277.
559
Vgl. ders., 256-295, hier 268f. und 272f.
560
Vgl. ders., 256-295, hier 264ff.
561
Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph: Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten, in: ders.: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte [und] Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, Bd. 3. Hg. v.
Wolfgang Promies, Darmstadt 1972 (Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1967ff.,
Bd. 2), 256-295, 533-538. Andere veröffentlichten sogar satirische Kritik an Lavater, z.B. Friedrich Maximilian
Klinger in seinem Roman Faust Leben, Thaten und Höllenfahrt (1791). Vgl. Siegrist, Christoph: Satirische Physiognomiekritik bei Musäus, Pezzl, Klinger, in: Wolfram Groddeck und Ulrich Stadler (Hgg.): Physiognomie
und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität, Berlin / New York 1994, 93-112, hier 106.
562
Vgl. Joost 2001, 61- 80, hier 67.
563
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 3, 256-295, hier 335ff.
126
cken-Zöpfen nur noch indirekt gegeben. Sie sind von einer Person in Hinblick auf Selbstdarstellung zwar ausgesucht, oftmals aber vom Geldbeutel her determiniert. Lavater scheint
überhaupt nicht von Umwelteinflüssen auf das äußere Erscheinungsbild eines Menschen auszugehen. Sein von innen bestimmtes Handeln setzt den Menschen offenbar diesen erst aus.
Die Stigmatisierung hässlicher Menschen im Namen der Physiognomik stößt auf seine scharfe Ablehnung; er sieht den Wert der Toleranz in Gefahr.564 Der Schönheitsbegriff ist für ihn
relativ und ein Konstrukt Winckelmanns, dem nun alle unterworfen werden müssten.565 Damit ist auch die Selbstbestimmung als oberstes Ziel der Aufklärung in Gefahr.
4.1.2. Silhouetten – die Physiognomik im Alltag
Parallel zum physiognomischen Diskurs existierte von etwa 1750 bis 1860 eine Begeisterung
für Silhouetten, die sich erst mit der langsam aufkommenden Fotografie legte. Eine ausführliche Definition des Begriffs „Silhouette“ wird in der Fachliteratur meist unterlassen, da
scheinbar Klarheit hinsichtlich seiner Bedeutung herrscht. Als Silhouette oder Schattenriss
wird hier die manuell fixierte Projektion eines dreidimensionalen Lebewesens oder Gegenstandes auf einen zweidimensionalen Bildträger verstanden. Eine geschlossene Umrisslinie
mit monochromer Farbfüllung ist ihr Ergebnis. Eine Verkleinerung des Abbilds ist meist der
Regelfall. Sie findet entweder im Kopf des Silhouetten-Herstellers statt oder ganz maßstabsgetreu mit Hilfe eines „Storchschnabels“, der an einer bereits vorhandenen Umrisslinie angesetzt werden muss.566 Auf verschiedene Art und Weise lässt sich eine rudimentäre Binnenzeichnung herstellen. Der Übergang zur ausgearbeiteten Zeichnung ist graduell. Informationen über Physiognomie liefert die Kontur, ggf. zusammen mit den Details aus der umschlossenen Fläche. Die meisten Informationen bietet der Umriss, wenn eine Person im Profil gezeigt wird.567 Eine Silhouette kann mit schwarzer Farbe auf jedes Schreibpapier gemalt oder
aus Papieren beliebiger Färbung ausgeschnitten werden.568 Auf die verschiedenen Formen
einer ästhetischen Veredelung einzugehen, würde hier zu weit führen. Scherenschnitte bieten
564
Vgl. ders., 256-295, hier 257.
Vgl. ders., 256-295, hier 292.
566
Vgl. Joost 2001, 61- 80, hier 63 und Artikel "Storchschnabel", in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomischtechnologische Enzyklopädie, Bd. 174, Berlin 11840, 589f. (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek
Trier http://www.kruenitz.uni-trier.de/, 1.10.2013).
567
Vgl. Rosenberg 2010, 72-85.
568
Vgl. Carsten, Jöhnk: Ein Konvolut aus dem physiognomischen Kabinett Johann Kaspar Lavaters im Besitz
des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg, in: Jb des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg N.F.
15/16 (1996/1997), 99-112, hier 106 und Riemann-Reyher: Marie Ursula: Licht- und Schattenspiele mit Schere
und Messer statt Bleistift. Zu Adolph Menzels Scherenschnitten, in: Ackermann / Friedel 2001, 121-140 und
Hopf, Angela / Hopf, Andreas: Schattenbilder, Silhouettes. Scherenschnitte, Silhouetten, Weißschnitte, Schattenrisse, München 1986.
565
127
den Vorzug, als Schablonen beliebig viele Reproduktionen zu ermöglichen.569 Silhouetten
besitzen oft mehr als nur einen ‚Doppelgänger‘.
Wozu waren aber Silhouetten gut? Neben der bereits angesprochenen physiognomischen
Analyse dienten sie, wie heute Fotos, als kleine Geschenke an Freunde, Bekannte oder Leute,
mit denen man in Kontakt kommen wollte.570 Sie wurden entweder direkt übergeben oder
aufgrund ihres geringen Gewichts Briefen beigelegt. Das geringe Format und Gewicht förderten die Verbreitung der Silhouetten.571 Für den Geber hat also die Silhouette eine Repräsentationsfunktion, für den Empfänger im Idealfall eine Memorialfunktion.572 Ihre Betrachtung
führt zur Vergegenwärtigung des Dargestellten. Dies ist in einer Zeit, in der Mobilität und
Geschwindigkeit in Pferdestärken gemessen wurden, von enormer Bedeutung. Trennten sich
die Lebenswege von zwei Freunden, kam es vor, dass sie sich auf Jahrzehnte nicht mehr sahen oder gar nie mehr einander begegneten, weil sie beruflich, familiär oder gesundheitlich
unabkömmlich waren, obwohl sie es sich finanziell hätten leisten können. Silhouetten wurden
gesammelt und getauscht. Damit wurde zum einen der menschliche Sammeltrieb befriedigt,
zum anderen das ‚soziale Netzwerk‘ gepflegt. Auch in Stammbücher der Studenten fanden
Silhouetten ihren Eingang.573
Natürlich konnten Silhouetten auch dekorative Zwecke erfüllen. Sie ließen sich in Bilderrahmen präsentieren, an Scheiben oder an Lampenschirmen befestigen.574 Der romantische Maler
Philipp Otto Runge schnitt unzählige Blütenpflanzen und Zweige mit Blättern für die Montage auf Tapeten aus, doch seinen Freunden waren sie, betrachtet man die Überlieferungslage,
zu schade für diesen Zweck.575 In den Pflanzen sah er die göttliche Offenbarung, geprägt von
der romantischen Vorstellung, dass die Natur eine nicht entschlüsselte Hieroglyphenschrift
sei.576 Nebenbei waren sie auch Fingerübungen für die Pflanzen-Arabesken seiner nicht mehr
vollendeten Gemäldeprojekte.577 Jeder konnte den Silhouetten seine ganz eigene Bedeutung
im Leben beimessen. Die Interpretation von Silhouetten war ein gesellschaftliches Vergnü569
Zur Kopierfreudigkeit vgl. Denk, Claudia: Jean Huber und Voltaire – Die Silhouette als Kunststück und Medium der Inszenierung, in: Ackermann / Friedel 2001, 25-36, hier 28.
570
Vgl. Joost 2001m 61-80, hier 62f.
571
Vgl. Denk 2001, 25-36, hier 28ff.
572
Vgl. Markus Bertsch / Uwe Fleckner / Jenns Howoldt / Andreas Stolzenburg (Hgg.): Kosmos Runge. Der
Morgen der Romantik, München 2010, 347.
573
Vgl. Joost 2001, 61-80, hier 64. Vorzügliche Abbildungen vgl. Raffael, Eva: Galilei, Goethe und Co. Freundschaftsbücher der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Ein immerwährender Kalender, Berlin 2012, 16f., 54, 67
und 91.
574
Vgl. Dreyer, Ortrud: Die Modernität des Kunstkonzepts. Anmerkungen zu Scherenschnitten Philipp Otto
Runges, in: Ackermann / Friedel 2001, 81-114, hier 83 und Bertsch / Fleckner / Howoldt / Stolzenburg 2010,
361 und 362, Anm.: 14.
575
Vgl. Dreyer 2001, 81-114 und Abbildungen vgl. Bertsch / Fleckner / Howoldt / Stolzenburg 2010, 360ff.
576
Vgl. ebd.
577
Vgl. Dreyer 2001, 81-114, hier 83.
128
gen.578 Vorlesen, gemeinsam musizieren und ‚basteln‘ diente nicht nur in Salons, sondern
auch in bürgerlichen Haushalten der Unterhaltung nach Feierabend. Sicherlich kann man Silhouetten noch weitere Funktionen zuschreiben, wie das Einsparen von gemalten Porträts.
Die Herkunft des Begriffs Silhouette legt dies nahe. Er geht auf Etienne de Silhouette (17091767) zurück, der unter dem französischen König Ludwig XV. Finanzminister war. Wegen
der verschwenderischen Hofhaltung des Absolutismus musste er die Staatsfinanzen sanieren
und einen rigiden Sparkurs fahren. Diesen ‚Geiz‘ verband man so stark mit seiner Person,
dass alles Billige und Minderwertige „Silhouettes“ in Paris genannt wurde. So unterstellte
man ihm die Erfindung der Schattenrisse. Nicht teure Miniaturporträts, sondern preiswerte
Schattenrisse sollen seine Wohnräume geschmückt haben. Das älteste materielle Zeugnis, das
man als Silhouette im beschriebenen Sinne bezeichnen könnte, datiert auf das Jahr 1631.579
Wie immer kann man auch in die Antike zurückgehen. Mitte des 18. Jahrhunderts setzt die
Rezeption der sogenannten Ursprungslegende der Malerei ein,580 die Plinius d. Ä. aufgezeichnet hat:
Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades aus Sikyon als
erster, ähnliche Bilder aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem
jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht den Schatten seines Gesichtes mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit daraufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Ofen brannte und ausstellte; es soll im Nymphaion bis zur Zerstörung von Korinth
durch Mummius [146 v. Chr.] aufbewahrt worden sein. (Plin., nat., 35, 151) 581
Diese Geschichte ruft einen Kontext auf, in dem Schattenrisse lange vor der Mode des französischen Finanzministers eine dekorative Rolle gespielt haben. Schon auf der rot- und schwarzfigurigen Keramik der griechischen Antike treten Silhouetten als ‚Malerei‘ auf. In der Weimarer Klassik maß man auch diesen Altertümern wieder eine größere Beachtung bei. Der
Schwarz-Rot-Gegensatz ließ sich leicht auf die Schwarz-Weiß-Opposition übertragen. Bei der
Scherenschnittkünstlerin Luise Duttenhofer (1776-1829) sind, allerdings erst um 1800, Studien zur griechischer Keramik bekannt.582 Möglicherweise ergeben sich die oben genannten
Gemeinsamkeiten aus einer eigenen Entwicklung, was neue Impulse gab. Mit dem Aufkommen des Klassizismus und der literarischen Klassik erfuhren die Silhouetten offenbar eine
578
Vgl. Schmölders, Claudia: Profil sucht en face. Über Lavaters Theologie der Schatten, in: Ackermann / Friedel 2001, 37-41.
579
Vgl. Eversberg, Gerd: „Ombres chinoises.“ Zur Geschichte eines Medienspektakels seit dem siebzehnten
Jahrhundert, in: Harro Segeberg (Hg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in
Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films 1), München 1996, 45-96, hier 48.
580
Vgl. Sedda, Julia: Antikes Wissen. Die Wiederentdeckung der Linie und der Farbe Schwarz am Beispiel der
Scherenschnitte von Luise Duttenhofer (1776-1829), in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens
im 18. Jahrhundert, Berlin / New York 2008, 479-488, hier 485.
581
Plinius Secundus, Gaius: Naturkunde (naturalis historiae). Buch 35. Farben. Malerei. Plastik. Hg. v. Roderich
König, München 1978. Da diese Stelle häufig entstellend bis fehlerhaft wiedergeben und zitiert worden ist, ist
hier eine inhaltlich zutreffende, sprachlich eher unschöne Übersetzung der Legende eingefügt worden.
582
Vgl. Sedda 2008, 479-488, 480ff.
129
Aufwertung. In Verkennung der ursprünglichen Polychromität wurden farblose Marmor- und
Bronzeskulpturen zum ästhetischen Ideal erklärt. Silhouetten landeten auf kostbaren Porzellan-Produkten,583 also wieder auf Gefäßen.
Die im letzten, eingerückten Zitat geschilderte Abschiedsszene des korinthischen Liebespaares wurde auf Gemälden und Druckgraphiken dargestellt.584 Literaten scheinen sich ebenfalls
des Stoffes bemächtigt zu haben. In Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht klingt die Geschichte jedenfalls an. Erasmus Spikher erschlägt in Notwehr einen Nebenbuhler und muss
fliehen. Vor Spikhers Abreise bemächtigt sich Giulietta seines Spiegelbildes als Liebespfand
(vgl. AS 349f.). In der überlieferten Geschichte von Plinius muss der griechische Jüngling
ebenfalls in die Fremde aufbrechen. Seine Geliebte, die Tochter des Töpfers, bemächtigt sich
einer Abformung des Schattens als Liebespfand. In Hoffmanns Fantasiestück ist das verschenkte Spiegelbild von dem verkauften Schatten bei Chamisso inspiriert. Schatten und
Spiegelbild sind als Liebespfand vergleichbar.
583
Vgl. Däberitz, Ute: Die Porzellanmanufaktur in Gotha, in: Gabriele Rommel (Hg.): ALL*TAGs*WELTEN
DES FRIEDRICH VON HARDENBERG (NOVALIS), Widerstedt 2009, 208-209. Chamisso war in seiner
Jugend als Porzellanmaler tätig. Vgl. Blamberger 1996, 109-117, hier 114.
584
Vgl. Sedda 2008, 479-488, hier 485.
130
4.2. Physiognomik und Physiognomie in den Werken Chamissos, Hoffmanns und Jean
Pauls
4.2.1. Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Chamisso
Peter Schlemihls wundersame Geschichte lässt sich zwar nicht direkt mit der überlieferten
Legende von Plinius in Verbindung bringen, aber sehr wohl mit der Ästhetik der Silhouetten.585 Der graue Mann kauft Peter Schlemihl den Schlagschatten quasi als Kunstwerk ab. Er
kniet vor Schlemihl nieder und löst mit einer „bewundernswerten Geschicklichkeit“ (PS 29)
seinen Schatten vom Gras, ehe er ihn zusammengefaltet und -gerollt einsteckt. Dies geschieht
allerdings auf magische Weise, ohne die für einen Silhouetten-Schneider typischen, instrumentellen Hilfen, wie Schere oder Messer. Da der Umgang mit dem Schatten auf eine mehr
oder minder elastische Materialität schließen lässt, denkt man an Papier, Leder oder Stoff, aus
denen Silhouetten gefertigt wurden (s.o.). Dementsprechend hält es der graue Mann für möglich, dass Motten den Schatten zernagen könnten (vgl. PS 67). Anders als beim Silhouettieren
erfolgt keine Verkleinerung von Schlemihls grauem Abbild, das etwa in Lebensgröße gewonnen wird, da es sonst zum Transport nicht gefaltet und gerollt werden müsste.
Schlemihl empfindet bald den Verkauf des Schattens als Verlust und lässt einen Maler kommen. Dieser sieht sich außer Stande, einen falschen Schlagschatten anzufertigen, der mitwandert (vgl. PS 35). Bei der „leisesten Bewegung“ (ebd.) würde er ihn verlieren. So wenig man
sich einen maßgeschneiderten Schatten anfertigen lassen kann, ist es auch möglich, das eigene
physiognomische Erscheinungsbild völlig mitzubestimmen.
Seine große Bedeutung für das alltägliche Leben wird immer wieder im Verlauf des Textes
deutlich, als gegeben hingenommen und vom Protagonisten nicht weiter reflektiert. Schon
gleich nach der Ankunft in der Hafenstadt taxiert der Hausknecht eines Gasthofs Schlemihls
Äußeres in Hinblick auf seine Zahlungsfähigkeit (vgl. PS 23ff.). 586 Der Betrachtete bedient
sich selbst ebenfalls mit der größten Selbstverständlichkeit der Physiognomik, ohne sie gelernt zu haben. Er nimmt Bendel in seinen Dienst, weil er „dessen treue und verständige Phy585
Schon eine Schlemihliade zu Chamissos Zeiten, Die Erinnerungen an Peter Schlemihl, verharmlosen den
dämonischen, grauen Mann zu einem Scherenschnittkünstler. Vgl. hierzu Braun 2007, 245ff. 1907 erschien
Chamissos Buch mit getuscht wirkenden Silhouetten des Illustrators, Malers und späteren Bühnenbildners Emil
Preetorius (1883-1973). Vgl. Willer, Ute: Adelbert von Chamissos ››Schlemihl‹‹ – Ein ››dankbarer Stoff‹‹ für
die Buchkünstler, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 115/3 (1989), 33-46, hier 38ff.,
Lehmann 1995, 138ff. und 251ff., Brüggemann, Heinz: Peter Schlemihls wundersame Geschichte der Wahrnehmung. Über Adelbert von Chamissos literarische Analyse visueller Modernität, in: Neumann / Oesterle 1999,
143-188, hier 165 und Plews, John L.: "Aus dem Gesicht verloren": Lavater’s Physiognomical Shade and the
Coming-Out Story of Chamisso’s Peter Schlemihl, in: A Journal of Germanic Studies 40/4 (November 2004),
328-348, hier 330.
586
Vgl. Braun 2007, 204.
131
siognomie“ gleich lieb gewinnt (PS 31). Erstaunlicherweise bestätigen sich Treue und Verstand als rasch diagnostizierte Wesensmerkmale über einen längeren Zeitraum hin. Die Handlung suggeriert, dass Schlemihl sich in keinem Mitmenschen irrt. Rascal wird als „abgefeimter Spitzbube“ (PS 38) für Spionagezwecke unter die Dienerschaft aufgenommen, obwohl er
nur eine gewisse Gewandtheit in seinem Verhalten an den Tag gelegt hat (vgl. ebd.). Und
Tatsächlich bestiehlt er Schlemihl und hetzt die Bürger einer ganzen Stadt gegen ihn auf
(s.u.). Auch in der Bedrohlichkeit des grauen Mannes, der sich letztendlich für seine Seele
interessiert, hat er sich nicht getäuscht; nur zieht er nicht die richtigen Konsequenzen aus seinem Wissen. Diese Beispiele stellen die Zuverlässigkeit der Physiognomik als Wissenschaft
nicht in Frage, aber ihren Nutzen. Sie hilft dem Reisenden nicht, sich besser vor Gefahren zu
schützen.587
Schlemihl besitzt von Anfang an ein deterministisches Weltbild, wie es auch der Physiognomik zu Grunde liegt. Sein Glaube an die Vorsehung verstärkt sich sogar:
Ich habe […] die Notwendigkeit […] als eine weise Fügung verehren lernen, die durch das gesamte
große Getrieb weht, darin wir bloß als mitwirkende, getriebene treibende Räder eingreifen; was sein
soll, muß geschehen, was sein sollte, geschah, und nicht ohne jene Fügung, die ich endlich noch in meinem Schicksale und dem Schicksale derer, die das meine mit angriff, verehren lernte. (PS 60)
Nichts ist dem Zufall überlassen. Der implizite Autor teilt offenbar diese Meinung; denn alle
Figuren tragen sprechende Namen.588 Der Name „Schlemihl“ spielt auf eine Pechvogel-Figur
in der jüdischen Überlieferung an – und tatsächlich hat er immer Pech, wenn er in der Gemeinschaft Fuß fassen will.589 „Rascal“ heißt auf Englisch „Schuft“, Bendels Tugend der
Treue ist „verbindlich“, der Mode-Name Mina verweist auf reine Liebe, die Minne, während
in Fanny der „fun“ (engl. Spaß) zu stecken scheint.
Wenn Schlemihl den Schatten aus Habgier verkauft hat, müsste seine Physiognomie unter der
Sünde leiden; denn jede negative Persönlichkeitsentwicklung soll von ihr über kurz oder lang
angezeigt werden. Erst nach dem Zweikampf mit dem Teufel um seinen Schatten, ein Jahr
nach dem fatalen Handel, erfährt man von einer massiven Alterung Schlemihls (vgl. PS 55).
Hier scheinen sich die Gesetzmäßigkeiten der Physiognomie zu bestätigen.
An der Vermittelbarkeit der Physiognomik lässt der Text allerdings Zweifel aufkommen. Peter Schlemihls intelligentem Diener Bendel gelingt es nicht, trotz ordentlich memorierter Personenbeschreibung den grauen Mann zu erkennen, als er von diesem angesprochen wird (vgl.
PS 33f.). Er dürfte genauso viele Informationen, wie der Leser, erhalten haben:
587
Vgl. Lavater 1775, 48.
Der fiktive Herausgeber berichtet von keinen editorischen Eingriffen.
589
Vgl. Adalbert von Chamisso an Hippolyte, 17.3.1821, in: Chamisso und seine Zeit. [mit 27 Briefen Chamissos 1819-1830], Leipzig 1881, 133f. und R., S.: Schlimmasel, in: Georg Herlitz / Bruno Kirscher (Hgg.): Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch jüdischen Wissens in vier Bänden IV/2 (S-Z).
588
132
Ein stiller, dünner, hagrer, länglichter [sic!], ältlicher Mann, der neben mitging, und den ich noch nicht
bemerkt hatte, steckte sogleich die Hand in die knapp anliegende Schoßtasche seines altfränkischen,
grautaffentnen Rockes, brachte eine kleine Brieftasche daraus hervor, öffnete sie, und reichte der Dame
mit devoter Verbeugung das Verlangte. (PS 24f.)
Dies ist die einzige Beschreibung einer Physiognomie aus der Feder Schlemihls. Der dämonische Widersacher kommt unauffällig daher; denn der Teufel nimmt als Künstler der Verstellung eine ihm zweckdienliche Gestalt an – und bedient sich keiner furchterregenden Klischees. Dies ist ein ziemlich modernes Teufelsbild. Lichtenberg hat festgestellt, dass Maler
und Dichter sich gerne physiognomischer Übertreibungen in wirkungsästhetischer Hinsicht
bedienen.590 Auf der Ebene des Vergleichs sieht Schlemihl den grauen Mann „voller Furcht
stier an, […] wie ein Vogel, den eine Schlange gebannt hat“ (PS 27), ehe er nur ein Wort gewechselt hat. Zumindest aus der Retroperspektive findet hier ein Vorverurteilen über die Beschreibung der Physiognomie statt. Schlemihl unterscheidet sich in diesem Punkt überhaupt
nicht von der Gesellschaft, mit der er konfrontiert ist. Bemerken die Leute seine Andersartigkeit, zeigen sie Mitleid oder deutliche Angstreaktionen bis hin zur Flucht (vgl. PS 32). Bei der
Schilderung seiner Leiden versäumt er es nicht, Seitenhiebe auf fettleibige Mitglieder der saturierten Bürgerschaft zu verteilen, die er um ihren breiten Schatten beneidet (vgl. ebd.).
Chamissos Werk zeigt deutlich, wie die Physiognomik zur Klärung der eigenen Individualität
und zur Konstitution von Gruppen beiträgt – und letztlich das Miteinander aller bestimmt.
Das Fehlen einer intakten Physiognomie mit Schlagschatten treibt die Handlung in der fiktiven Welt voran.
Lässt die Schildwache der norddeutschen Hafenstadt den schattenlosen Schlemihl noch passieren – offenbar hat sie keine Instruktionen für solch einen Fall – steht am Ende des Aufenthalts im Kurort die Androhung unbestimmter Strafmaßnahmen: „Die örtliche Polizei hatte
mich als verdächtig aus der Stadt verwiesen, und mir eine Frist von vierundzwanzig Stunden
festgesetzt, um deren Gebiet zu verlassen“ (PS 62). Keine logisch-rationalen Gründe werden
für die Ausweisung Peter Schlemihls genannt.591 Sicherlich verhält sie sich im Sinne der Obrigkeit, wenn sie Ruhe und Ordnung wieder herstellt, indem sie die Forderung des Pöbels
nach Entfernung Schlemihls durchsetzt und gegen die Plünderung seines Hauses nicht einschreitet. Lichtenberg befürchtet in seiner Physiognomik-Kritik gerade eine solche gesellschaftliche Gefahr, in voraufklärerische Intoleranz zu verfallen:
[Ich wollte] einigen gefährlichen Folgerungen begegnen, die ich hier und da von Jünglingen und Matronen aus einem bekannten Werk gezogen zu werden anfingen: Ich wollte, daß man nicht zur Beförderung von Menschenliebe so physiognomisierte, so wie man ehmals zur Beförderung der Liebe Gottes
sengte und brennte; Ich wollte Behutsamkeit bey der Untersuchung eines Gegenstandes lehren […]. 592
590
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 3, 256-295, hier 291f.
Vgl. Wilpert 1976, 48.
592
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 3, 256-295, hier 257.
591
133
Diese drastische Bildlichkeit verkehrt Lavaters Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenliebe und -kenntniß in einen Hexenhammer. Ein Peter Schlemihl hätte als
schattenloser Besitzer eines zauberischen Glückssäckels kaum eine Chance bei einem Inquisitionsprozess gehabt.
Der literarische Text provoziert die Frage, was der fehlende Schatten bzw. der vorhandene
bedeuten würde. Obwohl sich Chamisso in der 3.Auflage darüber verwundert zeigt und lustig
macht (vgl. PS 21f.), hinderte dies die Literaturwissenschaft nicht, sich bis weit ins 20. Jahrhundert fast593 ausschließlich um die Interpretation des Schattens zu kümmern.
Ein Mann, der kein Vaterland besäße, sei wie ein Körper ohne Schatten,594 urteilte man vor
dem Hintergrund der Etablierung des Nationalstaatsgedankens im Europa des 19. Jahrhunderts. Wenn aber der Schatten ein Symbol für die Heimat wäre, dürfte sich Schlemihl nicht
schon vor dem Verkauf desselben in der Gesellschaft von Sir John fremd fühlen.595 Dieser
Sachverhalt wird nicht anhand des Texts begründet, sondern eher mit der Biographie des emigrierten Franzosen Chamisso.596 Die Fremdheitserfahrungen von Schlemihl und Chamisso
lassen sich leicht auf andere Außenseiter der Gesellschaft übertragen: z.B. die Juden597 und
Homosexuellen.598 Die Ausgrenzung dieser beiden Gruppen lässt sich zweifelsfrei im histori-
593
Da Chamissos Peter Schlemihl eine kritische Sicht auf die Rolle des Geldes in einer entstehenden, bürgerlichen Gesellschaft wirft, setzen sich zu Recht politisch ‚links orientierte‘ Beiträge der Forschungsgeschichte
immer wieder mit dem Text auseinander. Stellvertretend sei eine lesenswerte, jüngere Publikation genannt:
Breithaupt, Fritz: Urszenen der Ökonomie. Von Peter Schlemihl zur Philosophie des Geldes, in: Marianne
Schuller / Elisabeth Strowick: Singularitäten: Literatur – Wissenschaft – Verantwortung (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae 95), Freiburg im Breisgau 2001, 185-205.
594
Vgl. Flake, Otto: Chamisso, in: ders.: Die Verurteilung des Sokrates. Biographische Essays aus sechs Jahrzehnten (Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 44), Heidelberg 1970,
260-273, hier 267. Argumente gegen derartige Deutungen vgl. Wilpert 1978, 34ff.
595
Vgl. Derjanecz 2003, 16 und 24.
596
Chamisso adeligen Eltern flohen mit ihm vor der Französischen Revolution nach Preußen zu den Hugenotten.
Erst in Berlin lernte er die deutsche Sprache. Als sich die politische Lage in Frankreich entspannt hatte, reiste er
in die ‚Heimat‘. Aus verschiedensten Gründen blieb er dort nicht dauerhaft. Nachdem er als preußischer Soldat
bei einem Sieg der Franzosen eine Hinrichtung wegen Landesverrat befürchten musste, gelang es ihm noch
rechtzeitig, Zivilist zu werden. Als das befürchtete Szenario eintrat, tauchte er vorsichtshalber bei dem befreundeten Graf Friedrich Johann von Itzenplitz in Kunersdorf ab, um nicht als Landsmann der Besatzermacht Unannehmlichkeiten zu bekommen. Während er dort die Kinder des Schlossherrn unterrichtete und dessen Herbarien
ordnete, verfasste er den Peter Schlemihl. Vgl. diese Fußnote bei Fischer, Robert: Adelbert von Chamisso.
Weltbürger, Naturforscher und Dichter, Berlin / München 1990, Langner, Beatrix: Der wilde Europäer. Adelbert
von Chamisso, Berlin 2008 und Mühleisen, Horst: Adelbert von Chamisso in Cunersdorf und Berlin 1813-1838
(Frankfurter Buntbücher 31), Frankfurt a. d. O. 2001.
597
Vgl. Coquio, Catherine: Un Double qui court plus vite que son ombre ou L’étrange histoire de Schlemihl et
Chamisso, in: Op. cit – Littératures Française & Comparée 5 (1995), 285-299, hier 287 und Block, Richard:
Queering the Jew Who Would Be German: Peter Schlemihl’s Strange and Wonderful History, in: seminar 40/2
(2004), 93-110.
598
Erstmals angedeutet bei Hoffmann, Volker: Peter Schlemihl und der Graue. Fremdverführung als teuflische
Selbstverführung, in: Krusche1993, 46-76, hier 53. Eine ausführlichere Behandlung erfährt das Thema Homosexualität in folgenden Publikationen: Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität
eines Tabus von Winckelmann bis Thomas Mann, Göttingen 2002, 155-172 und Plews 2004, 328-348, 334ff.
134
schen Kontext des Werks belegen; denn sie sind heute noch nicht überall und von jedermann
akzeptiert. Indizien im Werk sind rar, aber nicht zu bestreiten.
Wenn Schlemihl nach seinem Unfall als Naturforscher im Hospital erwacht, stellt er folgendes fest: „Ich hieß Numero Zwölf, und Numero Zwölf galt seines langen Bartes wegen für einen Juden, darum er aber nicht minder sorgfältig gepflegt wurde.“ (PS 76).599 Aus dieser Passage wird ersichtlich, dass in der fiktiven Welt eine gleichberechtige Behandlung von Juden
nicht selbstverständlich ist und man diese an der Physiognomie zu erkennen meint. Schlemihl
glaubt dem stereotypen Merkmalskatalog aufgrund seines Bartes zu entsprechen, aber die
‚obligatorische‘ Nasenform fehlt bezeichnenderweise (vgl. PS 76). Er selbst hält sich für keinen Juden (vgl. ebd.), obwohl sein Nachnahme hebräische Wurzeln besitzt.600 Dies übersehen
derartige Interpretationen.601 Hinzu kommt, dass Chamisso seinem Bruder in einem Brief den
Nachnamen Schlemihl erläutern muss, da diesem Durchschnitts-Rezipienten das nötige Wissen fehlte.602 Der Autor besaß jüdische Freunde und hatte damit einen selten ausgeprägten
Bezug zu ihrer Kultur.603 Lügt Schlemihl aus Angst, wie bei seinen Erklärungen für den
Schattenverlust, wenn dieser auffällt? Seine Abstammung verschweigt er nicht, sondern setzt
sie bei seinem Adressaten Chamisso als bekannt voraus, so dass keine Geheimniskrämerei
vorliegt. Peter ist ein christlicher Vorname griechischer Herkunft, den man nur bei einem
konvertierten bzw. einem Christen mit jüdischen Vorfahren zu Chamissos Zeiten erwarten
darf. Wenn Schlemihl implizit bestreitet, ein Jude zu sein, mag sich dies allein auf die Religionszugehörigkeit beziehen. Träfe solches zu, würde es in das Bild der vergeblichen Integrationsbemühungen Schlemihls passen und das Ahasver-Motiv604 aufgrund seiner „nomadic nature“ anklingen.605
Eine verdrängte Homosexualität Peter Schlemihls und Chamissos (re)konstruiert Heinrich
Detering mittels einer Strukturanalyse anhand zahlreicher Zitate aus dem Text und dem
Briefwechsel des Dichters.606 Die beiden Argumentationsstränge verstärken sich wechselweise oder können getrennt voneinander als überzeugend erachtet werden. Skeptiker enger Beziehungen zwischen literarischen Werken und ihrer Autoren wird außer der Suggestion eines
599
Vgl. nochmals Coquio 1995, 285-299, hier 287 und Block 2004, 93-110, hier 94f.
Vgl. Feudel 1982, 694-703, hier 695.
601
Gemeint sind die Interpretationen von Block 2004, 93-110.
602
Vgl. Feudel 1982, 694-703, hier 695.
603
Vgl. Haarmann, Hermann: Fremd in der Welt, zu Hause in der Sprache. Adelbert von Chamisso und die Berliner Romantik, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte 15/2 (1990), 43-54, hier 45.
604
Vgl. Block 2004, 93-110, hier 98. Das brachte man mit seinem Leidensgenossen Spikher in Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht schon in Verbindung. Vgl. Frenschkowski 1995, 132.
605
Block 2004, 93-110, 96.
606
Dazu vgl. Detering 2002, 155-172. Dabei gibt Detering zu bedenken, dass seine Interpretation vom Text zwar
gefordert werde, aber dieser in ihr nicht restlos aufgehe. Vgl. ders., 155.
600
135
solchen Zusammenhangs methodisch kaum eine Angriffsfläche geboten. Sein Hauptargument
ist, dass Mina von Schlemihl mit der Sonne identifiziert werde und die Sonne seine Andersartigkeit sichtbar mache.607 Es bestünde eine Kluft zwischen dem Dunkel der Kutsche und ihr,
als er sie das erste Mal zu Gesicht bekomme. Zuvor habe Schlemihl vergeblich versucht bei
Fanny, seinen Rausch vom Kopf ins Herz zu zwingen. Dies scheint mir allerdings genau das
Gegenteil zu belegen. Dem Protagonist gelingt es nicht, seine sexuelle Begierde mit einer
platonischen Liebeskomponente zu verbinden, und damit eigenen moralischen Ansprüchen
genüge zu leisten. Das Erröten Schlemihls beim ‚Antrag‘ zum Schattenhandel, ist der ungewöhnlichen Situation zuzuschreiben.608 Verbalisierungen von Beziehungen zwischen Männern in empfindsamer Rhetorik, sowohl im Peter Schlemihl, als auch im Briefwechsel mit de
La Foye, sind nicht zu bestreiten.609 Ihre Aussagekraft lässt sich im Nachhinein nicht mehr
zweifelsfrei ermitteln, so dass ihnen nur eine stützende Funktion in Deterings Ausführungen
zugestanden werden kann. Infolge der Auseinandersetzung mit Deterings Beobachtungen und
seiner Argumentationsweise komme ich zu den beiden folgenden Punkten.
Erstens hat die physiognomische Betrachtung eines Menschen unabhängig vom Geschlecht
Ähnlichkeiten mit dem Voyeurismus. Nicht von ungefähr sieht Augustinus den Ursprung der
„falschen“ wissenschaftlichen Neugier und der Wollust in der „Augenlust“, zwischen deren
beiden Polen das Faust-Thema in der Literatur behandelt wird.610 Schlemihl errötet, als er
feststellen muss, dass er und der graue Mann sich wechselseitig beobachtet haben. Dieses
pathognomische Zeichen ist uneindeutig in der Hinsicht, auf welche internalisierte Normen es
sich bezieht. Attraktiv ist der graue, alte Mann sicherlich nicht. Wenn Goethes Werther bzw.
Jean Pauls Lehrer Stiefel im Siebenkäs Scherenschnitte von verheirateten Frauen anbeten oder
gar ins Bett nehmen, ist sexuelles Begehren im Spiel.611 In der Bitte des grauen Mannes um
den Schatten schwingt vor diesem Hintergrund natürlich eine homoerotische Komponente
mit, zumal sie mit dessen Schönheit begründet wird:
Während der kurzen Zeit, wo ich das Glück genoß, mich in Ihrer Nähe zu befinden, hab ich, mein Herr,
einige Mal – erlauben Sie, daß ich es Ihnen sage – wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den
schönen, schönen Schatten betrachten können, den Sie in der Sonne, und gleichsam mit einer gewissen
edlen Verachtung, ohne selbst darauf zu merken, von sich werfen, den herrlichen Schatten da zu Ihren
Füßen. Verzeihen Sie mir die freilich kühne Zumutung. Sollten Sie sich wohl nicht abgeneigt finden,
mir diesen Ihren Schatten zu überlassen? (PS 27f.)
607
Dazu vgl. ders., 156ff.
Vgl. ders., 161f.
609
Vgl. ders., 164.
610
Vgl. Schwann 1984 und Schmidt, Jochen: Goethes Faust: Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk –
Wirkung, München 32011, 17.
611
Zum Silhouetten-Schneiden im Werther vgl. Ohage, August: Zur Rezeption von Goethes Werther-Roman, in:
»Der gute Kopf leuchtet überall hervor«. Goethe, Göttingen und die Wissenschaft, Göttingen, 2000, 210-212,
hier 210. Zum Silhouetten-Schneiden im Siebenkäs vgl. Walter-Schneider: Der zerbrochene Umriss. Über den
Romancier Jean Paul, in: JbJPG 37 (2002), 198-215, hier 198ff. und 204.
608
136
Wenn Schlemihl dies überhaupt als Liebeserklärung versteht, erwidert er sie jedenfalls nicht
mit Gegenliebe. Bislang ist übrigens noch niemanden eingefallen dem Schattensammler Lavater Homosexualität zu unterstellen, obwohl er hauptsächlich Silhouetten von schönen Männern als gute Vorbilder in seinen Physiognomischen Fragmenten abdrucken lässt.
Zweitens zeigt sich nun hier endgültig, wie die Literaturwissenschaftler vorgehen. Sie suchen
akribisch nach Normen, Werten und moralischen Vorstellungen, die das Bürgertum definieren, an die sich ein empirischer Autor angepasst haben sollte, wenn er nachweislich nicht mit
der Zensur in den Konflikt gekommen ist und keinen Skandal provoziert hat. Alles was damals anrüchig oder skeptisch beäugt wurde, kann die Ausgrenzung wegen des Schattenverlusts motivieren. Das Bewusstwerden dieser Kriterien spiegelt sich in der Rezeptionsgeschichte von Chamissos Werk wieder.612 In der Summe der Antworten auf die Schattenfrage
landet man bei Thomas Manns abstrakter Antwort. Er sieht den Schatten als ein Symbol aller
bürgerlichen Solidität, die sich für ihn aus Gediegenheit, Zuverlässigkeit, Maßhalten und Zugehörigkeit ergibt.613 Diese, auf wandelbare Normen beruhenden, Tugenden negieren ein autonomes Subjekt, das sich rational auf ein bürgerliches Ideal hin selbst entwirft und so zur
Souveränität über die inneren und äußeren Mächte gelangt.614 Nicht mehr die Sorge um die
Seele ist gesellschaftlich von Belang, sondern allein ihr sichtbares Substitut:615 „erscheinen
Sie binnen drei Tagen vor mir mit einem wohlangepaßten Schatten, so sollen Sie mir willkommen sein“ (PS 50). Bezeichnenderweise wissen das schon die Schulkinder in ihrem altklugen Spott: ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mitzunehmen (vgl. PS 30). Gleichwohl wird nirgendwo die Frage zufriedenstellend beantwortet, was der Schatten bedeutet.616
Ersetzt man in der Fragestellung das Wort Schatten durch Physiognomie, wundert man sich
nicht über die schillernden Antworten. Wenn die Physiognomik weitgehend als Willkür auf
der Basis unbestreitbarer Merkmale wissenschaftsgeschichtlich erledigt ist, kann es auf die
612
Es fehlt eigentlich nur noch die Deutung, die in Schlemihls Lebensgemeinschaft mit dem Hund Figaro ‚endlich‘ die heute noch tabuisierte Sodomie erkennt: „Er sprang bellend an mich [= Schlemihl] mit tausend rührenden Äußerungen seiner unschuldig ausgelassenen Freude“ (PS 78). Die Stelle, an der Schlemihl den Garten von
Sir John heimlich verlassen will und unerwartet auf den Grauen Mann trifft, ist aufgrund ihrer sprachlichen Einkleidung schon mit dem sexuellen Tabu in Verbindung gebracht worden: „Ich sah ihn voller Furcht stier an, und
war ein Vogel, den eine Schlange gebannt hat“ (PS 27). Vgl. Block 2004, 93-110, hier 102f.
613
Vgl. Mann, Thomas: Chamisso, in: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte,
Frankfurt a. M. 1984, 125-151, hier 147ff.
614
Vgl. Braun 2007, 222.
615
Vgl. ders., 242.
616
Die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten wird schon sehr früh bemerkt. Vgl. Wilpert 1978, 30ff., Kunziar,
Alice A.: »Spurlos ... verschwunden«: »Peter Schlemihl« und sein Schatten als verschobener Signifikant, in:
Aurora. Jb der Eichendorff-Gesellschaft 45 (1985), 189-204. und Neubauer, Wolfgang: Zum Schatten-Problem
bei Adelbert von Chamisso oder zur Nicht-Interpretierbarkeit von ‹‹Peter Schlemihls wundersamer Geschichte››,
in literatur für leser 1986 (1), 24-34. Die Bedeutung des Schattens ist seitdem eine Leerstelle des Textes. Vgl.
Renner, Rolf Günter: Schrift und Natur des Selbst. Peter Schlemihls wundersame Geschichte im Zusammenhang
mit Chamissos Texten, in: DVJS 65/4 (1991), 653-673, hier 654.
137
Frage keine Antwort geben. Chamissos Darstellung des gesellschaftlichen Systems liefert
genügend Stoff, um ihn seinem Ruf gerecht werden zu lassen, der erste moderne Ethnograph
gewesen zu sein.617
Anhand von literarischen Texten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt Christians
zu folgendem Ergebnis: „Die Grenze zwischen Innen und Außen, Oberfläche und Tiefe,
Buchstabe und Geist ist ein (notwendiges) Konstrukt, das die Physiognomik und die Hermeneutik epistemologisch verbindet“.618 Die Versprechen der Physiognomik und der Hermeneutik scheinen identisch zu sein und sich wechselseitig stabilisieren.619 Geht es Chamisso um die
Kritik an der Frage nach Bedeutung? Während Lichtenberg der Physiognomik sehr skeptisch
gegenübersteht, ist für Lavater der Schatten zum Interpretieren wenig, aber reinstes Gold
wert.620 Dies übertreibt Chamisso, wenn er den grauen Mann den Schatten mit Unmengen
Gold bezahlen lässt.
In welchem Verhältnis steht aber Peter Schlemihl als ‚gereifter‘ Naturwissenschaftler zur
Physiognomik? Am Ende der Aufzeichnungen äußert er sich zu seinen Forschungsgebieten:
Ich habe die Geographie vom Innern von Afrika und von den nördlichen Polarländern, vom Innern von
Asien und von seinen östlichen Küsten, festgesetzt. Meine ›Historia stirpium plantarum utriusque orbis‹
steht da als ein großes Fragment der Flora universalis terrae, und als ein Glied meines Systema naturae.
Ich glaube darin nicht bloß die Zahl der bekannten Arten müßig um mehr als ein Drittel vermehrt zu
haben, sondern auch etwas für das natürliche System und für die Geographie der Pflanzen getan zu haben. Ich arbeite jetzt fleißig an meiner Fauna. (PS 78f.)
Kartographie bedeutet Oberflächenbeschreibung des landschaftlichen Reliefs. Die Beschreibung neuer Pflanzen- und Tierarten als Botaniker und Zoologe legt eine idealtypische Physiognomie derselben fest. Als ein Beispiel zeitgenössischer ‚Deskriptionskunst‘ kann Chamissos Erstbeschreibung des Kalifornischen Mohns dienen, den er auf einem Landgang bei seiner
Weltumseglung (1815 – 1818) mit dem Forschungsschiff Rurik entdeckte:621
Linnésche Klasse: Polyandria monogynia „Vielmännige, Einweibige“, Natürliche Ordnung: Papaveraceae Jussieu.
Wesentliche Merkmale: Blütenboden verbreitert, becherförmig, sein erweiterter Rand ungeteilt. Kelch
mützenförmig, abfallend. Blumenkrone vierblättrig. Kronblätter mit ihren Nägeln dem Schlund des Blütenbodens eingefügt, die Staubblätter überragend.
Generative Merkmale: […]
Vegetative Merkmale: […]
Name: […]622
617
Vgl. Kramer, Fritz W. Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.
1977, 70ff.
618
Christians, Heiko: Gesicht, Gestalt, Ornament. Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik
zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte, in: DVJS 74/1 (2000), 84-110, hier 92.
619
Vgl. ders., 84-110, hier 106.
620
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd.3, 256-295, hier 262 und Lavater 1776, 90.
621
Vgl. Weiss, Gernot: Südseeträume: Schlemihls Suche nach dem Glück, in: Aurora. Jb der EichendorffGesellschaft 56 (1996), 111-126, hier 112.
622
Chamisso, Adelbert von: Erstbeschreibung von „Eschscholtzia californica Cham.“ (aus dem Lateinischen:
Friedrich Markgraf), in: ders.: … und lassen gelten, was ich beobachtet habe. Naturwissenschaftliche Schriften
mit Zeichnungen des Autors. Hg. v. Ruth Schneebeli-Graf, Berlin 1983, 65-68, hier 65.
138
So verwundert es nicht, dass der Erlanger Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius
(1794-1868) noch 1824 über die Die Physiognomie des Pflanzenreiches in Brasilien
spricht.623 Die Beschränkung auf ein Land macht sie mit den Worten Peter Schlemihls zu einem Fragment der „Flora universalis terra“. Fragment ist das Schlüsselwort für Lavaters Bemühungen, der sich der Unabschließbarkeit seiner selbstgestellten Aufgabe von Anfang im
Klaren war.
Schlemihls „Systema Natura“ spielt auf den Titel von Linnés Hauptwerk an, 624 mit dessen
binominaler Nomenklatur die Grundlagen der Taxonomie der modernen Biologie geschaffen
worden sind, um damit die göttliche Ordnung der Welt zu zeigen.625 Wie die anderen Naturforscher des 17. bis 19. Jahrhunderts interpretierte er die Regelmäßigkeiten zwischen den Naturdingen nicht als naturnotwendige Abhängigkeiten, sondern als Ausdruck der göttlichen
Ordnung und Vorsehung.626 Sie dringen von dem künstlichen zum „natürlichen System“ vor,
für dessen Entwicklung Schlemihl explizit etwas getan haben will. Vom menschlichen Systematisierungs-Konstrukt will man in den Zeiten vor der Evolutionstheorie sozusagen zu einem Plan der Schöpfung vordringen. Botanik und Physiognomik haben (ursprünglich) ein und
denselben Impetus. Schlemihls wissenschaftliche Tätigkeit wird zur Verehrung der ‚Notwendigkeit‘ stilisiert, nachdem er die verwaisten Wohnhöhlen der Anachoreten in Theben bezieht
(vgl. PS 72). Wer das eine ernsthaft bis zuletzt betreibt, bestätigt implizit das andere.
Berge, Täler, fließende und stehende Gewässer, sowie Pflanzen widersetzen sich nur nach
unserem heutigen Empfinden627 der Physiognomik, da ihnen die abendländische Kultur kein
Innenleben zugesteht, so dass sich Schlemihl auf ‚ungefährlichem‘ Terrain bewegt. Indem
sich sein Forschungsinteresse den Tieren zuwendet – dazu zählt Linné auch schon den Menschen – muss die Physiognomik in den Blick kommen.628 Am Ende steht die Selbstzufrieden-
623
Vgl. Martius, Carl Friedrich Philipp von: Die Physiognomie des Pflanzenreiches in Brasilien. Huldigung der
Königlich-Baierischen Akademie der Wissenschaften in München, zur Feier der fünfundzwanzigjährigen glorreichen Regierung Sr. Majestät des Königs von Baiern Maximilian Joseph den 16ten Februar 1824, München
1824.
624
Haller, Humboldt und Linné liegen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch von Chamisso, wenn Peter Schlemihl
von ihm träumt (vgl. PS 31).
625
Vgl. Morgenthaler, Erwin: Von der Ökonomie der Natur zur Ökologie. Die Entwicklung ökologischen Denkens und seiner sprachlichen Ausdrucksformen (Philologische Studien und Quellen 160), Berlin 2000, 94 und
103.
626
Vgl. Valsangiacomo, Antonio: Die Natur der Ökologie. Anspruch und Grenzen ökologischer Wissenschaften,
Zürich 1998, 74.
627
„[Die Erfahrung] sagt uns, daß jedes Ding in der Welt, […] seine eigene specielle und individuelle Physiognomie habe, daß jede Birne, jeder Apfel, jede Traube, jedes Blatt die seinige habe, woraus wir von seiner innern
individuellen Beschaffenheit urtheilen.“ Lavater, Von der Physiognomik, Ausgewählte Werke, Bd. 4, 517-712,
hier 564.
628
Vgl. Broberg, Gunnar: Homo sapiens: Linnaeus’s Classification of Man, in: Tore Frängsmyr (Hg.): Linnäus
and His Work, Canton 1994, 156-194.
139
heit über seine Forschungstätigkeit. Die Identität von Abbild und Urbild dürfte sich dabei
zunehmend als Illusion erwiesen haben, der mit Fleiß nicht beizukommen ist:
Ich habe nur seitdem, was da hell und vollendet im Urbild vor mein inneres Auge trat, getreu mit stillem, strengen, unausgesetzten Fleiß darzustellen gesucht, und meine Selbstzufriedenheit hat von dem
Zusammenfallen des Dargestellten mit dem Urbild abgehangen. (PS 72)
Skelette und getrocknete Pflanzen, die in Schlemihls Traum und damit in der Fiktion des Textes Chamisso als Naturforscher umgeben, werden statt der lebendigen Organismen beschrieben (vgl. PS 31). Das Mortifikationsproblem der Beobachtung, das sich im Zusammenhang
aller physiognomischen Beschreibung ergibt,629 will sich offenbar der Protagonist der Handlung nicht eingestehen. Gesichter werden bildlich ‚eingefroren‘. Der Körper muss tot sein,
wenn die Seele in die ‚Sammlung‘ des grauen Mannes eingeht. Er hat den sprechenden Kadaver von Sir John in der Rocktasche; nicht das lebende Original (vgl. PS 68).630 Mit seiner unbewussten Utopie steht Schlemihl nicht alleine da. Die Romantiker litten an ihrer Unerreichbarkeit:
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen […,]
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit wieder gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt von Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.631
Schlemihl wirkt in einer realistisch anmutenden Märchenwelt. Wenn Glücksäckel, Tarnkappen, Siebenmeilenstiefel und vergleichbare Phänomene existieren, ist eine Identität von Abbild und Urbild auch nicht mehr ein Ding der Unmöglichkeit. Wiederum entzieht sich Chamissos Werk der Festlegung auf eine Position.
Wie real bzw. fiktiv das Abbild der Wirklichkeit ist, werfen die Rahmen von Peter Schlemihls
wundersamer Geschichte auf, die deren Faktualität behaupten. Hier liegt eine massive Diskrepanz zwischen innen und außen vor. Der zeitgenössische Leser wird dazu gebracht, seine
Alltagswelt als Maßstab ans Geschehen anlegen, was misslingen muss. Der fiktive Chamisso
versucht als Physiognom der Person bzw. Figur „Peter Schlemihls“ habhaft zu werden, der
gleich nach seinem Erscheinen verschwunden ist. Ein Jugendbild (a) wird mit einem Altersbild (b) kontrastiert, was Kontinuität und Wandel in der Physiognomie und der Bekleidung
zugleich zeigt:
629
Vgl. Pabst 2007, 48 und Hoffmann 1993, 46-76, hier 59.
Schlemihl ist damit nicht zum Grauen Mann geworden, sondern er misst der Natur einen unschätzbaren Wert
bei, die er mit Preisgabe seines Schattens zuvor verletzt und verleugnet hat. Vgl. Swales, Martin: Mundane Magic: some Observations on Chamisso’s Peter Schlemihl, in: Forum Mod Lang Stud 12/3 (1976), 250-262.
631
Vgl. Novalis: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren, in: Rommel, Gabriele: Friedrich von Hardenbergs AllTags-Welten aus Dokumenten des Gutsarchives, in: dieselbe 2009, 15-32, hier 16 (in der korrekten Lesung nach
der Handschrift).
630
140
(a) Du wirst Dich noch eines gewissen Peter Schlemihls erinnern, […] ein langbeiniger Bursch[, … der]
linkisch war, und der wegen seiner Trägheit für faul galt. […] Du kannst nicht vergessen haben, […]
wie er uns einmal in unserer grünen Zeit durch die Sonette lief, ich brachte ihn mit auf einen der poetischen Tees, wo er mir noch während des Schreibens einschlief, ohne das Lesen abzuwarten. Nun erinnere ich mich auch eines Witzes, den Du auf ihn machtest. Du […] sagtest: »der ganze Kerl wäre glücklich zu schätzen, wenn seine Seele nur halb so unsterblich wäre, als seine Kurtka.« (PS 17)
(b) Gestern früh bei meinem Erwachen gab man sie [Peter Schlemihls wundersame Geschichte] bei mir
ab, – ein wunderlicher Mann, der einen langen grauen Bart trug, eine ganz abgenützte schwarze Kurtka
anhatte, eine botanische Kapsel darüber umgehangen, und bei dem feuchten, regnichten Wetter Pantoffeln über seine Stiefel, hatte sich nach mir erkundigt und dieses für mich hinterlassen; er hatte, aus Berlin zu kommen, vorgegeben. (PS 18)
Das Altersbild basiert implizit auf Augenzeugenberichten des Hauspersonals Chamissos und
des Nachbarn, dem Maler Leopold. Im Postskriptum des Briefes an Hitzig heißt es: „Ich lege
Dir eine Zeichnung bei, die der kunstreiche Leopold, der eben an seinem Fenster stand, von
der auffallenden Erscheinung entworfen hat“ (PS 18). Die Handzeichnung Leopolds, die im
Buch als Titelkupfer widergegeben wird, hat eine künstlerische Überarbeitung erfahren.632
Sowohl die sprachliche als auch die bildliche Beschreibungen sind als Kopien primärer Verbalisierungen und Visualisierungen anzusehen. Hier gibt es also keine Einheit zwischen Abbild und Urbild. Das Abbild steht zwischen Kopie und Urbild.
Die Gleichzeitigkeit von erinnertem Jugendbild und gegenwärtigem Altersbild ist sowohl auf
der Frame-Ebene von Chamissos Brief, als auch in dem Text Schlemihls gegeben. Der autodiegetische Erzähler blickt auf sein junges Erwachsenen-Alter zurück: zwei Episoden in Jahresabstand werden ausführlich geschildert, die Zeit dazwischen und danach sehr gerafft dargestellt. Der alte Peter Schlemihl kommentiert den Jungen. Chamissos Brief wird dieser Doppelung durch zwei schriftliche Physiognomie-Beschreibungen gerecht.
Diese Perspektivwechsel auf der Ebene der Erzählinstanzen und der Zeitachse zeigen, dass
potenziell jeder jeden beobachten kann, nur nicht sich selbst. Schlemihl beschreibt sich mehr
oder minder unfreiwillig als intensiver Beobachter seiner Umwelt.633 Damit unterscheidet er
sich kaum von den Gesellschaften, in denen er sowohl mit, als auch ohne Schatten keinen Fuß
fasst, trotz seines deutlichen Integrationswillens. Man will Klarheit über jede Person in der
fiktiven, genauso wie in der realen Welt. Das sieht man an der Verdreifachung des Motivs
vom Empfehlungsschreiben: Fouqué als Herausgeber vertraut Schlemihls Manuskript dem
Genius der Bücher an, Chamisso wirbt um Verständnis für Peter Schlemihl bei seinen Freunden Hitzig und Fouqué, der in England ansässige Bruder von Sir Thomas John setzt sich auf
der Handlungsebene brieflich für den jungen Mann ein. Der Inhalt dieses Schreibens wird
nicht mitgeteilt.
632
633
Vgl. Braun 2007, 234.
Vgl. ders., 200ff.
141
Die Person, für die Chamisso sich so einsetzt, erscheint den Lesern als ‚unbeschriebenes
Blatt‘. Schlemihl kann bei seinem Adressaten seine Herkunft und Sozialisation als bekannt
voraussetzen. Da die auffällige Leerstelle in der autobiographischen Schrift nicht von den
mitabgedruckten Briefen geschlossen wird, bleiben die Prämissen für den Schattenhandel im
Dunkeln. Dies trägt deutlich zur Unlösbarkeit der klassischen Interpretationsfrage bei. Die
Erzählrahmen schaffen nur scheinbar Abhilfe, da sie die Figur nur unzureichend umreißen
und zur realen Person werden lassen (s.o.): „Was würde nicht Jean Paul daraus gemacht haben!“ (PS 18), ruft Chamisso in dem Brief an Hitzig, um die Authentizität von Schlemihls
Manuskript zu unterstreichen. Andererseits gesteht er damit ein, dass der Plot von Jean Paul
stammen könnte und damit Dichtung ist. In der dritten Auflage verstärkt sich der Fiktionsmarker. Fouqué schreibt an Hitzig:
Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher ich es Hoffmann zuerst vorlas. Außer sich vor Vergnügen und Spannung, hing er an meinen Lippen, bis ich vollendet hatte; nicht erwarten konnte er, die persönliche Bekanntschaft des Dichters zu machen, und, sonst jeder Nachahmung so abhold, widerstand er
doch der Versuchung nicht, die Idee des verlornen Schattens in seiner Erzählung: ›Die Abenteuer der
Sylvesternacht‹*, durch das verlorne Spiegelbild des Erasmus Spikher, ziemlich unglücklich zu variieren. (PS 20) [Hervorhebung, V.R.]
Auf einmal gibt es einen Dichter der Geschichte. Damit sollte Schlemihl der Fiktion angehören, aber Chamisso meldet sich in einem Widmungsgedicht erneut zu Wort. Schlemihl wird
weiterhin als Freund bezeichnet (vgl. PS 21), eine allen auffällige Ähnlichkeit634 mit diesem
abgestritten. Es wird auf allen Ebenen ein Vexierspiel mit dem Leser betrieben. Es gibt damit
keine Antwort auf die Frage, was die Physiognomie bedeute. In Chamissos wissenschaftlichen Publikationen scheint ihre Beschreibung reiner Selbstzweck. Kalifornischer Mohn ist
kalifornischer Mohn; ein Schlagschatten ein Schlagschatten – und mehr nicht. Die Art und
Weise, ob und wie in einem Erzähltext Bestandteile der Umwelt gesehen, beschrieben und ge‚lesen‘ werden, erlaubt, dem Literaturwissenschaftler eine kritische Wahrnehmung von
Wahrnehmungsmodi und damit eine wissensgeschichtlich aufschlussreiche Metawahrnehmung.635
634
Vgl. Wilpert 1978, 61.
Vgl. Wolf, Werner: Gesichter in der Erzählkunst. Zur Wahrnehmung von Physiognomien und Metawahrnehmung von Physiognomiebeschreibungen aus theoretischer und historischer Sicht am Beispiel englischsprachiger Texte des 19. Und 20. Jahrhunderts, in: Sprachkunst 33 (2002), 301-325, hier 303.
635
142
4.2.2. E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht
In E.T.A. Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht wird gar nicht erst versucht ein mimetisches Abbild der Wirklichkeit zu suggerieren, das ihrem Urbilde entspräche. Die Personenbeschreibungen werden durch intra- und intertextuelle, sowie intermediale Bezüge zu Konstrukten evidenter Künstlichkeit, die eine Anwendung physiognomischer Interpretationssätze im
Sinne Lavaters unmöglich machen. Eine Distinktion der Menschen mittels der Physiognomie
wird unterlaufen, indem ‚alle‘ gleich aussehen und ein ‚instabiles‘ Äußeres aufweisen.
Die Gleichartigkeit der meisten Figuren, das Doppelgängermotiv, lässt sich am besten anhand der beiden Frauengestalten des Textes demonstrieren. Über den etymologischen Gleichklang ihrer Namen, Julia und Giulietta, hinaus stimmen die modischen Details ihrer Kostüme
und Accessoires frappierend überein,636 so dass sich intratextuelle, teilreproduzierende Einzelreferenzen zwischen den einzelnen Erzählebenen ergeben. Der reisende Enthusiast schildert
die Wiederbegegnung mit seiner früheren Geliebten Julia:
Ihre ganze Gestalt hat etwas fremdartiges angenommen, sie schien mir größer, herausgeformter in fast
üppiger[er] Schönheit als sonst [A]. Der besondere Schnitt ihres weißen [B] faltenreiches Kleides [C],
Brust [D], Schultern und Nacken nur halb verhüllend [E] mit weiten bauschigten bis an die Ellenbogen
reichenden Ärmeln [F], das vorne an der Stirn gescheitelte Haar [G] gab ihr etwas altertümliche [H], sie
war beinahe anzusehen, wie die Jungfrauen auf den Gemälden Mieris [I] [.] (AS 328)
Spikher bedient sich fast derselben Worte, um die Erscheinung Giuliettas nach beinahe demselben Schema zu schildern, was die von mir eckig eingeklammerten Großbuchstaben in den
beiden Zitaten deutlich vor Augen führen:
In dem Augenblicke […] trat in den lichten Kerzenschimmer hinein ein wunderherrliches Frauenbild
[A]. Das weiße [B], Busen [D] und Schultern nur halb verhüllende Gewand [E] mit bauschigten bis an
die Ellbogen streifenden Ärmeln [F] floß in reichen breiten Falten herab [C], die Haare vorn an der
Stirne gescheitelt, hinten in vielen Flechten heraufgenestelt [G]. – Goldne Ketten um den Hals, reiche
Armbänder um die Handgelenke geschlungen vollendeten den altertümlichen Putz [H] der Jungfrau, die
anzusehen war, als wandle ein Frauenbild von Rubens oder dem zierlichen Mieris daher [I]. (AS 344)
In den Beschreibungen der beiden Frauengestalten verweisen intermediale Systemerwähnungen auf den Bereich der bildenden Künste.637 Sie öffnen ganze Referenzräume, so dass der
ideale Leser nicht in seiner Imagination auf ein bestimmtes Bild festgelegt wird. Er darf sich
alle Frauenbilder Mieris oder Rubens vergegenwärtigen, was nicht gerade die Anschaulichkeit fördert. Wenn Hoffmann wusste, dass es nicht nur einen Maler van Mieris, sondern eine
ganze Malerdynastie van Mieris gab,638 liegt eine gezielte Dekonstruktion des Vergleiches
vor.
636
Vgl. Berger 1978, 106-138, hier 115.
Vgl. Schmidt 2006, 93ff.
638
Vgl. Harald Olbrich / Dieter Dolgner / u.a. (Hgg.): Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie 4 (Kory-Mosch), Leipzig 1992, 724.
637
143
Die Gesichtszüge der schönen Frauen sind ein nahezu blinder Fleck in den detailreichen Deskriptionen der verliebten Erzählerfiguren, was an und für sich nicht genügt, eine Wahrnehmungsstörung zu konstatieren.639 Ihre Eignung als Physiognomen ist natürlich fraglich. Stärker noch als bei den Frauen, bei denen immerhin unterschiedliche Gesichtsausdrücke registriert werden (vgl. z.B. AS 327f.), besitzen die Erzählerfiguren Hoffmanns eine instabile
Physiognomie. Besonders ausgeprägt ist diese bei Spikher, nachdem er sein Spiegelbild verloren hat:
[Nun] sprang mit einer täppischen Geschwindigkeit, schwerfällig hurtig, […] ein kleiner dürrer Mann
herein in einem Mantel von ganz seltsam bräunlicher Farbe, der, indem der Mann in der Stube herumhüpfte, in vielen Falten und Fältchen auf ganz eigene Weise um den Körper wehte, so daß es im Schein
der Lichter beinahe anzusehen war, als führen viele Gestalten aus- und ineinander […]. Seine Stimme
hatte etwas entsetzliches und als ich ihn verwundert ansah, war er ein andrer worden. Mit einem gemütlichen jugendlichen Gesicht sprang der Kleine herein, aber nun starrte mich das todblasse welke eingefurchte Antlitz eines Greises mit hohlen Augen an. […] Dieser schien wie von lauter Springfedern getrieben, denn er rückte auf dem Stuhle hin und her, gestikulierte viel mit den Händen, und wohl rieselte
mir ein Eisstrom durch die Haare über den Rücken, wenn ich es deutlich bemerkte, daß er wie aus zwei
verschiedenen Gesichtern heraussah. (AS 334f.)
Spikhers pathognomische und physiognomische Agilität640 widersetzt sich einer physiognomischen Festschreibung. Das Gesicht changiert zwischen einem jugendlichen und einem ältlichen Aussehen. Es gerät zu einem Vexierbild,641 in dem sich mindestens zwei Gestalten
durchdringen, die unterschiedlichen Zeitebenen angehören.642
Die Spikher-Gestalt hat offenbar mehrere historische Vorbilder, die zum Zeitpunkt der Niederschrift des Textes (1815) sowohl unter den Toten, als auch unter den Lebenden gefunden
werden können. E.T.A. Hoffmann selbst soll schon 1813 in seinem Umfeld mit einem ‚pathologisches Bewegungsspiel‘ aufgefallen sein,643 das dem von Erasmus Spikher in Nichts nachgestanden habe, lange vor der nachträglichen (Selbst-)Stilisierung als Kreisler oder einer seiner anderen literarischen Figuren.644 Zudem besaß E.T.A. Hoffmann einen Bekannten namens
Samuel Heinrich Spiker, der Bibliothekar in Berlin war645 – und einen Theologen zum Vetter
hatte, der spätestens ab 1809 seinen Namen in Christian Wilhelm Spieker umwandelte.646
Über zusätzliche Buchstaben – ein „E“ oder ein „H“ soll hier nicht groß philosophiert werden.
Wenn man aber in dem Fantasiestück schon Anspielungen auf den mit Hoffmann befreunde639
Der Verdacht auf Prosopagnosie, Gesichtsblindheit, avant la lettre, hat sich bei der Sichtung einschlägiger
psychologischer Handbücher nicht bestätigt, da keines der seit 1947 beschriebenen Krankheitsbilder auf die
Erzählerfiguren passt.
640
Vgl. Dahms 2012, 81.
641
Vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 170.
642
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 61.
643
Vgl. Wilpert 1978, 61f.
644
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 814ff.
645
Vgl. Frenschkowski 1995, 131. Näheres zu dieser Person in dem Kapitel „10.1.1. Hoffmanns und Chamissos
Rezeption des Fortunatus-Stoffs im Allgemeinen“.
646
Vgl. Anonymus: Spieker, Christian Wilhelm, in: ADB (1893), 162-164. Onlinefassung: URL:
http://www.deutsche-biographie.de/pnd115661522.html?anchor=adb (26.9.2013).
144
ten Maler Philipp Veit in dem Fantasiestück entdeckt haben will,647 erscheint die Annahme
realer Spikhers in der Gegenwart des empirischen Autors nicht so abwegig. Hoffmann selbst
hat sich übrigens 1815 aufgrund seiner Mozart-Verehrung dessen Vornamen Amadeus als
dritten Vornamen zugelegt.648
Während die gegenwärtigen, historischen Vorbilder der Spikher-Figur an den Text herangetragen werden müssen, ist zumindest eines unter den Toten nicht zu leugnen. Die Wirtsleute
der Kellerschenke meinen in Spikher den russischen General Suworow (AS 334) zu erkennen,
da er mit diesem eine ausgeprägte Spektrophobie (s.u.) gemeinsam hat. Sie haben – die Handlung spielt nach dem Erscheinen von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte 1813 – nicht
den Tod dieser einstmals sehr bekannten Persönlichkeit im Jahr 1800 mitbekommen. Dass
man Spikher verwechselt, ist nicht verwunderlich, da der Militär bei Zar Paul I. in Ungnade
gefallen war und die Beisetzung dementsprechend in der russischen Öffentlichkeit ignoriert
wurde.649 Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski (1729-1800) war weit über die russischen Grenzen als Militär berühmt und berüchtigt.650 Spätestens mit dem Einsatz in den
Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich, war er europaweit eine bekannte Person. Umso deutlicher fiel sein ungewöhnliches, persönliches Auftreten auf. Zahlreiche Anekdoten kursierten darüber.651 Seine Abneigung gegen Spiegel lässt sich noch am leichtesten
nachvollziehen; man darf annehmen, dass er sein Älterwerden zu verdrängen suchte. 652 Das
ungewöhnliche Springen und Sprechen Spikhers bezieht sich wohl auf die Verleihung des
höchsten militärischen Ranges in Suworows Karriere:
Als Suworow in Warschau den Feldmarschallstab erhielt, kam es zu einer von mehreren Zeitgenossen
unabhängig voneinander geschilderten eigenartigen Szene: Zuerst küßte er das Feldmarschallpatent und
erwies ihm fest religiöse Ehrungen, dann ‹‹ kapriolte er einige Male kosakisch durch das Zimmer. ‹
Nicht wahr, ich kann noch springen? › sagte er dann zu den Offizieren, die im Zimmer waren. ‹Ich kann
noch springen! › Alle verstanden den Alten, denn er war bei der Promotion über mehrere Vordermänner
weggesprungen. »653
Ähnlich unruhig gebärdete sich wohl stets seine Gesichtsmuskulatur, so dass sie sich jeden
Versuch wiederstand seine Physiognomie festzuhalten:
647
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 808.
Vgl. Segebrecht, Wulf: „Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm“, in: NDB 9 (1972), 407-414. Onlinefassung:
URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118552465.html (26.10.2013).
649
Vgl. Hoffmann, Peter: Alexander Suworow. Der unbesiegte Feldherr (Kleine Militärgeschichte. Biographien), Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin 1986, 108f. Der unverkennbare, ideologische Hintergrund des Verfassers setzt den Informationswert der Biographie nicht herab. Obwohl sie auf bibliographische Fußnoten verzichtet, scheint solide Quellenarbeit geleistet worden zu sein.
650
Der vorzüglich gebildete, in vielen Sprachen bewanderte Mann, wurde während seiner langen Dienstzeit nie
zusammen mit seinen Soldaten geschlagen, obwohl er sich stets an die größten Gefahrenherde versetzen ließ.
Eiserne Disziplin und unkonventionelle Strategien führten häufig zu Überraschungserfolgen. Vgl. ders.
651
Vgl. ders., 8.
652
Vgl. ders., 134 und 207.
653
Ders., 129.
648
145
Die verschiedenen Suworow-Porträts sind einander wenig ähnlich. Das hat seine Ursache nicht nur in
den unterschiedlichen Fähigkeiten der Künstler. Schon von Zeitgenossen wurde bemerkt, daß Suworows Gesicht außerordentlich lebhaft war, ständig den Ausdruck wechselte. Suworow war bald
freundlich und höflich, bald drohend, bald ruhig und ernst, dann wieder närrisch – und alle diese Suworows waren einander wenig ähnlich, sie zeigten sich als jeweils eigene spezifische Charaktere. 654
An Suworow scheiterten also Porträtmaler, mehr oder minder kompetente Menschen im Erfassen von Physiognomien. Sie litten gewiss nicht unter Wahrnehmungsstörungen. Trifft also
in der Fiktion der emotionale aufgewühlte reisende Enthusiast auf eine solche Person, kann
man von ihm keine bessere Beschreibung als ein Vexierbild erwarten. Da es in der Realität
offenbar solche Menschen gegeben hat (und gibt), lässt sich an seiner Deskription Spikhers
keine Wahrnehmungsstörung festmachen. Natürlich soll nicht in Abrede gestellt werden, das
seine Blicke in den Spiegel – weniger extrem – ebenfalls ‚instabile‘ Gesichtszüge aufweisen,
die ihn befremden: der übernächtigte und wohl auch verkaterte Protagonist sieht am nächsten
Morgen Julia und Giulietta statt seiner im Spiegel (vgl. AS 338 und 359).
Wirklich bedenklich ist, dass er jenseits des Traumes (vgl. AS 334) eine fiktive Figur, Chamissos Peter Schlemihl sieht und folgendermaßen beschreibt:
Er forderte verdrießlich Bier und Pfeife und [… erzeugte rasch eine Rauchwolke.] Übrigens hatte sein
Gesicht so etwas Charakteristisches und Anziehendes, daß ich ihn trotz seines finstren Wesens sogleich
liebgewann. Die schwarzen reichen Haare trug er gescheitelt von beiden Seiten in vielen kleinen Locken herabhängend, so daß er den Bildern von Rubens glich. Als er den großen Mantelkragen abgeworfen, sah ich, daß er in eine schwarze Kurtka [= polnisch Jacke] mit vielen Schnüren gekleidet war, sehr
fiel es mir aber auf, daß er über die Stiefeln zierliche Pantoffeln gezogen hatte. [… Der] Fremde schien
sehr mit allerlei seltenen Pflanzen beschäftigt, die er aus einer Kapsel genommen hatte und wohlgefällig
betrachtete. [… Es] war mir als habe ich den Fremden nicht sowohl oft gesehen als auch gedacht. (AS
334)
Die kursiv gesetzten Wörter markieren deutlich den intertextuellen Bezug als eine teilreproduzierende Einzelreferenz, mit der die langsame Enthüllung des Prätextes erst einsetzt.655 Die
zitierte Passage nennt charakteristische Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände, die sich
im Laufe von Chamissos Text mit dem Protagonist verbinden: die schwarze Kurtka, die mit
Pantoffeln gehemmten Siebenmeilenstiefeln, die Pfeife und die Botanisiertrommel. Nur die
schwarze Lockenpracht erweist sich als Fehler beim Kopieren der Vorlage. Schlemihls Haare
sind schon weiß, als er die Siebenmeilenstiefel erwirbt (PS 55) und der Bart ist grau (PS
18),656 als er das Manuskript in Kunersdorf deponiert. Anzunehmen ist, dass Hoffmann im
Sinne einer biographischen Deutung des Prätextes Schlemihl als Chamisso demaskiert, dem
eine Kurtka, Botanisiertrommel und Pfeife stete Begleiter waren.657 Dies würde sich harmonisch in das Ensemble vermuteter Anspielungen auf zeitgenössische Personen, inklusive des
654
Ders., 206.
Sämtliche Markierungen werden im Kapitel „9. Die Intertexte von Hoffmanns Erzählung Die Abenteuern der
Silvesternacht“ behandelt.
656
Zum Motiv des Alterns bei Chamisso vgl. Hildebrandt, Alexandra: Chamisso und der Tod der Zeit. Von der
Poesie des Alter(n)s, in: Studia theodisca 6 (1999), 121-150.
657
Vgl. Wilpert 1978, 61 und Steinecke 1993, 533-858, hier 807.
655
146
empirischen Autors Hoffmann selbst, einfügen. Der von Spikher in Zirkulation versetzte Tabaksqualm macht auch aus Schlemihl eine ‚unscharfe‘ Gestalt. Der intermediale Bezug auf
die Bilder eines Rubens korrespondiert intratextuell mit den Gemäldevergleichen der Frauengestalten im übrigen Text, die mal an die Jungfrauen Mieris und Rembrandts, oder die
„Warnungstafeln von Breughel, von Callot [und wiederum …] Rembrandt“ (vgl. AS 340)
erinnern. Alle Figuren werden im Tagebuch des reisenden Enthusiasten gleich behandelt, was
den Eindruck ihrer Gleichartigkeit – selbst bei unterschiedlichen künstlerischen Referenzobjekten – unterstützt. Dass der reisende Enthusiast Schlemihl mit Bildern von Rubens vergleicht, lenkt von einem naheliegenden intermedialen Bezug auf das Titelkupfer von Peter
Schlemihls wundersamer Geschichte ab, auf dem der Protagonist von Chamissos Erzählung
übrigens technisch bedingt mit schwarzen Haaren und Bart abgebildet ist. Bilder sind genauso
vieldeutig wie ihre Vorbilder. Massive Zweifel an der Physiognomie und ihrer Vermittlung
über Printmedien müssen sich hier einstellen. Lavater, der seine Physiognomik mit schwarzen
Silhouetten und farblosen Zeichnungen ausgestattet hat, reduziert die Menschen auf wenige
Linien auf Kosten einer eindeutigen Interpretierbarkeit. Dadurch werden sich die Gesichter
ähnlicher, als sie es sind. Die Reproduzierbarkeit von Gesichtern ist strittig. Sobald der reisende Enthusiast den Maler Philipp über alle Maßen lobt, das Bild einer Prinzessin so wahr
gemalt zu haben, als ob er es aus dem Spiegel gestohlen habe (vgl. AS 336), ist die Eintracht
der Tischgenossen im Bierkeller dahin. Schlemihl und Spikher geraten aneinander, obwohl
sich ihre Positionen kaum unterscheiden. Schlemihl, dessen Selbstzufriedenheit als Naturwissenschaftler vom Zusammenfallen des Dargestellten mit dem Urbild abhängt (vgl. PS 72),
beurteilt kritisch das gelobte Medienprodukt: „Zum Sprechen ähnlich und doch kein Porträt,
sondern ein Bild“ (AS 336). Spikher hält das Gelingen mimetischer Abbildungen grundsätzlich für unmöglich: „Das ist albern, das ist toll, wer vermag aus dem Spiegel Bilder zu stehlen? – wer vermag das? meinst du vielleicht, der Teufel? (ebd.)“ Schlemihl, der um das Fehlen seines Spiegelbildes Bescheid weiß, provoziert diese emphatische Stellungname. Er negiert aus Gründen des Selbstschutzes, die Erreichbarkeit von Schlemihls Ideal. Von dem Zusammenfallen des Dargestellten und des Urbildes hängt seine Selbstzufriedenheit ab. Obwohl
der reisende Enthusiast dem realistisch wirkenden Gemälde Anerkennung zollt, erhebt er mit
seinen Personenbeschreibungen keinen Anspruch auf eine objektive Schilderung seiner Umwelt. Er nimmt eine Position zwischen Spikher und Schlemihl ein; dementsprechend schreckt
er nicht einmal vor der Karikatur zurück.
Seinen Nebenbuhler, Julias Gatten, lässt er als „tölpische spinnbeinichte Figur mit herausstehenden Froschaugen“ in den Salon schwanken und „recht widrig kreischend und dämisch
147
lachend“ (AS 330) sich ihnen nähern. Vor so jemanden muss man wirklich fliehen. Die Physiognomik wird genutzt, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Diese Methode beherrscht
auch Spikher. Sein Konkurrent um Giuliettas Gunst ist ein junger Italiener „von recht häßlicher Gestalt und noch häßlicheren Sitten“ (AS 348), bei dem man sich nicht wundern muss,
dass er in seiner Eifersucht zum Dolch greift. Der dämonische Wunderdoktor Dapertutto658 ist
selbstverständlich „häßlich“ (AS 351): ein „langer dürrer Mann mit spitzer Habichtsnase,
funkelnden Augen, hämisch verzogenem Munde im feuerroten Rock mit strahlenden Stahlknöpfen“ (AS 346). Er will Spikher zum Mord an seiner Familien anstiften und unterstützt
Giulietta in ihrer Bestrebung, die Seele ihres Freiers mittels eines (Teufels-)Paktes habhaft zu
werden. Die Physiognomik befördert hier sicherlich nicht die Menschenkenntnis und Menschenliebe, wie sich das Lavater vorstellt, sondern legitimiert Antipathien – im Falle Spikhers
sogar einen Totschlag als Notwehr.
Fazit: Die Physiognomik kann man nicht ernst nehmen. Hoffmann spielt mit ihr. Ein gezeichnetes Selbstbildnis von ihm ‚erklärt‘ den Dichter mit einer scherzhaften Legende. Neben
‚wissenschaftlichen‘ und tautologischen Beschriftungen von Nase, Stirn und Augen, 659 suggeriert er die Ablesbarkeit einiger seiner Werke im Gesicht: Die Elixiere des Teufels, Kreislers
Lehrbrief aus der Kreisleriana II der Fantasiestücke. Im Zusammenhang mit den Abenteuern
der Silvesternacht ist noch die Beschriftung „Rockärmel mit willkürlichen Falten“ interessant.
Er taucht in allen zitierten Personenbeschreibungen auf. Es entbehrt nicht einer gewissen
Komik, dass willkürliche Gewandfalten offenbar wichtiger als Gesichtsfalten sind:
Würde ein […] Betrachter von Text und Bild erwarten, etwas Verschiedenes von Text und Bild zu erfahren, so wird die Hoffnung von dem Bild enttäuscht, indem die Psychologie des Autors mit seinen
Texten zusammenfällt. So verweisen Bild und Text unendlich aufeinander, ohne zum physiognomisch
indizierten Subjekt zu gelangen.660
Denselben Effekt haben die intermedialen Bezüge zur Malerei in den Abenteuern der Silvesternacht. Sie belassen die Gestalten von Julia, Giulietta und Spikher im Diffusen. Hoffmann
bedient sich hier einer „negativen Physiognomik“,661 die Stephan Pabst anhand eines repräsentativen Querschnitts seines Oeuvres beschrieben hat. Mit diesem durchaus missverständlichen Begriff wird im Grunde genommen die Dekonstruktion von Personenbeschreibungen
belegt. Die literarischen Gestalten werden aufgelöst in Reihen sich überblendender Bilder, die
658
Er ist die einzige Figur in den Abenteuern der Silvesternacht, die einen sprechenden Namen trägt, wie in
Peter Schlemihls wundersamer Geschichte. Dapertutto heißt Herr Überall; denn Hilfe findet der Teufel überall
(vgl. AS 326). Vgl. z.B. Baldes, Dirk: „Das tolle Durcheinander der Namen“. Zur Namensgebung bei E.T.A.
Hoffmann, St. Ingbert 2001, 138.
659
Vgl. Pabst 2007, 229.
660
Ebd.
661
Vgl. ders., 275.
148
explizite oder implizite Referenzen auf historische Kontexte und Medienprodukte eröffnen.
Hoffmann verspricht sich davon offenbar eine Beflügelung der Phantasie.
Wenn man den programmatischen Essay Jacques Callot liest, der den Fantasiestücke in
Callot‘s Manier vorangestellt ist, wird die Generierung fiktiver Textwelten aus den Leerstellen detailverliebter Kupferstiche nahegelegt. Lobenswert erscheinen die monochromen
Druckgraphiken des barocken Künstlers Jacques Callot (1592-1635),662 weil sie dem Rezipienten Imaginationsspielräume lassen. Da nur ein paar kühne Striche die Gestalten andeuten,
kommen sie dem schreibenden Ich, aller Wahrscheinlichkeit der reisende Enthusiast, nicht
mehr aus dem Sinn. Die Anschauung der Blätter bewirkt bei ihm eine Belebung der unübersichtlichen Szenerien mit „tausend und tausend“ Figuren, die mit einer Kolorierung einhergeht. Nicht Callots Werke, sondern eine individuelle Wahrnehmung seiner Werke wird hier
beschrieben. Aus ihnen wird der eigene Personalstil abgeleitet,663 für den dreierlei Merkmale
charakteristisch sein sollen:
(1) eine „Unwissenheit in der eigentlichen Gruppierung, so wie in der Verteilung des Lichts“
(2) „eine lebensvolle Physiognomie ganz eigener Art, die seinen Figuren[…] etwas fremdartig Bekanntes gibt.“
(3) „aus Tier und Mensch geschaffene groteske Gestalten“
Auf deskriptiver Ebene wird dieser ‚Stil‘ in Abenteuern der Silvesternacht gepflegt.
(1) Peter Schlemihl wirft keinen Schatten, wenn Licht auf ihn fällt. Licht und Schatten sind
also nicht nach physikalischen Gesetzen verteilt.
(2) Fast formelhaft erscheinen die Personenbeschreibungen von Gestalten, die etwas „fremdartig Bekanntes“ (AS* 17, vgl. AS 325, 327-329, 334, 338 und 359) an sich haben.
(3) Dapertutto und Julias Ehemann mit ihren tierischen Körperteilen erfüllen als Mischwesen
eindeutig die Kriterien der Groteske. Die rhetorische Schlussfrage, „Könnte ein Dichter oder
Schriftsteller […] sich nicht wenigstens mit diesem Meister entschuldigen und sagen: Er habe
in Callot's Manier arbeiten wollen?“ (AS 18), ist ein eindeutiger Beleg für die Erwägung einer
intermedialen Schreibweise, ausgehend von künstlerisch gestalteten Physiognomien.
Ursprünglich sollte allerdings nicht Callot, sondern Hogarth den Namen für die Erzählsammlung hergeben.664 Der Name des englischen Künstlers ist eng mit der Fortführung des physiognomischen Diskurses verbunden, da Lichtenberg dessen narrative Kupferstichzyklen für
662
Vgl. Bromhoff, Katrin: Bildende Kunst und Dichtung. Die Selbstinterpretation E.T.A. Hoffmanns in der
Kunst Jacques Callots und Salvator Rosas, Freiburg im Breisgau 1999, 11.
663
Manier unterscheide sich nach A.W. Schlegel vom Stil bezüglich der zugrunde liegenden Subjektivität. Vgl.
dieselbe, 68ff.
664
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 585f.
149
den Göttinger Taschenkalender in literarische Bildschreibungen umsetzte.665 Gestik und Mimik der Personen werden neben dem Interieur auf Indizien für das vorangehende und nachfolgende Geschehen ausgewertet. Seine kulturelle Hermeneutik beansprucht eine gewisse
Geltung, nimmt man eine Konventionalität von Bild-Zeichen an, die in ihrer NichtNaturalisierbarkeit und Mehrdeutigkeit eine Varianz von Kommentaren zulassen.666 An Lichtenberg mag sich Hoffmann geschult haben, doch die Belebung eines Bildes durch wissenschaftliche Analyse ist etwas anderes, als unverbindliches Fantasieren. Katrin Bromhoff vertritt deshalb die These, dass sich Hoffmann trotz einiger Gemeinsamkeiten von dieser aufklärerischen Vorgabe absetzen wollte.667 Schon Jean Paul beabsichtigte nicht, Lichtenbergs Tätigkeit für den Göttinger Taschenkalender fortzuführen. Die Idee Callot ins Spiel zu bringen,
stammt angeblich von Hoffmanns Verleger Kunz.668 Seine biographischen Notizen zu Hoffmann sind bekanntlich nicht immer ganz zuverlässig, aber die Verleger haben häufiger mit
Blick auf den vermeintlichen Publikumsgeschmack Einfluss auf die Titel literarischer Werke
genommen. Wenn Hoffmann Callot tatsächlich nicht als Künstler kannte, hatte er zumindest
in Bamberg die Gelegenheit, die Sammlung seines Bekannten Stephan von Stengel einzusehen.669 Vielleicht soll auch die Schilderung nach der Titelsuche durch Kunz von einem anderen Sachverhalt ablenken. Ehe die ersten Bände der Fantasiestücke 1814/1815 auf den Buchmarkt gelangten, schrieb der heute weitgehend vergessene Schriftsteller Friedrich von
Matthisson (1761-1831) bereits in Callots Manier. In seinen Erinnerungen erzählt er von einem Aufenthalt in einem Schweizer Kaffeehaus im Jahre 1801.670 Er bemerkt einen Gast mit
ungewöhnlichem Verhalten und Modeempfinden, über den er sich von seinen Tischgenossen
aufklären lässt. Es handele sich um einen falschen Grafen oder Baron, der sich in seinem
Heimatdorf fast zu Tode hungere, um das Geld für seine kurzen Hochstapler-Auftritte in Genf
zu ersparen. Die Schilderung seines Doppellebens umreiße „die Außenlinien einer Zeichnung
des Sonderlings in Callot’s Manier“,671 der zuvor ausführlich als Person beschrieben worden
ist. Elemente hoffmannesker Deskriptionstechnik sind zu erkennen.672 Es werden literarische
665
Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, in: ders.: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte [und] Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Promies,
Darmstadt 1972 (Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1967ff., Bd. 2), 657-1060.
666
Pabst 2007, 182.
667
Vgl. Bromhoff 1999, 112.
668
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 585f.
669
Vgl. Bromhoff 1999, 97.
670
Vgl. Matthisson, Friedrich von: Erinnerungen, Bd. 2, Zürich 1810, 134ff.
671
Ders., 156.
672
„Während der Mittagstafel […] zog ein lebhaftes Gespräch zwischen einer feinen Fistel[stimme] und einem
groben Basse mich ans Fenster. Letzterer gehörte dem Wirthe, und erstere einem Herrn, lang und hager wie Don
Quixotte, und gekleidet wie die graubärtigen, heiratslustigen Theatergecken aus dem Zeitalter Molieres [sic!]
und Regnards. Er trug einen himmelblauen mit goldenen Litzen besetzten Tuchrock altfränkischen Schnittes,
150
Gestalten und Kupferstiche für Vergleiche bemüht, die groteske Montur der Kleidung weist
„altfränkische“ Elemente auf und er fällt durch eine Scharlachweste auf, ähnlich einem
Dapertutto mit scharlachroten Rocke. Matthissons, auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgehende Erinnerungen, haben allerdings insgesamt nicht den phantastischen Charakter der Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten (Untertitel von Hoffmanns Fantasiestücken). Sie bieten viel ‚Konversation‘ über Themen in den gebildeten Bevölkerungsschichten.
Ob Hoffmann bzw. Kunz auf ‚Callots Manier‘ gestoßen sind, oder zufälligerweise die Idee
ein zweites Mal geboren haben, bleibt offen. ‚Hogarths Manier‘ aus Lichtenbergs Feder, war
man wohl überdrüssig.
eine langschössige gallonirte Scharlachweste, weisse seidene Strümpfe, gehalten von gestrickten Gürteln und
über Kniee hinaufgekrempt, Schuhe mit Saurüsseln, kleine[,] runde Schnallen, breite Spitzenmanschetten, eine
schwarze Zipfelperücke, unterm Arme ein plattes Galanteriehütchen, und an der Seite einen Degen, geschmückt
mit zwei Schleifen von glasirten Rosabande. Auch verdient das spanische Rohr einer flüchtigen Erwähnung,
dessen Porzellankrücke eine Sirene vorstellte. Seine süsslichschmunzelnde Physiognomie erinnert an die Schäfer
auf den Kupferstichen zum Romane der Asträa. Diesen Charakter vermochte sie selbst im Feuer eines eifrigen
Wortwechsels nicht zu verläugnen.“ Ders., 134f.
151
4.2.3. Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht
Jean Paul imitiert schon 1797 scheinbar Lichtenbergs Vorgehen beim Beschreiben von Hogarths Bildern im Göttinger Taschenkalender, als er das Kampaner-Tal veröffentlichte.673 In
dessen Anhang befindet sich die Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus. Diese deutet die Illustrationen zu einer bildlichen Autobiographie des Formenschneiders Lorenz Krönlein um. Der Publizierende freut sich, endlich unter den Kreis der
Entdecker getreten zu sein und präsentiert selbstbewusst das Ergebnis seiner Forschungen.
Die künstlerische Zuschreibung der Illustrationen erfolgt mittels einer Pseudo-Argumentation,
die vorwiegend auf physiognomischen Assoziationen basiert. Ihre Beschreibung ist ähnlich
durchgeführt. Nebensächliches wird zum eigentlichen Geschehen. Der Hinweis auf Unstimmigkeiten durch den Erzähler erweckt den Eindruck eines soliden Vorgehens im Rahmen
konventioneller Bildbeschreibungen.674 Da ‚grobe‘ Holzschnitte statt ‚detailreiche‘ Kupferstiche vorliegen, wird der spekulative Teil der Bildauslegung erhöht. 675 Nicht Vorhandenes wird
demnach hinzuphantasiert. Mit den physiognomischen, pathognomischen und übrigen Urteilen auf semiotischer Grundlage kommt bestenfalls die Subjektivität des Erzählers zum Ausdruck. Jean Paul parodiert nicht nur die Kunst des Physiognomikers und Bildkommentators,
sondern das Prinzip der Interpretation als solches, die Übersetzung eines Zeichengefüges in
ein anderes:676 die Erzeugung von „Bedeutungswillkür“.677 Damit antizipiert er – am Rande
bemerkt – auch die bereits dargestellte Hermeneutik-Kritik Chamissos.678
Das Auseinanderbrechen von Bild und Bedeutung weist in humoristischer Weise auf die Polarität von Glauben und Skepsis hin.679 Die in sich paradoxe Annahme einer Identität zwischen
einer unsterblichen Seele und einem endlichen Körper, führt zu einer irreversiblen Trennung
vom Geistigen und Sichtbaren in der Sprache bei Jean Paul.680 Eine negative Metaphorologie
673
Vgl. Paul, Jean: Das Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele, nebst einer ERKLÄRUNG DER
HOLZSCHNITTE unter den 10 Geboten des Katechismus, in: ders.: Werke I. Abt., Bd. 4. Hg. v. Norbert Miller,
München 1967, 561-716, hier 627ff.
674
Vgl. Och, Gunnar: Der Körper als Zeichen. Zur Bedeutung des mimisch-gestischen und physiognomischen
Ausdrucks im Werk Jean Pauls (Erlanger Studien 62), Erlangen 1985, 187.
675
Vgl. ders., 172 und Schmitz-Emans 1995, 105-164, hier 138.
676
Vgl. dieselbe, 105-164, hier 141.
677
Pfotenhauer, Helmut: Bild – Schriftbild – Schrift: Jean Paul, in: Pfotenhauer, Helmut: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert, Würzburg 2000, 123-136, hier 129.
678
Monika Schmitz-Emans spricht von einer hermeneutischen Vergewaltigung der Bilder in Zusammenhang mit
dem Jean-Paul-Text. Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Jean Pauls blinde Künstler. Die Holzschnittkommentare als
Reflexion über das Nichtsehen, in: Eickenrodt 2012, 157-174, hier 161.
679
Diergarten, P. Friedrich: Die Funktion der religiösen Bilderwelt in den Romanen Jean Pauls, Köln 1967, 29.
680
Vgl. Keith, Hans: Spiegel und Spiegelung bei Jean Paul. Studien zu Sein und Schein in Persönlichkeit und
Werk Jean Pauls, Erlangen 1965, 14 und Pabst 2007, 219.
152
sorgt zugleich für eine Verkörperung und Entkörperung des inneren Menschen als Fiktion.681
Der äußere Mensch bleibt nach Auffassung der zeitgenössischen Kritik dementsprechend
ziemlich blass.682 Für Jean Paul befreit erst der Tod das Subjekt aus seiner körperlichen Hülle
(Mumie), das eine Seelenwanderung (Palingenesie) in andere Welten vollzieht – wie der geschlüpfte Schmetterling nach seiner Metamorphose in der Puppe.683 Die transzendentalen
Vorstellungen der Menschen von einem Jenseits in allen Kulturkreisen machen die Unsterblichkeit der Seele plausibel. Lichtenbergs optimistische Bildhermeneutik genügt Jean Paul
nicht zur literarischen Darstellung von Welt und Menschen. Er wendet Lichtenbergs Kritik an
Lavater gegen Lichtenberg selbst an,684 der zwar nicht menschliche Körper aus der Wirklichkeit, aber Bilder ‚willkürlich‘ mit seinem kulturellen Erfahrungsschatz interpretiert. Dennoch
glaubt er, dass man in 100 Jahren zu einer validen Physiognomik kommen könne.685 Bis dahin
solle man von den Handlungen auf den Menschen und nicht von dem Menschen auf dessen
Handlungen schließen.686 Die Pointe ist die Umkehrung von Lavaters Blickrichtung und eine
Korrektur Lichtenbergs. Der will von bekannten Handlungen auf nicht eingestandene schließen, ohne den Menschen zu berücksichtigen.687
Mit Lichtenberg stimmt er überein, dass Leute mit unvorteilhafter Physiognomie ein Leben
lang an den Pranger gestellt und für nicht begangene Taten im Voraus bestraft werden. 688 Jean
Paul glaubt an die Theodizee, verwirft sie aber als einen für den Menschen erkennbaren Plan
Gottes.689 Damit kann er die Ebenbildlichkeit des Menschen und Jesu Christi mit Gott als
Grund und Telos der Physiognomik nicht negieren. Er schwankt zwischen Lavaters Physiognomik-Begeisterung und Lichtenbergs Physiognomik-Kritik.690
Die Medienkombination von Text und Bild in Jean Pauls Erklärungen zu den Holzschnitten
stand jüngst so stark im Fokus kulturwissenschaftlichen, narratologischen und medientheoretischen Forschungen, dass ein Paraphrasieren der Ergebnisse unumgänglich war. Andere Texte des Dichters,691 die die Physiognomik explizit thematisieren, wurden eher am Rande mitbehandelt, legen aber eine gewisse Kontinuität im Denken ihres Verfassers nahe.
681
Vgl. Pabst, Stephan: Pabst, Stephan: Negative Metaphorologie, in: Sprache und Literatur, 40 (2009), 62-76.
Vgl. Pabst 2007, 209.
683
Vgl. Keith 1965, 19 und Pabst 2007, 193ff.
684
Vgl. Och 1985, 44.
685
Vgl. ders., 47.
686
Vgl. ebd.
687
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 3, 256-295, hier 293.
688
Vgl. Och 1985, 48.
689
Vgl. Pott, Hans-Georg: Aufklärung über Religion. Vortrag vor der Jean-Paul-Gesellschaft im März 2008, in:
JbJPG 44 (2009), 45-61, hier 59.
690
Vgl. Pabst 2007, 168.
691
Die Allgemeingültigkeit der Forschungen für das Gesamtwerk des Dichters suggerieren Zitate aus den großen
Romanen, dem §79 über die Darstellung der menschlichen Gestalt in der Vorschule der Ästhetik und seinen
682
153
Eine Betrachtung der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht sollte das bestehende
Wissen bestätigen oder modifizieren. Als sich der Erzähler plötzlich von sechs fremden Gestalten in seinem Arbeitszimmer umgeben sieht, versucht er sogleich anhand ihrer Physiognomik über ihre Wesensart zu urteilen und so seine Lage einzuschätzen:
Himmel! wer sind sie, wie kamen sie, was wollen sie? – An Räuber dacht' ich nicht im geringsten – so
nahe auch der Gedanke lag, es könnten ja während unsers Dialogs Helfershelfer mich ausstehlen, mir
die Juwelen einpacken und das Federvieh aus den Ställen treiben –; die edle feierliche Gestalt des bleichen Jünglings vertrat mir sogleich diesen kleinlichen Argwohn. (NG 1125f.)
Die Figuren bleiben bis auf Pfeifenberger namenlos (vgl. NG 1126). Obwohl sie sich als Propheten der Zeit vorstellen (vgl. ebd.), bleibt bis zum Ende offen, wer handelt und spricht.692
Der Erzähler teilt die Unbekannten anders als Pfeifenberger ein und beschreibt zwei Dreiergruppen in Verbindung mit Stuhl und Kanapee:
[1.] Ein langer, totenblasser, in einen schwarzen Mantel gewickelter Jüngling mit einem kleinen Bart
(wie der an Christusköpfen), über dessen Schwarz die Röte des lebendigen Mundes höher glühte, stand
vor mir, mit einem Arme leicht auf einen Stuhl gelehnt, worauf ein erhaben-schöner, etwa zweijähriger
Knabe saß und mich sehr ernst und klug anblickte. Neben dem Stuhle kniete eine weißverschleierte, mit
zwei Lorbeerkränzen geschmückte Jungfrau, von mir weggekehrt gegen den hereinstrahlenden Mond,
eine halb rot, halb weiße Lankaster-Rose in der Hand, eine goldne Kette um den Arm – die Lage vor
dem Knaben schien ihr vom schwesterlichen Zurechtrücken seines Anzugs geblieben zu sein. Sie glich
mit der niedergebognen Lilie ihrer Gestalt ganz Lianen [Frauenname!], wie ich mir sie denke, nur war
sie länger. [2.] Auf dem Kanapee saß eine rotgeschminkte Maske mit einer seitwärts gezognen Nase
und mit einer Schlafmütze; neben ihr ein unangenehmes mageres Wesen mit einem Schwedenkopf
[Pfeifenberger] und feuerroten Kollet, höhnisch anblinzelnd, das nackte Gebiß entblößend, weil die
Lippen zu kurz waren zur Decke, und ein Sprachrohr in der Hand.“ (NG 1125) [Anm.: V.R.]
[Die] Kälte, womit der Schwedenkopf menschliche Gesichter in Brot bossierte und die Physiognomien
einem schwarzen Spitz unter dem Kanapee zu fressen gab, [machte] mir es schwer, ihm wie einem
rechten Menschen zu begegnen. (NG 1128)
Jüngling und Jungfrau sind auf den Knaben ausgerichtet. Pfeifenberger, der Hund und die rote
Maske sitzen dicht beieinander. Beide Gruppen unterscheidet die folgende positive bzw. negative Darstellung seitens des Erzählers.
Die Beschreibung des Jünglings wird den ganzen Text hindurch mit stets anderen Adjektiven
verbunden.693 Thematisiert werden seine Körpergröße (a), seine Idealgestalt (b) und sein
morbides Erscheinungsbild (c), das eine Belebung erfährt, während seine Stimme die Seiten
des Klaviers vibrieren lässt (vgl. NG 1133). Ein kleiner Bart soll sein Gesicht mit Christusköpfen vergleichbar machen. Sakrale Ikonographie wird damit explizit aufgerufen. Diese
zeichnet sich im Falle von Christus durch Idealisierung der Gestalt aus, womit der geschilderte Habitus (b, c) von Jean Pauls Figur ebenfalls korrespondiert. Die „Physiognomik aus Chrisfrühen Satiren wie das Physiognomisches Postskript zu den Nasen der Menschen in der Auswahl aus den Papieren des Teufels. Vgl. ders., 167ff.
692
Da der Erzähler selbst aus den vorangegangenen Werken Jean Pauls bekannt ist, finden sich in dem Text nur
wenige Anhaltspunkte zu seiner Person. Siehe das Kapitel „3.4.2. Jean Pauls „Jean Paul“ – der Erzähler vieler
Werke“.
693
(a) lang; hoch; groß; (b) edle, feierliche Gestalt; schön, ernst; (c) totenblass, unbeweglich, aber bleich voller
Glanz. Vgl. NG 1125ff.
154
tus-Köpfen“, die Lichtenberg Lavater vorwirft,694 dürfte vom routinierten Leser Jean Paul bei
seiner Lichtenberg-Lektüre exzerpiert worden sein.
Die Physiognomie des Gesichts der Jungfrau ist dem Erzähler nicht zugänglich, da sie einen
weißen Schleier trägt und von ihm abgewandt kniet. Ihre lange Gestalt (vgl. NG 1125) scheint
idealisiert zu sein, denn in anderen Texten Jean Pauls ist das abgedeckte Gesicht ein Indiz für
verborgene Schönheit.695 Ohne Die Vorschule der Ästhetik käme man zum selben Ergebnis,
denn der Erzähler stellt sich so Liane, eine Frauengestalt, aus Jean Pauls Titan vor (vgl. ebd.).
Mit der Referenz auf den Vornamen werden Schönheit, Krankheit und Frömmigkeit als Eigenschaften aufgerufen. Die namenlose Jungfrau in der Neujahrsnacht nimmt eine demutsvolle Haltung ein. Sie kniet am Boden und faltet ihre Hände wohl zu einem Gebet (vgl. NG
1132).
Die Bezeichnung als Jungfrau und der Vergleich mit der Lilie führt zur marianischen Reinheit
und Keuschheit. Darauf verweist auch das Attribut der beiden Lorbeerkränze (Daphne), die
auch einen numinosen Symbolgehalt (Apollo) besitzen.696 Der Ring mit dem göttlichen Auge
wirkt wie ein Ehering. Die farbliche Halbierung der Rosen (als ein weiteres Attribut) in rot
und weiß verweist auf ihre Liebesfähigkeit: Caritas, ohne erotische Komponente.697 Der Vergleich mit Liane aus Jean Pauls Titan stützt eine derartige Interpretation, da sie dort in den
Augen des Liebhabers eine Marienstirn besitzt.698 Intertextualität und transmediale Zeichen
scheinen beweisen zu wollen, dass ein Dichter Physiognomie-Beschreibungen zur Figurencharakterisierung nicht nötig habe oder es nur ein Darstellungsmittel unter vielen ist. Lichtenberg verweist daher auf die Kunst. Jean Pauls Vorgehen zeigt zugleich, dass ihm physiognomische Deskription als Verfahren nicht kunstvoll genug ist und zu viel Eindeutigkeit
schafft. Andererseits zeigt sich, dass sich physiognomisches Wissen nur über Kontextualisierungen bilden kann – und die hängen eindeutig vom Erzähler ab.
Die sakrale Bildlichkeit setzt sich bei dem zweijährigen Knaben fort, für den die Jungfrau
eine Bezugsperson darstellt (vgl. NG 1132) Seine Ernsthaftigkeit verbindet ihn mit dem Jüngling. Trotz der Behauptung eines intelligenten Gesichtsausdrucks und kindlicher Altklugheit
694
Vgl. Lichtenberg, Über Physiognomik, Schriften und Briefe, Bd. 3, 256-295, hier 273.
Der Dichter setzte den Schleier gerne ein, da er damit die unbeschreibliche Wirkung der Frauengestalten in
1001 Nacht mit der Aufhebung des Tülls erklärte. Vgl. Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 5. Hg. v. Norbert Miller, München
1967, 7-456, hier 286.
696
Vgl. Freidl, Andreas / Harzer, Friedemann: Lorbeer / Lorbeerkranz, in: Günter Butzer / Joachim Jakob
(Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart / Weimar 2008, 209ff.
697
Vgl. Schuster, Jörg: Rose, in: Butzer / Jakob 2008, 301ff.
698
Vgl. Paul, Jean: Titan, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 3. Hg. v. Norbert Miller, München 1971, 7-830, hier 178.
Auch im Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal ‚spielt‘ Jean Paul massiv mit der Bildlichkeit katholischer Marienverehrung und ihren Festtagen. Vgl. Fleischhut 1977, 152ff.
695
155
entsprechen seine sprachlichen Handlungen und Aktivitäten keineswegs dem geschätzten Alter von zwei Jahren (vgl. NG 1132). Das physiognomische Urteil wird vollkommen ad absurdum geführt. Kleine Erwachsene als Christuskinder von Madonnen sind in mittelalterlicher
und barocker Sakralkunst die Regel. Jean Paul suggeriert, dass es sich bei der Dreiergruppe
um Maria, den jungen und den auferstandenen Christus handelt. Kompositorische Details widersetzen sich der Erklärung mittels christlicher Ikonographie. Ein auferstandener Christus
trägt keinen schwarzen, sondern einen roten Mantel.699 Schwarze Haare sind bei ChristusDarstellungen selten, aber nicht ungewöhnlich. Marias Gesicht ist nie verschleiert, selbst
wenn die Haare bedeckt sind. Als Kindsmutter wird sie mit Josef, nicht aber mit dem erwachsenen Christus kombiniert. Die aufgezeigten Irritationsmomente stehen nicht konträr zur Interpretation, aber das zu Grunde gelegte, tradierte Zeichensystem wird von ihnen in Frage
gestellt. Ein Richtig oder Falsch kann es bei der Vorstellung biblischer Gestalten nicht geben,
da valide, historische Informationen zu ihrem Äußeren nicht existieren. Ursula Naumann
stellte fest, dass bei Jean Paul generell geistlicher und weltlicher Bereich austauschbar sind.700
Am Wahrhaftigsten ist die Aussparung der Physiognomie, wie im Falle der Verschleierung.
Die Rote Maske entzieht ihr Gesicht ebenfalls jeder Deutung. Von ihrer roten Warnfarbe und
der deformierten, schiefen Nase geht eine bedrohliche Wirkung aus, da sich der Knabe nach
der Übergabe einer Uhr sofort an die Brust der Jungfrau flüchtet. Er weiß offenbar darum und
bedient sich der Beruhigungs-Phrase, derer sich Engel in der Bibel bedienen (vgl. NG 1126).
Er gibt sich zudem als höflicher Weltmann, was im Widerspruch zu seiner Schlafmütze auf
dem Kopf steht, die man mit dem Phlegma verbindet. Legt man wieder den religiösen Maßstab an, fragt man sich, ob dies eine Teufelsgestalt sein soll? Er ist ein Verwandlungskünstler,
der nie sein wahres Antlitz zeigt und gern den Biedermann als Verführer mimt. Der Erzähler
findet nur die Länge seiner Phrasen entsetzlich, was für den Erfolg der Mimikry der Maske
spricht.
Stellt man sich Pfeifenberger als richtig „mageres Wesen“ mit „freiliegendes Gebiss“ (s.o.)
vor, besteht er nur aus ‚Haut und Knochen‘. Im sakralen Kontext des späten Mittelalters und
der frühen Neuzeit werden derartige ‚Knochenmänner‘ in Totentänzen dargestellt. Da er dem
Erzähler seine Vergänglichkeit vor Augen führt, scheint Pfeifenberger den Tod als Allegorie
699
Dies ist auch der Fall bei der Figur auf dem Schalldeckel der barocken Kanzel der Dorfkirche von Joditz, wo
Jean Paul seine Kindheit zu einem großen Teil verbracht hat. Vgl. Abbildung bei Glaser, Hermann / Schrenk,
Johann: Jean Paul. Johann Paul Friedrich Richter (Auf den Spuren der Dichter und Denker in Franken 4), Gunzenhausen 2007, 25.
700
Vgl. Naumann, Ursula: Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und Predigertum für
das Werk Jean Pauls, Nürnberg 1976, 1.
156
zu verkörpern.701 Seine Bekleidung entspricht dem ihm zugeschriebene Bedrohungspotential,
obwohl nur deren auffälligstes Bestandteil Erwähnung findet, das feuerrote Kollet (= franz.
Collet) als mutmaßlichen Bestandteil einer Kavallerie-Uniform.702 Als Soldat, dessen Handwerk das Töten ist, würde er hervorragend den ‚Sensenmann‘ abgeben. Der Erzähler wirkt
dieser allegorischen Deutung aber mit einem Rationalisierungsversuch mittels der Bilder im
Zimmer entgegen:
Der Schwedenkopf ist eine offenbare Reminiszenz des wilden Jägers, der jetzt aus dem jungen burschikosen [= studentenhaften] Jena ausreitet und dessen Jagdpersonale, Wildzeug, Hifthörner, Hundekoppel
und Weidwerk, am Tageslicht besehen, auf eine Mandel mausender Eulen hinauslaufen. (NG 1136)
Die Uniform wird zwar verharmlosend einer Burschenschaft zugeordnet, aber die geweckte
Assoziation mit dem Wilden Jäger nimmt ihr nicht das Dämonische. In der menschlichen Gestalt eines Wilden Jägers verführt der Teufel in den Sagen seine Opfer. Ob es sich hier um
einen Teufel handelt, bleibt trotz des ihm unterstellten Atheismus offen:
[...] Es wäre mir in dieser Gespensternacht nicht zu verdenken gewesen, wenn ich von diesem [...] einige Male geglaubt hätte, den lebendigen Teufel vor mir zu haben. Aber seine Hoffnung, daß die kultivierte Zukunft keinen Gott und Altar mehr haben werde [...] – sein vernünftiger Frost, [...] seine perennierende Aufgeschwollenheit [...] und seine Bitterkeit, die jetzt die sanftesten Neuern (mich selber ausgenommen) mehr an als in sich haben, [...] zeigte[n mir] leicht, daß er mehr zu den sanften Neuern zu
schlagen sei als zu den Teufeln selber. (NG 1127f.)
Das von ihm verwendete Sprachrohr verfremdet seine Stimme und entspricht damit funktionell einer Maske für das Gesicht. Es gehört auf keinen Fall zu den traditionellen Attributen
eines Todes oder Teufels.
Physiognomie, Kleidung im weiteren Sinne und mimisch-gestische Zeichen beschäftigen den
Erzähler, der bei keiner Figur zu einem verifizierbaren Ergebnis kommt, was die Identität
anbelangt. Der Leser rätselt mit ihm mit. Nur die gezielte Selektion der Information nach
willkürlichen Kriterien würde Eindeutigkeit schaffen.
Die ‚Mitglieder‘ der wunderbaren Gesellschaft haben kein Spiegelbild. Der Erzähler erblickt
sie nicht im Spiegel, der zur Einrichtung seines Arbeitszimmers gehört. Das unterstreicht deren Irrealität. Dem Interieur schreibt er einen Wirklichkeitsstatus zu, als er schließlich die
geschilderten Ereignisse rational zu erklären sucht. Die sprechenden Figuren wage er, als
Konstrukte seiner Fantasie aus den Bildern seines Zimmers und seinen Gedanken zur Jahrhundertwende herzuleiten. Der Erzähler erkennt – anders als bei Hoffmann – sein Spiegelbild,
aber zu seiner Eigenbewegung tritt der Bildbelebungsmechanismus mit fatalen Folgen ein. Er
701
Der Erzähler findet Pfeifenberger unsympathisch und dieses Gefühl soll sich wohl auch auf den Leser übertragen. Die Endung „-er“ wird bei Jean Paul nur negativen Figuren zugeordnet. Vgl. Berend, Eduard: Die Personen- und Ortsnamen in Jean Pauls Werken, in: Hesperus 14 (1957), 21-31, hier 27. Damit wird nicht behauptet,
dass der Tod als allegorische Figur zwangsläufig negativ zu werten ist.
702
Vgl. Artikel "Collet", in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Bd. 8,
Berlin 21785, 225 (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier http://www.kruenitz.uni-trier.de/,
1.10.2013).
157
zerschlägt den Spiegel in Antizipation eines Angriffs von seinem Abbild. Dieser Doppelgänger äußert quasi in einem Perspektivwechsel die Gedanken des Erzählers. Er wolle die Illusion der Erscheinung des anderen zerstören (vgl. NG 1135). Die Spiegelscherben schneiden
sich in die Adern des Erzählers ein. Infolge des Blutverlustes fällt er in Ohnmacht. Nur das
rechtzeitige Heimkehren von Hermina rettet ihn nach dem Versuch, seine eigene Physiognomie auszulöschen. Im Titan endet die Begegnung Schoppes mit seinem innerhalb der Fiktion
‚real‘ existierenden und mit ihm befreundeten Doppelgänger Siebenkäs weniger glimpflich.703
Infolge seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes
entwickelt Schoppe eine extreme Spiegelangst, die sich in einer Aggression gegen die Schöpfer alle Wachsfiguren- und Spiegelkabinette entlädt, in denen er Abbildungen seiner Selbst
entdeckt, so dass er zeitweilig ins Tollhaus eingeliefert wird. Als Schoppe besagtem Siebenkäs nach langer Trennung wieder begegnet, stirbt er vor Schreck – in den Armen seines Doppelgängers. Was hat es nun mit der ‚gefährlichen‘ Philosophie Fichtes auf sich?
703
Den restlichen Absatz vgl. Jean Paul, Titan, Werke, I. Abt., Bd. 3, 7-830, hier 765ff.
158
5. Vorstellungen von der Wirklichkeit in der Philosophie Fichtes und der romantischen
Literatur
Eine nähere Betrachtung von Fichtes Philosophie rechtfertigt nicht nur das Ende von der
Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht, sondern auch ihre Auswirkungen auf die
frühromantische Ästhetik, an der sich auch der Spätromantiker E.T.A. Hoffmann noch abarbeitete. Die Bedeutung, die von Zeitgenossen dem Philosophen beigemessen worden ist, war
zum Teil enorm.704 Sie ist hinsichtlich der zeitgenössischen Vorstellungen von der Wirklichkeit und dem in die Krise geratenen kartesianischen Subjekt aufschlussreich.
Laut Fichte entsteht aus der Wechselbestimmung des Ichs und des Nicht-Ichs das absolute
Ich.705 Was soll das heißen? Das Ich erschafft mittels seiner Fantasie die Umwelt, die es
wahrnimmt. Diese imaginäre Umwelt ‚programmiert‘ das vermeintlich reale Ich. Beide geistigen Vorgänge wiederholen sich endlos und werden von dem Philosophen mit dem Begriff
des „Setzens“ belegt, der heute außerhalb des universitären Lebens als gewöhnungsbedürftig
angesehen werden darf. Im Endeffekt „setzt“ sich das menschliche Subjekt durch sogenannte
Tathandlungen seiner Vorstellungskraft selbst. Das Ich und das Nicht-Ich gehen aus Gründen
der Vernunft miteinander eine Symbiose ein, die für beide Seiten eine eingeschränkte Freiheit
garantiert. Damit wirken sich gute Taten auf das Ich positiv aus; schlechte negativ. Leiden an
der Endlichkeit des Lebens und der eigenen Beschränktheit sind die Kehrseite des endlosen
Strebens nach Idealität.
Alles beruht auf Einbildung, die Wirklichkeit und das Ich. Desillusioniert man die ‚Vorstellungswelt‘ als Phantasieprodukt und kehrt den Kreislauf des „Setzens“ um, könnte man zum
existenzbedrohenden Nichts gelangen; doch das negiert Fichte:
Es wird sich zeigen, daß man in der Reflexion[…], nur bis auf den Verstand zurückgehen könne, und in
diesem denn allerdings etwas der Reflexion gegebnes, als einen Stoff der Vorstellung, antreffe; der Art
aber, wie dasselbe in den Verstand gekommen, sich nicht bewußt werde. Daher [kommt] unsere feste
Ueberzeugung von der Realität der Dinge ausser uns, und ohne alles unser Zuthun, weil wir uns des
706
Vermögens ihrer Produktion nicht bewußt werden.
704
Schlegel sieht die Französische Revolution, Goethes Wilhelm Meister und Fichtes 1795 komplett vorliegend
Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre als die großen Tendenzen des Zeitalters an. Vgl. Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), I. Abt., Bd. 2. Hg. u. eingeleitet v. Hans Eichner, München / Paderborn / Wien 1967 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 31 Bde. Hg. v.
Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, München / Paderborn / Wien 1958ff., II.
Abt., Bd. 11), 165-255, hier 213.
705
Den ganzen Absatz vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, in: ders.: Werke 1793-1795, I. Abt., Bd. 2. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob unter
Mitwirkung von Manfred Zahn, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 (J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, derzeit 42 Bde. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob, II. Abt., Bd. 1; 1962ff.),
173-464.
706
Ders., 173-4624, hier 374.
159
Die Attraktivität des Modells liegt darin, dass es durch die Freiheit zur Selbstbeschränkung
als Gebot der Vernunft notwendigerweise am Laufen gehalten wird, was eine moralische Melioration der Menschheit impliziert. Jean Paul sah darin allerdings die Gefahr eines Egoismus
zur Selbstvervollkommnung.
Er beschwört sie in seiner Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana.707 In diesem Komischen Anhang zum Titan kommt die Skepsis gegenüber Fichte zum Ausdruck. Sein fiktiver Verfasser
ist Schoppe alias Leibgeber alias Siebenkäs alias etc. – eine Figur, die mehrfach in ihrem Leben den Namen und ‚Beruf‘ wechselt und gleich in zwei Romanen Jean Pauls als Protagonist
in Erscheinung tritt. Die parodierende Darstellung des philosophischen Gebäudes erfordert
die Aneignung desselben durch den Schreibenden, der am Ende davon so überzeugt ist, dass
aus dem bitteren Spiel ernst wird. Am Ende des Titans wird er aufgrund der Philosophie Fichtes wahnsinnig und stirbt aus Angst vor einem vermeintlichen Doppelgänger.708
Leibgeber ergeht sich in Allmachtphantasien. Er macht die anderen Mit-Ichs zu Göttern und
denkt darüber nach, mit ihnen die Welt zu verbessern.709 (vgl. 1038ff.) Da sie sich aber mehr
hinderlich als nützlich erweisen und ohnehin nur seine Imaginationen sind, könnte er sie
[samt Fichte?] zerstören.710 Am Ende steht er völlig allein im leeren Raum und beklagt das
schwarze Nichts.711 (vgl. 1021 und 1056).
Schoppe alias Leibgeber entdeckt, dass über Automaten in Gestalt von Wachsfiguren, z.T. als
Nachbildungen wirklich vorhandener Personen, Einfluss auf die ‚Erziehung‘ des Erbprinzen
Albanos und seines Umfeldes genommen wird. Hinzu kommen optische Illusionskünste und
Spiegelkabinette.712 Schoppe zerstört in seinem Freiheitsdrang diese ‚Theatermaschinerie‘,
d.h. demoliert die Automaten, unter denen sich auch sein Double befindet, genauso wie alle
Spiegelkabinette, die er entdeckt. Auf der Flucht begegnet er nach Jahren seinem alten Studienfreund Siebenkäs, der sein realer Doppelgänger ist und zeitweilig mit ihm seinen Namen
getauscht hat. Nun hält er ihn für eine Illusion und flieht vor ihm; dieser will natürlich mit
seinem Freund in Kontakt treten, was dessen Verfolgungswahn so weit steigert, dass er vor
Angst stirbt. Die Desillusionierung der Wirklichkeit in der Clavis Fichtiana wirkt wie eine
Antizipation dieser Ereignisse.
707
Vgl. Paul, Jean: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (Anhang zum I. komischen Anhang des Titans), in: ders.:
Werke, I. Abt., Bd. 3. Hg. v. Norbert Miller, München 1970, 1011-1056.
708
Vgl. Paul, Jean: Titan, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 3, Hg. v. Norbert Miller, München 1970, 11-834, hier
788ff.
709
Vgl. Paul, Jean: Clavis Fichtiana, Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 3, 1011-1056, hier 1038ff.
710
Vgl. ebd.
711
Vgl. ders., 1011-1056, hier 1021 und 1056.
712
Dies und alles weitere zum Ende des Titans vgl. Jean Paul, Titan, Sämtliche Werke, I. Abt, Bd. 3, 11-834,
hier 788ff.
160
Der Doppelgänger kann als pars pro toto der Philosophie Fichtes angesehen werden: „Durch
die Unmöglichkeit einer Menschengestalt irgend einen andern Begriff unterzulegen, als den
seiner selbst, wird jeder Mensch innerlich genöthigt, jeden andern für seines gleichen [sic!] zu
halten“.713 Dies hat zur Konsequenz, dass sich die Menschen nicht mehr voneinander unterscheiden, alle Vertreter der Spezies zu Doppelgängern werden. Damit geht eine Gefährdung
der eigenen Identität einher, weil es keine Differenzen mehr gibt. Es ist die Einmaligkeit des
Ichs bedroht. Am Ende der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht bricht der Kampf
des Ichs mit seinem Doppelgänger um die Einzigartigkeit seines Selbst aus. Das Setzen eines
Nicht-Ichs funktioniert nicht. Ohne ein Nicht-Ich existiert laut Fichte kein Ich. Die Widersprüche in Fichtes philosophischem Denkgebäude führen zu seinem Kollaps, den der nicht
zerstörbare Verstand verhindern sollte. Der spätere Fichte sah das anders: die Reflexion vermöge ihrem Wesen nach sich selber zu spalten, was zur Zerstörung der Realität führe mit der
Gefahr, dass die Reflexionsform in absolut nichts zerfalle.714 Damit gibt er inhaltlich Jean
Paul in gewisser Weise Recht, nur stellt diese Äußerung keine Replik auf die Clavis Fichtiana
dar.
Auch die Romantiker nahmen Jean Paul durchaus ernst,715 der sie bekanntlich als Fichteianer
und Nihilisten angriff. Dass sie letzteres von sich aus nicht sein wollten, belegen die FichteStudien eines Novalis genauso,716 wie die philosophischen Bemühungen Schlegels, auf die
später noch kurz eingegangen wird. Chamisso, der sich im Künstler-Milieu der Berliner Romantik bewegte, befasste sich intensiv mit philosophischen Texten, z.T. in griechischer Originalsprache.717 Diese Lektüren stellte er ein, kurz bevor er Peter Schlemihls wundersame Geschichte niederschrieb. Er lässt seinen Protagonisten die Selbsterkenntnis aussprechen, dass er
zur philosophischen Spekulation keineswegs berufen sei (vgl. PS 63), was eine gewisse Erfahrung mit philosophischen Modellen impliziert. Hier enden aber auch schon die Parallelen
zwischen dem empirischem Autor und seiner Figur. Schlemihls Wissen auf diesem Gebiet
zeigt sich nur indirekt in der Kommentierung seiner Lebensweise. Dass er Fichtes Begriff der
„Tathandlung“ falsch verwendet, wurde bereits festgestellt.718 Er taugt offenbar wirklich nicht
713
Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: ders.:
Werke 1793-1796, I. Abt., Bd. 3. Hg. Reinhard Lauth u. Hans Jacob unter Mitwirkung v. Richard Schottky,
Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, 291-460, hier 379.
714
Vgl. Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie
um Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a. M. 1987, 35.
715
Vgl. Bruyn, Günter de: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, Frankfurt a. M. 1976, hier 230f.
716
Vgl. Loheide, Bernward: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantischen Diskurs, Amsterdam 2000, 181ff.
717
Vgl. Schleucher, Kurt: Adelbert von Chamisso, Berlin 1988, 20 und 42.
718
Vgl. Schwann 1984, 324.
161
zum Philosophieren. Rückschlüsse auf Chamissos Verständnis der Wissenschaftslehre Fichtes
verbieten sich aufgrund des Kontextes.
In Chamissos Werk versucht der graue Mann die Attraktivität des Teufelspaktes philosophisch zu untermauern. Schlemihl referiert jedoch das von ihm entworfene Modell nicht. Die
Charakterisierung desselben könnte aber auf Fichte zutreffen:
Nun schien mir dieser Redekünstler mit großem Talent ein fest gefügtes Gebäude aufzuführen, das in
sich selbst begründet sich emportrug, und wie durch eine innere Notwendigkeit bestand. Nur vermißt[e]
ich ganz in ihm, was ich eben darin hätte suchen wollen, und so ward es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur Ergötzung diente […]. (PS
63f.)
Was Schlemihl in dem Denkgebäude gesucht hätte, setzt er als bekannt voraus. Allerdings ist
es müßig zu fragen, was im System eines ‚Teufels‘ fehlt. Es kann sich eigentlich nur um Gott
handeln. Ein Beweis seiner Existenz wäre kontraproduktiv für den beabsichtigten Seelenhandel. Dem widerspricht nicht die behauptete, moralische Notwendigkeit des Geschäfts im Angesicht der Zwangsverheiratung Minas. Zum einen ist das ein Argument, das sich strategisch
den Wertvorstellungen des Gegenübers anpasst, zum andern braucht es für die Moral nicht
Gott. Eine „innere Notwendigkeit“ von Fichtes Theorie stellt die sich selbst beschränkende
Freiheit als moralisches Handeln dar. Die Moral konstituiert sich in der Wechselbestimmung
von Ich und Nicht-Ich, ganz ohne Gott.
Fichte erklärt Gott noch nicht zu einer Fiktion, sondern lässt immer wieder anklingen, dass er
von der Existenz einer Gottheit ausgeht. Dennoch entsteht der Eindruck, dass sich das Ich
seinen Gott nach dem eigenen Bilde schafft.719 Gott und Seele lassen sich nur schwierig mit
den begrifflichen Konstituenten seines Systems harmonisieren. Der graue Mann degradiert
die Seele zum X:
Seien Sie doch froh, einen Liebhaber zu finden, der Ihnen bei Lebenszeit noch den Nachlaß dieses X,
dieser galvanischen Kraft oder polarisierenden Wirksamkeit, und was alles das närrische Ding sein soll,
mit etwas Wirklichem bezahlen will, nämlich mit Ihrem leibhaftigen Schatten, durch den Sie zu der
Hand Ihrer Geliebten und zu der Erfüllung aller Ihrer Wünsche gelangen können. (PS 51)
Die Theoreme, auf die Fichte seine Wissenschaftslehre stellt, muten ähnlich mathematisch an.
Nachdem er „Ich bin ich“ in „A=A“ aufgelöst hat, beginnt er mit Buchstaben zu ‚jonglieren‘.720 Fichte verortet zwar in seinem Modell nirgendwo die Seele, operiert aber schon mit
einer Variable X:
[Die] Handlung, deren Produkt das Nicht-Ich ist, das Entgegensetzen, [ist] gar nicht möglich ohne X.
Mithin muss X. selbst ein Produkt, und zwar ein Produkt einer ursprünglichen Handlung des Ich seyn.
721
Es giebt demnach eine Handlung des menschlichen Geistes = Y. deren Produkt = X. ist.
719
Vgl. Fichte, Grundlage des Naturrechts, Werke 1793-1796, I. Abt., Bd. 3, 291-460, hier 361, 365, 377.
Vgl. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1793-1795, I. Abt., Bd. 2, 173-464, hier
255f.
721
Ders., 173-464, hier 269.
720
162
Schlemihl zweifelt nicht daran, dass er eine Seele besitzt. An die Existenz Gottes glaubt er,
was aus der Verehrung der Notwendigkeit als dessen Fügung hervorgeht, die im Zusammenhang des physiognomischen Diskurses behandelt wurde. Eine Alternative zu Fichte scheint
Chamisso in den Philosophien des Stoikers Epiktet und Platons gesucht zu haben.722
Schlemihls naturwissenschaftliche Bemühungen, das Abbild möglichst nahe an das Urbild
herankommen zu lassen, verweist auf platonisches Gedankengut. Zudem sprechen sie für ein
Bewusstsein, für das die Wirklichkeit nur ein durch Wahrnehmung bedingtes Konstrukt aus
Vorstellungen darstellt. Lange vor Fichte erschütterte schon der griechische Philosoph Platon
das Realitätsverständnis mit seinem Höhlengleichnis.723 Der Mensch könne nur Schatten als
Abbilder der wahren Ideen von allem Existierenden sehen. Im Abglanz des Lichtes ließen
sich diese Urbilder nur erahnen. Eine Beschreibung der Ideenwelt ist mit Worten nur eingeschränkt möglich, da sie nicht mehr Wirklichkeitsgehalt als Schatten haben.724 Die Idee des
Guten ist nach christlicher Rezeption Gott.
Bei den Neuplatonikern (um 200 n.Chr.) löste das Spiegelbild teilweise die platonische Schattenmetaphorik ab, weil sie eine potentiell unendliche Wiederholung des Urbildes darzustellen
ermöglicht, während der Schatten eines Schattens der didaktischen Anschaulichkeit eines
Gleichnisses zuwiderläuft.725
Fichte spricht sich in einer Vorlesung 1798 gegen die Einordnung seines Konzepts von Wirklichkeit in diese Tradition aus, wenn er das Ich zum „Auge“ erklärt:
Bewußtseyn [ist] ein sich selbst IDEALITER setzen: ein SEHEN, und ZWAR EIN SICH sehen.
In dieser Bemerkung liegt der Grund aller Irrthümer anderer philosophischen Systeme[…] Sie betrachten das ICH als einen SPIEGEL, in [… welchem] ein Bild sich abspiegelt, nun aber sieht bey ihnen der
Spiegel nicht selbst, es wird daher ein 2ter Spiegel für jenen SPIEGEL erfordert u. s. f. Dadurch wird das
Anschauen nicht erklärt, sondern nur ein ABSPIEGELN.
Das Ich der [… Wissenschaftslehre] ist kein Spiegel, sondern ein Auge; es ist ein sich ABSPIEGELNDER
SPIEGEL[,] ist Bild von sich; durch sein eigenes sehen wird das Auge (die INTELLIGENZ) sich selbst zum
726
Bilde.
Diese Sätze aus einer studentischen Mitschrift sollen im Folgenden auf Fichtes Reflexionsmodell bezogen werden. Die Rollen des Ich und des Nicht-Ich übernehmen die beiden, einander gegenüber positionierten Augen. In der Metaphorik des Auges wird damit das Sehen zum
722
Vgl. Schwann 1984, 152ff.
Vgl. Plato: Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. Griechisch – Deutsch. Übersetzt, erläutert
und herausgegeben von Rudolf Rehn. Mit einer Einleitung von Burkhard Mojsisch, Mainz 2005.
724
Vgl. Lutz, Bergmann: Kraftmetaphysik und Mysterienkult im Neuplatonismus. Ein Aspekt neuplatonischer
Philosophie, München / Leipzig 2006, 49 und Anm. 36 (ebd.).
725
Vgl. Peez, Erik: Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik
und Romantik, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1990, 200.
726
Fichte, Johann Gottlieb: Wissenschaftslehre nach den Vorlesungen von Hr. Pr. Fichte [= Wissenschaftslehre
nova methodo], in: ders.: Kollegnachschriften 1796-1804, IV. Abt., Bd. 2. Hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky unter der Mitwirkung v. José Manzana, Erich Fuchs, Kurt Hiller u. Peter K. Schneider, Stuttgart-Bad
Cannstatt 1978, 28-268, hier 48f.
723
163
Synonym des Setzens. Sehen bedeutet nun in Abhängigkeit von der Perspektive, sowohl visuelles Wahrnehmen („sehen“ im alltagssprachlichen Sinn), als auch das Produzieren von Visionen. An die Stelle des Spiegels rückt die Netzhaut als sehende Projektionswand einer Lochkamera, in deren Analogie man das Auge seit der Renaissance sah. 727 Die produzierten Visionen von der Umwelt werden in diese, außerhalb des Ich ins Nicht-Ich, übertragen. Dieser
Vorgang macht das Auge in übertragenem Sinne auch zu einem Projektionsgerät, das zeitgenössisch als Zauberlaterne oder Laterna magica bezeichnet wurde.728 In diesem technischen
Kontext findet man den Spiegel auch als Bezeichnung für eine Projektionsebene. Dementsprechend ist das Spiegelbild, isoliert als Lexem betrachtet, doppeldeutig. Entweder ist es als
Reflexion auf einer spiegelnden Fläche zu verstehen oder als Bild auf einer Projektionswand
von beliebiger materieller Beschaffenheit.729 Fichtes Reflexionsmodell läuft also auch Gefahr,
in einer am Auge orientierten Übertragung in den Bereich der optischen Medien lexikalisch
auf „Spiegel-Systeme“ festgelegt zu werden.
Das Auge als pars pro toto des Menschen dürfte Fichte selbst zu wenig anschaulich gewesen
sein, wenn er 1810 doch anthropomorphe Doppelgänger einander gegenüberstellt:
Das vernünftige Wesen kann sich nicht, als wirksames Individuum, setzen, ohne sich einen materiellen
Leib zuzuschreiben, und denselben dadurch zu bestimmen. […] Die Person kann sich keinen Leib zuschreiben, ohne ihn zu setzen, als stehend unter dem Einflusse einer Person ausser ihr, und ohne ihn
dadurch weiter zu bestimmen. […] Mein Leib muß der Person ausser mir sichtbar seyn, ihr durch das
730
Medium des Lichts erscheinen, und erschienen seyn, so gewiß sie auf mich wirkt[.]
Damit wird die enorme Bedeutung der Physiognomie als ‚Programmiersprache‘ des medialen
Austauschprozesses bei der Wechselbestimmung des Ich deutlich. Aus diesem Grund wurde
auch die Rolle der Physiognomie in den Texten von Chamisso, E.T.A. Hoffmann und Jean
Paul untersucht. Da die Wechselbestimmung ein potentiell nicht abzuschließender Prozess ist,
erzeugen die steten Veränderungen Unschärfe bzw. Unbestimmtheitsstellen bei den Beschreibungen menschlicher Erscheinungen – Fragmente von Personenbeschreibungen:
Die Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze; denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt;
nur die Vernunft setzt etwas festes, dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixi[e]rt. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt[…]. – Ienes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt; sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schwe727
Vgl. Berns, Jörg Jochen: Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und früher Neuzeit, Marburg 2000, hier 14ff.
728
Krünitz‘ ökonomische Enzyklopädie erklärt die Zauberlaternen zum technischen Spiegelbild der Lochkameras. Vgl. Artikel "Laterne", in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Bd. 65,
Berlin ²1803, 351-522, hier 467 (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier http://www.kruenitz.
uni-trier.de/, 12.10.2013) und Hick, Ulrike: Geschichte der optischen Medien, München 1999, 125. Mit anderen
Worten: 1794 wird die Laterna magica als umgekehrte camera obscura bezeichnet.
729
Vgl. Vogl-Bienek, Ludwig: Eine Szene der Phantasmagorie. Idealtyp einer Projektionsaufführung, in: KINtop. Jb zur Erforschung des frühen Films 14/15 (2006), 13-20, hier 16f.
730
Fichte, Grundlage des Naturrechts, Werke 1793-1796, I. Abt., Bd. 3, 291-460, hier 361, 365, 377 (Hervorhebungen: V.R.).
164
ben hervor. […] Im praktischen Felde geht die Einbildungskraft fort in‘s unendliche, bis zu der
schlechthin unbestimmbaren Idee der höchsten Einheit, die nur nach einer vollendeten Unendlichkeit
möglich wäre, welche selbst unmöglich ist. 731
Den Romantikern gefiel es, dass die Wissenschaftslehre der Fantasie eine so große Macht
einräumte. Daher versuchte Schlegel das Modell der Selbst- und Weltschöpfung für die romantische Poesie im Athenäumsfragment Nr. 116 ästhetisch fruchtbar zu machen:
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Und doch kann auch sie am meisten
zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den
Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren
und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten
Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein
Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine
732
grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.
Unverkennbar wird die schwebende Einbildungskraft Fichtes durch die schwebende, poetische Reflexion begrifflich substituiert. Schlegel veranschaulicht diesen geistigen Vorgang mit
zwei parallel zueinander aufgestellten Spiegeln, deren einander zugewendeten Reflexionsflächen sich endlos widerspiegeln, womit er sich deutlich von der Theorie des Philosophen entfernt. Weitere Unterschiede zwischen den Positionen Fichtes und Schlegels sind längst bekannt.733 Sie werden nicht von mir angeführt, da es fragwürdig ist, von der frühromantischen
Ästhetik auf die weniger theoriefreudige734 Spätromantik zu schließen. Der früh verstorbene
Novalis gelangte zur Überzeugung, dass ein reflektiertes Selbstbewusstsein nicht die Spaltung
in ein reflektierendes und reflektiertes Ich überwinden könne.735 Der Optimismus der Selbsterlösungsphilosophie von Fichte wich bald aus dem Horizont der Dichtung.736 Symptomatisch
könnten dafür die mehr oder minder hoffnungslosen Situationen der Figuren in dem Textkorpus sein, der dieser Arbeit zu Grunde liegt.
Aus Schlegels Zusammendenken geistiger und optischer Reflexion als ästhetische Norm resultiert die ähnliche Organisation aller Bestandteile der Werke, die mittels der progressiven
Universalpoesie hervorgebracht werden. Intra- und möglicherweise intermediale Referenzen
sind daraus programmatisch für die Literatur abzuleiten. Das Zurückverfolgen dieser Reflexionszusammenhänge ist nur potentiell unendlich, weil man irgendwann im Falle der Literatur
an die Grenzen der Überlieferung und Schriftlichkeit stößt. Folglich ist es weder möglich,
noch sinnvoll eine erschöpfende Textanalyse zu leisten. Unter der Perspektive der Zukunft
731
Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1793-1795, I. Abt., Bd. 2, 173-464, hier 360f.
Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragmente, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. Abt., Bd. 2, 165-255,
hier 182f. (Hervorhebungen: V.R.).
733
Kurz und prägnant zum Einstieg vgl. Menninghaus 1987, 135ff.
734
Dies könnte eine Konsequenz aus Schlegels Forderung nach einer Vermischung und Verschmelzung von
Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie sein. Vgl. Friedrich Schlegel, AthenäumsFragmente, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. Abt., Bd. 2, 165-255, hier 182f.
735
Vgl. Menninghaus 1987, 76f.
736
Vgl. Frank, Manfred: Die unendliche Fahrt. Die Geschichte des Fliegenden Holländer und verwandter Motive, Leipzig 1995, 116.
732
165
kann kein Kunstwerk zum Abschluss kommen, so dass der ideale Rezipient es weiterdenken
muss. Der unendliche Aufschub des Zieles entspricht kritisch gesehen einem unendlichen
Aufschub des Sinnes innerhalb der Struktur der Texte selbst.737 Derartige Strukturen wurden
von mir bereits in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte und an der daraus resultierenden
Rezeption des Textes gezeigt.
Wie sieht nun E.T.A. Hoffmanns Poesie-Konzept aus? Den reisenden Enthusiasten lässt er in
dem kurzen Essay Jacques Callot, der die Fantasiestücke in Callot‘s Manier eröffnet, die
Fantasie die Rolle von Fichtes Einbildungskraft und Schlegels Reflexion übernehmen. Graphiken werden zum Ausgangspunkt seiner im Tagebuch schriftlich fixierten Fantasien. Diese
wären Reflexe, also Spiegelungen von Callots Fantasie, die wohl ihrerseits Spiegelungen des
Alltagslebens darstellen:
[Seine] Zeichnungen sind nur Reflexe aller der fantastischen wunderlichen Erscheinungen, die der Zauber seiner überregen Fantasie hervorrief. Denn selbst in seinen aus dem Leben genommenen Darstellungen, in seinen Aufzügen, seinen Bataillen u. s. w. ist es eine lebensvolle Physiognomie ganz eigener
Art, die seinen Figuren, seinen Gruppen – ich möchte sagen etwas fremdartig Bekanntes gibt. (AS* 17)
Callots Kupferstiche erfüllen in dieser Betrachtungsweise von sich aus die Prinzipien romantischer Kunst. Die romantischen Dichter waren von der Idee der ordo invisus fasziniert, der
Spiegelung der Spiegelung, da das zweite Abbild der Wirklichkeit wieder seitenrichtig ist. 738
Wenn die Fantasiestücke durch die doppelte Spiegelung der Graphik-Vorlage – die Graphik
selbst ist ein seitenverkehrter Druck – angesehen werden, gilt dasselbe auch für sie.739 Diese
zweite Parallelwelt zur Wirklichkeit stellt letztere in Frage, insofern das Zurückverfolgen des
Spiels mit den Spiegelungen den Verdacht erweckt, dass sie schon selbst ein Fantasieprodukt
ist. Hier wird Fichtes Philosophie spürbar, mit der sich auch das „fremdartig Bekannte“ von
Callots Figuren und Gruppen verstehen lässt. Sie sind Setzungen des Nicht-Ichs, also des
Fremden, das dem Bekannten, dem Ich, entspricht. Da das Nicht-Ich das Ich setzt, ist auch aus
umgekehrter Perspektive Bekanntschaft gegeben. In den Abenteuern der Silvesternacht begegnet einem das (groteske) Motiv des „fremdartig Bekannten“ nicht erst in den Physiognomiebeschreibungen, sondern gleich im Vorwort des [fiktiven] Herausgebers:
Der reisende Enthusiast, aus dessen Tagebuche abermals ein Callotsches Fantasiestück mitgeteilt wird,
trennt offenbar sein inneres Leben so wenig vom äußern, daß man beider Grenzen kaum zu unterscheiden vermag. Aber eben, weil du, günstiger Leser! diese Grenze nicht deutlich wahrnimmst, lockt der
Geisterseher dich vielleicht herüber, und unversehens befindest du dich in dem fremden Zauberreiche,
dessen seltsame Gestalten recht in dein äußeres Leben treten und mit dir auf Du und Du umgehen wollen[,] wie alte Bekannte. (AS 325)
737
Vgl. ders., 212.
Vgl. Menninghaus 1987, 79.
739
Inspiriert Thomas Ganz, der in einem ganz anderen Zusammenhang Spiegelungen in eigentlich bekannten
Bildverarbeitungsprozessen bewusst macht. Vgl. Ganz, Thomas: Die Welt im Kasten, Von der Camera obscura
zur Audiovision, Zürich 1994, 17f.
738
166
In der Interpretation des Herausgebers wird dem reisenden Enthusiasten die Fähigkeit abgesprochen, die Position seiner Erlebnisse in dem Spiegelsystem zu bestimmen. Der ideale Leser soll sich aber in ihn hineinversetzen und an dessen Nicht- und Wiedererkennen der seltsamen, fremdartig bekannten Gestalten teilhaben, die mit ihm wie „auf du und du umgehen“.
In der Fiktion können dementsprechend die Grenzen zwischen innerem und äußerem Leben
nicht zu stark mit illusionsstörenden Frames markiert werden.
Schon der Anfang des ersten Kapitels stellt die äußere Handlung als Folge eines inneren Zustandes dar. Mit glutdurchströmten Nerven rennt der reisende Enthusiast, Hut und Mantel
vergessend, in die stürmische Nacht (vgl. AS 325). Nach seiner Begegnung mit Peter Schlemihl, einer literarischen Figur Chamissos (vgl. AS 330), wird die vermeintliche Außenwelt
der wörtlichen Lesart erschüttert. Man beginnt daran zu zweifeln, ob seine Begegnungen mit
dem Justizrat und seiner Ex-Geliebten Julie kurz zuvor, tatsächlich stattgefunden haben – erst
recht, wenn sie in einer Traumsequenz fraglicher Ausdehnung als Erscheinungen (vgl. AS
337ff.) wiederkehren. Der Begriff Erscheinungen ist seit Kant, an den sich Fichte ideengeschichtlich anknüpft, philosophisch ‚vorbelastet‘.740 Er verweist implizit auf denselben Diskurs, wie der fiktive Herausgeber. Dieser bezeichnet den reisenden Enthusiasten als einen
„Geisterseher“ (AS 325).741 In Schillers Romanfragment Der Geisterseher (1787-1789) geht
es auf der Inhalts- und Metaebene – in einem philosophischen Gespräch – um die Existenz
bzw. Nicht-Existenz wahrgenommener Erscheinungen. Ein protestantischer Erbprinz reist auf
seiner Kavalierstour nach Italien und wird von ominösen, politischen Kräften mittels Masken
und Zauberlaternen-Projektionen von Geistern zum Konfessionswechsel gebracht. Man suggeriert ihm, dass dieser Schritt notwendig sei, um die ihm vorgegaukelte, schöne Frau zu heiraten.742 Der fiktive Herausgeber Hoffmann will den Leser bei vollem Bewusstsein in das
„Zauberreich“ der Fantasie entführen, den Rezipienten zur Desillusionierung des Gaukelspiels
bringen, sonst hätte er besser sein Vorwort weggelassen.
Obwohl Callot-Bilder in Abenteuer der Silvesternacht einmal als unspezifischer Vergleich
Erwähnung finden (AS 340), kann man keine Callot-Graphiken als Inspirationsquelle für das
ganze Fantasiestück geltend machen – erst recht nicht für die übrigen Erzählungen der Sammlung. Literarische, alchemistische, medizinische Texte, Gemälde und Musik aller Art übernehmen offenbar die Funktion von Callot-Werken. Hoffmanns Nachrichten von den neuesten
740
Vgl. Andriopoulos, Stefan: Die Laterna magica in der Philosophie. Gespenster bei Kant, Hegel und Schopenhauer, in: DVJS 80/2 (2006), 173-211, hier 187ff.
741
Vgl. Steinecke 1993, 533-858, hier 805.
742
Alles zum Geisterseher vgl. Schmitz-Emans, Monika: Die Laterna magica der Erzählung. Zur Semantik eines
Bilderzeugungsverfahrens und seiner poetischen Funktion, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und
Kultur 102/3 (2010), 301-325, hier 308f.
167
Schicksalen des Hundes Berganza setzen Cervantes Erfindung des menschlich empfindenden,
sprechenden Hundes fort. Der Don Juan der Fantasiestücke stellt einen Erlebnisbericht des
Besuchs von Mozarts Oper Don Giovanni dar. Der reisende Enthusiast deutet das Geschehen
auf der Bühne völlig neu in einer stark selektiven Auswahl der Szenen, da er in seine Loge
den Geist der schließlich sterbenden Donna-Anna-Sängerin hineinprojiziert. Das Libretto von
Lorenzo da Ponte ist nicht die erste Dramatisierung des spanischen Stoffes. Vor diesem Hintergrund muss man den Don Juan als hochgradig intertextuell bezeichnen.
Peter Schlemihl in Abenteuer der Silvesternacht, der als Fortunatus und Faust in ‚Volksbüchern‘ präfiguriert ist,743 impliziert eine ähnliche Reihe von Intertexten – was noch ein eigenes Kapitel dieser Arbeit ausmachen wird. Die Parallelgeschichten Spikhers und des reisenden Enthusiasten führen das Spiel der Referenzen intratextuell fort. Da die literarischen Texte
mit ihren Figurenbeschreibungen dieselbe Funktion haben wie die Bilder von Figuren, sind
die Intertexte als Spiegelbilder aufzufassen, genauso auch die Variationen einer Ausgangsgeschichte innerhalb der Abenteuer der Silvesternacht. Durch das Verwischen der Grenzen von
Innen und Außen ist das Urbild als Original nicht mehr zu erkennen. Diese Erfahrung findet
ihren Ausdruck in Ich-Dissoziationen, Doppelgängergestalten und dem Verlust des Spiegelbildes. Dem Nachweis dieses intra- und intermedialen Wirklichkeitskonzepts in Abenteuer
der Silvesternacht dienen die folgende Auseinandersetzung mit vergessenen, vom technischen
Fortschritt überholten, optischen Medien und den Prätexten des Fantasiestücks.
743
Vgl. die Belege hierfür im Kapitel „9.2. Die ‚unbedeutenden‘, ‚markierten‘ Intertexte von den Abenteuern der
Silvesternacht“.
168
6. Die Entwicklung, Rezeption und Charakteristika der Projektionsmedien
Wenn man das kontaktgebende Medium in einem kontaktnehmenden finden will, sollte man
das erstere kennen. Aus diesem Grund wird eine Reihe von Projektionsvorrichtungen vorgestellt, ehe eine Suche nach Referenzen in literarischen Texten erfolgt. Mit Rücksicht auf die
Leserschaft verzichte ich auf eine unmittelbare Verknüpfung der Fakten mit der Analyse von
Abenteuern der Silvesternacht, obwohl damit zunächst der Verdacht aufkommen könnte, dass
redundante Sachverhalte aneinandergereiht werden. So versuche ich das geistige Nachvollziehen einer systematischen Darstellung der technischen Apparaturen und ihrer Einsatzweisen
zwischen Wissenschaft und Unterhaltung zu erleichtern. Die Chronologie wird dabei nur als
ein sekundäres Gliederungselement angesehen.
Ein besonderes Augenmerk gilt den hochgradig inszenierten Aufführungskontexten, den performativen Möglichkeiten der optischen Medien, dem Einsatz von Spiegeln und den spezifischen Inhalten der Programme. Projektionen sind mehr als nur gestaltete Lichterscheinungen.744 Eine enorme Experimentierfreude zeichnete die Schausteller der Jahrhundertwende
(1800 / 1801) aus, da sonst das Publikum ausgeblieben wäre. Panoramen, die Fotografie, Kinematographen und der Film mussten z.T. sogar von denselben Protagonisten in den nächsten
100 Jahren erfunden bzw. miteinander kombiniert werden, um die Schaulust der Leute zu
befriedigen. Zeigt dies Auswirkungen auf die medien- und technikgeschichtlichen Forschungsinteressen, so ist es für die romantische Literaturepoche fast bedeutungslos. Die Fachliteratur rund um das Thema Zauberlaternen kann man als überschaubar bezeichnen, allerdings verlieren die topischen Klagen über Literatur- und Quellenmangel zunehmend an Berechtigung.745 Jede Neuveröffentlichung stellt in gewisser Weise eine Kompilation bekannter
Fakten dar, in die neue Quellenfunde und Aspekte eingeordnet werden. Auf diese Weise ist in
den letzten Jahrzehnten ein solides chronologisches Grundgerüst für Detailforschungen entstanden. Der Prozess des Zurückdatierens technischer Errungenschaften dürfte dennoch eine
Weile anhalten. Während man über die Existenz von Projektionsvorrichtungen materielle,
schriftliche und bildliche Quellen in ‚zufriedenstellender‘ Menge besitzt, kann man ihre Einsatzweise vor 1800 nur rudimentär rekonstruieren. Aus späterer Zeit haben sich noch größere
Mengen von Laternenbildern in Form von bemalten Glasscheiben erhalten. Die schriftlichen
Zeugnisse nehmen erst mit der Ausbreitung des Geräts zu. In ihrer Verzweiflung greifen die
Autoren oft auf Erwähnungen in der literarischen Fiktion zurück. Diese interdisziplinäre Vor744
Vgl. Vogl-Bienek, Ludwig: Die historische Projektionskunst. Eine offene geschichtliche Perspektive auf den
Film als Aufführungsereignis, in: KINtop. Jb zur Erforschung des frühen Films 3 (1994), 11-20, hier 12.
745
Vgl. ders., 11-20, hier 30 und jüngst Rossell, Deac: Laterna Magica. Magic Lantern, Bd. 1, Stuttgart 2008, 8.
169
gehensweise ist lohnend, kann aber nicht als Ersatz für Grundlagenforschung gelten. Monika
Schmitz-Emans hat die bekanntesten literarischen Belege von Zauberlaternen in einem Aufsatz zusammengetragen und so auf die enorme Wirkung des Mediums im gesellschaftlichen
Leben und Diskurs um 1800 aufmerksam gemacht.746 Setzt man ein großes Maß an Vorwissen voraus, sind nur ein Minimum an Markierungen für intermediale Referenzen notwendig.
Die folgenden Ausführungen sind damit sowohl unserem heutigen Horizont, als auch dem der
Menschen vor etwa 200 Jahren geschuldet.
6.1. Die einzelnen Projektionsmedien von ihrer technischen Seite
In der Renaissance befasste man sich, angeregt von antiken Schriften, mit den optischen Phänomenen in der Camera obscura, der dunklen Kammer. Lässt man durch ein winziges Loch
in den Raum Tageslicht einfallen, trifft dieses auf die gegenüberliegende Wandfläche. Es
zeigt dann ein kopfstehendes Bild von einem gerahmten Ausschnitt der Außenwelt auf gleicher optischer Achse.747 Ein Nachbau der räumlichen Situation in einem verkleinerten Maßstab stellt die Lochkamera als optisches Instrument dar. Aufgrund ihres architektonischen
Vorbildes heißt sie in der Gelehrtenwelt lange camera obscura. Die volkssprachlichen Bezeichnungen sind jünger. Im deutschen Sprachraum wurde bis heute der Begriff „camera obscura“ noch nicht von seinem Synonym „Lochkamera“ vollständig abgelöst, das durchaus auch
die „dunkle Kammer“, nun als Vergrößerung der optischen Apparatur, bezeichnen kann. Das
kopfstehende Bild in der camera obscura stellte ein Hindernis bei seiner praktischen Anwendung dar. Man baute Spiegelsysteme in und um die Kammer. Auch mit Linsen fing man das
Experimentieren an.
Zwischen Camera obscura und Laterna magica steht das Sonnenmikroskop, das ab 1740
seine Verbreitung fand – und in E.T.A. Hoffmanns Meister Floh noch eine gewisse Rolle
spielt.748 Ein Hohlspiegel wirft Sonnenlicht auf eine Sammellinse, die in der Öffnung eines
verdunkelten Raums steckt. Das gebündelte Licht trifft auf das Präparat, das auf einer Glas-
746
Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Die Laterna magica der Erzählung. Zur Semantik eines Bilderzeugungsverfahrens und seiner poetischen Funktion, in: Monatshefte 102/3 (2010), 301-325.
747
Vgl. Hick 1999, 63.
748
Absatz zum Sonnenmikroskop vgl. bei Stadler, Ulrich: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen
Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen, in: Hoffmann Jb 1
(1992/1993), 91-105. Anm.: In unveränderter Form findet sich dieser Aufsatz in: Hartmut Steinecke (Hg.):
E.T.A. Hoffmann. Neueste Wege der Forschung, Darmstadt 2006, 149-170. Aufschlussreich zum Sonnenmikroskop ist auch der Aufsatz: Heering, Peter: Populäre Bilder. Die Visualisierung des Mikrokosmos in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Ulrich Johannes Schneider: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin /
New York 2008, 515-522.
170
platte fixiert ist. Durch eine Linse (oder ein Linsensystem) setzt sich der Strahlengang des
Lichts bis zur Wand oder einem Projektionsschirm fort.
Die Laterna magica, auch Zauberlaterne genannt, wurde in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts erfunden. Nacheinander entwickelten sich zwei Bauformen, deren Einsatz vom Anwendungsfall abging. Der erste Bautyp besteht aus einer Lichtquelle, einer Sammellinse, einem
transparenten kopfstehenden Bildträger und einem Objektiv mit Vergrößerungslinse, die alle
auf einer optischen Achse in Abständen montiert sind, denen physikalische Experimente und
Berechnungen zu Grunde liegen. Mit Hilfe dieser Kombination war es in verdunkelten Räumen möglich, das auf dem Glas befindliche Bild stark vergrößert auf einer Wand, einem Tuch
oder sogar auf einer Rauchwolke zu projizieren.749 Die Technik brachte man in einem prinzipiell lichtundurchlässigen Kasten unter, damit die Projektion durch Streulicht nicht beeinträchtigt wird. Um eine Bewetterung der Projektionslampe, lange ein offenes Feuer, zu bewerkstelligen, mussten unauffällig Lüftungslöcher und besonders konstruierte Kamine angebracht werden. Der Bildträger hatte die Spalte zu seiner Einführung komplett auszufüllen.
Glasscheiben (englisch: slides), zunächst mit Öl-, dann mit Wasserfarbenbemalung750 oder
aufgeklebten Silhouetten,751 sind vor dem Aufkommen von Entwicklungen auf dem fotografischen Sektor in nachromantischer Zeit die gängigen Bildträger. Die geringe Lichtstärke verbesserte man mit effizienteren Brennstoffen und Hohlspiegeln als Reflektoren der Lichtquelle.
Zweifelsfrei konstruierte 1662 Christian Huygens (1629-1695) eine Laterna magica dieser
Bauart, wahrscheinlich sogar schon drei Jahre früher, was die erhaltene Korrespondenz nahelegt.752 1664 entstand die erste fehlerfreie Illustration des Geräts. 753 Etwa sechs Jahrzehnte
später befanden sich die Zauberlaternen im Warenkatalog eines jeden Feinmechanikers.754
Nach 1750 erfolgte die Produktion nur noch in kleinen Stückzahlen, verglichen mit anderen
optischen bzw. technischen Instrumenten. Die Laterna magica hatte in den vermögenderen
Bevölkerungsschichten den Reiz des Neuen eingebüßt, nachdem der erste Bedarf gedeckt
worden war.755
749
Die vorangegangene Beschreibung des ersten Bautyps der Zauberlaterne orientiert sich an der Deskription der
Apparatur durch Rossell 2008, 18.
750
Vgl. Historisches Museum Frankfurt (Hg.): Laterna Magica – Vergnügen, Belehrung, Unterhaltung. Der
Projektionskünstler Paul Hofmann (1829-1888) (Kleine Schriften des Historischen Museums 14, Frankfurt am
Main 1981, 23.
751
Vgl. Wälde, Helmut: Laterna Magica. Spielzeug-Geistermaschinen aus Nürnberg, in: Photo-Antiquaria 37
(2010), 16-22, hier 19.
752
Vgl. Rossell 2008, 19f.
753
Vgl. ders., 22.
754
Vgl. ders., 76.
755
Vgl. ders., 82f. und 138.
171
Der zweite Bautyp der Zauberlaterne unterscheidet sich vom ersteren hinsichtlich seiner Dimensionierung, der Positionierung und des Bildspenders.756 Es handelt sich um die architektonische Variante der Apparatur – entsprechend der Dunkelkammer-Lochkamera. Sie soll es
vor allem ermöglichen, bewegte Spiegelbilder von lebenden Menschen in einen finsteren Zuschauerraum zu projizieren. Diese zeigen bei einer Vergrößerung keine Fehler in der künstlerischen Ausführung oder Proportionierung, die man selbst den am sorgfältigsten gefertigten
Slides noch nachsagte.757 Dass der Mime nicht auf eine Glasplatte montiert werden kann, versteht sich von selbst. Die Dimensionierung und Anordnung der technischen Bestandteile muss
dementsprechend angepasst werden. Nachfolgende Tabelle soll die Unterschiede der beiden
Projektions-Vorrichtungen deutlich machen.758
Erster Bautyp
Zweiter Bautyp
(1) kleiner Hohlspiegel
(2) Lichtquelle
über einem
(1) großem Hohlspiegel
(2) Lichtquelle
(4) Darsteller
(3) Linsen
(3) Linsen
(4) Bildträger
(5) Objektiv
(5) Objektiv
(6) Projektionswand
(6) Projektionswand
756
Die folgende Beschreibung des „catadioptisch-phantasmagorischen Apparats“ (ein „nur hier“ auftretender
Begriff für den zweiten Typ der Zauberlaterne) basiert auf Brewster, David: Briefe über die natürliche Magie, an
Sir Walter Scott. Aus dem Englischen und mit Anmerkungen begleitet von Friedrich Wolff, Königlicher Professor in Berlin, Berlin 1833, 101ff. und Tafeln I-III (Fig. 4-7). Über die Aufstellung der Lichtquelle(n) bei der
Hohlspiegelprojektion schweigt sich die Quelle aus, so dass man die Logik zur Hilfe nehmen muss. Selbiges gilt
für den Mindestdurchmesser des Hohlspiegels. Da vor der geringen Wirkung der Projektion von zu kleinen
Exemplaren gewarnt wird, sollte der kritische Leser nicht anfangen, mit alten Fahrradreflektoren oder Autoscheinwerfern herumzuexperimentieren. Einer der ältesten erhaltenen Hohlspiegel aus poliertem Kupferblech
weist einen Durchmesser von 158 cm auf und wurde 1686 von Ehrenfried Walther von Tschirnhaus als Brennspiegel für Schmelzexperimente gefertigt, die schließlich zur Entdeckung der Porzellanrezeptur in Sachsen führten. Vgl. Schillinger, Klaus: Herstellung und Anwendung von Brennspiegeln und Brennlinsen durch Ehrenfried
Walther von Tschirnhaus, in: Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Hg.): Ehrenfried Walther von Tschirnhaus.
Experimente mit dem Sonnenfeuer, Dresden 2001, 43-54, hier 44f. und 136 (Abbildungen und Beschreibungen).
Man kann ihn in dem Mathematisch-physikalischen Salon des Dresdner Zwingers seit April 2013 wieder besichtigen. – Äußerst detaillierte Beschreibungen zur Herstellung preiswerter Hohlspiegel, z.B. aus Pappe und
Schaumgold, sowie der Inszenierung von Geister-Projektionen finden sich in ‚Zauberbüchern‘ für das Bürgertum. Vgl. Gütle, Johann Konrad: Kleines Kunst- und Zauberkabinett für gesellschaftliche Vergnügen, Nürnberg
und Sulzbach 1805, 36ff. und ders.: Vermischte Beyträge zu Zauber-Belustigungen aus der Chemie, Optik, Musik und dem Schall, Mitunter [sic!] zu Geistererscheinungen brauchbar, Nürnberg 1806, 12ff.
757
Dazu vgl. Rossell 2008, 90f.
758
Die eingeklammerten Ziffern in der Tabelle sollen den Vergleich der Projektionstechnik erleichtern. Zum
Tabelleninhalt vgl. nochmals Brewster 1833, 101ff. und Tafeln I-III (Fig. 4-7) und Rossell 2008, 18.
172
Die optischen Eigenschaften des Hohlspiegels bewirken, dass die Reflexion des Akteurs im
Strahlengang des Lichts über dessen Körper hinweg auf das Linsensystem trifft, dort von seinem ‚Kopfstand‘ in seine Ausgangslage gebracht wird, so dass auf der Projektionsfläche
schließlich das Abbild ‚richtig herum‘ erscheint. Dies erklärt, warum solche Projektionen um
1800 auch als Spiegelbilder bezeichnet werden und die Projektionswände bzw. -schirme
Spiegel heißen. Athanasius Kircher war der erste, der Hohlspiegel zum Projizieren nutzte
(s.u.).
Paul Liesegang, der die ersten Grundlagenforschungen zu Zauberlaternen anstellte, entwickelte die Theorie, dass Hohlspiegel bei Schattenspielern im 17. Jahrhundert zum Verstärken von
Lichtquellen eingesetzt wurden.759 Dabei sollen Figuren zwischen Lichtquelle und Reflektor
geraten oder auf den Hohlspiegel gelegt worden sein, so dass kopfstehende Abbilder an der
Leinwand wahrgenommen werden konnten. Daraufhin habe man die spiegelnde Fläche bemalt. An dieser Stelle folgt eine assoziative Verknüpfung zur Spiegelschreibkunst des Athanasius Kircher, mit der sich dessen Ars magna lucis et umbrae (1671) befasst.760 Ihre Anfänge
müssen weit zurückreichen. Möglicherweise stellt sie die rationale Erklärung für das Menetekel-Wunder auf Belsazars Festmahl im Alten Testament dar.761 Plausibler als Schattenspielexperimente scheinen mir Verunreinigungen und Schäden an spiegelnden Oberflächen die
Idee zu erklären, Spiegel zu beschriften und als Bildträger einzusetzen. Liesegangs Theorie
wurde referiert, da sie eine Gleichsetzung von Spiegelbild und Schatten bietet und eine
sprachliche ‚Ungenauigkeit‘ erklärt, die einem in den Quellen in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts begegnet. Hier heißen farbige Projektionen auch Schatten. Der Begriff Projektion hatte sich noch nicht durchgesetzt.762 Sprach man nicht von Schatten oder Spiegelbildern,
behandelte man die Phänomene als optische Vorstellungen, Erscheinungen und Phantasmago759
Vgl. Liesegang, Franz Paul: Die Beziehung des Schattenspiels zur Erfindung der Laterna magica, in: Prometheus. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Gewerbe, Industrie und Wissenschaft 44 (1919), 345349.
760
Kircher widmet eine Tafel der Projektion mit Planspiegeln, die mit Buchstaben bzw. Figuren bemalt sind,
wobei auch Linsen zum Einsatz kommen, die in der Darstellung fälschlicherweise keinen Einfluss auf den Strahlengang des Lichtes haben. Vgl. Kircher, Athanasius: Ars magna lucis et umbrae, Rom 1671, 792. Eine Schriftprojektion mit einem Hohlspiegel, die bei Sonnenschein mit Kerze und ohne Linsen stattfindet, soll angeblich
sichtbare Resultate liefern und beweisen, dass Archimedes mit einem Hohlspiegel keine Flotte abgebrannt haben
kann. Kircher schlägt statt einem Brennglas eine sich konisch zum Ziel verengende Spiegelröhre für diesen
Zweck vor. Vgl. ders., 764. Fazit: Kirchers Abbildungen mögen Praktiker zum Bau einer Zauberlaterne des
zweiten Typs inspiriert haben, zeigen aber noch kein funktionstüchtiges Exemplar.
761
Vgl. Vogl-Bienek 1994, 11-20, hier15ff.
762
Obwohl Athanasius Kircher das lateinische Substantiv „projectio“ schon gebraucht, erscheint das Fremdwort
„Projektion“ bezüglich technischer Bildwerfer erst etwa seit 1910 in der deutschen Sprache. Vgl. z.B. Kircher
1671, 782 und Artikel "Projektion", in: Otto Basler / Hans Schulz (Hgg.): Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 2: LP., Berlin 1942, 680. „Projection“ ist 1870 schon unter dem Lemma „projiciren“ mit anderen Bedeutungen in
einem Fremdwörterlexikon enthalten. Vgl. Artikel "Projection", in: Heyse, Johann Christian August: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der
Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung, Hannover 141870, 741f.
173
rien.763 Darunter verstand man allerdings nicht nur physikalische, äußere Vorgänge, sondern
auch innere Prozesse der Phantasie. Diese begriffliche Ambivalenz antizipierend, wurde das
letzte Kapitel mit „Vorstellungen von der Wirklichkeit“ überschrieben. Zu Hoffmanns Zeit
galt also auf semantischer Ebene:
(1) Phantasmagorie = Spiegelbild
(2) Phantasmagorie = Schatten
Daraus folgt: Schatten = Spiegelbild – wie bei Liesegang. Nur ist die Gleichsetzung mit tatsächlich belegbaren historischen Fakten zu begründen. Die mindere Qualität vieler Spiegel
vor der industriellen Revolution führte zu Helligkeitsverlusten, mit denen eine Reduktion der
Farbigkeit einherging.764 Das Spiegelbild war in solchen Erzeugnissen nur ein dunkler Schatten.765 Umgekehrt ist es auch verständlich, dass Projektionsflächen, auf denen „Schatten“ erscheinen, Spiegel genannt werden.766 Vor dem Hintergrund ist es eigentlich gar nicht so originell, dass Hoffmann Chamissos verkauften Schatten zum verschenkten Spiegelbild gemacht
hat.
763
Der eigentliche Wortsinn von Phantasmagorie bedeutet „Geisterversammlung“. Vgl. Heidrun Kerstein / Cornelia Weber: Laterna magica. Ausstellungskatalog. Bewegte Bilder und Bildermaschinen (Siegen – Villa Waldrich – 12.12.1981-5.1.1982), Siegen 1981, 28. Wer Phantasmagorien aufführt, ist ein Phantasmagore. Dieser
Begriff wird fortan synonym zu dem sprachlichen Anachronismus „Projektionskünstler“ verwendet. Es wird nur
seine männliche Form gebraucht, da optische Vorstellungen wohl hauptsächlich Männersache waren. Nur ein
Kupferstich zeigt die Apparatur in Verbindung mit einer Frau. Vgl. Abbildung bei Detlef Hoffmann / Almut
Junker (Hgg.): Laterna magica. Lichtbilder aus Menschenwelt und Götterwelt, Berlin 1982, 6.
764
Vgl Driesen 1997, 56.
765
Ein solcher entsteht auch, unabhängig von der Qualität des Spiegels, bei einer massiven Annäherung des
Betrachters an die spiegelnde Fläche, so dass sie in den Eigenschatten des Körpers gerät. Vgl. Dahms 2012, 69ff.
766
Vgl. Vogl-Bienek 2006, 13-20, hier 16f.
174
6.2. Die Einsatzweisen der Projektionsmedien
Die Projektionsmedien setzte man ab dem späten Mittelalter in den verschiedensten Kontexten ein. Um diese systematisch zur Darstellung zu bringen, werden die Fakten zwischen den
beiden Polen Wissenschaft und Unterhaltung angeordnet – im vollen Bewusstsein, dass das
Mimesis-Konzept für wissenschaftliche und künstlerische Formen der Weltbeschreibung genauso quer zu diesen Kategorien liegt, wie didaktische Maßnahmen zur Vermittlung von Wissen.
Bis ins 16. Jahrhundert bediente man sich der Camera obscura für astronomische Beobachtungen, wodurch man sich eine Schonung der Augen versprach.767 Man brauchte zum einen
das Fernrohr nicht mehr in die Augenhöhle zu ‚bohren‘, dafür ging zum anderen eine Menge
Licht verloren. Mag dies bei der Erforschung von weniger leuchtkräftigen Sternen eher hinderlich sein, so ermöglicht der Effekt überhaupt erst die Betrachtung der Sonne ohne lang
anhaltende (oder bleibende) Nachbilder. Zudem konnte man das vergrößerte Abbild eines
Himmelskörpers als Projektion leichter fixieren, als das wahrgenommene im Fernrohr. Nicht
nur die Gelehrten, sondern auch die Maler bedienten sich der Lochkamera als Hilfsmittel, um
Landschaften und Architekturen zu skizzieren. Dies führte zur Entwicklung transportabler
Lochkameras.768 Hierüber berichten nur wenige Quelle: Arkanwissen, künstlerische Eitelkeit
und mangelndes Interesse an der handwerklichen Seite der Produktion mögen dieses Faktum
erklären.
Im Rahmen einer Physikvorlesung an der Universität Altdorf demonstrierte 1672 der Astronom und Mathematiker Johann Christoph Sturm (1635-1703) die Funktionsweise der Laterna magica, indem er eine lebende Stubenfliege an die Wand projizierte, die er zuvor auf
eine Glasplatte geklebt hatte.769 Damit zeigte er mehr Courage als Christian Huygens, der
nichts mehr mit seiner Erfindung zu tun haben wollte, weil er um seine Reputation in der Gelehrtenwelt fürchtete. Mit der Apparatur konnte man fortan künstliche Geister beschwören,
wobei man sagen muss, dass Huygens selbst seinen Teil zur Herausbildung dieser Traditionslinie beigetragen hat. Die sogenannten Savoyarden, Schausteller aus Südeuropa bedienten
sich auf ihrer Wanderschaft und auf Jahrmärkten dieser Technik vom Ende des 17. bis ins
späte 18. Jahrhundert, um ungebildete, einfache Bevölkerungsschichten mit audiovisuellen
Nummern zu unterhalten.770 Ihr Erfolg bestand darin, ihre Programme stets auf die sozialen
767
Vgl. Hick 1999, 24 und 53.
Vgl. dieselbe, 18, 49 und 71f.
769
Vgl. Kerstein / Weber 1981, 15; Hick 1999, 139 und Rossell 2008, 33.
770
Vgl. Rossell 2008, 102ff.
768
175
und lokalen Gegebenheiten anzupassen.771 Gegen einen Einsatz im Unterricht sprach anfangs
sicherlich auch die geringe Leuchtkraft der Laternenbilder.772 Zudem wiesen die projizierten
Figuren störende Farbsäume auf, ehe in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Dollonds Flintgläser für Linsen auf den Markt kamen.773
1705 sprach sich Johann Conrad Creiling, Professor für Naturlehre, trotz der Nachteile dafür
aus, die technischen Möglichkeiten für didaktische Zwecke zu nutzen. Vorlesungen mit naturkundlichen Themen, über andere Länder und Völker ließen sich damit genauso gut veranschaulichen, wie mathematische Probleme und biblische Geschichten.774 Sein Ruf verhallte,
doch die vermeintliche 100jährige Anwendungslücke zwischen diesem Plädoyer und der ersten Umsetzung der Vorschläge ist nicht haltbar. Deac Rossell hat sie um 30 Jahre verringert,
indem er für die Universität Jena belegte, dass Wasser gefüllte Schusterkugeln mit Kleinstlebewesen mit einer Projektionslampe durchleuchtet wurden.775 Offenbar wollte man sich nicht
in die Abhängigkeit von Wetterbedingungen begeben, die das Sonnenmikroskop mit sich
bringt. Damit ist allerdings noch lange nicht bewiesen, dass der Einsatz der Zauberlaternen in
der empfohlenen Form der Regelfall war.
Der erste bekannte Lichtbildvortrag fand 1653 oder 1654 jedenfalls nicht in einem universitären Rahmen statt.776 Der Jesuit Andreas Tacquet (1612-1660) aus dem belgischen Löwen illustrierte den Bericht von seiner vorangegangenen Missionsreise durch China mit Projektionen. Was bislang nur anklang, zeigt sich hier deutlich: auch die Projektionsvorführungen vor
dem Film sind als Medienkombinationen zu verstehen. Die visuellen Reize der Zauberlaterne
erhielten in der Regel eine Kommentierung, wobei das Verhältnis von gesprochenen Worten
und dem präsentierten Bildern stets neu ausgelotet wurde. Im konkreten Fall kam sicherlich
dem Wort die Funktion zu, Kontingenz in der sprunghaften Narration der Bildfolge zu stiften,
die nach Ulrike Hicks Meinung auf Skizzen der Landschaften, Architektur und dergleichen
beruhte.777 Bei einem technisch so versierten Menschen möchte man fast annehmen, dass er
sich für die Skizzen einer Camera obscura bediente. Leider muss dies Spekulation bleiben.
Aus der Vortragssituation kann man einige Charakteristika über das Dispositiv Zauberlaterne
ableiten. Es gibt eine Projektionsfläche, einen Redner, ein Publikum und einen Projektionsap771
Vgl. Hick 1991, 181.
Vgl. Historisches Museum Frankfurt 1981, 49.
773
Vgl. Rossell 2008, 90.
774
Vgl. Kerstein / Weber 1981, 15.
775
Vgl. Rossell 2008, 9 und Rossell, Deac: Überblendungen. Aspekte der Laterna magica-Projektion in Deutschland, in: Fotogeschichte 19 (1999), 13-23, hier 18.
776
Vgl. Kerstein / Weber 1981, 12 und Historisches Museum Frankfurt 1981, 32; Ranke, Winfried: Magia naturalis, physique amusante und aufgeklärte Wissenschaft, in: Hoffmann / Junker 1982, 11-54, hier 17 und Rossell
2008, 19 – sowie die jeweiligen Quellenangaben.
777
Vgl. Hick 1999, 156.
772
176
parat. Der Redner ist Mittler zwischen den Bildern und den Zuschauern, räumlich von diesem
nicht getrennt.778 Er entscheidet vor seinem Auftritt, ob er oder eine andere Person die Laterna
magica bedient. Anders als bei den jüngsten Modellen von Diaprojektoren legen keine Magazinkassetten die Abfolge der Slides fest. Die Bildträger müssen präzise ausgerichtet (obenunten) für den Wechsel in der Dunkelheit bereit gelegt werden, zudem dürften die bereits Benutzten nicht unter die noch Unbekannten geraten. Stürzt aus Ungeschicklichkeit eine bemalte
Glasplatte zu Boden, ist das Bild vernichtet. Die notwendige Kontrolle des Projizierten führt
zu einer zeitweiligen Abwendung des Sprechenden vom Publikum. Mitunter lassen eine fehlende Medienkompetenz und die Vortragssituation eine Arbeitsteilung sinnvoll erscheinen:
die Verteilung der Aufgaben auf einen Redner und einen Laternisten. Egal ob eine Personalunion oder ein Zusammenwirken von mehreren Beteiligten vorliegt, ist eine Interaktion mit
dem Publikum denkbar. Das Tempo der Bilderfolge richtet sich nach den situativen Bedürfnissen. Ein Slide kann auf diese Art länger stehen bleiben, mehrfach gezeigt werden oder
Vortragende zieht für eine Erklärung ein späteres Bild heran.
Bei Vorträgen und Vorlesungen gibt es keinen Grund, Sprecher und Technik zu verstecken.
Ersteres lässt sich leicht bewerkstelligen; letzteres schwieriger. Für eine Rückprojektion auf
eine Leinwand muss der nötige Platz vorhanden sein. Eine Projektion über die Köpfe des
Publikums hinweg setzt eine lichtstarke Lampe voraus, über die man sicherlich zu Tacquets
Zeiten noch nicht verfügte. Abhängig von dem Projektionsarrangement, entscheidet sich auch
die Frage nach einer Arbeitsteilung.
Kommen wir auf Tacquet zurück. Ihm ging es mit seinen Informationen um ein Vorantreiben
der Jesuitenmission. Wahrscheinlich kam die Zauberlaterne auch bei der Mission selbst zum
Einsatz, wie in der Effektmaschinerie der späten Phase des Jesuitentheaters. 779 Monika
Schmitz-Emans schließt aus der Abbildung der Zauberlaterne des Jesuiten Athanasius Kircher
von 1671, dass dieser sie als Hilfsmittel der Gegenreformation konzipierte; die dargestellten
Slides und Projektionen zeigen Knochenmänner und Seelen im Fegefeuer.780 Moraldidaktische Grusel-Vorstellungen sind allerdings schon vorher, außerhalb des Jesuitenordens anzunehmen. Aus dem Jahr 1659 haben sich von Christian Huygens einige Skizzen für Slides erhalten, die mehrere Phasen eines Skelett-Tanzes zeigen. Dieser ist der Bildtradition der Totentänze verpflichtet, die das „memento mori“ den Menschen ins Gedächtnis rufen und bis ins
778
Vgl. Vogl-Bienek 2006, 13-20, hier 14.
Vgl. Mayer-Deutsch, Angela: Das ideale Museum Kircherianum und die Exercitia spiritualia des Hl. Ignatius
von Loyola, in: Jan Lazardzig / Helmar Schramm / Ludger Schwarte (Hgg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, Berlin 2006, 256-276, hier 270.
780
Schmitz-Emans 2010, 301-325, hier 306f.
779
177
19. Jahrhundert zum festen Repertoire von Zauberlaternenvorstellungen gehören. 781 Griendel,
ein Zeitgenosse des Altdorfer Professors Sturm, ließ in Nürnberg erstmals mit dem Medium
nachweislich Geister erscheinen.782
Nach der Didaktik in universitären und kirchlichen Kreisen soll die bürgerliche Erwachsenenbildung thematisiert werden, mit der die Reise-Visualisierungen einen Höhepunkt erleben.
Paul Hoffmann (1829-1888) hielt in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Vorträge ‚populärwissenschaftlichen Anspruchs‘.783 Seine Bestände an Laternenbilder sind rein zufällig nahezu komplett überliefert und lassen erkennen, dass er sich das nötige Bildmaterial und Wissen über ferne Länder und Regionen aus Fachliteratur, Reise- und Forschungsberichten beschaffte. So vergegenwärtigte er u.a. Ägypten, Sibirien und Polarexpeditionen. Ihn als reinen
Aufklärer zu bezeichnen liegt mir fern, da er gegen Ende seiner Laufbahn (in Konkurrenz zur
Fotografie) auch Wagners Ring des Nibelungen und Dantes Göttliche Komödie mit Schwerpunkt auf dem Inferno zur Aufführung brachte, womit er auf seine Weise an die Tradition der
‚Geisterbeschwörung‘ anknüpfte. Bislang konnte der Eindruck entstehen, dass nur Erwachsene mit dem Medium im Kontakt kamen. Dem war aber nicht so. Geschäftstüchtige Buch- und
Kunsthändler entdeckten das pädagogische Potential der durch die Aufklärung verrufene Unterhaltungs- und Geistermaschinen und schalteten Werbeanzeigen in Modezeitschriften, die
vermögendere Eltern von dem Einsatz von Zauberlaternen bei der Unterrichtung ihrer Kinder
überzeugen sollten. Unter einer sachlich formulierten, seriös daher kommenden Überschrift
bot ein Buch- und Kunsthändler aus Gotha Zauberlaternen und Slides von fremden Nationen
und Tieren an, die auch von einem Buchhändler in Leipzig zu beziehen gewesen wären:
Welches Fest Kindern durch die bekannte Laterna magica oder Zauberlaterne bereitet wird, erinnert
sich wohl jeder aus seiner Jugend; und doch wurde diese frohe Abendunterhaltung nie so benutzt, als sie
benutzt werden kann. Die Vorstellungen, welche die gewöhnlichen Laternen liefern, enthalten so viele
läppische, oft sogar unsittliche Gegenstände, daß man es nicht wagen darf, sie Kindern, ohne ihnen zu
schaden, in die Hände zu geben. Ich hoffe deshalb den Dank vieler Aeltern und Erzieher zu erhalten,
wenn ich bekannt mache, daß ich eine neue, veredelte Art dieser Zauberlaterne verfertigen lasse. Ich
habe eine solche Wahl der Vorstellungen getroffen, daß nicht blos [sic!] das Vergnügen der Kinder
dadurch bezweckt wird, sondern daß ein aufmerksamer Kehrer aus diesem Spiele größern Nutzen für
seine Zöglinge ziehen kann, als man auf den ersten Anblick glauben dürfte. Die eine Art dieser Laterna
magica enthält fast 100 der merkwürdigsten Nationen aus allen vier Weltteilen in ihren Landestrachten,
die andere Art stellt fast eben so viel von den merkwürdigen, größtentheils ausländischen Säugethieren,
getreu nach der Natur kopiert, vor. Die Vorstellungen jener werden die Lust zum Studium der Geographie, und die Vorstellungen dieser die zum Studium der Naturgeschichte sehr vermehren. Weit mehr als
Kupferstiche sind diese Vorstellungen, die alle von geschickten Malern mit Fleiß verfertiget sind, geeignet, Kindern einen richtigen Begriff von den Gegenständen, die sie darstellen, zu geben. Durch die
Vergrößerung derselben bis zur Lebensgröße, durch das hellere Kolorit und durch das Leben, welches
781
Vgl. Beste mir bekannte Abbildung in Goerig-Hergott, Frédérique: Lanternes de peur, dances macabres et
fantasmagories, in: ders. (Hg.): Lanternes magiques. Le monde fantastique des images lumineuses, Colmar 2008,
42-61, hier 44.
782
Vgl. Rossell 2008, 31.
783
Vgl. alles folgende zu Paul Hoffmann bei Hoffman, Detlef / Junker, Almut: Malerische Wissenschaft, in:
dieselben 1982, 55-123.
178
sie durch die Bewegung der Gläser erhalten, ahmen sie die Natur viel treuer nach, als selbst das beste
Kupfer. Um Lehrer und Aeltern in den Stand zu setzen, ihre kleinen Zuschauer bei der Vorstellung auf
eine angenehme Art zu unterhalten, und durch diese Unterhaltung zugleich ihre Kenntnisse zu bereichern, ist jeder Laterne ein Buch beigelegt, welches bei der einen Art interessante Schilderung der Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten der aufgestellten Völker, und bei der andern die kurze Naturgeschichte der vorgestellten Thiere enthält. Der Preis der vollständigen Laterna magica, die die Nationen
oder Thiere enthaltend, incl. Des Buches, ist hier in Gotha 7 Thlr. sächs., dieselbe etwas kleiner 1
Louisd’or. Wer die Nationen und die Thiere zusammen verlangt, wozu nur ein Apparat nöthig ist, bezahlt für die große Arz 12 Thlr. 12 Gr., und für die kleine 9 Thlr. 20 Gr. sächs. Wer wenigstens 3
Exemplare verschreibt, genießt 10 Procent Rabat. Jede eingehende Bestellung. Jede eingehende Bestellung wird möglichst schnell ausgeführt werden. Briefe und Gelder erwarte ich postfrei. 784
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte der Projektor an sich verstärkt in
Kinderhände.785 Die Modelle erhalten ein ansprechendes Äußeres, das sinnbildlich Bezug auf
die Inhalte der Vorführungen nimmt. Der als Buddha oder Pagode bezeichnete Chinese ‚erzählt‘ von fremden Welten, vom Eiffelturm aus hat man eine Aussicht, während die Kutsche
das Publikum auf eine Reise mitnimmt.
In der Tat stellte die Mobilität der Apparatur einen wichtigen Faktor für die ‚Unterhaltungsbranche‘ dar, egal ob man sich der Zauberlaterne oder der Camera obscura bediente. Es gab
bereits786 Ende des 18. Jahrhunderts ‚Kutschen‘, die man zur Lochkamera umbaute. 1798 berichtet ein Zeitungskorrespondent von einem derartigen Gefährt in den Straßen Londons, das
er allerdings fälschlicherweise als Laterna magica bezeichnet:
Jetzt fährt ein Mann mit einer Art von hölzerner Rotunde auf den Londoner Straßen umher. Der sonderbare Anblick zieht die Leute herbey und man sieht aus einem angeschlagenem gedruckten Zettel, daß es
eine Laterna magica ist. Weil aber die gemeinen Leute nicht wissen, was diese Worte bedeuten und
nicht mehr als Sixpence oder noch weniger, nach Belieben, geben dürfen, so laufen sie begierig hinzu.
[Auf dem] gedachten Zettel steht: ‚Eine höchst wunderbare, sinnreiche und schöne Maschine, wo man
das Leben in allen seinen Farben auf das Erstaunenswürdigste im Kleinen sieht. Nichts ist damit zu
vergleichen. Jeder Stand, jedes Alter, jede Beschäftigung wird darinn vor Augen gestellt, und die Ansicht gewährt ein Vergnügen, davon man gar keinen Begriff hat, ehe man in diese Maschine geht. Diese
wunderbare Maschine wird ohne Pferde fortbewegt, und hält zwölf Leute auf einmal. Spart euren Sixpence nicht; es wird euch nicht gereuen. Gott erhalte den König!“ Diese anspruchslose Beschreibung
lockt die Müssiggänger und Kinder, so daß diese Rotunde gerade einem Bienenstock gleicht. Sie hat an
den Seiten zwey und hinten ein Rad, wodurch sie sich ohne Mühe fortstoßen läßt. Inwendig ist ein glatt
gehobelter weißbüchner Tisch, worauf die [… vom] oben stehenden Spiegel aufgefangenen Gegenstände der Straße sehr gut zu sehen sind. Inwending steht ein Junge, der den Erklärer machen soll. Aber da
jeder die Objekte gleich kennt, so muß man herzlich lachen, wenn der arme Junge sagt: das ist ein Wagen, das ein Pferd, ein Soldat, ec.787
Diese vom Sonnenlicht abhängige Projektionsvorführung wird von dem Verfasser des Textes
als eine Reise durch die bekannte Wirklichkeit dargestellt, deren Verbalisierung er als redundant, komisch oder gar peinlich empfindet. Das einfache Publikum der Londoner Straßen
784
Steudel, Carl: Laterna magica oder optische Vorstellungen von merkwürdigen Nationen und Thieren, in:
Intelligenzblatt der Zeitung für die elegante Welt 25 (12. November 1811), 4.
785
Zwischen 1803 und 1805 finden sich in Herstellerkatalogen Werbetexte für Zaubergräber und -tempel, die
einen versteckten Einsatz der Laterna magica thematisch und technisch nahelegen, obwohl sie nicht namentlich
genannt wird. Vgl. Wälde 2010, 16-22.
786
Ulrike Hick erwähnt flüchtig ‚Lochkamera-Kutschen‘ erst im Zusammenhang mit den moving Panoramas des
19. Jahrhunderts. Vgl. Hick 1999, 87.
787
Hüttner, J.C.: I. London. 1. Die Bank exerciert. Schilderung einer Feuersbrunst in London. Wandernde Rotunda. Werbeverheißung nach Ostindien, in: London und Paris 1/4 (1798), 305-308, hier 307f.
179
scheint sich aber nicht an den Inhalten der Medienkombination gestoßen zu haben. Sonst wäre
die rollende Rotunde kein Erfolg gewesen. Ganz offensichtlich gehörte der Korrespondent
nicht zur Zielgruppe, auf die das Unterhaltungsangebot abgestimmt war. Die bewegten Bilder
müssen auf die Insassen des Gefährts eine so überwältigende Wirkung gehabt haben, dass
eine parallele Vermittlung von Verarbeitungsstrategien für die ‚Bilderflut‘ notwendig erschien. Eine gelenkte Wahrnehmung sollte zu einer selektiven Betrachtungsweise des Geschehens führen. Damit wurden die Zuschauer und Fahrtteilnehmer in die Lage versetzt,
selbst zu erzählen und weitere Kunden anzulocken.
Bewegung kennzeichnet das Dispositiv um die rollende Rotunde in zweierlei Hinsicht: zum
einen strömen die Passanten, Reiter und die noch unmotorisierten Fahrzeuge als Verkehrsteilnehmer durch die Straßen der englischen Metropole, zum anderen zeigt sich der Zuschauerraum mobil. An geeigneter Stelle werden Menschen und Tiere wider Willen zu Mimen; Objekte und Architektur erfahren eine Verwandlung in Requisiten bzw. Theaterkulissen. Das ist
neu, allerdings nicht das Problem ‚Action‘ vor die ‚Kamera‘ zu bekommen. Um 1589 beschreibt schon de la Porta in seinen Lehrbüchern über natürliche Magie, wie man inszenierte
Jagden und Schlachten vor mehr oder minder natürlichen Landschaften in ein verdunkeltes
Zimmer ‚spiegelt‘.788
Wie sieht es nun mit Projektionen der Laterna magica aus? Mit dem ersten, verbreiteteren
Bautyp der Zauberlaterne ergaben sich ebenfalls zwei Möglichkeiten statische Bilder zu ‚beleben‘. Grundvoraussetzung war die Kontrollierbarkeit des gewichtigen und sich erhitzenden
Geräts. Zur Scharfstellung der Phantasmagorien entwickelte man Laternen und Projektortische auf Rädern, die z.T. sogar auf Schienen nahezu geräuschlos und widerstandsfrei geradlinig vor- und zurückrollen konnten.789 Daraus resultierenden Verkleinerungen und Vergrößerungen des zweidimensionalen Bildes. Wird dieses von den Betrachtern in eine imaginierte
Dreidimensionalität übersetzt, schwebt z.B. ein Geist ‚heran‘ oder ‚davon‘. Auf verschiebbare
Projektionsflächen verzichtete man wohl aufgrund der weniger praktischen Handhabung.
Der zweite Weg zum bewegten Bild führte über die Slides. Ca. 1730 sind bewegliche Bilder
in einem Katalog von Muschenbroecks im Angebot.790 Darunter sind hintereinandergeschaltete, gegeneinander verschiebbare Bildhalter, drehbare Glasplatten oder HampelmannKonstruktionen zu verstehen. Fixe Tableaus ließen sich so durch das zusätzliche Einblenden
788
Vgl. Hick 1999, 34.
Vgl. Abbildungen bei Weynants, Thomas: The Fantasmagoria, in: Dennis Crompton / Richard Franklin /
Stephen Herbert (Hgg.): Servants of Ligth. The Book of the Lantern, London 1997, 58-69, hier 60ff.; Greenacre,
Derek: Magic Laterns, Aylesbury 1986, 13 und Hick 1999, 151.
790
Vgl. Rossell 2008, 69.
789
180
von Figuren und Effekten beleben.791 Dies ermöglichte schon dem dänischen Mathematiker
Thomas Walgenstein (1622-1701) die Darstellung ‚bewegter‘ Szenen satirischen und tragischen Inhalts.792 Letzteres macht aber deutlich, dass sich natürliche, d.h. organisch vollziehende Bewegungsabläufe nur eingeschränkt realisieren lassen. Geister mit reduzierter Gestik
oder Personen in übersteigerten Posen bieten sich als Motive an. Figuren oder einzelne Körperteile verändern als statische Einheit ihre Lage, oder eine Abfolge von Bewegungsphasen
zeigt Extrempositionen in Überblendung, die keine filmische Frequenz von mindestens 16
Bildern pro Sekunde erreicht. Erst dann führt das Überlagern und Verschmelzen von Bildeindrücken zum Phi-Effekt, der Bewegungsillusion.793
Die Hohlspiegelprojektion des zweiten Laternen-Bautyps nutzte die Eigenbeweglichkeit von
Gegenständen und Personen, die sich allerdings nicht außerhalb, sondern innerhalb der Technik-Anordnung befinden mussten. Da dorthin niemand ‚von selbst‘ hingelangt, gab es in diesem Fall keine Schauspieler wider Willen – wie Passanten. Neigen und Verschieben des
Hohlspiegels dienten sicherlich auch zur Herstellung von Bewegungsillusionen.
Schwingende Leinwände oder gezielt hergestellte Rauchwolken, die in der Luftzirkulation
ihre Gestalt verändern, sorgten unabhängig vom Laternentyp für ‚unruhige‘ Projektionen. 794
„Nebelbilder“ bezeichneten im deutschen Sprachraum diese Projektionen auf Rauch oder
Dampf, ehe der Begriff auf die „disolving views“ übertragen wurde. Bei letzteren handelt es
sich um Überblendungen, für die mindestens zwei Projektoren präzise auf dieselbe Projektionsfläche ausgerichtet werden müssen.795 Klassische Beispiele in den einschlägigen Abhandlungen zu Zauberlaternen sind stets auf Kontrastwirkung ausgerichtet: Sommer-Winter, TagNacht, Sonnenschein-Unwetter, usw. Das funktioniert auch mit anthropomorphen Darstellungen und ist als das Prinzip der Metamorphose796 seit Ovid in der Literatur beheimatet.
Die erste Methode zur Erzeugung der Nebelbilder kommt in dem nun geschilderten Fall vor,
der symptomatisch für einen literarisch bedeutsamen Umbruch in der Vermarktung von Geistererscheinungen in noch vorromantischer Zeit ist. Diese Entwicklung geht von der ‚Séance‘
aus zur entzauberten ‚Gruselveranstaltung‘, was man als einen Desillusionierungsprozess im
791
Vgl. Hick 1999, 163.
Vgl. Ranke 1982, 11-54, hier 17.
793
Vgl. Giesen, Rolf: Phi-Effekt, in: ders.: Lexikon der Special Effects. Von den ersten Filmtricks bis zu den
Computeranimationen in der Gegenwart: Zur Geschichte der visuellen und mechanischen Spezialeffekte, der
Zeichenfilm- der Modell-, Puppen- und Computeranimation, der synthetischen Filme und virtuellen Kamera,
Berlin 2001, 231.
794
Vgl. Ranke 1982, 11-54, hier 21.
795
Vgl. Kerstein / Weber 1981, 38.
796
Zur Metamorphosen-Definition vgl. May 2003, 127-152, hier 127.
792
181
Namen der Aufklärung beschreiben kann – und ein zeitgenössisches Interesse und Bewusstsein für das gestaltete Dispositivs der Projektionsvorstellung hervorruft.
Nachdem die Geisterbeschwörer Cagliostro und Schröpfer als Hochstapler von gebildeten
Teilen der entstehenden Öffentlichkeit entlarvt und moralisch verurteilt worden waren,797
wurde die Täuschung adeliger und bürgerlicher Kreise immer schwieriger. Lichtenberg, der
als Physiognomik-Kritiker und Hogarth-Erklärer in dieser Arbeit schon mehrfach Erwähnung
fand, vertrieb 1777 den Phantasmagoren Philipp Philadelphia aus Göttingen, indem er dessen
Plakate, damals als Avertissements bezeichnet, über Nacht heimlich durch Fälschungen ersetzte.798 Das Layout der Originaldrucke beibehaltend, versprach er in einer völlig neuen
Textversion sieben Zauberkunststücke, deren Durchführung dem darauf nicht eingerichteten
Philadelphia auch mit längerer Vorbereitungszeit kaum möglich gewesen wäre. Obendrein
entlarvte sich die Beschreibung des letzten Kunststücks selbst, als eine kriminelle Aneignung
von Wertgegenständen. So blieb dem Opfer dieser Aufklärungsmaßnahme nur noch die
Flucht, wenn es sich nicht blamieren und einer wahrscheinlichen strafrechtlichen Verfolgung
aussetzen wollte.
Am 30.März 1789 besuchten Leser der Berlinischen Monatsschrift vorsätzlich solche Veranstaltungen, um die Illusion zu zerstören und mit der Veröffentlichung ihrer Erfahrungen den
Aberglauben zu bekämpfen. So entstanden wertvolle Zeugnisse von der Inszenierungspraxis,
dem Programm und den technischen Voraussetzungen eines Phantasmagoren namens Philidor.799 Ein Bewegungsverbot und angeordnetes Stillschweigen für die Zuschauer, die mit
dem Hinweis auf eine bestehende Lebensgefahr begründet wurden, dienten neben der ‚Verkettung‘ des Publikums durch gegenseitiges Händereichen der Vereitelung von Nachforschungen. Donner aus dem ‚Off‘ und Stromschläge von verborgenden Drähten im Bodenbe-
797
Vgl. die positivistische, in ihrer Umfänglichkeit kaum übertroffene Quellenkollage von Sierke, Eugen:
Schwärmer und Schwindler zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1874.
798
Die im Folgenden paraphrasierte Anekdote belegen Briefe Lichtenbergs und das erhaltene Avertissement.
Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph: Anschlag-Zeddel im Namen von Philadelphia, in: ders.: Aufsätze, Entwürfe,
Gedichte [und] Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1972
(Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1967ff., Bd. 2), 253-255. und Promies,
Wolfgang: Kommentar zum Anschlag-Zeddel im Namen von Philadelphia, in: Lichtenberg, Georg Christoph:
Schriften und Briefe. Kommentar zu Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Promies 1974 (Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg. v.
Wolfgang Promies, Darmstadt 1967ff., Bd. 2), 101-107, sowie Georg Christoph Lichtenberg an Georg Heinrich
Hollenberg, 9.1.1777 und Georg Christoph Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen, 9.1.1777 und
16.1.1777, in: ders.: Briefe, Bd. 4. Hg. v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1967 (Schriften und Briefe, 4 Bde. Hg.
v. Wolfgang Promies, Darmstadt 1967ff., Bd. 2), 290-292.
799
Vgl. Reck, Freiherr v. d.: Nachricht von der Philidorschen Geisterbeschwörung, in: Berlinische Monatsschrift
28 (1789), 456-473. Eine ähnliche Darstellung desselben Vorfalls wurde, von diesem Bericht animiert, in derselben Zeitschrift publiziert Vgl. Schwarzkopf, J. v.: Nachricht einer neulichen Geisterzitation in Berlin. Von einem
Augenzeugen, in: Berlinische Monatsschrift 28 (1789), 474-483. E.T.A. Hoffmann besagten Philidor, Philadelphia und Cagliostro etwas. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Die Brautwahl, in: ders.: Die Serapions-Brüder, Bd. 4. Hg. v.
Wulf Segebrecht unter Mitarbeit v. Ursula Segebrecht, Frankfurt a. M. 2001, 639-719, hier 710.
182
lag oder der Sitzgelegenheit sorgten für eine weitere Disziplinierung allzu neugierigen Publikums. Zauberkreise, Beschwörungsformeln und das Erzeugen stinkenden Rauchs mit zuweilen stimulierenden und narkotisierenden Substanzen sollten alle Vorgänge erklären:
Nun befanden wir uns in einer völligen Finsterniß; außer daß die Kohlenpfanne einen kaum sichtbaren
widrigen Schein auf das schwarze, die ganze Länge der Wand haltenden Tuch, verbreitete. Aus dem
starken Geräusch eines aufgewikkelten [sic!] Papiers urtheilte ich, daß uns der Zauberer nach gewöhnlicher Art mit einem betäubenden Geruch erquikkken [sic!] würde. Auch sahen wir einen Augenblik
[sic!] nachher die Kohlen sich etwas beleben, und einen dikken [sic!] weißen Rauch auffsteigen [sic!],
welcher sich in ungeheuer Menge mit ziemlich widrigen Geruch im Zimmer verbreitete.800
Der Rauch besaß noch eine zweite Funktion. Mit ihm schuf man eine Projektionsfläche mitten
im Raum, losgelöst von den Wänden. Projektionskünstler benötigten relativ gleichmäßige
Nebelwände, die schmale Spalten in Altären oder Särgen zu modellieren hatten.801 Schwarze
Hintergründe für anthropomorphe Erscheinungen dienten der Vermeidung verräterischer
Lichthöfe. Blenden vor dem Objektiv wurden für überzeugende Bildwechsel entwickelt.802
Licht beendet allen Spuk und bringt in der nötigen Intensität alle Projektionen zum Verblassen – so auch bei der schon angesprochenen Séance in Berlin, bei der das Publikum die Veranstaltung sprengt: „Inmittelst nahm der Rauch in dem fast hermetisch verschlossenen kleinen
Zimmer bis zum Unausweichlichen zu; und die Gesellschaft, ermüdet ob der elenden Gaukelei, rief einstimmig: „Man öfne [sic!] die Thüre! Licht herein“.803 Geschlossene Räume ohne
Tageslicht oder Dunkelheit sind demnach Voraussetzung für perfekte Projektionen.
Die Phantasmagore Etienne Gaspard Robertson, seit 1798 in Paris ansässig, war so einsichtig,
aus seinen Täuschungsabsichten keinen Hehl zu machen;804 selbiges galt auch für den umherreisenden Schausteller Johann Karl Enslen (1759-1849), dem wegen seiner Bedeutung für
Hoffmann noch ein eigener Abschnitt gewidmet wird. Ein patentrechtliches Verfahren, das
Robertson zum Schutz seiner Erfindungen initiierte, führte zur Offenlegung einer Vielzahl
seiner Betriebsgeheimnisse – und Nachahmern.805 Mit der völligen Entzauberung der Projektionsmedien ging ihre Institutionalisierung einher.
Ihrem Einsatz an klassischen Orten der Täuschung stand nichts mehr im Wege. Über Zauberlaternen als Effektmaschinen auf Schauspiel- oder Opernbühnen liegen bislang weder lokal
noch überregional Forschungen vor, die längere Zeiträume behandeln. Das Bamberger Theater spielte sicherlich keine Pionierrolle in der Anwendung von Projektionsmedien auf der
800
Reck 1789, 465.
Vgl. Wälde 2010, 16-22, hier 19.
802
Vgl. Vogl-Bienek 1994, 11-20, hier 18.
803
Reck 1789, 471.
804
Vgl. Hochadel, Olivier: Zauberhafte Aufklärung zwischen Schaustellerei und Wissenschaft, in: Brigitte Felderer / Ernst Strouhal (Hgg.): Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien / New
York 2007, 433-449, hier 437.
805
Vgl. Hick 1999, 155.
801
183
Bühne.806 E.T.A. Hoffmann selbst berichtet davon, dass Phantasmagorien in wenigstens einer
Produktion des Hauses zum Einsatz gekommen sind. Seine Tätigkeit an diesem krisengeschüttelten Haus (1808-1813) fällt in die Zeit vor der Vollendung der Fantasiestücke in
Callot‘s Manier. Sie stellte beruflich gesehen einen existenzgefährdenden künstlerischen Abstieg vom Generalmusikdirektor zum Mitgestalter von Bühnenbildern dar. Die Karriere und
das eigene Selbstbewusstsein forderten eine bravouröse Meisterung dieses völlig neuen Aufgabenbereiches:
Als das Theater durch Holbein neu organisiert wurde, fiel mir die ganze Last der ökonomischen und ein
großer Teil der ästhet‹ischen› Einrichtung zu, und bald darauf wurde ich nächstdem, daß ich fürs Theater fortkomponieren mußte, noch TheaterArchitekt und Dekorateur, indem der recht geschickte Maschinist Holbein mich bald in die Geheimnisse der Maschinerie praktisch einweihte und so die Theorie, die
ich aus allen Büchern, die ich nur erhalten konnte, eingeschlungen hatte, ergänzte. – So haben wir denn
die einstürzende Burg zum Käthchen von Heilbronn, das auffliegende Kreuz in der Andacht pp, die
Fantasmagorien in dem standhaften Prinzen und vorzüglich die Brücke von Mantible gebaut. Von letzterer werden Sie künftig eine genaue Zeichnung nebst Beschreibung von mir im Journal des Luxus und
der Moden finden. (die letzten beiden Hervorhebungen: V.R.)807
Vor der Betrachtung der Rezension, auf die Hoffmann seinen Freund Julius Eduard Hitzig in
einem Privat-Brief hinweist, ist es sinnvoll auf die Quellenlage einzugehen. Bewertet man die
Berichterstattung anhand der Kategorien Unabhängigkeit und Ausführlichkeit, kann man sie
nur schlecht erfassen. Hoffmann feiert in den beiden aussagekräftigsten Texten, die Erfolge
der Institution, der er selbst angehört:
(a) Über die Aufführung der Schauspiele des Calderons de la Barca auf dem Theater in Bamberg 808
(b) Über die Aufführung Calderonischer Stücke auf dem Theater im Bamberg. (aus Briefen).809
Damit dies von der lesenden Öffentlichkeit nicht erkannt wird, tarnte er im letzteren Fall seinen Text gleich als eine Sammlung von Leserbriefen. Dies ist ihm so gut gelungen, dass sie
bis hin zur aktuellsten, d.h. der hier benützten, Werksausgabe fehlen, obwohl schon Rudolf
Köppler diese Hoffmann zuordnet.810 Den Herausgebern scheint Köpplers generell wenig
beachtete Dissertation über den Dichter am Bamberger Theater entgangen zu sein, denn zum
einen drucken sie Texte zweifelhafter Urheberschaft ab, zum anderen nennen sie im Kom-
806
Goethe soll immerhin überlegt haben, den Erdgeist in Faust I als Projektion erscheinen zu lassen. Vgl. dazu
Bartels, Klaus: proto-kinematographische Effekte der Laterna magica in Literatur und Theater des 18. Jahrhunderts, in: Segeberg 1996, 45-96, hier 134 und Anm.: 67 (ebd.).
807
E.T.A. Hoffmann an Julius Eduard Hitzig, 28.4.1812, in: ders.: Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti,
Juristische Schrift. Werke 1794-1813, Bd.1. Hg. v. Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold,
Jörg Petzel u. Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 2003, 241-245, hier 243.
808
Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Über die Aufführung der Schauspiele des Calderon de la Barca auf dem Theater in
Bamberg: in: ders.: Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift. Werke 1794-1813, Bd.1. Hg. v.
Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel u. Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M.
2003, 625-630.
809
Vgl. Anonymus: III. Theater und Musik. 2. Über die Aufführung Calderonischer Stücke auf dem Theater in
Bamberg (aus Briefen), in: Journal des Luxus und der Moden 27 (Januar 1812), 27-29.
810
Vgl. Köppler, Rudolf: E.T.A. Hoffmann am Bamberger Theater. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Persönlichkeit, seiner Werke und der Theatergeschichte Bambergs (Bericht des „Historischen Verein[s] für die Pflege der
Geschichte des ehemaligen Fürstbistums zu Bamberg“ 81), Bamberg 1929, 47 und 60.
184
mentar zu Hoffmanns Musen-Aufsatz die Leserbriefe im Journal des Luxus und der Moden
nicht als unabhängige Quelle. Auch der Kommentar zur zitierten Briefstelle liefert keinen
Hinweis auf die Leserbriefe oder gar eine Stellungnahme zur Verfasserfrage.
Mir geht es allein darum, zu zeigen, dass es bislang keinen Grund gibt, an Hoffmanns Autorschaft zu zweifeln.811 In dem Stil der Leserbriefe erkennt man Hoffmann. Diesem subjektiven
Empfinden will ich nicht weiter nachgehen, indem ich nach Parallelstellen in Hoffmanns
Werken, Briefen und autobiographischen Äußerungen suche. So ging Werner Schnapp vor,
um die Mitautorschaft Hoffmanns an fünf Rezensionen des Bamberger Theaters nahezulegen,
die der befreundete Medizinaldirektor und Theatermäzen Dr. Adalbert Friedrich Marcus
(1753-1816) zwischen dem 22. September 1809 und dem 18. Dezember 1809 über 24 Premieren im Bamberger Intelligenzblatt veröffentlichte.812 Die Polemik gegenüber den Schauspielern führte möglicherweise zur Einstellung der Theaterkritik.813 Fortan wagte niemand mehr,
über das kulturelle Geschehen am Theater zu berichten, selbst in anderen lokalen Periodika.814
Dies erklärt die schlechte Quellenlage zu den Calderón-Inszenierungen des Jahres 1811 und
Hoffmanns vorsichtiges Agieren in überregionalen Zeitschriften. Die von ihm als große Publikumserfolge gefeierten Calderón-Produktionen erlebten erstaunlich wenige Aufführungen,815 wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass Wiederholungen im Spielplan nicht
den Regelfall darstellten:816
Andacht zum Kreuz:
Der standhafte Prinz:
Die Brücke zu Mantible:
13.06.1811,
11.08.1811,
29.09.1811,
24.06.1811,
23.10.1811,
01.12.1811.
20.10.1811,
13.12.1811;
17.01.1812;
Diese Calderón-Aufführungen basierten auf Übersetzungen von Schlegel, der mit ihnen den
Spanier neben Shakespeare auf der Bühne als Vorbild für die romantische Dichtung zu etablieren suchte. Tatsächlich erfolgte überregional eine Auseinandersetzung mit den dramatischen Werken Calderóns, die man auch in dem eher provinziellen Bamberg bemerkte. Der mit
Hoffmann befreundete Wein- und Buchhändler Carl Friedrich Kunz (1785-1849) stellt sich in
seinen Memoiren als Initiator der Calderón-Rezeption in Franken dar:
Angeregt durch Mittheilungen aus öffentlichen Blättern, welche die günstige Annahme des standhaften
Prinzen auf der Weimarer Bühne berichteten, las ich Hoffmann zuerst dieses Stück vor. Wir hatten die
Absicht, dabei zu prüfen, ob es möglich sei, dasselbe auch auf die Bamberger Bühne bringen zu können. Das Resultat unsrer Prüfung aber fiel dahin aus, daß wir uns nicht überzeugen konnten, daß es hier
811
Die erwähnte Werksausgabe ist trotz der kritischen Implikationen der vorangegangenen Sätze explizit als eine
äußerst solide Gemeinschaftsleistung der Herausgeber zu loben.
812
Vgl. Schnapp, Friedrich: Aus E.T.A. Hoffmanns Bamberger Zeit. Fünf Theaterkritiken von Adalbert Friedrich Marcus (September – Dezember 1809), in: Literaturwissenschaftliches Jb N.F. 7 (1966), 119-143, hier
120ff.
813
Ders., 119-143, hier 119.
814
Vgl. ebd.
815
Vgl. die oben genannten Hoffmanntexte.
816
Vgl. die tabellarische Rekonstruktion des Spielplans von Köppler 1929, 93ff.
185
gefallen würde. Darauf wurde die Andacht zum Kreuze zu gleichem Zwecke gelesen, und schon nach
den ersten Akten waren wir darüber einig, daß dies Stück als ein dem Triumphe des katholischen Glaubens huldigendes, hier gefallen müsse.817
Kunz mag im Nachhinein seine Rolle etwas hochstilisiert haben. Die Stückauswahl orientierte
sich offenbar nicht an der Einsatzmöglichkeit von Spezialeffekten, obwohl Dr. Marcus schon
zur Aufführung der Zauberzither von Wenzel Müller am 15. Oktober 1809 massive Kritik an
der Ausstattungspraxis an dem Theater übt:
Längst ist dies erbärmliche Machwerk von den Repertoir[e]s guter Bühnen verbannt, und es ist umso
weniger zu begreifen, warum die Direction noch jetzt damit das Publikum mit langweilt, als es daran,
was dieser Oper wenigstens den Reitz einer guten magischen Laterne geben kann, ganz fehlt, d.i. an
Maschinen und Decorationen.818
Die Zauberlaterne ist hier deutlich im übertragenen Sinne zu verstehen. Hoffmann scheint mit
Dr. Marcus die Ansicht geteilt zu haben, schlechte bzw. in ihrer Wirkung zweifelhafte Stücke
mit technischen Mitteln zu stützen. Dass die Andacht zum Kreuze katholischer als Der standhafte Prinz sei, erweist sich bei einer Betrachtung der Inhalte als ein nicht stichhaltiges Argument – scheint zu einem gewissen Grade eine Rückprojektion des tatsächlichen Publikumserfolges zu sein:
Rasch folgten [nach der Premiere der Andacht zum Kreuze] der standhafte Prinz und die Brücke von
Mantible. Beide Aufführungen erregten zwar, besonders die erste, ebenfalls große Theilnahme, konnten
sich aber doch des vollständigen Siegs, den die Andacht zum Kreuze davontrug, nicht erfreuen. 819
Der Einsatz von Phantasmagorien – man erinnere sich an die Wortbedeutung „Geistererscheinungen“ – im Standhaften Prinzen legt dessen Inhalt nahe.820 Der spanische Prinz Don
Fernando gerät während der Reconquista in maurische Kriegsgefangenschaft und wird versklavt. Als Lösegeld für ihn verlangt der Sultan die christliche Stadt Ceuta, worauf der
„standhafte Prinz“ aus religiösen Gründen trotz aller Versuchungen nicht eingeht. Kurz vor
der Ankunft eines christlichen Heeres, das seine Befreiung erreichen will, verstirbt er an den
Folgen der schlechten Behandlung durch seinen Herren. Als Geist geht er den spanischen
Angreifern voran:
[…Der] Prinz [erscheint] als Geist ganz in fleischfarbenen Trikots, und trägt darüber seinen ganzen Ornat von Stiefel bis zum Hute von Flor, welcher aber jede Farbe, welche das Kleid bei seinem Leben hatte, blässer wiedergibt, so, daß die ganze Gestalt durchsichtig erscheint. – Statt an der Mauer zu verschwinden, geht der Geist ohne allen Anstoß und Geräusch hindurch.821
Eine Zauberlaterne der zweiten Bauweise wird hier im Einsatz gewesen sein, da sich der Geist
bewegt und das Kostüm eines Mimen in seiner Materialität beschreibt. Das Durchdringen der
817
Kunz, Carl Friedrich: Erinnerung aus meinem Leben in biographischen Denksteinen und andern Mittheilungen, Bd. 1, Leipzig 1836, 18. Großschreibung der adjektivisch gebrauchten Ortsnamen im Zitat: V.R.
818
Bamberger Intelligenzblatt 89 (14.11.1809), 809f.; zitiert nach Schnapp 1966, 119-143, hier 135.
819
Kunz 1836, 20.
820
Weil der Standhaften Prinzen heute nicht mehr zu den Repertoire-Stücken auf deutschsprachigen Bühnen
zählt, wird im Folgenden sein Inhalt kurz wiedergegeben. Vgl. Calderón de la Barca, Pedro: Der standhafte
Prinz [El principe constante], in: ders.: Schauspiele von Don Pedro Calderon de la Barca, Bd. 2. Übersetzung
August Wilhelm Schlegel. Berlin 1809, 1-62.
821
Anonymus 1812, 27-29, hier 28.
186
Mauer könnte durch eine Wendung des Darstellers vor dem Hohlspiegel und Abblenden der
Projektion erreicht worden sein. Die Stadtmauer muss als Projektionswand gedient haben,
was eine helle Gestaltung bei dem beschriebenen blassen Bild nahelegt.
Ein zweiter Auftritt des Geistes ist in der Schluss-Apotheose überliefert:
In dem Augenblick, wo der [heilige] Bruder den Sarg öffnet, schwebt eine, dem Prinzen Fernando ganz
gleiche Luftgestalt mit nach oben gefalteten Händen empor – und beim Schluß des Stücks öffnet sich
der Himmel und Fernando kniet anbetend vor des Erlösers Thron. – Doch sind dies lauter Luftgestalten,
welche aus blaßfarbigen Nebel zusammengesetzt zu seyn scheinen. – Die Christen sinken anbetend auf
die Kniee; die Heiden fallen, den Glanz des Erlösers nicht ertragend, auf das Gesicht. 822
Die Himmelfahrt des Prinzen ist durch eine Neigung des Hohlspiegels zu realisieren. Das
statische Anbetungs-Tableau im Himmel ist mit gemalten Slides und einer ‚gewöhnlichen‘
Zauberlaterne oder der Beleuchtung bemalter Flors zu bewerkstelligen. In der zweiten Beschreibungsversion des Vorganges wird auf Nebelbilder im Sinne von Rauchprojektion angespielt, aber sie geben nur den Horizont eines Vergleiches ab:
Decorationen und Maschinerieen, die im Stücke nicht vorgeschrieben, aber im Geist des Ganzen angeordnet waren, dienten den Zuschauern zum besseren Verständnis, denn auch hier wurde Don Fernando’s Verklärung sinnlich dargestellt. Dem Sarg entschwebte, so bald er von den Mauern vor Tanger
herabgelassen, sich in den Händen der Christen befindet, Ferdinando’s Luftgestalt: gleich darauf röthet
sich der Himmel, und man sieht die Gestalt des auf Wolken thronenden Christus, vor dem Ferdinando
knieet. Diese Erscheinung war ganz luftig und durchsichtig, so daß man die Gegenstände hinter ihr
(Mauern, Thürme ec. von Tanger) wie im Nebel, gewahr wurde, und so schien das Ganze nur der Reflex eines himmlischen Schauspiels, daß die Mohren zu Boden schlug, von den Christen aber in knieender Anbetung betrachtet wurde.[… Es] ertönten […] feierliche Akkorde aus weiter Ferne. 823
Der Hinweis auf die Kombination der Phantasmagorie mit Musik sei hervorgehoben, da sie
Hoffmann nach Ausweis des Theaterjournals komponiert hat.824 Ein derartiges ‚Gesamtkunstwerk‘ verlangt das Textbuch Calderóns nicht, sondern dürfte von Visionsberichten inspiriert sein, die ein Historiker bei der Besprechung der geschichtlichen Fakten im Journal
des Luxus und der Moden anlässlich der Schlegel-Übersetzung referierte:
In der letzten Nacht vor seiner Befreiung erquickte ihn auf seinem Schmerzenslager noch einmal der
lang entbehrte, oft ersehnte Schlaf; freundlich stärkende Bilder jener besseren Welt, auf welche er immer gehofft, wurden ihm, eingehüllt in gefällige Träume, lieblich vor die Seele geführt. Er sah die Mutter Gottes in Himmelsglorie; ihr zu Seite seinen Schutzengel Michael, mit dem Kreuze in der Linken,
mit der Waage in der Rechten, und den Liebling unseres Herrn, den tiefsinnigen Johannes mit Becher
der Wonne und in seiner Rechten haltend das Buch der Bücher. Beide flehten für Don Fernando zur
lieblich ernsten Himmelsköniginn [sic!] und sie winkte ihm, sanften gnädigen Antlitzes, ausrufend: „Du
wirst noch heute mit mir seyn!“ Diesen süßen Traum erzählte Don Fernando seinem Beichtvater, der
eine Stunde vor der letzten Morgenröthe zu ihm kam[.] 825
Damit ist aber ein massives Problem nicht behoben. Da Hoffmann aus der Perspektive der
Zuschauer die Inszenierung beschrieben hat, wird zwar die gewünschte Theaterillusion, nicht
822
Ebd.
Hoffmann, E.T.A.: Über die Aufführung der Schauspiele des Calderon de la Barca auf dem Theater in Bamberg, Sämtliche Werke, Bd. 1, 625-630, hier 629.
824
Vgl. Köppler 1929, 117ff.
825
Schulze, J.: I. Über das, dem standhaften Prinzen des Calderon zum Grunde liegende, Geschichtliche, in:
Journal des Luxus und der Moden 26 (November 1811), 681-696 und Kupfertafeln 31/32, hier 694f. Vor dem
letzten Satz des Zitats wurde ein Absatz getilgt.
823
187
aber die technische Seite des Dispositivs als Maschinerie deutlich. Die Interpretation der
Textstellen als Beschreibungen von Zauberlaterneneinsätzen hängt vom Begriff „Fantasmagorie“ in dem Hoffmann-Brief ab, ist aber wegen der technischen Realisierbarkeit des Ganzen
wahrscheinlich. Kam man aber in Bamberg an die notwendigen Apparate und das Erfahrungswissen, das keine Bücher vermitteln? Wie groß war Hoffmanns Medienkompetenz im
Bereich der Projektion?
Selbstzeugnisse und Schriften seiner Freunde bzw. Bekannten geben darüber keinen Aufschluss. 1810 ist offensichtlich im Rahmen eines Gastspiels des durchreisenden Projektionskünstlers Schuars im Bamberger Theater, also derselben Räumlichkeit, die Laterna magica
erprobt worden:
Theater-Anzeige // Unterzeichneter wird die Ehre haben, bey seiner Durchreise aus Norden, eine einzige Vorstellung von Visionen, und Illusionen in drey Aufzügen, als kommenden Dienstag den 11ten Dezember im hiesigen Schauspielhause produzi[e]ren. // Die Zettel werden die Verschiedenheit der Vorstellungen anzeigen, Preise bleiben wie gewöhnlich beym Schauspiel. // Wer seine Loge von denen
[sic!] resp. Herrn Abbonenten zu behalten wünscht, den ersuche ich höflichst, selbe in der langen Gasse
bey Madame Kaiser, eine Treppe hoch, holen zu lassen. // Schuar, Professor aus Wien. 826
Über den Inhalt der Visionen und Illusionen, die in Aufzüge eingeteilt werden, ist nichts zu
erfahren.827 Nach der äußerst wahrscheinlichen Vorstellung Schuars dürfte die Realisierbarkeit von Phantasmagorien auf der Bamberger Bühne außer Frage gestanden und das Bedürfnis
spätestens geweckt worden sein, genauso wie er, das Publikum zu verzaubern. Neben Bestellmöglichkeiten im Buchhandel (s.o.) war etwa alle halbe Jahr die nötige Ausrüstung auf
den Herbst- und Frühjahrsmessen in der Domstadt von einem Händler zu erwerben, der sie
sicherlich auch demonstrierte:
[…] Da wir zum Erstenmal die hiesige Messe mit sehr schönen und nach der neuesten Art der geschicktesten englischen Künstler von uns selbst verfertigten // Optische Instrumenten // Besuchen, so offeriren
wir den etwaigen resp. Kennern und Liebhabern derselben, als:
1) verschiedene Sorten Augengläser. So wir nach eines jeden Bedarf und Beschaffenheit eines jeden
seiner Augen, was nur Schein hat, verfertigen, wie auch Konservations-Brillen von Kron- und Flintglas
für jedes Auge nach der Regel geschliffen, sitzend und in weite Entfernung sehen und lesen können,
2) große Seh- und Fernröhre,
3) Microscopia composita, wie auch Sonnen Microscope, welche von 10 bis hundert tausendmal vergrößern,
4) verschiedene Sorten Perspektive,
5) verschiedene Prismata,
6) verschiedene Les[e]gläser zur Zeitung u. Landkarten,
826
Schuar: Theater-Anzeige, in: Bamberger Intelligenzblatt 96 (7. Dezember 1810), 890. Am 11.12.1810 verzeichnet das Bamberger Ensemble tatsächlich keine eigene Vorstellung. Vgl. Köppler 1929, 112. Das komplette
Jahr 1810 fehlt in Hoffmanns Tagebüchern, so dass hierüber kein Besuch der Vorstellung oder Kontakte mit
Schuar nachgewiesen werden können. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Tagebücher 1803-1813, in: ders.: Frühe Prosa,
Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift. Werke 1794-1813, Bd.1. Hg. v. Gerhard Allroggen, Friedhelm
Auhuber, Hartmut Mangold, Jörg Petzel u. Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 2003, 325-488.
827
Dieser österreichische Zauberkünstler und Mechanikus, dessen bürgerlicher Name Rausch oder Rauch lautete, zeigte Anfang des 19. Jahrhunderts andernorts neben Phantasmagorien, ein unsichtbares Mädchen, Automate,
chemische Kunststücke und Taschenspielerkünste vor. Vgl. Oettermann, Stephan / Spiegel, Sybille: Schuar, in:
dieselben (Hgg.): Lexikon der Zauberkünstler. 4500 Becherspieler, Eskamoteure, Manipulatoren, Falschspieler,
[…] Mental-Magier, Muskelleser, Hypnotiseure und Telepathen, Offenbach a. M. 2004, 307.
188
7) Allerley Arten Brenn- und Hohlspiegel, und ausserdem noch viele Sorten optischer Waren,
8) Camera obscura, wo man einen großen Gegenstand auf einen viertelbogen Papier oder auf einem
matten Glas aufnehmen kann, wie auch mancherley optische Gläser.
9) verschieden Laterna Magica, welche kleine Figuren auf dem Glase gemahlt in Lebensgröße an der
weißen Wand präsentiren, zu beliebigen Verkaufe, und erbieten uns übrigens auch die etwaigen schadhaften Instrumenten repariren. // Wir rekommandiren und noch einmal mit den allerbesten geschliffenen
Brillen von Kron- und Flintglas, wir werden jeden zu den billigsten Preisen bedienen. // Unsere Boutique ist auf dem Maximiliansplatz dem Heßleinischen Hause gegenüber. // W. Haas et Compagnie, //
Optiker.828
Dies liest sich wie ein Verzeichnis aller optischen Instrumente, die in dem Werk Hoffmanns
erwähnt und von den Protagonisten eingesetzt werden. Dem aufmerksamen Leser der Fußnote
wird sofort ihr ‚Schönheitsfehler‘ im Zusammenhang mit den Aufführungen des Standhaften
Prinzen aufgefallen sein. Er hatte am 11.8.1811 Premiere, also gute zwei Monate vor dem
ersten Erscheinen des Instrumentenbauers in Bamberg. Ein Versorgungsnotstand mit Zauberlaternen, ihren Bauteilen oder Hohlspiegeln bestand aber sicherlich nicht. Notfalls musste der
Kunde einem Händler in der Region nachreisen oder die gewünschte Ware bestellen und sich
liefern lassen.
828
Haas, W.: [Optische Instrumente], in: Bamberger Intelligenzblatt 81 (15. Oktober 1811), 751f. Eine nahezu
identische Annonce wird ein halbes Jahr später, diesmal mit „W. Haas, Optikus aus Weißendorf“ gezeichnet, in
demselben Organ geschaltet. Vgl. Haas, W.: [Optische Instrumente], in: Bamberger Intelligenzblatt 34 (1.Mai
1812), 370.
189
6.3. Die „optischen Vorstellungen“ Johann Karl Enslens
Dass E.T.A. Hoffmann selbst wirkungsvolle Projektionen am Bamberger Theater gestaltete
und nicht nur Vorstellungen durchreisender Zauberkünstler und Geisterbeschwörer rezipierte,
lässt auf eine überdurchschnittliche Vertrautheit mit dem Dispositiv um die Laterna magica
und die Camera obscura schließen. Diese spezielle Medienkompetenz erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Konstitution intermedialer Beziehungen seiner literarischen Werke zu den „optischen Vorstellungen“ seiner Zeit. Für den Nachweis belastbarer Systemreferenzen ist es
allerdings unerlässlich, wesentliche ästhetische und narrative Merkmale von Phantasmagorien
im Allgemeinen zu gewinnen. Dafür ist den Programmen eines Anbieters besondere Aufmerksamkeit zu schenken; denn in den Abenteuern der Silvesternacht wird vornehmlich auf
die „Enslerschen Fantasmagorien“ (AS 334) Bezug genommen. Diese werden in ihrer Gesamtheit von mir nicht als ein einzelnes Medienprodukt interpretiert, sondern als Repräsentanten eines Dispositivs wahrgenommen.
Johann Karl Enslen (1759-1848) hieß einer der bekanntesten Schausteller zu Hoffmanns Zeit,
der allerdings in erster Linie nicht für seine Projektionskünste berühmt war, die er nur in einem relativ kleinen Rahmen praktizieren konnte. Dieser Umstand ist bemerkenswert hinsichtlich der Wahrnehmung seiner Person und der daraus resultierenden Quellenlage, die paradoxerweise relativ schlecht ist. Zeugnisse von seinen Darbietungen sind aufgrund seiner Mobilität
weit verstreut, oftmals knapp und beziehen sich zumeist auf Massenveranstaltungen, die er
initiierte. Die Karriere des gebürtigen Stuttgarters begann im Dezember 1783 in Straßburg mit
dem Nachbau des Heißluftballons, den die Brüder Montgolfiere erst ein halbes Jahr zuvor
erfunden hatte – ohne selbst je eine Ausbildung in physikalischen, mathematischen oder chemischen Dingen genossen zu haben, was von einem ausgesprochenem praktischen Talent und
Erfindungsgeist zeugt. Es kam somit zur elften bemannten Ballonfahrt in der Geschichte des
Fliegens, deren Erfolg nach 400m durch einen Materialfehlers ein jähes Ende fand; ein Riss in
der Ballonhülle führte zu einem Absturz in ein Holzmagazin, das sofort Feuer fing.829
Fortan begnügte sich Enslen mit dem Steigenlassen geschlossener, gasgefüllter Flugkörper. Er
verwendet für diese unbemannten ‚Zeppeline‘ Goldschlägerhäute, besonders präparierte Ochsendärme und nannte sie Aerostate oder Windbeutel.830 Diesen gab er figürliche Gestalt, was
er zu Recht als seine eigene Erfindung anpries. Mit ca. 20 Aerostaten trat er fast in allen gro-
829
Vgl. Oettermann, Stephan: Johann Carl Enslen (1759-1848) … und zuletzt auch noch Photographie-Pionier,
in: Bodo von Dewitz / Reinhard Matz (Hgg.): Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschen
Sprachraum 1839-1860, Köln und Heidelberg 1989, 116-141, hier 117.
830
Vgl. ebd.
190
ßen europäischen Metropolen von London bis Petersburg auf.831 Seine sogenannte „Große
Luftjagd“ mit Hirschen, Hunden und berittenem Bogenschützen lockte 1796 bis zu 80.000
Zuschauer in Berlin an, das damals als Hauptstadt Preußens und Brandenburgs nur 121.000
Einwohner hatte.832 Setzt man diese Zahlen in Beziehung zueinander muss man auf eindrucksvolle 66% der Stadtbevölkerung kommen, die dieses Event ‚live‘ erlebten. Die übrigen
34% werden wenigstens von dem Spektakel gehört oder sogar es bewusst gemieden haben.
Wenn E.T.A. Hoffmann sich in Abenteuer der Silvesternacht auf Enslen bezog, verstand man
ihn in seiner Zeit ohne nähere Erklärung. Alle Bevölkerungsschichten und nicht nur ein noch
relativ kleines Lesepublikum wussten in diesem Fall Bescheid. Bedenkt man vergleichbare
Auftritte in Wien, Hamburg, Leipzig, Dresden, Bern und Königsberg, so ist die Strahlkraft
dieser Ereignisse enorm, zumal wenn sie gelegentlich von Modezeitschriften im gesamten
deutschen Sprachraum verbreitet wurden. Aus Leihbibliotheken und Lesezirkeln heraus zogen
sie ihre Kreise.
Da Enslen für seine aerostatischen Experimente bestes Wetter benötigte – in Wien vertrieb
ihm ein aufziehendes Unwetter das Publikum vor dem optischen Höhepunkt seiner Premiere –
fing er an, Automatenkabinette und Phantasmagorien für die Wintermonate zu entwickeln.833
Wahrscheinlich hat Hoffmann Enslens Phantasmagorien nie gesehen. Stephan Oettermann,
der seit Jahren an einer Biographie über Enslen und seinen Adoptivsohn arbeitet, teilte mir
auf Anfrage dankenswerterweise folgendes Itinerar aus seiner privaten Datenbank mit:
Die Geistererscheinungen Enslens werden erstmals – noch ganz in den Anfängen und rudimentär - im
Februar 1794 in Dresden erwähnt. Spektakuläres Element seiner show waren sie spätestens ab Oktober
1795. Ab jetzt [berichteten …] die Zeitungen ausführlich darüber […]. Folgende Spielorte lassen sich
belegen: Juni 1796 Berlin; Juli 1796 Frankfurt an der Oder; September 1796 Berlin, Dezember 1796 bis
Januar 1797 Hamburg > Kopenhagen > Königsberg > Petersburg; 1800 Berlin; 1801 Breslau. 834
Die allgemein bekannten Lebensstationen Hoffmanns in diesem Zeitraum lassen sich nicht
mit diesen Aufenthaltsorten in Deckung bringen. Erst als Enslen seine Phantasmagorien um
1802 abgegeben hatte, wirkten beide in Berlin.835 Enslen gründete 1811 eine optischkosmoranische Anstalt mit einer begehbaren Camera obscura, einem Mondglobus und ab
1816 Kleinpanoramen, nachdem ihm die Umwälzungen durch die napoleonischen Kriege um
831
Vgl. ebd.
Vgl. ders., 116-141, hier 118. Umso verwunderlicher ist die schlechte Quellenlage.
833
Von einem melodisch die Flöte blasenden Portugiesen (Automat) ließ sich Schikaneder, der Librettist von
Mozarts Singspiel die Zauberflöte zu der Figur des „automatisch“ plappernden Vogelhändlers Papageno inspirieren. Vgl. Kosmann, Johann Wilhelm Andreas: Ueber das Kunstkabinett und die optischen Vorstellungen des
Herrn Enslen, in: ders. (Hg.): Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg und der Herzogtümer Magdeburg und Pommern, Bd. 2, Berlin 1796, 727-746, hier 730ff.
834
Oettermann, Stephan: E-Mail an Volkmar Rummel, 15.12.2011.
835
Vgl. ebd.
832
191
die von ihm aufgebaute Stahlfabrik gebracht haben.836 1814 begab sich auch E.T.A. Hoffmann nach Berlin, um nach seiner gescheiterten Dirigentenkarriere als Jurist wieder ein sicheres Auskommen im preußischen Staatsdienst zu finden. In der ersten Januarwoche 1815 entstanden die Abenteuer der Silvesternacht.837 Eine persönliche Begegnung mit Enslen und dessen neuen Schaustellungen kann zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgt sein, lässt sich aber aus
Hoffmanns Aufzeichnungen und Briefen nicht belegen. Dies gilt auch für die Jahre bis zu
seinem Tod.
Enslens Phantasmagorien, die den Abschluss eines sicherlich nicht unspektakulären Figurentheater-Programms bildeten und dementsprechend eindrucksvoll gewesen sein müssen, konnte E.T.A. Hoffmann nur aus Schilderungen seiner Zeitgenossen bekannt sein. Zwei etwas ausführlichere Quellen überliefern den Ablauf Berliner Vorstellungen aus dem Jahr 1796.838 Ihre
Darstellung des visuellen und akustischen Geschehens erweckt einen zuverlässigen Eindruck.
Berichtet wird aus der Perspektive der Zuschauer, die im angemieteten Theater des Schaustellers Pinetti sitzen.
Drei Akte839 sind der Präsentation von Automaten und Aerostaten vorbehalten, den Vorformen moderner Roboter in Menschengestalt und den bereits beschriebenen „Ballonfiguren“,
die vor ihren Flügen im Freien auch in geschlossenen Räumen als Ausstellungsobjekte Eindruck schinden konnten. Der Reiter der „Großen Luftjagd“ stellt einen Höhepunkt des ersten
Programm-Abschnitts dar. Eine durchgehende Handlung ist trotz der Aktgliederung nicht zu
erkennen, die wohl der Anlehnung an das Theater-Dispositiv geschuldet ist.
Nach einer absoluten Verdunkelung des Schauspielhauses begannen die „optischen Vorstellungen“:
[1.] Ein Donner hinter den Kulissen kündigte zuerst die Erscheinungen einer schwebenden Geistesgestalt an. Dann kam ein Schatzgräber der mit der Schaufel grub, aber bald durch einen aus der Erde erscheinenden Geist in die Flucht gejagt wurde. Der Geist läßt sein Gewand fallen, und sinkt nieder in die
Gruft zurück. [2.] Dann besucht Petrark der Laura Grab, mit sehr natürlichen Bewegungen des Schmerzes. Das Grab öffnet sich, Petrark entfleucht; Laura steigt aus dem Grabe, und da sie den Geliebten
nicht mehr findet, entschwebt sie gen Himmel. [3.] Young tritt auf einen Kirchhof mit Kreuzen und
Denkmahlen langsam einher; mit dem Ausdruck des schwermüthigen Nachdenkens legt er ein großes
Buch neben sich, nimmt einen Schädel in die Hand, betrachtet ihn mit vieler Pantomime, legt ihn wieder hin, nimmt sein Buch, kehrt um und geht langsam zurück. [4.] Heloise kommt zu Abälards Urne,
klagt mit natürlichen Geberden und schwebt auf gen Himmel; ihr Zurückwerfen des Schleiers ist schön
836
Vgl. Oettermann 1989, 116-141, hier 118f.
Vgl. Steinecke, 1993, 533-858, hier 796.
838
Anonymus: VI. Theater. 1. Theatralische Gaukelspiele in Berlin. Berlin den 20ten Juni 1796, in: Journal des
Luxus und der Moden 11 (August 1796), 422-429, hier 427f. Knapper ausgeführt, bestätigt dies Programm auch
folgende Quelle: Kosmann, Johann Wilhelm Andreas: Dritter Brief, in: ders. (Hg.): Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg und der Herzogtümer Magdeburg und Pommern, Bd. 1, Berlin 1796, 680682.
839
Dieser Begriff taucht auch auf überlieferten Programmzetteln von anderen Phantasmagoren auf, die wie Enslen Automaten und Projektionen zeigen. Vgl. Anonymus 1769, 422-429, hier 425ff. und Abbildung in Ganz
1994, 45.
837
192
vorgestellt. [5.] Dann zeigt sich in der Ferne ein heller Stern; der Stern erweitert sich, und aus ihm entwickelt sich das sehr ähnliche Bild Friedrichs des zweyten, in seiner gewöhnlichen Kleidung und Haltung, also nicht als Geist. Das Bild wird immer größer, kommt immer näher, bis es dicht vor dem Orchester in Lebensgröße zu stehen scheint. Der Eindruck, den diese Erscheinung in dem Parterre und den
Logen machte, war auffallend. […] Da Friedrich sich zu seinem Sterne zurück zu ziehen anfing, riefen
viele: o bleibe bey uns! Er gieng in seinen Stern zurück, aber auf das laute Ancorarufen mußte er noch
zweimal wieder kommen. [6.] Joseph der II, der nun erschien, wurde nicht zurückgerufen.840
Inhaltlich liegt eine Abfolge von Episoden vor, die assoziativ miteinander verknüpft sind.
Der Schatzgräber schaufelt das Loch im Erdreich, das fortan ein Grab darstellt. Viermal entsteigen ihm Geister. Wiederholung und Variation ähnlicher Situationen sowie ihre organische Verbindung miteinander lassen sich als konzeptionelle Prinzipien unschwer erkennen.
In den ersten vier Episoden treten nie mehr als zwei Figuren miteinander in Interaktion. Es
handelt sich stets um eine lebende Person und den Geist einer verstorbenen. Abgesehen vom
Schatzgräber und dem Wächter des Schatzes, werden Liebespaare vorgeführt, die damals aus
der Literatur allgemein bekannt waren. Gedruckte Werke der Literatur – in der medialen Erscheinungsform der Schrift – wurden in Phantasmagorien verwandelt. Mindestens drei gleich
gerichtete Medienwechsel liegen vor. Inhaltlich basieren die literarischen Werke mehr oder
minder auf dem gleichen Stoff: der Tod hat von den Liebenden jeweils einen Partner hinweggerafft und den anderen in tiefer Trauer zurückgelassen. Auffällig an dieser Auswahl tragisch
endender Liebesgeschichten ist, dass sie den Eindruck erwecken, das schriftliche Endprodukt
einer ‚Trauerarbeit‘ zu sein. Wie fiktiv sie sind, ist bis heute umstritten (s.u.).
Francesco Petrarca (1304-1374)841 adressierte als Gelehrter und dichtender Priester des frühen
Humanismus etliche Sonette an seine Laura, die eine verheiratete Frau gewesen sein soll. Ihr
Gatte und sein Keuschheitsgelübde im Zusammenhang mit den empfangenen, niederen Weihen ließ sie schon zu Lebzeiten nicht zueinanderkommen – vorausgesetzt Laura ist keine fiktionales Konstrukt. Wie Catulls Lesbia, Dantes Beatrice und Goethes Römerin gehört sie zu
den historisch bestenfalls gerüchteweise greifbaren Musen. Ihre fragliche Existenz prädestiniert sie für die Darstellung als Phantom.
Im Gegensatz zu Petrarca litt der englische Dichter Edward Young (1683-1765) ohne Zweifel
an dem Tod seiner Frau Elisabeth und anderer Familienangehörigen. 842 Die Klagen oder
Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit (The complaint, or night thoughts on
Life, Death and Immortality), die zwischen 1742 und 1745 erschienen sind, rezipierte man als
840
Anonymus 1796, 422-429, hier 427f.
Alle Informationen zu Petrarca, vgl. Stiller, Rainer: Trecento, in: Volker Kapp (Hg.): Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart 20073, 30-86, insbesondere 65ff. und Hardt, Manfred: Geschichte der italienischen Literatur
von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf / Zürich 1996, 131ff.
842
Alle Informationen zu Young, vgl. Mertner, Edgar / Standop, Ewald: Englische Literaturgeschichte, Heidelberg 19925, 373f.
841
193
einen literarischen Bewältigungsversuch dieser Schicksalsschläge. Aus heutiger Perspektive
ist allerdings anzumerken, dass sie die biographisch gegebenen Ereignisse nicht 1:1 abbilden!
Bei Abälard und Heloise843 handelt es sich um eine tragische Liebesgeschichte aus dem späten Mittelalter, die durch Jean Jacques Rousseaus Bearbeitung Julie ou la Nouvelle Héloïse
auch im deutschen Sprachraum populär geworden war und Jean Paul sogar 1781 zu seinem
ersten größeren literarischen Gehversuch inspirierte, den Briefroman Abelard und Heloise.844
Der Theologe Abälard gewinnt als Hauslehrer Heloises deren Zuneigung und zeugt mit ihr
ein Kind; er wird zur Strafe kastriert und zieht sich, wie sie, in ein Kloster zurück. In wieweit
der sich entspinnende Briefwechsel eine Fiktion ist, wurde bislang auch noch nicht endgültig
geklärt. In der Vorstellung wird durch einen Rollenwechsel eine neue Intensität gewonnen.
Nun trauert eine Frau so stark um einen Mann, dass sie stirbt und wie Lauras Geist in den
Himmel auffährt.
Dreimal durfte das Publikum der Phantasmagorien Menschen erleben, die an dem Verlust
eines innig geliebten Menschen leiden, was in einem deutlichen Kontrast zur Eingangsepisode
steht: dem Verlust eines materiellen Schatzes. Die emotionale Verfassung scheint für den medial bedingten (durchaus behebbaren) Verlust der Stimme verantwortlich zu sein, da mehrfach
nur von „natürliche Bewegungen“ und „vieler Pantomime“ die Rede ist. Gerade bei Youngs
Hantieren mit einem Schädel und Buch ist die Assoziation seiner Verse oder Hamlets Monolog mit Yoricks Schädel vorprogrammiert. Im Idealfall verleihen die Erinnerungen an gelesene, rezitierte oder aufgeführte Werke der Literatur eine Tonspur. Das beiläufig erwähnte
Orchester dürfte dies durch konventionelle, musikalische Codes unterstützt haben – und nicht
nur in Akt- oder Umbau-Pausen zum Einsatz gekommen sein. Wie der Auftakt mit dem Donner zeigt, bemühte sich Enslen darum, den Szenen die ‚passende Atmosphäre‘ zu verleihen.
Dem Publikum sollte wohl im Sinne einer wirkungsästhetischen Konzeption der Schrecken
eingejagt werden, den der projizierte Mime des flüchtigen Schatzgräbers darzustellen hatte.
Im weiteren Verlauf der Vorstellung wechselten sich Trauern und Angst miteinander ab, die
als Emotionen für jedermann nachvollziehbar sind. Mit der Einblendung der panegyrischen
Herrscherbilder verstorbener preußischer und österreichischer Potentaten lockerte sich die
Stimmung so weit, dass Szenenapplaus und Zugabe-Rufe für eine Illusionsdurchbrechung
sorgten. Entsprechend der räumlichen Manifestation des Dispositivs, einem Theatersaal in
Berlin, will das Publikum Friedrich den Großen ein zweites Mal sehen. Wiederholungen von
843
Alle Informationen zu Abälard und Heloise, vgl. Smits, Edmé R. / Haye, Thomas: Epistolae (Abaelard), in:
Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon. A-Bak, Bd.1; 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart /
Weimar 2009, 8-10.
844
Vgl. Pfotenhauer 2013, 60ff.
194
Monologen und Arien waren in Theater- und Opernaufführungen zur damaligen Zeit üblich,
doch hier wird nicht die erneute Aufführung eines Textes, sondern eines Bildes ‚erzwungen‘.
Da vermutlich diese Reaktion der Rezipienten vorhersehbar gewesen ist, fällt das zweite Präsentieren des preußischen Monarchen unter das Wiederholungsprinzip der Konzeption. Die
Macht der Bilder ist so stark, dass man auf die menschliche Stimme gänzlich verzichtet und
sogar von melodramatischen Experimenten mit dem vorhandenen Orchester absieht!
Die bereits erwähnten Medienwechsel führten also zur vollständigen Tilgung der Stimme als
Vermittlungsinstanz von dem fiktiven, inneren Geschehen, das nur unzureichend verschriftlicht werden kann. Enslen oder vielmehr die Projektionskünstler sind völlig in das Fahrwasser
der sogenannten „Schauerromantik“ aus England geraten. Schon Robertson zeigte in Paris
blutende Nonnen, Lords beim Sterben, Macbeth, tanzende Hexen, den trauernden Dichter
Young, biblische Geistererscheinungen, die Versuchung des hl. Antonius (s. Callot-Radierung
und Hoffmanns Elixiere des Teufels) und das unglückliche Liebespaar Orpheus und Eurydike
im Schattenreich (!) der griechischen Mythologie.845 Es liegen also intramediale Bezüge zu
anderen Phantasmagorie-Programmen vor, die selbst einige Bestandteile durch Medienwechsel gewannen. Die literarischen Vorlagen waren natürlich Enslen auch selbst zugänglich, so
dass seine Darbietungen, sowohl unter die Rubrik der Intermedialität und Intramedialität
fallen. Wie schon bei der Auseinandersetzung mit den Theorien von Rajewsky und Wolf festgestellt wurde, haben Stoffe die Tendenz zu transmedialen Quellen der Inspiration zu werden.
Mit diesem literarischen Hintergrund bekamen die verrufenen und unglaubwürdig gewordenen ‚Totenbeschwörungen‘, die noch „Hochstapler“ wie Schröpfer oder der etwas näher
behandelte Philidor in einem rituellen Dispositiv zur Aufführung brachten, eine neue Ausrichtung. Es ist müßig zu bemerken, dass nicht alle Phantasmagoren dieser Entwicklung sogleich
oder überhaupt folgten. Breitrück und Melber zeigten 1797, ein Jahr nach Enslens Berliner
Vorstellungen, in Zürich zwar ein mechanisches Kabinett mit Automaten und „optischen Darstellungen“, boten aber nach Ausweis des erhaltenen Theaterzettels nur „Joseph der alte, Maria Theresia, Friedrich der Große, Held Loudon, Voltaire, ec.“ am Ende der Vorstellung.846
Was war nun das Besondere an Enslens Phantasmagorien? Was machte sie so berühmt? Abgesehen von der anzunehmenden, geschickten Dramaturgie der Vorstellungen, müssen die
Darbietungen einerseits eine hohe ästhetische Qualität besessen haben, andererseits durch die
Kombination mit dem Orchester in ihrer Wirkung gesteigert worden sein. Für das abschlie-
845
846
Vgl. Hick 1999, 148f.
Vgl. partielle Abbildung des Flugzettels in Ganz 1994, 45.
195
ßende „optische Ballett“ in Enslens Programm (s.u.) sind mir keine Vorbilder und Nachahmungen bekannt.
Der Einsatz des zweiten Bautyps der Zauberlaterne ließ zahlreiche Zuschauer daran zweifeln,
ob sie wirklich nur Projektionen als Phantasmagorien verkauft bekamen – was sicherlich als
ein Zeichen von Qualität zu werten ist:
Ich habe schon bemerkt, dass die transparenten Figuren durch die Laterna Magika [des ersten Bautyps]
dargestellt wurden, die körperlichen wollte man sich fälschlich also erklären. Wie der Donner rolle und
hinter dem Vorhang aufgezogen werde, falle ein Vorhang von Gaze, hinter dem die Personen ständen,
die den Geist vorstellen, und welche durch eine Laterna magica erleuchtet würden, in ein Gewand eingehüllt seyen, und so als Gespenster erschienen. Wie man die Laterne, womit man den Menschen, der
hinter dem Vorhang figuri[e]re, beleuchte, aufwärts biege, verschwinde der Geist nach oben, und wie
man sie niederwärts biege, nach unten zu. Abgerechnet, daß dieser letztere Erfolg keinesweges in der
Natur gegründet, und folglich bloß eingebildet ist, wie könnte sich Laura alsdenn nach und nach verkleinern, wie der vergrößerte Menschenkopf erscheinen? – Herr Enslen hat einige Hohlspiegel mit einander verbunden, vor deren einem die Person in einer Vertiefung steht, welche als Geist debuti[e]rt,
und durch die Laterna Magika erleuchtet wird. Der Hohlspiegel wirft das Bild in einen anderen Spiegel,
und dieser endlich durch ein Glas auf eine Ebene, in welcher es das Publikum völlig wie in einer Kamera obskura erblickt. Auf diese Art steht es nun in Herrn Enslens Macht, die dargestellten Bilder nach
Belieben zu vergrößern und zu verkleinern, und wie er der figuri[e]renden Person das Licht nimmt,
ganz verschwinden zu lassen. Die transparenten Figuren aber, worunter ich diejenigen, die bloß als gemahlte [sic!] Bilder und nicht körperlich erschienen, verstehe, verkleinern und vergrößern sich, wie man
das Objektivglas an der Laterna magika hin und her schiebt.847
Die Erfahrungen mit der Hohlspiegel-Projektion sind die Voraussetzung für das oben genannte „optische Ballett“, in dem die Figuren einer ganz eigenen Choreographie gehorchten. Dies
wird schon aus einer kurzen Skizze des Geschehens ersichtlich:
[Es] nahm sich endlich vortrefflich [aus], funfzehn verschiedene Figuren, sämtlich ausgemacht schön,
bildeten sich zu eben so vielen durchschlingenden Gruppen, vervielfältigten sich so pfeilschnell, als sie
in ein einziges Bild wieder zurück giengen, und begannen die regelmäßigsten mit Grazie ausgeführten
Tänze.848
Die Schwerkraft scheint ebenso überwunden zu sein, wie die Kontinuität der Körper. ‚Aufund Abtritte‘ ereignen sich mit einer enormen Schnelligkeit, ebenso die ‚Kostümwechsel‘,
wie man schon erahnen kann. In Kontrast zu den relativ statischen vorangegangen Projektionen beherrscht nun vor allem Bewegung die Wahrnehmung. Unbelastet von jeglicher Handlung und ernster Thematik klingt die Vorstellung mit einer virtuosen Nummer aus.
Spieltechnische Details lassen sich freilich mit den wenigen zugänglichen Quellen nicht beantworten. Ob Mensch(en) oder Puppe(n) sich vor einem bewegen, bleibt offen. Immerhin
sind sich die Zeitgenossen einig, dass die „Vervielfältigung“ der tanzenden Personen durch
eine Vermehrung der Lichtquellen bewerkstelligt wurden:
847
Kosmann 1796, 727-746, hier 745f. Eine ähnliche technische Anordnung wie bei Enslen wurde in den 1870er
Jahren als Theater-Effekt entwickelt: „Peppers Ghost“. Mittels einer Spiegelglasscheibe auf der Bühne wird in
die Szenerie ein Geist gespiegelt, der hell beleuchtet vor einem schwarzen Hintergrund in der ‚Orchesterschlucht‘ wandelt. Vgl. Vogl-Bienek 1994, 11-20, hier 20ff. und Heard, Mervyn: Now you see it, now you don’t.
The magician and the magic lantern, in: Richard Crangle (Hg.): Realms of light. Uses and perceptions of the
magic lantern from the 17th to the 21st century: an illustrated collection of essays by 27 authors from six countries, London 2005, 13-24, hier 19.
848
Kosmann 1796, 727-746, hier 746.
196
Sie beruhten auf dem einfachen Satze: daß so viele Schatten eines Objektes entstehen, als Lichtflammen
in verschiedenen Richtungen ihn erleuchten. Befinden sich sämtliche Lampen hintereinander in einer
geraden Linie, so wird das erleuchtete Objekt nur ein einfaches Bild geben; so wie man eine oder mehrere Flammen aus dieser Linie hervortreten läßt, so werden zwei, drei u. s. w. Bilder entstehen. 849
Die Bewegungen der Tanzfigur und ihrer Reproduktionen über die Projektionsfläche werden
mittels der Lichtquellen gesteuert:
Wenn man einen Kasten nimmt, der wie eine Laterna magika beschaffen ist [= Umschreibung für den
zweiten Bautyp der Zauberlaterne], und eine Figur an die Wand wirft, so kann ich zwar diese Figur vervielfaͤltigen, wie ich mehrere Lichter in diesen Kasten bringe, und diese Gruppe, die auf diese Art entsteht, tanzen lassen, wie ich die Lichter in abgemessenen Kreisen und Bahnen bewege, daß aber gehoͤrig
Licht und Dunkel auf der Wand erscheine, daß alles mit der Grazie und Ordnung wie hier, geschehe,
muß man seine optischen Werkzeuge, und seine Bilder schon zu einer Vollkommenheit gebracht haben,
wie dies bei Herr[n] Enslen der Fall ist, ohne welches es wenig Wirkung thun wird.850
Die Positionierung der Lichtquellen muss von Hand oder mit einer Mechanik beim Automatenbauer Enslen erfolgt sein. Im Zusammenhang mit meiner Untersuchungen von Abenteuern
der Silvesternacht ist es weniger wichtig, wie die optischen Vorstellungen ‚gesetzt‘ wurden,
sondern dass irgendjemand im Verborgenen ‚die Strippen zieht‘.
Von ästhetischer Seite ist die Erzeugung von Doppelgängern hervorzuheben, wobei Protound Posttyp(en) identisch miteinander sein, aber auch deutliche Unterschiede aufweisen
können:
Den Beschluß machte ein optisches Ballett. Zuerst erschien in der Mitte des finsteren Theaters eine
weiße fußlange Figur eines mit Lanze und Schild Bewaffneten, und schien zu tanzen. Erst zertheilte sie
sich in vier gleiche Figuren die eine Quadrille tanzten, dann in 16, dann entstanden auf einmal 4, dann
16 Genien mit Flügeln, eben so viel weibliche Figuren, und so viel Kinder; diese alle tanzten und
schwebten regelmäßig durch einander und aufwärts und abwärts, bald schnell, bald langsam einen großen regelmäßigen Tanz. Ihr weißer Schein machte das Parterre etwas heller. Dann zogen sich immer
vier in eins zusammen; nach und nach, verschwanden ganze Gruppen, bis zuletzt der erste übrig blieb
der in schnellen Bewegungen einigemal aufs Parterre loszuschießen und dann in einen [sic!] Lichtdunst
zu zerflattern schien.851
Durch das ‚Explodieren‘ der Projektions-Figuren und das ‚Implodieren‘ der daraus entstandenen Gruppen zur Ausgangsform, existieren auf der Projektionsfläche keine festen Physiognomien von Körpern. Anzahl und Aussehen der Tanzfiguren unterliegen einer permanenten Metamorphose. Das einzige ordnende Prinzip in diesem ‚Chaos‘ bilden die geometrischen
Bewegungsprofile der temporär erscheinenden Gestalten. Die Quadrille ist ein französischer
Tanz, der zur Zeit der beschriebenen Aufführungen in Europa Mode war und damals mit seinem schnellen Tempo für wilde Bewegungsabläufe sorgte.852 Mit dem Anstieg der Projektionsfiguren auf 48 (= 16 Genien + 16 weibliche Figuren + 16 Kinder) nimmt die Regelmäßigkeit laut Charakterisierung des Geschehens weiter zu.
849
Brewster 1833, 113f. Anm. des Übersetzer Friedrich Wolff bzgl. Enslen.
Kosmann 1796, 727-746, hier 746.
851
Anonymus: VI. Theater. 1. Theatralische Gaukelspiele in Berlin. Berlin den 20ten Juni 1796, in: Journal des
Luxus und der Moden 11 (August 1796), 422-429, hier 428.
852
Vgl. ohne Autor: Quadrille, in: Harald Hassler / Ralf Noltensmeier / Gabriela Rothmund-Gaul (Hgg.): Musiklexikon in vier Bänden. L bis Rem, Bd. 3., 2. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 2005, 772.
850
197
Zu einer Fortentwicklung von Enslens Kunst kam es nicht. Wie schon angedeutet, hätten die
fürs optische Ballett entwickelten Verfahren durchaus zur Visualisierung einer Handlung mit
sprechenden und singenden Gestalten herangezogen werden können. Natürlich setzten die
Bilanzen von Kosten und Einnahmen Schaustellern im Allgemeinen Grenzen. Justinus
Kerners spätere, ‚literarische Kopfgeburt‘ von Reiseschatten, in die Dramentexte für Schattenspiele eingeschaltet sind, würden sich mit den von Enslen gefundenen Mitteln umsetzen
lassen. Ihnen wohnt ein rasantes Tempo inne, das eine große Verwandlungsfähigkeit der Figuren, Requisiten und Schauplätze fordert. Aus dem Nachspiel der ersten Schattenreihe oder
König Eginhard werden hier nur die Regieanweisungen der ersten vier Seiten wiedergegeben:
Der Zwerg zerteilt sich in drei Stücke. Eins bleibt der Zwerg, das andere wird König Eginhard, das dritte sein Hofmeister Dietwaldus. [...] Sie setzen sich, der Zwerg springt auf den Tisch und wird von ihnen
als Becher gebraucht. [...] Sie gehen beide wieder in den Becher oder den Zwerg über. [...] Der Zwerg
verwandelt sich in die Nonne. [...] Die Nonne verwandelt sich in den Teufel. [...] Er zerteilt sich plötzlich in mehrere Teufel, Geister und Hexen. 853
Kerners Schattenspieler Luchs muss deshalb aber nicht als ein Phantasmagore verstanden
werden. Mörikes Schattenspiel (!) Der letzte König von Orplid. Ein phantasmagorisches Zwischenspiel kommt im Maler Nolten (1832) auf jeden Fall mittels einer Zauberlaterne zur Aufführung, da die Hauptfigur des Romans „die Bilder auf Glas gemalt“ hat. 854 Phantasmagorien
widersetzen sich kaum der Kombination mit anderen Medien – wie der Einsatz des Orchesters bei Enslen zeigt. Projizierte Bilder befinden sich stets in einem Konkurrenzverhältnis mit
statischen Gemälden hoher Qualität und den ‚natürlichen‘ Bewegungsabläufen. Sie stehen
unter dem Zwang noch nie Gesehenes zu präsentieren, was im Falle der ‚Totenbeschwörungen‘ freilich nur ein nicht mehr zu Sehendes ist. Eine Kultivierung des Wunderbaren war
das oberste Gebot – und das betreiben auch die romantischen Dichter.
853
Kerner, Justinus: Die Reiseschatten. Aufzeichnungen eines Schattenspielers. Hg. v. Walter P. H. Scheffler,
Stuttgart 1964, 37ff.
854
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Novelle, in: ders.: Maler Nolten, Bd. 3. Hg. v. Herbert Meyer, Stuttgart 1967
(Werke und Briefe, Bde. 20. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer u. Bernhard Zeller, Stuttgart
1967ff., Bd. 3), 94-148, hier 95.
198
6.4. Die Charakteristika von Phantasmagorien – eine Zusammenfassung
Nachfolgend möchte ich Merkmale für Phantasmagorien festlegen. Sie ergeben sich aus der
Reflexion und der Abstraktion der zitierten Quellen, einschließlich der Fachliteratur zur Projektionskunst vor dem Film. Insofern kann man von einer Zusammenfassung des vorangegangenen Abschnitts über Enslen und des Kapitels über die Einsatzweisen der Projektionsmedien
sprechen. Damit die vorgestellten Merkmale nicht ‚aus der Luft gegriffen erscheinen‘, werden
Fußnoten auf bereits besprochene Fallbeispiele Bezug nehmen, die an entsprechender Stelle
mit Belegen ausgestattet worden sind – und somit über eine ‚wissenschaftliche Erdung‘ verfügen. Es sei darauf hingewiesen, dass manch ein Faktum gleich in mehrfacher Hinsicht für
Phantasmagorien charakteristisch ist. Drei Geistererscheinungen in einem Projektionsprogramm zeigen inhaltlich etwas Wunderbares, strukturell bedeuten sie eine Wiederholung, ggf.
eine Variation. Ähnlich verhält es sich mit den fett gesetzten Begriffen und Phrasen im Enslen-Abschnitt.855 Von diesen Stichworten ausgehend, machte ich mir Gedanken über einen
allgemein gültigen Katalog für ästhetische Eigenschaften von Phantasmagorien um 1800.
(1) Phantasmagorien stillen das Bedürfnis nach dem Wunderbaren in einer Zeit, in der die
entstehenden Naturwissenschaften für eine zunehmende Entzauberung der Welt sorgten. Das
Wunderbare steht in einer engen Verbindung zum Fremden und Unheimlichen. Es wird in
Geistererscheinungen856 und exotischen Sujets bzw. Kuriosem857 gefunden. Entsprechend
ungewöhnlich gestaltet man die Programme, die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keiner
durchgehenden Handlung,858 wie damalige Theaterstücke, folgen. Die versteckte Technik und
die eingesetzten Spezialeffekte sind für viele Rezipienten etwas Geheimnisvolles oder Wunderbares, da ihnen zum einen das optisch-physikalische Wissen fehlt, zum anderen die Phantasmagoren schon in Hinblick auf ihre Konkurrenz sich gewiss nicht gerne hinter die Kulissen
blicken ließen.
855
Damit man nicht zurückblättern braucht: assoziativ miteinander verknüpfte Abfolge von Episoden, Wiederholung und Variation ähnlicher Situationen sowie ihre organische Verbindung, Medienwechsel, Verlust, Erinnerungen, inneres Geschehen, Intermedialität und Intramedialität, ‚Totenbeschwörungen‘, Doppelgänger (identisch
/ deutliche Unterschiede), keine festen Physiognomien, ‚Chaos‘, Regelmäßigkeit, Kombination mit anderen
Medien, Kultivierung des Wunderbaren.
856
Geistererscheinungen inszenierten z.B. Griendel, Cagliostro, Schröpfer, Philidor, Robertson und Enslen.
Schuar zeigte z.B. Visionen und Illusionen im Bamberger Theater.
857
Tacquet führte China als fremdes Land und Kultur vor. Creiling schlug vor andere Länder und Völker bei
Vorlesungen mittels Projektionen zu visualisieren. In der Werbung des Leipziger Buchhändlers für eine Zauberlaterne als pädagogisches Instrument werden Slides ‚ethnologischen‘ und zoologischen Inhalts angeboten. Ende
des 19. Jahrhunderts zeigt Phantasmagore Paul Hoffmann ‚Reisen‘ durch fremde Länder – und Himmelskörper.
858
Man betrachte z.B. das Programm der optischen Vorstellungen Enslens. Paul Hoffmann führt in der 2. Hälfte
des 19. Jahrhunderts den Ring des Nibelungen nach Wagner und die Göttliche Komödie nach Dante auf.
199
(2) Aus der Kultivierung des Wunderbaren, d.h. dem Ungewöhnlichen, ergeben sich Übertreibungen von Gebärden859 und Physiognomien bis hin zur Karikatur,860 was unübersehbar
mit Abnutzungseffekten beim Publikum einhergehen muss. Tragische und komische Nummern861 stehen im Fokus der wirkungsästhetischen Gestaltung. Starke Empfindungen, wie
Mitleid, Angst und Schrecken862 sollen offenbar genauso intensiv wie ausgelassene Heiterkeit
erregt werden.863
(3) Die Rezipienten werden oftmals durch Überraschungseffekte stimuliert und gleichzeitig
einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt.864 Es scheint das Zufallsprinzip zu gelten. Die
Manipulation bedient sich kontrastierender Montagen oder assoziativer Verknüpfungen865 von
Bildern und narrativ angelegten Episoden – in der Diktion der Romantik vielleicht auch als
Fragmente zu bezeichnen. Spezialeffekte wie Metamorphosen durch Überblendungen,866
Vergrößerungen867 und Verkleinerungen868 sowie Bewegungssimulationen869 stehen zu Gebote.
(4) Die Aktivierung von Erinnerungen und inneren Bildern wird anfangs durch quasirituelle Handlungen begünstigt, später durch die Darstellung des idealen Rezipienten im
Theaterkontext. Trauernde Liebende werden vorgeführt und von den Geistern der betrauerten
Toten heimgesucht, was als eine Totenbeschwörung zu interpretieren ist.870 Vergegenwärtigt
werden stets berühmte Personen. Abhängig von den historischen dispositiven Praktiken erscheinen verstorbene Angehörige oder Gestalten, die nur als Imaginationen aus der Literatur
859
Sind mehrere Lagen Slides im Einsatz, um Bewegungen zu simulieren, können keine natürlichen Bewegungsabläufe gezeigt werden.
860
Vgl. z.B. die Abbildung von Slides Rossell 2008, 40f., 99 und 134.
861
Bei Enslen findet man tragische Liebesgeschichten und eher heiteres, optisches Ballett. Paraphrasen von
Projektionsprogrammen bei Rossell 2008, 122ff.
862
Die Liebenden, die ihren Geliebten bei Enslen verloren haben, sollten wohl Mitleid erregen. Der Geist, der
den Schatzgräber verjagt, hatte eher Angst und Schrecken zu verbreiten.
863
Karikaturen und unnatürliche Bewegungsabläufe sind für viele Menschen komisch.
864
Philidor erschreckte nicht nur mit Projektionsbildern, sondern begleitenden Stromschlägen, Blitz und Donner
sein Publikum. Das plötzliche Einblenden von Figuren oder der Einsatz von „dissolving views“ sorgt ebenfalls
für Überraschungen.
865
Vgl. Hick 1999, 156.
866
Stichwort „dissolving views“ bzw. „Nebelbilder“
867
Johann Christoph Sturm projizierte eine lebende Stubenfliege an die Wand. An der Juni zeigte man Kleinstlebewesen in Wasser gefüllten Schusterkugeln als Projektionen.
868
Beim Einsatz von beweglichen Projektionstischen ergeben sich Vergrößerungen und Verkleinerungen des
projizierten Bildes. Friedrich der Große verschwindet bei Enslen durch Verkleinerung wieder in seinem Stern.
869
Bewegungssimulationen konnten durch das die Bewegung von Projektionswagen, von bemalten Glasplatten,
aufgeklebter Fliegen auf dem Slide oder durch das „Abspiegeln“ von Mimen im Falle des zweiten Laternenbautyps erzeugt werden.
870
Enslen zeigt als trauernde Liebende Petrarca, Young und Heloise. Ihre Trauer ‚beschwört‘ jeweils den Geist
der geliebten Person. Diese Rolle übernimmt der Phantasmagore selbst, stellvertretend für das Publikum, im
Falle Joseph II. bzw. Friedrich d. Gr. Philidor veranstaltete Séancen, bei denen tote Anverwandte der Zuschauer
als Geister zitiert werden sollte. In Athanasius Kirchers Illustrationen zur Zauberlaterne werden Slides von Seelen im Fegefeuer belegt – Paul Hoffmann führt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Dantes Göttliche Komödie
auf, mit einem Schwerpunkt auf die verdammten Toten im Inferno.
200
vertraut sind. Ausgangs- und Endpunkt dieser Vergegenwärtigungen sind unterschiedlich
schmerzliche Verlusterfahrungen. Der Mensch wird auf seine eigene Zeitlichkeit, den Tod als
dem unentrinnbaren Schicksal verwiesen. Alles, was das Leben ausmacht, Liebe, materieller
Besitz, usw. wird spätestens mit Eintritt desselben verloren. Das „Thema des Wandels wird
visuell“ vermittelt; durch „den Einsatz entsprechender Mittel wird das Bildproduktionsverfahren in den Dienst der Darstellung von Zeit und Zeitlichkeit genommen. Die Beweglichkeit
und Wandelbarkeit der Welt konnte durch Bilder augenfällig gemacht werden.“871
(5) Für das Erinnern sind die zahlreichen Wiederholungs- und Variationsstrukturen der
Phantasmagorien die adäquate Form. Die Situationen wiederholen sich und werden auf jedermann übertragbar gemacht, indem Rollenwechsel vollzogen und geringfügige Änderungen
am „Setting“ durchgeführt werden.872 Menschen, ‚Objekte‘ und Bildträger in der Zauberlaterne erfahren auf der Projektionsfläche eine Verdoppelung. Durch Modifikationen im technischen Aufbau können Doppelgänger zu den erscheinenden Figuren auf der Bildfläche entstehen, deren Physiognomie absolute Ähnlichkeit mit dem Prototyp aufweist oder in einem
Spannungsverhältnis zu diesem steht. Reproduktion und originelle Abweichungen sind wiederum das Ergebnis von Umsetzungen bekannter Tanzmuster, Aneignungen von Stoffen oder
Anregungen aus der realen Umwelt. Hochwertige Phantasmagorie-Programme erwecken abschnittsweise, den paradoxen Eindruck eines hochgradig durchorganisierten ‚Chaos‘, das den
Rezipienten gefordert, vielleicht sogar zeitweise überfordert hat.
(6) Phantasmagorien sind hochgradig intermedial, weisen oft Medienwechsel, Medienkombinationen und intermediale Bezüge auf. Szenen aus literarischen Werken werden als Projektion aufgeführt,873 die Lichtbilder kombiniert man mit Musik,874 bekannte „Bilder“ werden
reproduziert.875 „Optische Vorstellungen“ sind als kontaktnehmendes Medium prädestiniert
selbst zu einem kontaktgebenden Medium zu werden. Monika Schmitz-Emans kommt in ihrer
kleinen literarischen Rezeptionsgeschichte der Laterna magica ebenfalls zu dem Ergebnis,
dass es kein Medium an sich gebe:
Was immer in der diskursiven Praxis als ein ‘Medium’ gilt, ist eine Funktion komplexer Ausdifferenzierungen gegenüber anderen ‘Medien’, und was immer man den einzelnen Medien als Spezifika und Leis871
Beide Zitate Schmitz-Emans 2010, 301-325, hier 308.
Bei Enslen sind mehrfach Menschen an Gräbern zusammen mit Geistern zu sehen, zwei Monarchen werden
vorgeführt – und bei Applaus sogar nochmals gezeigt.
873
Petrarcas Sonette an Laura, Abaelard und Heloise, Youngs Nachtgedanken werden von Enslen als Stoffe
herangezogen.
874
Ein Orchester begleitete Enslens Phantasmagorien. Zwei Musiker begleiteten in Paris eine Projektionsveranstaltung. Vgl. Rossell 2008, 122.
875
Nachtrag: Das Abpausen oder Abmalen von graphischen Vorlagen war Praxis zur Gestaltung von Slides. Vgl.
Ganz 1994, 17f. Ergänzung zu den vorangegangen Ausführungen: In die Bilderwelt der Zauberlaternen haben
nachweislich die Gobbi (Gnome) und die musizierenden Kostümtänzer der Balli di Sfessania ihren Eingang
gefunden. Vgl. Rossel 2008, 38 (Text) 40f. (Abb.).
872
201
tungen zuschreibt, ist ebenfalls Produkt entsprechender Differenzierungsprozesse und wechselseitiger
Bespiegelungen. Alle Darstellungsprozesse konstruieren sich wechselseitig, nicht allein durch implizite
Absetzung gegeneinander, sondern oft genug durch explizite Thematisierung, oder durch verwendete
Metaphorik.876
Es versteht sich von selbst, dass die Feststellung intermedialer Bezüge zu vielen verschieden
Medien nicht die Dominanz eines bestimmten altermedialen Systems beweisen können. Punkt
(6) schließt damit bei der Suche nach Hinweisen für eine phantasmagorische Schreibweise in
bestimmten literarischen Werken die Feststellung von wahrscheinlich vorhandenen Referenzen auf andere Medien aus.
Dass etliche Abstrakta, mit denen hier Phantasmagorien charakterisiert wurden, transmediale
Gestaltungsprinzipien darstellen, z.B. Wiederholung und Variation, ist nicht zu leugnen. Da
sie sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung um 1800 in besonderer Weise mit dem Projektionskunst-Dispositiv verbunden haben, werden sie von mir als Medienspezifika behandelt.
Die Dunkelheit während der Vorstellungen, die Trennung des Publikums von der Projektionsfläche und das Erstellen von ‚Theaterzetteln‘ seien stellvertretend für alle dispositiven Gegebenheiten in Erinnerung gerufen, die nicht unmittelbar das Projektions-Geschehen betreffen.
Zusammenfassen heißt auch weglassen.
876
Schmitz-Emans 2010, 301-325, hier 321.
202
7. Projektionsmedien in der Literatur
7.1. Referenzen auf Projektionsmedien in Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht
Friedrich Kittler, der Medienstrategien bei Friedrich Schiller und E.T.A. Hoffmann untersucht
hat, erkennt in der jüngeren Vergangenheit erstmals die große, prägende Kraft der optischen
Medien auf die Literatur um 1800: „Erst romantischen Romanen ist es gelungen, Laterna magica eines Autors für die Camera obscura seiner Leser zu sein, ohne an [den …] Paradoxien
der Selbstreferenz zu scheitern“.877 Den Lesern werden die Romane „wie innere Filme“ verkauft.878 Da diese Hypothese gleich eine wichtige Rolle in der Interpretation eines zeitgenössischen Zitats spielen wird, das sich auf die Fantasiestücke bezieht, soll hier kurz auf Kittlers
Ausführungen eingegangen werden. Man könnte im ersten Augenblick meinen, dass sie eine
Auseinandersetzung mit den intermedialen Beziehungen zu optischen Medien in Abenteuern
der Silvesternacht überflüssig macht.
Der Studie gelingt es nur, die aufgestellte Hypothese wahrscheinlich zu machen, da ihre
Textgrundlage äußerst schmal ist. Sie enthält lediglich zwei ausführlichere Analysen von
Schillers Romanfragment Der Geisterseher und E.T.A. Hoffmanns Romanerstling Die Elixiere des Teufels.879 Als romantische Texte werden darüber hinaus in einem unerheblichen Maße
Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura und Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann angesprochen, ohne sie einer Gattung zuzuordnen.880 Zumindest bei dem zuletzt genannten
Werk Hoffmanns wäre schon gut zu begründen, warum es sich um einen Roman handeln sollte. Für romantische Romane – im Plural – ist das Urteil in Zweifel zu ziehen, sogar für die
Romane Hoffmanns. Nicht einmal sein zweiter und letzter Roman Die Lebens-Ansichten des
Katers Murr finden eine Berücksichtigung. Zudem provoziert Kittlers Urteil über romantische
Romane die Frage, ob die von ihm erarbeitete Medienstrategie, nur in diesen auftritt, oder
sich auch in anderen Genres nachweisen lässt?
In methodischer Hinsicht ist Kittlers Aufsatz von 1994 in die Jahre gekommen, da seinerzeit
der Diskurs um die Medientheorien in den Geisteswissenschaften erst langsam an Bedeutung
gewann. Rajewskys Theorie der Intermedialität existierte z.B. noch gar nicht. Problematisch
an der Analyse von den Elixieren des Teufels ist die notwendige Beschränkung auf wenige
Stellen des umfangreichen Opus‘, mit dem Kittler die unzweifelhaft intendierte, fremdmediale
Illusionsbildung wahrscheinlich zu machen sucht. Natürlich kommt dem eröffnenden Rahmen
877
Kittler, Friedrich: Die Laterna magica in der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien, in: Athenäum. Jb der Romantik 4 (1994), 219-237, hier 229.
878
Ders, 219-237, hier 221.
879
Vgl. ders., 219-237, hier 226ff.
880
Vgl. ders, 219-237, hier 221.
203
des fiktiven Herausgebers, der das abgedruckte Manuskript zu einer projizierten Bilderfolge
erklärt, ein besonderes Gewicht zu; doch Illusionsbildung ist kein Selbstläufer. Sie muss über
die ca. 300 Seiten des Werkes aufrechterhalten werden. Dies nachzuweisen, würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen und wäre eine Fleißarbeit von minimalem Nutzen, deren Lektüre eine Zumutung wäre. Schließlich hätte man damit nach Kittlers Worten nur einen inneren
Film nachgewiesen, der auf eine benutzerfreundliche und damit marktorientierte Produktion
des Autors schließen ließe. Es ist also auch noch nach weiteren Funktionen von intermedialen
Bezügen zu suchen.
Die Abenteuer der Silvesternacht vereinigen als Forschungsgegenstand einige Vorzüge. Ihr
gerade noch überschaubarer Umfang lässt eine methodisch ‚saubere‘ Analyse möglich erscheinen. Gleichzeitig dürfte der Text umfangreich genug sein, um eine länger aufrecht erhaltene ‚Präsenz‘ eines altermedialen Systems nachzuweisen. Mit dem Fantasiestück wird die
Gattung des Romans verlassen und ein Text Hoffmanns untersucht, der noch vor den Elixieren des Teufels entstanden ist. Obwohl die jüngste, kommentierte Werksausgabe schon eine
Referenz auf Zauberlaternen-Projektionen kenntlich gemacht hat, wurde das gesamte Werk
von der Literaturwissenschaft noch nicht als Phantasmagorie gedeutet.881
Vor der Untersuchung der Abenteuer der Silvesternacht soll Jean Pauls authentischallographe Vorrede der Fantasiestücke als zeitgenössische Rezeptionsanleitung für die gesamte Erzählsammlung Hoffmanns betrachtet werden. Ihr Verleger Kunz bestellte sie aus
verkaufsstrategischen Gründen bei dem bereits etablierten Dichter in Bayreuth, da er sich positive Auswirkungen auf den Absatz versprach. Bekanntlich missfiel Hoffmann das gelieferte,
komplexe Gebilde, in dem sich positive und negative Äußerungen die Waage halten. 882 Die
Preisgabe seines Autorennamen und der Verriss des Titels seiner Erzählsammlung tolerierte
er nur aus den oben genannten, pragmatischen Gründen. Gegen die Darstellung seiner Person
als Phantasmagore, der sein Handwerk versteht, hatte er offenbar nichts einzuwenden:
Unserem Verfasser dürfen wir ein Lob anderer Gattung erteilen. In seiner dunklen Kammer (camera
obscura) bewegen sich an den Wänden heftig und farbenecht die koketten Kleister- und Essigaale [=
Fadenwürmer] der Kunst gegen einander, und beschreiben schnalzend ihre Kreise. In rein-ironischer
und launiger Verkleinerung sind die eklen Kunstliebeleien mit Künstlern und Kunstliebhabern zugleich
gemalt; der Umriß ist scharf, die Farben sind warm, und das Ganze voll Seele und Freiheit. 883
881
Vgl. dazu Schmitz-Emans 2010, 301-325, hier 310 und Anm. 34 (ebd.).
Vgl. E.T.A. Hoffmann an Carl Friedrich Kunz, 24.3.1814, Werke 1814 - 1822, Bd. 6, 32.
883
Er gibt hier nur ein Urteil über die erste Folge der Kreisleriana in den Fantasiestücken ab, denn Hoffmann
hatte die Bände 3 und 4 noch gar nicht fertig gestellt, als Jean Paul die Vorrede verfasste. Insofern bezieht sich
das folgende Zitat auch nicht auf Abenteuer der Silvesternacht. Da sich Hoffmanns Schreibweise in den Fantasiestücken kaum verändert und eine übergreifende Konzeption letztendlich vorliegt, ist anzunehmen, dass die
antizipierte Rezension ihre Gültigkeit behält.
882
204
In den Fantasiestücken werden Projektionen dargeboten. Nimmt man Kittlers eingangs zitierte Hypothese ernst, verweist die in der Vorrede genannte Camera obscura implizit auf eine
Zauberlaternen-Metaphorik. Jean Paul schreibt in der Rolle eines zukünftigen Rezensenten,
der mit den anderen Lesern in dem Projektionsraum eines Dichters sitzt. Damit funktioniert
das Werk wie eine Zauberlaterne. Regelmäßige Kreisbewegungen, warme Farbigkeit und
‚komische‘ ‚Zoom-Effekte‘ werden offenbar als charakteristisch für ‚projizierte‘ Bilder angesehen. Scharfe Umrisse gelten als Gütekriterium.
Sehr konkret wird Jean Pauls vorgeschobene Rezensenten-Figur nicht. Sie ist ihrerseits als
Karikatur angelegt. Zeitgenössische Buchkritik maß in fragwürdiger Weise literarische Werke
an projizierten Bildern:
Lemercier’s: Les Ages français, Poème en 15 chants (P.b. Barbe 1803. 8. 3 Fr. 60 C.), worin an epischer Einheit so wenig zu denken ist, daß man hier vielmehr die Haupt-Ereignisse der französischen
Geschichte wie in einer Laterna magica, ohne Verbindung so schnell vorbey spazieren sieht, daß man
keins der vielen Bilder, die auch nach ihrer fehlenden Zeichnung und Colorierung größtenteils denen in
der Laterna magica gleichen, festzuhalten vermag, so daß von ihnen gilt, was er selbst in seinem Gedichte von gewissen Irrtümern als Töchtern des Aberglaubens sagt […]884
Wie man sieht, ist dieser Rezensent kein Freund von Zauberlaternen-Vorstellungen. Die charakteristische, zusammenhangslose Montage der Bilder wertet er negativ. Genauso wenig
schätzt er die schlechte Zeichnung und Kolorierung vieler Slides, die bis in die zweite Hälfte
des 19. Jahrhunderts von vielen bemängelt wird.885 Aus diesem Grund müssen in einer positiven Kritik die Farben und scharfen Umrisse angepriesen werden, wenn in ihr die Medienmetapher eine Anwendung findet.
Jean Pauls Lob für Hoffmann ist durchaus ernst zu nehmen, da in seinen eignen Werken etliche Referenzen auf Zauberlaternen und Lochkameras existieren (s.u.). Indirekt weist also das
Lob auf eine gewisse Verwandtschaft zwischen Jean Pauls und Hoffmanns Ästhetik hin. Zu
dieser Zeit sah Jean Paul in Hoffmann noch nicht den unverbesserlichen Abschreibkünstler
seiner und Tiecks Texte.886 Wie viel Hoffmann nun Jean Paul tatsächlich verdankt, wird nach
der Untersuchung der Abenteuer der Silvesternacht auf intermediale Bezüge zur Projektionskunst zu klären sein.
Die deutlichste Markierung eines solchen Bezuges stellt eine simulierende Systemreferenz in
Hoffmanns Fantasiestück dar. Aufgrund ihrer Positionierung ist sie weitaus folgenreicher für
den gesamten Text, als man zunächst glauben möchte:
Die Frau [Wirtin] verhing den Spiegel, und nun sprang mit einer täppischen Geschwindigkeit, schwerfällig hurtig, möcht ich sagen, ein kleiner dürrer Mann [= Erasmus Spikher] herein, in einem Mantel
von ganz seltsam bräunlicher Farbe, der, indem der Mann in der Stube herumhüpfte, in vielen Falten
884
Anonymus: Literarische Nachrichten. I. Französische Literatur des eilften und zwölften Jahres (1803-1804),
in: Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung 38 (5. März 1806), 297-302, hier 298f.
885
Dazu vgl. Rossell 2008, 90f.
886
Vgl. Rellstab, Blätter der Erinnerung, Schnapp 1974, 596.
205
und Fältchen auf ganz eigene Weise um den Körper wehte, so daß es im Schein der Lichter beinahe anzusehen war, als führen viele Gestalten aus- und ineinander, wie bei den Enslerschen Phantasmagorien. (AS 334, Hervorhebung: V.R.)
Als altermediales System werden die Phantasmagorien Enslens benannt, die in ihrer Gesamtheit nicht als ein bestimmtes Medienprodukt zu werten sind.887 Der Vergleich vergegenwärtigt die Möglichkeiten der Projektionskunst anhand des optischen Balletts, in dem sich die
Figuren so pfeilschnell vervielfältigen, wie sie in ein einziges Bild wieder zusammenfallen
(vgl. Anm. 828). Spikhers Körper bekommt keine feste Form zugeschrieben. Das Tempo seiner stetigen Defiguration und Refiguration wird nicht thematisiert,888 doch sein hektisches
Herumspringen dynamisiert das Bild in der Vorstellung ungemein. Sein Springen passt zu den
wilden Tänzen der noch ungestümen Quadrillen Enslens. Die Teilkenntnis des speziellen Dispositivs (a) und die Passage (b), die unmittelbar dem zitieren Text vorangeht, dehnen die simulierende Systemreferenz zu einer teilreproduzierenden aus.
(a) Nach Ausweis der Quellen geht Enslens optisches Ballett von einer „fußlangen“, bewaffneten Figur aus. Obwohl Hoffmanns Spikher kein ausgerüsteter Krieger ist, halten die Wirtsleute ihn für den General Suworow. Für sich allein genommen überzeugt die denkbare Anspielung auf Enslens Ausgangsfigur nicht.
(b) Eher die enorme Ähnlichkeit Spikhers mit Suworow eignet sich, der Figur das Gepräge
einer Phantasmagorie zu geben. Der russische Feldherr ist mindestens über zehn Jahre tot,
wenn sich Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht abspielen. Sein Doppelgänger muss von
einem wissenden Rezipienten als ein Geist des Toten angesehen werden. Dass transmedial
darstellbare ‚Totenbeschwörungen‘ eine besonders wichtige Rolle in den Programmen von
Zauberlaternen-Vorstellungen gespielt haben, wurde bereits gezeigt. Eine Erscheinungsform
Spikhers ist die eines leichenblassen Greises (vgl. AS 335). Seine letzte Beschreibung durch
den reisenden Enthusiasten stellt ihn unverhohlen als Geist dar:
Es mochte wohl schon Morgen sein, als ein blendender Schimmer mich weckte. Ich schlug die Augen
auf und erblickte den Kleinen, der im weißen Schlafrock die Nachtmütze auf dem Kopf, den Rücken
mir zugewendet am Tische saß und bei beiden angezündeten Lichtern emsig schrieb. (AS 340)
Auch Spikhers Frau sieht in ihm zeitweise einen angsteinflößenden Geist: „Die ganze Nacht
hatte die Frau unter tausend Ängsten und Qualen zugebracht, sie behauptete fortwährend, der
Zurückgekommene sei nicht ihr Mann, sondern ein höllischer Geist, der ihres Mannes Gestalt
angenommen“ (AS 355).
887
Mit anderen Worten: Sie stehen pars pro toto für ein Dispositiv; deshalb bezeichne ich Bezüge auf Enslerische Phantasmagorien in der Erzählung nicht als Einzelrefenzen.
888
Für die Begriffe, die eine Anamorphose beschreiben, vgl. Neumann, Gerhard: Anamorphose. E.T.A. Hoffmanns Poetik der Defiguration, in: Gerhard Neumann / Andreas Kablitz (Hgg.): Mimesis und Simulation, Freiburg im Breisgau 1998, 377-417, hier 399.
206
Für sich alleine käme diesen Stellen freilich keine intermediale Qualität zu. Indem Hoffmann
eine Figur fremdmedial bestimmt, ruft fortan ihre Präsenz die simulierende Systemreferenz
mehr oder minder stark ins Gedächtnis zurück. Intratextuelle Referenzen auf das extrem
wandlungsfähige Äußere halten die Erinnerung des Rezipienten an die simulierende Systemreferenz bis in Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde hinein wach:
(1) Mit einem gemütlichen jugendlichen Gesicht sprang der Kleine herein, aber nun starrte mich das
todblasse welke eingefurchte Antlitz eines Greises mit hohlen Augen an. (AS 335)
(2) Dieser schien wie von lauter Springfedern getrieben, denn er rückte auf dem Stuhle hin und her,
gestikulierte viel mit den Händen, und wohl rieselte mir ein Eisstrom durch die Haare über den Rücken,
wenn ich es deutlich bemerkte, daß er wie aus zwei verschiedenen Gesichtern heraussah. Vorzüglich
blickte er oft den Großen, dessen bequeme Ruhe sonderbar gegen des Kleinen Beweglichkeit abstach,
mit dem alten Gesicht an, wiewohl nicht so entsetzlich als zuvor mich. (AS 355)
(3) Der Kleine schaute mich recht häßlich mit seinem alten Gesichte an, sprang aber gleich auf einen
Stuhl und zog das Tuch fester über den Spiegel, während der Große sorgfältig die Lichter putzte. (AS
336)
(4) Da sprang der Kleine wild auf, mit dem alten Gesicht und funkelnden Augen mich anstarrend […]
(AS 336)
(5) Ich weiß nicht wie es kam, daß der Kleine mir jetzt anders erschien (AS 338)
(6) Julia? krächzte der Kleine mit widriger Stimme und zuckte über sein Gesicht hin, das wieder plötzlich alt wurde. (AS 339)
(7) »Mein Herr«, sprach ich, »der Name meiner auf ewig verlorenen Liebe scheint seltsame Erinnerungen in Ihnen zu wecken, auch variieren Sie merklich mit dero angenehmen Gesichtszügen. […]« Der
Kleine richtete sich auf, sah mich mit überaus milden gutmütigen Blicken seines Jünglings-Gesichtes
an[…]. (AS 339)
(8) Die Jünglinge lachten hell auf, da Erasmus bei dem Worte »Familienvater« sich bemühte, das jugendliche gemütliche Gesicht in ernste Falten zu ziehen, welches denn eben sehr possierlich herauskam.
(AS 343)889
(9) [Giulietta:] »[…] Nicht einmal dein unstetes Bild soll bei mir bleiben und mit mir wandeln durch
das arme Leben, das nun wohl, da du fliehst, ohne Lust und Liebe bleiben wird?« (AS 349)
Im siebenten Beispiel ist die Tendenz zu bemerken, dass die Pathognomie vom reisenden Enthusiasten auf andere Figuren übertragen wird und diese dadurch ebenfalls ein physiognomisches Gepräge erhalten:
Ich fand mich, da ich den Spiegel schaute, so blaß und entstellt, daß ich mich kaum selbst wiedererkannte. – Es war mir, als schwebe aus des Spiegels tiefstem Hintergrunde eine dunkle Gestalt hervor, so
wie ich fester und fester Blick und Sinn darauf richtete, entwickelten sich in seltsamen magischem
Schimmer deutlicher die Züge eines holden Frauenbildes – ich erkannte Julien. (AS 338)
Der reisende Enthusiast erkennt sich nicht wieder, hat also ein ‚zweites Gesicht‘. Dieses
gleicht Julia, das wiederum die angenehmen Gesichtszüge Spikhers aufweisen soll. Ihr Äußeres schildert der reisende Enthusiast allerdings auch als angsteinflößend: „aber sowie du dich
beugst[,] ihr liebliches Antlitz recht nahe zu schauen, schießt aus den schimmernden Blättern
heraus ein glatter[,] kalter Basilisk und will dich töten mit feindlichen Blicken“ (AS 327f.)!
Die Wirkung dieses Blickes und Julias kühles Verhalten gegenüber dem reisenden Enthusiasten bilden den Anlass und den Ausgangspunkt des Erzählens in Abenteuer der Silvesternacht:
„Ich hatte den Tod, den eiskalten Tod im Herzen, ja aus dem Innersten, aus dem Herzen her889
In Anbetracht dieser Stelle kann man Markus May nicht beipflichten, dass der Verlust des Spiegelbildes zur
Instabilität der Gesichtszüge führt. Eine Disposition dazu ist da, ehe Spikher erstmals Giulietta begegnet. Vgl.
May 2003, 127-152, hier 149.
207
aus stach es wie mit spitzigen Eiszapfen in die glutdurchströmten Nerven“ (AS 325). Damit
weist sich der reisende Enthusiast als eine fast ‚untote‘ Figur aus, die sich gleich „Spikher /
Suworow“ in den aufgerufenen, intermedialen Rahmen „Enslerische Phantasmagorie“ problemlos einfügt.
Kommen wir auf die Ähnlichkeitsbeziehungen zurück. Der reisende Enthusiast, Spikher und
Julia sind im Konnex der zitierten Textstellen als Wiedergänger zu interpretieren. Da Julia
und Giulietta als Doppelgängerinnen schon in dem Kapitel über die Physiognomik besprochen worden sind, die den Jungfrauen auf den Gemälden Mieris und Rembrandts gleichen,
sehen sich also die wichtigsten Figuren in den Abenteuern der Silvesternacht ähnlich – und
besitzen ‚Vorbilder‘ in der Malerei. Als ein abschließender Frame bringt Postskript des reisenden Enthusiasten die daraus resultierenden Irritationen zum Ausdruck: „Was schaut den
dort aus jenem Spiegel heraus? – Bin ich es auch wirklich? – O Julia – Giulietta – Himmelsbild – Höllengeist – Entzücken und Qual – Sehnsucht und Verzweiflung“ (AS 359). Niemand
hat nur eine Physiognomie. Jeder ist sich ungleich. Die pathognomischen Variationen der
Physiognomie sind für alle Menschen gleich und machen sie einander ähnlich. Das Fokussieren auf diesen Sachverhalt ist von zentraler Bedeutung für die Intermedialität. Indem alle genannten Figuren ‚verwandt‘ mit Spikher sind, lassen sie sich als „Enslerische Phantasmagorien“ interpretieren (AS 334). Spikher wirkt wie eine Quelle der Doppelgänger, weil aus ihm
„viele Gestalten aus- und ineinander“ (ebd.) führen. Spikher als Suworow wurde wohl nicht
zu Unrecht mit Enslens ‚Start-Figur‘ des optischen Balletts in Verbindung gebracht.
Der aufmerksame Leser wird sich nun fragen, was mit Peter Schlemihl ist? Aus intertextueller
Hinsicht darf man in ihm eine Ausgangsfigur sehen. Einerseits passt er nicht in das Doppelgänger-System der Gleichung, andererseits wird er entsprechend den übrigen Haupt-Figuren
mit Gemälden in Verbindung gebracht: „Die schwarzen reichen Haare trug er gescheitelt und
von beiden Seiten in vielen kleinen Locken herabhängend, so daß er den Bildern von Rubens
glich“ (AS 333). Diese Differenz zu den anderen Figuren scheint inhaltlich motiviert zu sein.
Es wäre eine Nachlässigkeit Hoffmanns, würde Schlemihl direkt oder nur indirekt mit Gemälden Rembrandts in Verbindung gebracht; denn dieser Maler ist für seine meisterhafte Gestaltung von Licht und Schatten bekannt. Um nicht aufzufallen, drückt sich Schlemihl mit
seinem Körper seltsam an der Wand entlang (vgl. AS 333). Der Kontakt mit einer ebenen
Fläche und das Fehlen eines Figuren-Schattens laufen einer Interpretation als Projektion nicht
zuwider.
Alle Hauptfiguren weisen also Charakteristika von Phantasmagorien auf. Die Abhängigkeit
dieser folgenreichen Interpretation von nur einer simulierenden bzw. teilreproduzierenden
208
Systemreferenz der Enslerischen Phantasmagorien wirft die Frage auf, ob nicht einer Textstelle zu viel Bedeutung für das Ganze beigemessen wird? Abhilfe könnten weitere, intermediale
Systemreferenzen in Hoffmanns Werk bieten; doch eindeutige Markierungen von Elementen
des Dispositivs um Projektionsmechanismen fehlen. Das auf Rajewsky und Wolf basierende
Modell der Intermedialität führt hier in eine scheinbare Sackgasse. Neben den Fällen uneindeutig markierter, intermedialer Bezüge ignoriert es aus falsch verstandener Wissenschaftlichkeit unmarkierte Referenzen. Den Ausgangspunkt zu diesen Reflexionen bedingte die
dritte Lücke in dem Modell: die indirekten Bezugnahmen auf Fremdmedien über intratextuelle Verknüpfungen zu intermedialen Bezügen. Denkbar wären auch intertextuelle Verknüpfungen zu intermedialen Bezügen. Weshalb Intermedialität versteckt werden könnte, liegt auf
der Hand. Markierungen wirken sich oft sowohl illusionsfördernd, als auch -störend aus. Nur
unmarkierte, uneindeutige oder indirekte Systemreferenzen haben äußerst geringe, illusionsstörende Konnotationen.
Dem impliziten Autor in den Abenteuern der Silvesternacht kann es nicht um die perfekte,
d.h. totale Illusion gehen, da er eine simulierende bzw. teilreproduzierende Systemreferenz
einbaut.890 Der Leser soll durchaus mitbekommen, dass der reisende Enthusiast als Erzähler
nicht realisiert, Teil eines phantasmagorischen Geschehens zu sein. Der fiktive Herausgeber
bezeichnet ihn als „Geisterseher“ (AS 325) und wählt daher für einen Abschnitt des abgedruckten Tagebuchs die Überschrift Erscheinungen. Diese mutmaßlichen Systemerwähnungen wurden schon in Anschluss an zeitgenössische Vorstellungen des Subjekts, das sich über
Reflexionen konstituiert, thematisiert. Der „Geisterseher“ wäre eine (uneindeutige) intertextuelle Einzelreferenz auf Schillers Helden des gleichnamigen Romanfragments. Durch die Desillusionierung des Spuks, den der Geisterseher Schillers erlebt, wird das Dispositiv ‚sichtbar‘.
Insgesamt ist indirekt Bezug auf das Fremdmedium genommen worden.
Der Begriff „Erscheinungen“ ist vieldeutig und bezieht sich deshalb nicht zweifelsfrei auf
projizierte Bilder. Uneindeutig ist auch, auf welche der beiden ‚Figurenarten‘ er sich bezieht.
Der ersten kommt ein Realitätsstatus in der Welt des Textes zu, der zweiten keiner. Sie gehört
der Sphäre des Traums an. Bei den ‚realen‘ Figuren handelt es sich um den reisenden Enthusiasten und Erasmus Spikher, die im Zimmer des Gasthofes anwesend sind. Die geträumten
Gestalten werden als ‚reale‘ Figuren des Textes erkannt und dementsprechend benannt. Da
die ‚realen’ Doppelgänger-Figuren schon zu Enslerischen Phantasmagorien erklärt werden,
erweisen sich ihre geträumten Wiedergänger noch irrealer als ihre Vorbilder.
890
In Hoffmanns Sandmann wird Nathanaels Geliebte Olimpia als lebloser Automat desillusioniert. Vgl. Hoffmann, Nachtstücke, Werke 1816-1820, Bd. 3, 9-346, hier 44ff.
209
Den mutmaßlichen Systemerwähnungen ist gemeinsam, dass sie die Darstellung der Wirklichkeit in Frage stellen, ohne deren Produktion durch bestimmte Medien nahezulegen. Sie
lenken die Aufmerksamkeit auf die Dispositive der Szenen, stören aber nicht nachhaltig die
innermediale Illusionsbildung auf der Handlungsebene. Für Verunsicherung sorgen nur die
Frames: das Vorwort des Herausgebers oder die rasch überlesene Zwischenüberschrift Erscheinungen. Die simulierende bzw. teilreproduzierende Sytemreferenz auf die Enslerischen
Phantasmagorien innerhalb des Rahmens Die Gesellschaft im Keller dient dem Erzähler der
Veranschaulichung eines realen Sachverhalts, der im Modus des ‚showings‘ dargestellt, mehr
illusionsfördernd, als -abbauend wirkt. Der Erzähler ist von der Zuverlässigkeit seiner Wahrnehmung überzeugt.
Ob die geisterhaften Figuren echt oder künstlich erzeugt sind, muss das lesende Publikum
genauso entscheiden, wie das einer Projektionsvorführung. Die transmedial zu inszenierende
Spannung zwischen Wirklichkeit und dem Wunderbaren ist bereits als ein wesentlicher, dispositiver Baustein des medialen Systems „Phantasmagorie“ erkannt worden. Die mutmaßlichen Systemerwähnungen können auch als Reproduktionen eines Systembausteins angesehen
werden.
Eine Suche nach transmedialen Merkmalen von Phantasmagorien in Abenteuern der Silvesternacht bietet offenbar den Ausweg aus der ‚Sackgasse‘ der intermedialen Bezüge, deren
Vorkommen im Text endlich ist. Medienunspezifischen Charakteristika von Phantasmagorien
wurden oben bereits unter fünf Schlagwörtern subsumiert.891 Sie strukturieren im Folgenden
den weiteren Nachweis von Intermedialität des Fantasiestücks.
(1) Das Wunderbare
Das Wunderbare verspricht das Vorwort des Herausgebers mit dem „fremden Zauberreiche“,
dessen „seltsamen Gestalten“ und den dort herrschenden, „wunderbarlichen Treiben“ (alle AS
325). Wunderbar ist der Zufall, dass Julie sich in der Gesellschaft des Justizrates eingefunden
hat. Eine Fußnote bezieht sich auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte, der reisende
Enthusiast kündigt die „des Kleinen wundersame Geschichte“ an (AS 341). Er hält Schlemihl,
Spikher und sich für „absonderliche Menschen“ (AS 335), also „seltsame Gestalten“ (AS
325). Die „spukhafte“ (AS 341) Gestalt und sein Verhalten sind ungewöhnlich, im Sinne von
befremdlich und damit „unheimlich“ (AS 335). Der reisende Enthusiast sieht Spikher „verwundert“ an (ebd.). Giulietta besitzt eine geheimnisvolle Glut in ihrer Kristallstimme (vgl. AS
345) und eine wunderbare Anmut (vgl. AS 346). Mit ihrer Bitte um das Spiegelbild versetzt
sie Spikher in Verwunderung (vgl. AS 349). Dapertutto verkauft „Wunderessenzen“ (AS
891
Siehe „6.4. Die Charakteristika von Phantasmagorien – eine Zusammenfassung“
210
347). Unheimlich wird es Spikher und Schlemihl als sie der reisende Enthusiast als Unglücksgefährten benennt, die wie er wohl etwas ‚verloren‘ hätten. Sie fürchten sich genauso,
wie diejenigen, zu denen sie Furcht verbreitend kommen. Der Wirt ruft schließlich Christus
an und verschließt seine Schankstube vor „solchen Gästen“ (AS 337). Die Beispiele genügen.
(2) Übertreibungen
Die Übertreibung von Gebärden und Physiognomien bis hin zur Karikatur zeigte bereits die
Sammlung von Zitaten über Spikher. Sein wildes Herumspringen, Gestikulieren und unfreiwilliges Fratzenschneiden wirken zusammen mit seiner Spektrophobie ausgesprochen komisch. Weil das Fehlen des Spiegelbildes in der Gesellschaft mehr Angst und Aggression, als
Mitleid hervorruft, ist er „wie von lauter Springfedern getrieben“ (AS 335). Furcht und
Selbstmitleid lassen ihn nicht mehr los:
»Sie kennen nun mein grenzenloses Elend« sprach er [= Spikher], »Schlemihl, die reine gute Seele, ist
beneidenswert gegen mich Verworfenen. Leichtsinnig verkaufte er seinen Schlagschatten, aber ich! –
ich gab mein Spiegelbild ihr – ihr! – oh – oh – oh!« – So tief aufstöhnend die Hände vor die Augen gedrückt wankte der Kleine nach dem Bette, in das er sich schnell warf. Erstarrt blieb ich [der reisende
Enthusiast] stehen, Argwohn, Verachtung, Grauen, Teilnahme, Mitleiden, ich weiß selbst nicht was sich
alles für und wider den Kleinen in meiner Brust regte. (AS 340)
Pathetischer geht es fast nicht mehr von Seiten des tragikomischen Helden.892 Seine psychische Erregung lässt ihn vor dem reisenden Enthusiasten verstummen und auf dem Bett zusammenbrechen. Die geschilderte Wirkung dieses übertrieben erscheinenden Gefühlsausbruchs auf den Augen- und Ohrenzeugen lässt auf die intendierten Reaktionen bei den Lesern
schließen.
Der reisende Enthusiast ist ebenfalls eine komische und tragische Figur zugleich. Im Affekt
flieht er die Gesellschaft des Justizrates, ohne seine Straßenbekleidung für die Winternacht
angezogen zu haben. Dass er Julie „Auf ewig verloren“ (AS 330) glaubt und dass ein Kartenspieler das Pech in der Liebe verspottend, wie eine verlorene Partie L’hombre, kommentiert
(vgl. ebd.), kann Mitleid erwecken. Allerdings ist die Reaktion überzogen, wenn man das
Vorgefallene rekapituliert. Der reisende Enthusiast trifft auf eine Frau, die er vor Jahren geliebt und offenbar schon fast vergessen hat. Nicht einmal ihre Hochzeit hat er mitbekommen.
Umso mehr erstaunt seine überzogene Erwartungshaltung bei der Wiederbegegnung. Julia
soll noch immer Interesse an ihm zeigen und seine Avancen mit Liebesleidenschaft in aller
Öffentlichkeit erwidern. Ihr freundlich-distanziertes Verhalten wird bekanntlich zur Katastrophe hochstilisiert: „Ich hatte den Tod, den eiskalten Tod im Herzen“ (AS 325).
Schon der Habitus einiger Figuren lässt Übertreibung als zentrales Gestaltungsmerkmal erkennen. In den Augen des reisenden Enthusiasten verwandelt sich Julias Mann in einen spin892
Vgl. Berger1978, 106-138, hier 108.
211
nenbeinigen Frosch (vgl. AS 330), eine hässliche Karikatur.893 Schlemihl ist so groß, dass er
mit seinem Kopf gegen den Türsturz der Schankstube im Keller prallt (vgl. AS 333), Spikher
ist so klein, dass er dem reisenden Enthusiasten im Traum wie ein Eichhörnchen auf die
Schulter springt (vgl. AS 341). Dort schrumpft die Gesellschaft des Justizrates zu Zuckerfigürchen zusammen, in die unachtsam der ‚Riese‘ Schlemihl tritt, so dass sich die aufgebrachte Menge in einen Bienenschwarm verwandelt, der den reisenden Enthusiasten anfällt. Der
ebenfalls zur Zuckerfigur zusammengeschrumpfte Justizrat versucht ihn sogar mit seinem
Halstuch zu erdrosseln. Dieser Alptraum wirkt komisch, obwohl der reisende Enthusiast vor
Angst und Schrecken erwacht.
Für eine verfremdete, unrealistisch gezeichnete Wirklichkeit sorgen auch unscharfe Personenbeschreibungen. Damit sind nicht nur die schon unter dem Aspekt der Physiognomik festgestellten Leerstellen und nullwertigen Vergleiche in den Schilderungen zentraler Figuren
gemeint, sondern auch die schlechten Sichtverhältnisse in weitgehend geschlossenen Räumen.
Einen ersten betritt der reisende Enthusiast mit dem Salon des Justizrates, in dessen Haus man
Neujahr feiert: „Als ich in's Vorzimmer trat, kam mir der Justizrat schnell entgegen, meinen
Eingang in's Heiligtum, aus dem Tee und feines Räucherwerk herausdampfte, hindernd. […
Aus] der Mitte der Damen auf dem Sofa strahlte [!] mir ihre [d.h. Julias] Gestalt entgegen“
(AS 327). Einen zweiten Innenraum mit unzureichender Bewetterung stellt der Kellerausschank dar, in dem die Gäste jede Menge Tabaksqualm produzieren. Nachdem der reisende
Enthusiast sich eine Flasche Bier „nebst einer tüchtigen Pfeife guten Tabacks“ (AS 333) bestellt hat, fordert der etwas später eintreffende Schlemihl selbiges und erregt „mit wenigen
Zügen einen solchen Dampf, daß [… alle] bald in einer Wolke schwammen“ (ebd.). Letzterer
sucht offenbar damit seine Schattenlosigkeit zu verschleiern. Die Konsequenz ist, dass der
reisende Enthusiast, Schlemihl und Spikher, sowie die Wirtsleute sich in dem rudimentär ausgeleuchteten Keller nur noch als „Nebelbilder“ im Rauch wahrnehmen können. Die Vorstellung davon dürfte sehr nahe an die tatsächlich praktizierten Projektionen auf bzw. in Rauch
nahe kommen. Der Rauch lässt sich nicht als ein weiterer Anhaltspunkt für eine teilreproduzierende Systemreferenz auf die Phantasmagorien Enslens interpretieren, die von dem reisenden Enthusiasten in diesem Kontext assoziiert werden. Enslen bediente sich laut Quellen keiner ‚Nebelwände‘. Der künstliche ‚Nebel‘ in der Schankstube erklärt übrigens nicht allein,
warum Spikher einer phantasmagorischen Figur gleicht; denn einige der zitierten Stellen über
sein wandelbares Äußeres spielen sich unter normalen Sichtverhältnissen ab.
893
Dies ist nicht ungewöhnlich für Hoffmanns Stil. Vgl. Ulbrich 1969, 20 und 86ff.
212
Dapertutto und Giulietta aus der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild werden als Gebilde
aus Rauch desillusioniert: „Giulietta – Dapertutto verschwanden im dicken stinkenden
Dampf, der wie aus den Wänden quoll, die Lichter verlöschend. Endlich brachen die Strahlen
des Morgenrots durch die Fenster“ (AS 358). Wenn das Licht bei einer Zauberlaterne verlischt, bleibt bei einer Projektion auf ‚Nebel‘ nur noch Rauch übrig. Diesen macht die einfallende Morgensonne im zuvor dunklen Raum sichtbar. Natürlich kann man diese Passage auch
als ‚echten‘ Höllenspuk lesen. Teufel hinterlassen in Märchen und Sagen oft Schwefelgestank
oder Bocksgeruch, wenn man den Heiland anruft (vgl. AS 357), wie es hier geschehen ist.
(3) Die Überraschungseffekte
Die Gültigkeit des Zufallsprinzips in Abenteuer der Silvesternacht legt schon der Titel nahe.
Abenteuer lassen sich nicht planen. Im ersten Kapitel hält es noch der Erzähler für nötig auf
das überraschende, zufällige Zusammentreffen mit „fremdartig bekannten“ Figuren hinzuweisen:
[Der Justizrat] sah überaus wohlgefällig und schlau aus, er lächelte mich ganz seltsam an, sprechend:
»Freundchen, Freundchen, etwas Köstliches wartet Ihrer im Zimmer – eine Überraschung sonder gleichen am lieben Sylvester-Abend – erschrecken Sie nur nicht!« […] Durch welchen wunderbaren Zufall
sie [Julie] hergekommen, welches Ereignis sie in die Gesellschaft des Justizrats, von dem ich gar nicht
wußte, daß er sie jemals gekannt, gebracht, an das Alles dachte ich nicht – ich hatte sie wieder! (AS
327)
Die Begegnungen mit einer literarischen Figur, wie Peter Schlemihl und Erasmus Spikher in
dem Schankkeller sind völlig unvorhersehbar. Mit der Doppelbelegung eines Zimmers im
„Goldenen Adler“ treffen der reisende Enthusiast und Spikher erneut völlig unvorhersehbar
zusammen. In der intradiegetischen Erzählung erscheinen Giulietta und Dapertutto immer
wieder unerwartet an den verschiedensten Plätzen. Der Scharlatan Dapertutto ist, wie der italienische Name sagt, wirklich ‚überall‘.894
Für Überraschungen sorgen nicht nur Begegnungen von Personen, sondern auch ihr Verhalten. Spikher verlangt die Verhüllung aller Spiegel, er bittet um Tabak und schlägt dem Spender die silberne Dose aus der Hand (aus Angst vor ihrer spiegelnden Oberfläche), er fühlt sich
provoziert, als von einer perfekten Mimesis in der Malerei, der Abspiegelung der Wirklichkeit, die Rede ist. Bei seiner Reizbarkeit ist es schon fast kein Wunder, dass er in der Geschichte vom verlornen Spiegelbild in die Eifersuchts-Falle tappt und im Affekt einen Totschlag aus Notwehr begeht. Die Vergabe des Spiegelbildes als Liebespfand ist durch genügend Signale im Text vorbereitet. Man entdeckt zufällig immer wieder sein ‚Gebrechen‘, so
auch sein Sohn Rasmus.
894
Vgl. Baldes 2001, 138.
213
Für eine dritte Form von Überraschungen sorgen die Blicke des reisenden Enthusiasten in die
Gesichter anderer Figuren und den Spiegel. In rasanten Metamorphosen 895 vollziehen sich die
Wechsel in der Interpretation der Physiognomie, von belebter zu unbelebter Erscheinung
(Spikher), von Mann zu Frau (beim reisenden Enthusiasten) oder von Schön zu Hässlich (Julia). In der Vorstellung des Lesers kommt es zu Überblendungseffekten, die den Figuren einen indifferenten Status verleihen.896 Das „engelsschöne jugendlich anmutige Gesicht [Julias]
verzerrt [sich] zum höhnenden Spott“ (AS 329). Hier werden noch zwei Extreme antithetisch
einander gegenübergestellt. Am Ende der Silvesternacht pendelt die Wahrnehmung zwischen
positiven und negativen Bildern bzw. Empfindungen, deren gleichzeitiges Zutreffen es erlaubt, in ihnen eine Reihung von Paradoxa oder Oxymera zu sehen:897 „Was schaut denn dort
aus jenem Spiegel heraus? – Bin ich es auch wirklich? – O Julia – Giulietta – Himmelsbild –
Höllengeist – Entzücken und Qual – Sehnsucht und Verzweiflung“ (AS 359). Diese Bergund Talfahrt der Emotionen zeichnet sich schon zu Beginn der Abenteuer ab. 898 Auf das
weihnachtliche Stimmungshoch folgt unmittelbar ein -tief, hervorgerufen von Reflexionen
über die Vergänglichkeit. Die Überleitung erfolgt in nur einem, kurzen Satz: „Aber nach dem
Feste ist Alles verhallt, erloschen der Schimmer im trüben Dunkel“ (AS 326). Einen ebensolchen Gefühlsumschlag erlebt der reisende Enthusiast, als seine Hoffnung auf Liebesglück in
der Gesellschaft des Justizrates jäh enttäuscht wird und er von dem warmen Innenraum in die
Kälte der Winternacht entflieht (vgl. AS 330). Das sich lückenlos anschließende Kapitel überrascht mit der Beschwörung eines idyllischen Spaziergangs, die sofort mit der Erfahrung der
rauen Wirklichkeit zu Nichte gemacht wird: „Die Promenade unter den Linden ist sonst ganz
angenehm, aber nicht in der Sylvester-Nacht bei tüchtigem Frost und Schneegestöber. Das
fühlte ich barköpfiger und unbemäntelter doch zuletzt, als durch die Fieberglut Eisschauer
fuhren“ (AS 331). Hitze und Kälte kommen als extreme Temperatur-Empfindungen nebeneinander zu stehen. Auf den unterschiedlichsten Betrachtungsebenen ereignen sich harsche
‚Bildwechsel‘. Ständig kippen rein ‚zufällig‘ die Situationen. Unbarmherzig ist das Individuum seinem Schicksal ausgeliefert. Es lebt in ständiger Unsicherheit, eine unheimliche Atmosphäre der Angst wird aufgebaut, was die Beobachtungen unter den vorangegangenen Punkten bestätigen.
895
Vgl. Dahms 2012, 93.
Vgl. dieselbe, 92.
897
Vgl. Ulbrich 1969, 51f.
898
Vgl. Frenschkowski 1995, 134.
896
214
(4) Die Aktivierung von Erinnerungen und inneren Bildern
Das Visualisieren von Erinnerungen bzw. Vorstellungen899 von verstorbenen Personen durch
Phantasmagorien erforderte eine Darstellung fremdartig-bekannter Gestalten (vgl. AS* 17
und AS 325) auf den Slides, will man eine verbale Anleihe bei Hoffmanns Ästhetik in Callots
Manier nehmen. Die beiden wesentlichen Erzählinstanzen, der reisende Enthusiast und Erasmus Spikher registrieren in ihrer Umgebung erstaunlich häufig außer Mode geratene Frisuren,
Gewänder und Accessoires, obwohl sie von dem Erleben ihrer jeweiligen Gegenwart berichten. Der implizite Autor beschwört eine vergangene Welt, die für Kunstliebhaber noch in
Werken alter Meister präsent ist. Bezüge auf die Malerei dienen z.B. der Beschreibung Juliens:
das vorn an der Stirn gescheitelte, hinten in vielen Flechten sonderbar heraufgenestelte Haar gab ihr etwas altertümliches, sie war beinahe anzusehen, wie die Jungfrauen auf den Gemälden von Mieris – und
doch auch wieder war es mir, als hab' ich irgendwo deutlich mit hellen Augen das Wesen gesehen, in
das Julie verwandelt. (AS 328)
Dapertutto behauptet in der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild, Spikher sei aus einem
alten Bilderbuch entstiegen (vgl. AS 346). Über die deutschen Jünglinge in Florenz heißt es
ganz allgemein: „Die Männer gingen in zierlicher altteutscher Tracht, die Frauen waren in
bunten leuchtenden Gewändern jede auf andere Art ganz fantastisch gekleidet, so daß sie erschienen wie liebliche wandelnde Blumen“ (AS 342). Giulietta passt vollkommen in die Gesellschaft um Erasmus Spikher: „Goldne Ketten um den Hals, reiche Armbänder um die
Handgelenke geschlungen vollendeten den altertümlichen Putz der Jungfrau, die anzusehen
war, als wandle ein Frauenbild von Rubens oder dem zierlichen Mieris daher“ (AS 344).
Eine Klage über die Vergänglichkeit eröffnet die Aufzeichnungen des reisenden Enthusiasten:
Die Turmfahnen knarrten, es war, als rühre die Zeit hörbar ihr ewiges furchtbares Räderwerk und gleich
werde das alte Jahr wie ein schweres Gewicht dumpf hinabrollen in den dunkeln Abgrund. – […] Aber
nach dem [Weihnachts-]Feste ist Alles verhallt, erloschen der Schimmer im trüben Dunkel. Immer mehr
und mehr Blüten fallen jedes Jahr verwelkt herab, ihr Keim erlosch auf ewig, keine Frühlingssonne entzündet neues Leben in den verdorrten Ästen. (AS 326)
Diese Bilanz wendet sich genau den Verlusterfahrungen zu, die Enslen in seinen Phantasmagorien gestaltet: der Verlust vom geliebten Partner oder etwas Wertvollem wie einem Schatz.
Die geliebten Personen in Abenteuern der Silvesternacht sind zwar nicht gestorben, aber aus
den verschiedensten Gründen unerreichbar. Der reisende Enthusiast verliert seine Julia; Spikher verliert Giulietta, seine fromme Hausfrau und den Sohn Rasmus; Schlemihl verliert erst
Fanny, dann Mina. Peter Schlemihl hat seinen Reichtum verloren, weil er auf den Gebrauch
des Glückssäckels verzichtet hat. Der reisende Enthusiast verliert Hut, Mantel und Stock;
Spikher das Spiegelbild und Schlemihl seinen Schatten. Durch Spikher verliert ein italieni-
899
Vgl. Mazza 2005, 153-178.
215
scher Verehrer Giuliettas sein Leben, genauso wie die zahme Taube seines Sohnes Rasmus.
Dapertutto verliert einen goldenen Knopf und Giulietta eine rote Beeren-Perle. Der Verlust
von Leben und Seele steht für Spikher und Schlemihl nur im Raum. Gerade weil die verschiedensten Dinge abhandenkommen können, scheint alles vergänglich. Diese Aussage haben offenbar auch Enslens Phantasmagorien. Die Wahl der Namen Julia oder Giulietta bei
Hoffmann lässt natürlich auch an das kurze Liebesglück von Romeo und Julia bei Shakespeare denken, was dieser in Kauf nehmen musste, selbst wenn diese Namen biographisch
motiviert sein sollten. Der Dichter und Komponist hatte sich in seine Gesangsschülerin Julia
Mark verliebt, was allerdings nur die wenigsten Zeitgenossen wissen konnten.
(5) Wiederholungs- und Variationsstrukturen
Dass Wiederholungen ein wesentliches Gestaltungsmoment in Hoffmanns Werk sind, dürfte
nach der etwas öden Aufzählung der Verlusterfahrungen wieder einmal deutlich geworden
sein. Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichsten Figuren wurden in verschiedenen Zusammenhängen interpretiert und belegt. Das Doppelgänger-Motiv erfährt eine wiederholte
Anwendung. Dreierkonstellationen sind konstitutiv für die gescheiterten Beziehungen. Wer
jemanden liebt, wird von dritten Personen an dem Ausleben seiner Leidenschaft gestört und
behindert, was bisweilen zu Eifersuchtskonflikten eskaliert. Der reisende Enthusiast muss
zusehen, wie Julia von ihrem Gatten weggeführt wird. In seinem Traum tritt zwischen ihn und
die Geliebte Peter Schlemihl, um seine unglückliche Liebe zu thematisieren. Seine Verlobte
Mina hat Rascal, seinen intriganten Diener, heiraten müssen. Spikher warnt zuvor vor schönen Frauen. Die einem Erst-Leser noch unbekannte Geschichte vom verlornen Spiegelbild
wird antizipiert. In ihr sind sich Spikher und ein Italiener bei der Kurtisane Giulietta gegenseitig im Weg, was eine fatale Kampfszene und den Verlust des Spiegelbildes im Endeffekt zu
Folge hat. Während der Traumsequenz vermengen sich die parallelisierten Schicksale der
ähnlichen Figuren aus den verschiedenen Erzählebenen und dem Prätext, was sich erst nach
wiederholter Lektüre erschließt. Das rätselhafte Geschehen ist zu erklären; das Chaos zu ordnen: handelt sich um eine Zusammenfassung des Ganzen auf engstem Raum.
Zuletzt sei noch darauf eingegangen, warum ich bislang bei der Suche nach Anhaltspunkten
für die Ästhetik der Phantasmagorien die in der Erzählung geschilderten Lichtverhältnisse
ignorierte. Nicht alle aus der Finsternis hell hervortretenden Personen oder Gegenstände sind
mit Projektionen gleichzusetzen. Der Titel von E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählsammlung,
den Nachtstücken, zeigt, dass man hier auch ein anderes Bezugsmedium geltend machen
216
könnte. Mit „Nachtstücken“ wird ein eigenes Genre in der Malerei bezeichnet.900 Es vereinigt
alle Gemälde von nächtlichen Szenerien, die nur von wenigen Lichtquellen punktuell ausgeleuchtet werden. Die Abenteuer der Silvesternacht enthalten immer wieder derartige Beleuchtungs-Situationen. Der reisende Enthusiast bemerkt im „Laternenschein“ (AS 331) eine
Gruppe Soldaten, die aus deren Lichthof treten und in der Finsternis verschwinden. Auf denselben Straßenabschnitt fällt der Strahl eines „einsamen Lichts“ (ebd.) aus der Kellerschenke.
Über das erste Erscheinen Giuliettas heißt es: „aus dunkler Nacht trat in den lichten Kerzenschimmer hinein ein wunderherrliches Frauenbild“ (AS 344). Eine Art Bilderrahmen erhält
das ‚Tableau vivant‘ beim Justizrat. Julias Gestalt „strahlt“ (vgl. AS 327) dem reisenden Enthusiasten durch eine Türöffnung entgegen. Nur eine „Alabaster-Lampe“ (AS 330) erleuchtet
später das Kabinett, in dem sie auf dem Ottomane sitzt. Die Schilderung der Lichtverhältnisse
suggeriert ‚strahlende Schönheit‘ für Julia und Giulietta, ohne dass sich die Erzähler einer
abgenutzten, idiomatischen Wendung bedienen müssten. Die letzten Fälle wären also auch
rein literarisch zu erklären.
Mit dem letzten Absatz wurde deutlich, dass alle transmedialen Gemeinsamkeiten von Abenteuern der Silvesternacht mit Phantasmagorien anfechtbar sind. Weil dem Komponisten
Hoffmann Wiederholungen und Variationen aus der Musik geläufig waren901, besitzen auch
sie keine uneingeschränkte Beweiskraft für die Anwendung einer phantasmagorischen Ästhetik. Ohne die eine teilreproduzierende Systemreferenz, die durch intramediale Verfahren über
das ganze Werk ausgebreitet wird, gäbe es keine ‚eindeutigen‘ Anknüpfungspunkte für die
aufgezeigten, transmedialen Charakteristika von Projektionsvorführungen. Im Endeffekt
durchsetzen teilreproduzierende Systemreferenzen den kompletten Text. Der reisende Enthusiast nimmt weitestgehend unbewusst seine Umwelt als Phantasmagorie wahr, obwohl er sich
in keiner Projektionsvorstellung befindet. Wie kommt das oder was wird damit bezweckt?
Der Mensch erlebt seine eigenen Wirklichkeitskonstrukte an Stelle der Realität, die fatalerweise darin zu einem nicht bestimmbaren Ausmaß enthalten ist. Darauf weist der fiktive Herausgeber im Vorwort hin: „Der reisende Enthusiast[…] trennt offenbar sein inneres Leben so
wenig vom äußern, daß man beider Grenzlinie kaum zu unterscheiden vermag“ (AS 325). In
dem Satz wird die Perspektive vom Textproduzenten auf die Rezipientenseite gewechselt. Der
reisende Enthusiast kann oder will nicht sein Innenleben gegen das Geschehen von der Umwelt abgrenzen. Die Trennung von Innen und Außen erwartet man aber seitens des fiktiven
Herausgebers und des antizipierten Rezipienten. Obwohl sie keine zuverlässigen Unterschei900
Vgl. Leopoldseder, Hannes: Groteske Welt. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Nachtstücks in der
Romantik, Bonn 1973, 18ff.
901
Vgl. Frenschkowski 1995, 156 und von Wilpert 1978, 58.
217
dungskriterien von Wirklichkeit und Realität besitzen, glauben sie diese voneinander trennen
zu können:
Unser sogenanntes intensives Leben wird von dem extensiven bedingt, es ist nur ein Reflex von diesem,
in dem aber die Figuren und Bilder wie in einem Hohlspiegel aufgefangen, sich oft in veränderten Verhältnissen und daher wunderlich und fremdartig darstellen, unerachtet auch wieder diese Karikaturen im
Leben ihre Originale finden. (AS* 187)
Fremdartige Karikaturen kann es auf beiden Seiten des Wahrnehmungsprozesses geben. Diese Passage aus dem Magnetiseur, der in den Fantasiestücken noch lange vor den Abenteuern
der Silvesternacht abgedruckt ist, verwendet zur Veranschaulichung des Wahrnehmungsmodells einen Hohlspiegel.902 Dies ist bekanntlich das zentrale Bauteil des zweiten Zauberlaternen-Bautyps, der hier als pars pro toto in Erscheinung tritt. Mit dem Zitat soll das Wunderbare gegenüber aufklärerischen Positionen im Magnetiseur verteidigt werden, wozu sich der
Sprechende auf die aufklärerischen, anthropologischen Vorstellungen seiner Gesprächspartner
einzustellen sucht. Der Mensch ist für ihn keine Maschine, weder Automat, noch Zauberlaterne. Im Kater Murr, einem Spätwerk Hoffmanns, wird eine teilreproduzierende Systemreferenz auf eine ‚reale‘ Zauberlaternenprojektion als Desillusionierung beklagt. Die Beschreibung des Dispositivs zerstört das Wunderbare:
Aber kaum hatte Kreisler [mit der Erzählung von seinem Doppelgänger] geendet, als Meister Abraham,
laut lachend, rief: Da sieht man den eingefleischten Fantasten, den vollendeten Geisterseher! – […] Und
was Euern Doppeltgänger betrifft, der im Schimmer meiner Astrallampe neben Euch her lief, so will ich
Euch sogleich beweisen, daß, sobald ich nur vor die Tür trete, auch mein Doppeltgänger bei der Hand
ist, ja, daß ein jeder, der zu mir hineintritt, solch einen Chevalier d'Honneur seines Ichs, an der Seite leiden muß.
Meister Abraham trat vor die Türe, und sogleich stand in dem Schimmer ein zweiter Meister Abraham
ihm zur Seite.
Kreisler merkte die Wirkung eines verborgenen Hohlspiegels, und ärgerte sich wie jeder, dem das
Wunderbare, woran er geglaubt, zu Wasser gemacht wird. Dem Menschen behagt das tiefste Entsetzen
mehr, als die natürliche Aufklärung dessen, was ihm gespenstisch erschienen, er will sich durchaus
nicht mit dieser Welt abfinden lassen; er verlangt etwas zu sehen aus einer andern, die des Körpers nicht
bedarf, um sich ihm zu offenbaren.903
Dies erklärt möglicherweise die Zurückhaltung Hoffmanns bei der Markierung intermedialer
Bezüge. Sobald ein Phänomen rational erklärt wird, ist es nicht mehr wunderbar, sondern nur
noch wunderlich.904
Meister Abrahams Scherz ist nicht so harmlos, wie man denken könnte. Mit dem zweiten
Kreisler erschrickt er den bekanntermaßen psychisch instabilen Kapellmeister und Komponisten. Dieser medial erzeugte Doppelgänger wäre nicht in der Lage den Prototypen überall zu
ersetzen. Diese Horrorvision ließe sich eher mit einem Automaten als künstlich erzeugten
902
Der goldene Topf in Hoffmanns gleichnamigen Fantasiestück ist ein Hohlspiegel! Vgl. Driesen 1997, 40f.
Hoffmann, E.T.A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr, in: ders.: Werke 1820-1821, Bd. 5. Hg. v. Hartmut
Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen, Frankfurt a. M. 1992, 9-458, hier 183.
904
So Hoffmann, Bezug nehmend auf Eberhards Synonymik, in dem Öden Haus. Vgl. Hoffmann, E.T.A.:
Nachtstücke[,] herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier, in: ders.: Nachtstücke,
Klein Zaches, Prinzessin Brambilla. Werke 1816-1820, Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v.
Gerhard Allroggen, Frankfurt a. M. 1985, 9-346, hier 164.
903
218
Menschen, wie man ihn als Leser im Sandmann vorgeführt bekommt, umsetzen.905 Der von
Meister Abraham erzeugte Doppelgänger besitzt keine selbstständige Existenz. Er ist auf die
Präsenz seines Prototypen, eines (Hohl-)Spiegels, einer Lichtquelle und einer Projektionsfläche angewiesen. Zudem muss es dunkel sein. Die Idee eines selbstständigen DoppelgängerPhantoms blitzt dagegen in den Abenteuern der Silvesternacht als Vision eines zukünftigen
Mediums auf. Der „Ciarlatano“ (AS 347) und „Wunderdoktor“ (AS 346) Dapertutto macht
als Fluchthelfer Spikher folgendes Angebot:
»[…]. Fatal ist es zwar, daß Ihr Giulietta habt verlassen müssen, aber doch könnte ich wohl, bliebet Ihr
hier, Euch allen Dolchen Eurer Verfolger und auch der lieben Justiz entziehen.« […] »Ich kenne [….]
ein sympathetisches Mittel, das Eure Verfolger mit Blindheit schlägt, […] welches bewirkt, daß Ihr
ihnen immer mit einem andern Gesichte erscheint und sie Euch niemals wieder erkennen. So wie es Tag
ist werdet Ihr so gut sein recht lange und aufmerksam in irgend einen Spiegel zu schauen, mit Euerm
Spiegelbilde nehme ich dann ohne es im mindesten zu versehren gewisse Operationen vor und Ihr seid
geborgen, Ihr könnt dann leben mit Giulietta ohne alle Gefahr in aller Lust und Freudigkeit[…]« (AS
350f.)
Es ist anzunehmen, dass der dämonische ‚Zuhälter‘ der Kurtisane Giulietta, auch die Kunst
anderen Leuten das Spiegelbild wegzunehmen, versteht. Seine ‚Hilfsbereitschaft‘ hat den
Zweck, sich über Giuliettas Erfolg bzw. Misserfolg zu informieren. Wenn Spikher das „Liebespfand“ Spiegelbild doch noch besäße, könnte er es sich nun unter einer neuen Motivation
aneignen. Natürlich versehrt Dapertutto das Spiegelbild, wenn er es als Ganzes aus dem Spiegel löst. Der Spiegelbild-Doppelgänger braucht keiner Bildbearbeitung unterzogen zu werden,
wenn Dapertutto mit einem ‚ferngesteuerten‘ Spikher Schicksal spielen und die Verfolger
foppen will. Das Äußere des Prototypens gleicht nicht mehr dem Spiegelbild; denn es verändert bekanntlich permanent seine Gestalt.
Die Technik ist zu Hoffmanns Zeiten allerdings noch nicht so weit. Bestenfalls können Abbilder des Abbilds aus dem Spiegel „gestohlen“ werden. Wie schon oben erwähnt, bedienten
sich die Maler der Camera obscura (mit Spiegelsystemen), um Skizzen für Gemälde anzufertigen. Auf diese Möglichkeit weist die komisch anmutende Auseinandersetzung über das Bild
der Prinzessin hin, die der reisende Enthusiast durch sein Lob auslöst: „man möchte sagen, [es
ist] wie aus dem Spiegel gestohlen“ (AS 336). Ob der Maler Philipp wirklich ein großer
Künstler ist, oder nur mit einer Lochkamera ein ‚Foto‘ gemacht hat, ist dabei völlig belanglos.
Mimetische Kunst ist gefährlich. Wer in ihr die Meisterschaft erlangt, kann nach seiner Willkür die Wirklichkeit manipulieren. Ausgerechnet ihr erstes, fiktives Opfer streitet diese Gefahr ab: „Das ist albern, das ist toll, wer vermag aus dem Spiegel Bilder zu stehlen?“ (ebd.) Es
will unerkannt bleiben.
905
Vgl. Hoffmann, Nachtstücke, Werke 1816-1820, Bd. 3, 9-346, hier 11ff.
219
In einem übertragenen Sinn wird der Missbrauch von „Kunst“ auch im Magnetiseur reflektiert.906 Der Magnetiseur Alban versucht Maria, die Schwester seines ihm blind vertrauenden
Freundes Ottmar, im Laufe einer magnetischen Behandlung ihres Nervenleidens in seine Gewalt zu bekommen. Sie soll ihren geliebten Verlobten vergessen und seine Geliebte werden.
Als sie sich dagegen wehrt, führt er durch magnetische Mittel ihren Tod herbei. Der Bruder
unterliegt in dem folgenden Duell; der Vater stirbt aus Gram; eine ganze Adelsfamilie ist am
Ende ausgelöscht.
Wer die Macht über Menschen-Bilder erlangt, wird diese über andere Menschen ausüben wollen. Natürlich kann er auch uneigennützig handeln, wie Zauberlaternen-Manipulationen in
Hoffmanns Brautwahl zeigen.907 Der Goldschmied Leonhard erfindet einen Aberglauben, um
einen Geheimen Kanzleirat namens Tusmann von seinen Heiratsabsichten abzubringen. Dieser will die schöne, junge und reiche Veronika Voßwinkel freien, obwohl er ein 48 Jahre alter
„Pavian“ ist.908 Leonhard hat mit der Braut und ihrem Geliebten, seinem Schützling, dem Maler Edmund Lehsen, Mitleid. Er versucht Schicksal zu spielen. Dazu passt er den berechenbaren Pünktlichkeits-Fanatiker Tusmann ab und klopft zur Tag- und Nachtgleiche im Herbst
Punkt elf Uhr an die Tür des Berliner Rathaus-Turmes. Wenn man diese Handlung zu dem
Zeitpunkt vollbringt – so behauptet er – erschiene im Fenster die künftige Braut. Tatsächlich
erscheint dort kurz Veronika Voßwinkel. Der eifersüchtige, ‚ver-bildete‘ Tusmann ist aber
nicht so einfach zu täuschen und kocht bald vor Eifersucht:
Ich glaube gar, Sie wollen mich äffen durch allerhand Künste und vermessen sich, die Demoiselle Albertine selbst lieben zu wollen, und haben die Dame porträtiert auf Glas und mir mittelst einer Laterna
magica, die Sie unter dem Mantel verborgen, das angenehme Bild am Rathausturm! – O mein Herr,
auch ich verstehe mich auf solche Dinge, und Sie verfehlen den Weg, wenn Sie glauben, mich durch Ihre Künste, durch Ihre groben Redensarten einzuschüchtern. 909
Auf seine Kosten rettet Meister Leonhard schließlich das Paar: er inszeniert die Titel gebende
Brautwahl-Lotterie. Dafür ist natürlich im Endeffekt der Dichter verantwortlich. Er könnte
auch alle sterben lassen, wie im Magnetiseur. Hier ist es möglich noch einmal auf Kittler zurückkommen (s.o.): Der Autor manipuliere mit der Erzeugung des ‚inneren Films‘ den Leser.
Der implizite Autor zeigt sich also moralisch von der besten Seite, wenn er dem fiktiven Herausgeber in Abenteuern der Silvesternacht einen Warnhinweis bezüglich der Illusionsbildung
in den Mund legt. In Schillers Geisterseher wird der protestantische Erbprinz mittels Zauberlaternen-Projektionen zum politisch sicherlich folgenreichen Konfessionswechsel gebracht
906
Jean Paul sah offenbar in der Heilkunst keine Kunst. In der Vorrede der Fantasiestücke kritisiert er die Titelwahl der Erzählsammlung und plädiert für ihre Umbenennung in „Kunstnovellen“; nur der Magnetiseur würde
dann aus dem Rahmen fallen. Vgl. AS* 12.
907
Vgl. Hoffmann, Die Brautwahl, in: Die Serapions-Brüder, Bd. 4, Sämtliche Werke, 639-719.
908
Ders., 645.
909
Ders., 653.
220
(s.o.) – Weniger spektakulär nimmt sich in der Realität die Idee des Gothaer Buch- und
Kunsthändlers Steudel aus, mittels projizierter Bilder Kinder in Natur- und Länderkunde zu
unterrichten (s.o.).
221
7.2. Die Suche nach einer Ästhetik der Phantasmagorien in Chamissos Peter Schlemihl
Intermediale Bezüge zur Laterna magica sind nirgendwo in Peter Schlemihls wundersamer
Geschichte markiert. Mit dem erarbeiteten Katalog transmedialer Merkmale phantasmagorischer Ästhetik soll dennoch Chamissos Werk auf etwaige Referenzen zur Projektionskunst
durchmustert werden; denn Hoffmann könnte sie von ihm übernommen haben.
(1) Das Wunderbare
Das im Titel versprochene Wunderbare in Peter Schlemihls wundersame Geschichte sind die
märchenhaften Züge der Handlung und ihrer ‚Requisiten‘, die Benno von Wiese bei dem Versuch, die Gattung Märchen-Novelle in der Literaturwissenschaft zu etablieren,910 zu Genüge
besprochen hat, wie das Abschneiden des Schattens, die unerschöpfliche Geldbörse, die Tarnkappe und Siebenmeilenstiefeln. Letztere ermöglichen, dass die Handlung auch an exotischen
Schauplätzen spielt. „Wunderbar“ (s. Zitat) ist schließlich die Mobilität, die letztendlich der
Erzähler erlangt:
Ich war in meinen Gedanken sehr vertieft, und sah kaum, wo ich den Fuß hinsetzte, […]. Ich war noch
keine zweihundert Schritte gegangen, als ich bemerkte, daß ich aus dem Wege gekommen war; ich sah
mich […] um, ich befand mich in einem wüsten, uralten Tannenwalde[…]. Ich drang noch einige
Schritte vor, ich sah mich mitten unter öden Felsen, die nur mit Moos und Steinbrecharten bewachsen
waren, und zwischen welchen Schnee- und Eisfelder lagen. Die Luft war sehr kalt, ich sah mich um, der
Wald war hinter mir verschwunden. Ich machte noch einige Schritte – um mich […] dehnte sich das
Eis[…]. Die Kälte war unerträglich. [… Der] erstarrende Frost zwang mich, meine Schritte zu beschleunigen, ich vernahm nur das Gebrause ferner Gewässer, ein Schritt, und ich war am Eisufer eines
Ozeans. Unzählbare Herden von Seehunden stürzten sich vor mir rauschend in die Flut. Ich folgte diesem Ufer, ich sah wieder nackte Felsen, Land, Birken- und Tannenwälder, ich lief noch ein paar Minuten gerade vor mir hin. Es war erstickend heiß, ich sah mich um, ich stand zwischen schön gebauten
Reisfeldern unter Maulbeerbäumen. Ich setzte mich in deren Schatten, ich sah nach meiner Uhr, ich hatte vor nicht einer Viertelstunde den Marktflecken verlassen, […]. Ich hörte vor mir seltsame Sylben
durch die Nase zählen; ich blickte auf: zwei Chinesen, an der asiatischen Gesichtsbildung unverkennbar, wenn ich auch ihrer Kleidung keinen Glauben beimessen wollte, redeten mich mit landesüblichen
Begrüßungen in ihrer Sprache an; ich stand auf und trat zwei Schritte zurück. Ich sah sie nicht mehr, die
Landschaft war ganz verändert: Bäume, Wälder, statt der Reisfelder. Ich betrachtete diese Bäume und
die Kräuter, die um mich blühten; die ich kannte, waren südöstlich asiatische Gewächse; ich wollte auf
den einen Baum zugehen, ein Schritt – und wiederum alles verändert. Ich trat nun an, wie ein Rekrut,
der geübt wird, und schritt langsam, gesetzt einher. Wunderbar veränderliche Länder, Fluren, Auen,
Gebirge, Steppen, Sandwüsten, entrollen sich vor meinem staunenden Blick: es war kein Zweifel, ich
hatte Siebenmeilenstiefel an den Füßen. (PS 71f., alle Formen von Hervorhebungen: V.R.)
Mit den Unterstreichungen sind in dem zitierten Abschnitt die Orts- und Landschaftswechsel
markiert worden, die hauptsächlich sehend wahrgenommen werden. Dazugehöriges Temperaturempfinden und akustische Reize suggerieren eine ganzheitliche Erfahrung der Umwelt.
Dass derartige Bildfolgen damals mit Zauberlaternen-Slides projiziert wurden, ist bereits gesagt worden. Ob gezielt Medien-Erfahrungen bei den Rezipienten aufgerufen werden sollten,
lässt sich natürlich nicht beweisen. Eine entsprechende Lektüre ist im Bereich des Möglichen.
Relativ rasche Bildwechsel kannte man nur aus Projektionsmedien. Man hastete sicherlich
910
Vgl. Wiese 1967, 97-116, hier 116.
222
nicht durch Gemäldegalerien oder blätterte rasant durch die ohnehin äußerst teuren, nicht jedermann zugänglichen Vorformen moderner Bildbände. Nur bei Phantasmagorien, Theaterund Musikaufführungen kann das Publikum die Rezeptionsgeschwindigkeit nicht selbst bestimmen.
(2) Übertreibungen
Schlemihl verbreitet mit seiner Schattenlosigkeit überall Angst und Schrecken, obwohl von
ihr an sich keine Gefahr ausgeht. Auf diese Überreaktionen seiner Mitmenschen reagiert er
entsprechend heftig. Das führt zu tragischen und komischen Situationen zugleich, abhängig
von der eingenommenen Perspektive.911 Obwohl ihn Ordnungshüter aller Art verfolgen, er
„dem Hohn der Jugend“ (PS 32) und der „hochmütige[n] Verachtung der Männer“ (ebd.) ausgesetzt ist, bekunden die Frauen „oft das tiefste Mitleid“ (ebd.) mit ihm. Daraufhin fließen
Tränen in Strömen; die Reue über das unbedachte Verkaufen des Schattens, das Selbstmitleid
und die Verzweiflung kennen keine Grenzen (vgl. PS 34). Dies wirkt fast ebenso komisch,
wie die vielen Maßnahmen, die ergriffen werden, um die Andersartigkeit zu vertuschen.
(3) Überraschungseffekte
Was alles die Rocktasche des grauen Mannes enthält, dürfte den Leser genauso wie Schlemihl
überraschen (vgl. PS 24ff.). Die plötzlichen Entdeckungen der Schattenlosigkeit des Protagonisten (vgl. PS 38 und 47ff.) sind ebenso unvorhersehbar wie der Kauf der Siebenmeilenstiefel (vgl. PS 70ff.), Schlemihls Unfall mit dem Schuhwerk und die Einlieferung in das Schlemihlium (vgl. PS 75f.).
(4) Die Aktivierung von Erinnerungen und inneren Bildern
Schlemihl macht eine ganze Reihe nachhaltiger Verlusterfahrungen durch, die er schließlich
als Erinnerungen zu Papier bringt. Er trauert seiner noch lebenden Geliebten Mina nach, die
ihm in aufrichtiger Liebe zugetan war – im Gegensatz zur ebenfalls ‚verloren‘ gegangen Kokette Fanny. Auch seinen Diener Bendel vermisst er als Freund. Mina und Brendel leiden wie
Schlemihl an seinem Unglück und können ihn nicht vergessen. Mit dem Verkauf des Schattens verliert er die normale, bürgerliche Existenz. Vor diesem Hintergrund schmerzt die
Rückgabe der kurzfristig eroberten Tarnkappe an den Grauen kaum, zumal sie das Problem
seiner Schattenlosigkeit nur gemildert hätte. Erst das Verzichten ermöglicht eine Durchbrechung des Teufelskreises, in dem ein Verlust den nächsten nach sich zieht. Schlemihl opfert
Liebe und Freundschaft, indem er auf den Schatten und den Reichtum verzichtet. Sein Seelenheil rettet er zwar, aber seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein.
911
Vgl. Wilpert 1978, 42.
223
(5) Wiederholungs- und Variationsstrukturen
Die Verlusterfahrungen häufen sich, beziehen sich auf Personen, materielle und immaterielle
Dinge. Die wiederholte Entdeckung der Schattenlosigkeit des Antihelden erfolgt unter verschiedenen Gegebenheiten, die Umstände werden also variiert. Gleiches gilt auch für das
Fluchtmotiv, dessen erster Einsatz sogar dem Schattenverkauf vorangeht.
Obwohl sich in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte zu jedem transmedialen Phantasmagorien-Merkmal Textstellen anführen lassen, verweisen sie in ihrer Gesamtheit auf eine
‚mediale Mimesis‘ der Projektionskunst mittels Zauberlaternen. Das eher punktuelle Vorkommen möglicher Anknüpfungspunkte in dem ausgedehnten Werk steht einer solchen
Textwahrnehmung allerdings entgegen. Erklärt sich dies daraus, dass der Text eher Allusionen an das zeitgenössische Schattentheater wecken soll?912 Dies wurde immer wieder behauptet, aber nicht anhand des Textes signifikant belegt. War hier der Wunsch der Vater des Gedankens? Da sich das Kapitel mit Projektionsmedien in der Literatur befasst, kann dieser Frage in einem Exkurs nachgegangen werden. Schließlich ist das Schattentheater auch eine Projektionskunst.
Exkurs: Chamisso – ein Schattenspieler?
In bewährter Weise sollen hier die geschichtlichen Erscheinungsformen des Dispositivs in
Europa und seine vorwiegende literarische Rezeption durch die romantischen Dichter untersucht werden, ehe nach etwaigen intermedialen Bezügen in Chamissos Peter Schlemihl gesucht wird.
Das Dispositiv des Schattentheaters zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit der Projektionskunst der Phantasmagoren, wie nachfolgende Skizze zeigt. Eine senkrechte Leinwand trennt
einen dunklen Zuschauerbereich von dem Aktionsraum der Mitwirkenden, der für die hier nur
mögliche Rückprojektion hell ausgeleuchtet sein muss. Jeder Körper, der sich im Lichtkegel
zwischen Beleuchtung und Leinwand befindet, erscheint als Schatten auf dem ‚Bildschirm‘.
Diesen gilt es zu manipulieren – durch eine Veränderung des Umrisses vom ‚Schattenspender‘ oder dessen Positionierung zwischen Lichtquelle und ‚Membran‘. Je weiter das Schatten
erzeugende Objekt von der Leinwand sich entfernt, desto größer, und unschärfer wird die Figur auf derselben Leinwand. Von der Menge des Streulichtes hängt es ab, ob sie schwarz oder
grau erscheint.913
912
Vgl. Braun 2007, 153 und 161f.
Vgl. Werle-Burger, Helga: Die Kultur des Schattentheaters in Asien, in: Helga Werle-Burger / Gerd Eversberg (Hgg.): Helga Werle-Burger / Gerd Eversberg (Hgg.): „Ombres chinoises“. Schattentheater in Eurasien
(Kataloge der Museen in Schleswig-Holstein 2), Husum 1992, 11-37, hier 13. Die grau-schwarze Monochromie
913
224
Schattentheateraufführungen sind in ganz Europa schon lange vor der Ausbreitung der Pariser
Silhouetten-Mode bezeugt.914 Das Schattenspiel scheint sich von Asien nach Westen hin ausgebreitet zu haben. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts tritt das Medium als ‚Volksbelustigung‘
an den Straßenecken Roms und Neapels in Erscheinung.915 Als Jahrmarktsattraktion gelangten die sogenannten „italienischen Schatten“ nach Deutschland und wenig später nach Frankreich, wo sie bald aufgrund ihrer mutmaßlichen Herkunft als „Ombres chinoises“ bezeichnet
wurden.916 Der Namen setzte sich durch, als diese Unterhaltungsform durch adeliges Interesse
um 1800 ‚salonfähig‘ wurde.917 Längst war die Professionalisierung der reisenden Schattenspiel-Ensembles so weit vorangeschritten,918 dass es sie in geschützte Innenräume, wie die
Schankstuben von Wirtschaften zog.919 Den Adel, der im Rokoko sich an Chinoiserien920 und
Schäferspielen ergötzte, zog die Exotik des ‚volkstümlichen‘ Schattenspiels an. Der Lothringer Francois Séraphine Dominique (1747 - 1800) eröffnete 1772 in Versailles ein erstes, festes Schattentheater, das 1784 mit königlicher Genehmigung in eine der Galerien des Palais
Royal in Paris umziehen durfte, dort die Französische Revolution überstand und als Familienunternehmen bis 1870 überlebte.921 Bislang war die Rede von künstlerischen Darbietungen
der europäischen Schatten muss betont werden, da die asiatische Spieltradition farbige Schatten kennt. Die Figuren werden z.B. in Japan und China aus dünnen, transparenten Tierhäuten gefertigt, die bunt eingefärbt werden.
In Indonesien existieren auch ‚schwarze‘ Schatten, weil man nur dicke Wasserbüffelhaut für die Figuren verwendet. Da an den javanischen Sultanspalästen die Zuschauer nach Geschlechtern getrennt beiderseits der Projektionswand saßen, wurden (und daher: werden) die Figuren trotzdem bemalt. Die Frauen bekamen die Schatten, die Männer die Figuren zu sehen. Vgl. dieselbe, 11-37, hier 17f. Die europäischen Figuren wurden aus robustem Material, hauptsächlich Pappe und Blech, gefertigt. Vgl. Eversberg, Gerd: Zur Geschichte des Schattentheaters in Deutschland, in: Werle-Burger / Eversberg 1992, 38-42, hier 38.
914
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung des fast ausgestorbenen europäischen Schattentheaters bricht mit
den Grundlagenforschungen des Orientalisten Prof. Dr. Georg Jacob nahezu ab, was m.E. an den extrem raren,
knappen, weit verstreuten Textquellen und den noch selteneren Sachzeugnissen liegt. Vgl. Jacob, Georg: Geschichte des Schattentheaters im Morgen- und Abendland. Hannover 21925. Jüngere Publikationen sind zwar
besser als Jacobs Werk illustriert, konnten aber sein Wissen über das Schattenspiel vor 1900 kaum noch bereichern.
915
Vgl. Dunkel, Peter F.: Schattenfiguren – Schattenspiel. Geschichte – Herstellung – Spiel, Köln 1984, 159.
916
Vgl. ebd.
917
Vgl. ders., 161. Manche Schattenspieler warben sogar damit, dass sie angeblich vor Adeligen gespielt haben.
Vgl. Eversberg, Gerd: Dokumente zum Schattenspiel in Deutschland bis 1820, in: Werle-Burger / Eversberg
1992, 43-56, hier 46f.
918
Der Hinweis auf Bühnenbilder oder Gemälde, die durch ein Ölbad zum transparenten Projektionsschirm gemacht worden sind, deutet auf eine Perfektionierung der Theaterform hin, die wohl auch gesteigerten optischen
Erwartungen von Seiten des Publikums nachzukommen sucht. Vgl. Dunkel 1984, 163, Eversberg 1992, 38-42,
hier 39 und Paërl, Hetty: Schattenspiel und das Spielen mit Silhouetten, München 1981, 48ff. Schon für Jahrmarktsaufführen sind Drehleier und Leierkasten als Begleitung der melodramatischen Textrezitation bekannt.
Vgl. Dunkel 1984, 167.
919
Vgl. Eversberg 1992, 43-56.
920
Vgl. Paërl 1981, 43.
921
Vgl. ders., 44ff., Dunkel 1984, 172 und Straßer, René: Das literarische Schattenspiel. Schatten-, Farben- und
Lichtspiel. Ein Beitrag zu einem wenig beachteten Kapitel deutscher Literatur- und Theatergeschichte, Frankfurt
a. M. 1984, 9f.
225
mit ca. 30 cm hohen Spielfiguren,922 deren schemenhafte ‚Doppelgänger‘ auf der Leinwand
erschienen. Parallel dazu existierte aber auch eine zweite, nur regional erfolgreiche Variante,
bei der der menschliche Körper, Tiere und Gegenstände die Spielfiguren aus toter Materie
ersetzten.
Letzteres ist erstmals in der Didaktik greifbar. Ein Schüler Rembrandts, Samuel van Hoostraten (1627-1678), wollte im südholländischen Dodrecht seinen Schülern die Beziehungen zwischen Licht und Schatten für ihre zu verfertigen Werke begreiflich machen.923 Aus diesem
Grund ließ er auf einer Dachboden-Bühne Odyssee-Bearbeitungen hinter einem bemalten
Projektionsschirm aufführen.924 Durchgesetzt hat sich die Unterrichtsmethode wohl nicht,
doch eine Abbildung, bei der die Spieler mit einer möglicherweise lebendigen Ziege hantieren, hat sich erhalten.925 Schattentheater mit lebenden Menschen ist sonst nur noch aus Spanien bekannt, für das man 1767 sogar ein erstes Textbuch in Paris verlegte: L’heureuse pêche
(Der glückliche Fisch).926 Weitaus populärer muss als Stück aber Die Operation gewesen
sein: Auf einem Tisch liegt rücklings ein Patient, aus dessen aufgeschnittenen Bauch der Chirurg allerlei Gegenstände holt, die in Wahrheit auf dem Tisch hinter dem Patienten liegen.927
Auch beim Schattenspiel mit Figuren ‚zauberte‘ man allerlei Dinge aus dem ‚Sichtschatten‘
der Spielfiguren. Der bereits erwähnte Séraphin Dominique setzte Verwandlungsfiguren in
seinem Kassenknüller Zauberer Rothomango ein.928 Durch Ausklappen von Figurenteilen
konnte ein Junge Eselsohren bekommen, eine Schäferin einen Katzenkopf erhalten oder ein
Vielfraß zum weidenden Esel werden.929 Mit dem Versprechen exotischer Tiere aus allen vier
Erdteilen und malerische Städteprospekte erwecken andernorts die nur typographisch gestalteten Theaterzettel die Neugier.930 Gezeigt wurden kurze Szenen, abendfüllende Dramen und
Tänze. Bei den dargestellten Episoden handelt es sich um Raubüberfälle auf offener Straße,
spanische Betrüger, Kranke im Bett, auf ihren Vorteil bedachte Wirte, die Züchtigung von
Kindern, Schlittenfahrten, Zauberkunststücke, Brückeneinstürze, Schiffsunglücke, Enten- und
Löwenjagten.931 Neben Komödien, Burlesken, Possen mit Hans-Wurst-Gestalten, kamen etwa
922
Das Spektrum reichte von der Silhouette am Führungsstab bis zu flachen Gliederfiguren, die mit Drähten oder
Holzstäbchen von unten her bewegt wurden Hampelmann- und Marionettentechnik sind ebenfalls denkbar. Vgl.
Jacob 1925, 170, Dunkel 1984, 159ff. und Eversberg 1992, 38-42, hier 39.
923
Vgl. Dunkel 1984, 177 und Paërl 1981, 42ff.
924
Vgl. ebd.
925
Vgl. ebd.
926
Vgl. Paërl 1981., 59.
927
Vgl. ebd. und Dunkel 1984, 176.
928
Vgl. Paërl 1981, 46.
929
Vgl. ebd.
930
Vgl. Eversberg 1992, 43-56.
931
Vgl. ebd.
226
in gleichem Maße biblische Stoffe zur Aufführung.932 Frömmigkeit und Unterhaltungsbedürfnis dürften die Dramatisierungen von ‚Volksbüchern‘ oder entsprechenden Sagen gleichermaßen abgedeckt haben: Faust, Genoveva und Don Juan. Tänze, Ballette, später Singspiele
und Opern lassen auf eine zunehmende Bedeutung des (kammer-) musikalischen Elements
schließen.933 Besonders populär muss der Faust-Stoff im ‚deutschen‘ Schattentheater gewesen
sein.934
Jenseits der ‚öffentlich-kommerziellen‘ Schattenspiele sind um 1800 in ‚bürgerlichen‘ Kreisen mehr oder minder stark improvisierte Vorstellungen anzunehmen, denn Zeugnisse liegen
nur aus dem Umkreis bekannterer Dichter vor. Anlässe für Aufführungen waren offenbar private Feierlichkeiten. So ist bekannt, dass man Goethe zum 33. Geburtstag ein Schattenspiel
mit ‚lebendigen Schauspielern‘ darbot.935 Clemens Brentano schmiedete selbst Verse für ein
komisches Schattenspiel zum Geburtstag seiner ehemaligen Erzieherin Claudine Piautaz am
19.März 1803.936 Sein Bruder Christian Brentano schrieb 1816 Der unglückliche Franzose
oder Der Deutschen Freiheit Himmelfahrt, eine Satire auf Napoleon, die die Bildlichkeit zeitgenössischer Karikaturen aufgreift und lose zu einer Handlung montiert.937 Der befreundete
Achim von Arnim veröffentlichte in der Schaubühne, einer Sammlung ‚volkstümlicher‘ Dramentexte, das Das Loch oder Das wiedergefundene Paradies.938 Dieses Schattenspiel schöpft
die Möglichkeiten des Mediums mit zahlreichen Verwandlungen von Figuren und Schauplätzen aus. Auch in ihm kommt die Komik nicht zu kurz. Das Handpuppentheater mit seinen
Späßen und Prügelszenen war stets eine ernstzunehmende Konkurrenz für das Schattenspiel,939 wie auch die Phantasmagorien und das spätere Papiertheater.940
Ob der weit herumgekommene Chamisso jemals in seinem Leben ein Schattenspiel gesehen
hat, kann nicht nachgewiesen werden. Sein Tragödienfragment Faust (1803) greift einen Stoff
auf, der im Schattentheater lediglich auch sehr populär war.941 Der Gelehrte Faust sitzt in sei-
932
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
934
Vgl. ebd. Natürlich schlagen sich in der Auflistung deutlich die Zufälligkeiten der Überlieferung nieder.
935
Vgl. Jacob 1925, 188f. und Eversberg 1996, 45-96, hier 63.
936
Nichts lässt eine Ausschöpfung der dem Schattentheater eigenen Möglichkeiten erkennen.
937
Vgl. Levin, Herbert: Einleitung, in: Brentano, Christian: Der unglückliche Franzose oder Der Deutschen
Freiheit Himmelfahrt. Ein Schattenspiel mit Bildern. Hg. v. Herbert Levin, München 1923, 5-20.
938
Vgl. alles dazu Arnim, Achim von: Das Loch, oder das wiedergefundene Paradies (Ein Schattenspiel), in:
ders.: Schaubühne II. Ludwig Achim’s v. Arnims sämmtliche Werke. Neue Ausgabe, Bd. 7, Hg. v. Wilhelm
Grimm, Berlin 1857 (Arnim, Achim von: Ludwig Achim’s v. Arnims sämmtliche Werke. Neue Ausgabe, 11
Bde. Hg. v. Wilhelm Grimm, Berlin 1857, Bd. 1), 1-51.
939
Vgl. Dunkel 1984, 167.
940
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen gedruckte Schnittbögen für Kinder auf, die sowohl Schattentheater-,
als auch bunte Papiertheater-Ausstattungen zu bieten hatten. Letztere waren ebenfalls für Schattenspielaufführungen verwendbar. Vgl. ders., 166 und Eversberg 1992, 38-42, hier 41.
941
Vgl. Fischer 1990, 48ff.
933
227
ner Studierstube, die nur für die Dauer der Szene von einer einzigen Lampe erleuchtet wird.942
Nachdem er sich umgebracht hat „stürzt [er], die Lampe erlischt[… und] das Theater […]
verfinstert [sich]. Langsam fällt der Vorhang“.943 Der böse Geist nimmt zuvor Bezug auf Platons Höhlengleichnis. Er inszeniere ein Schattentheater der realen Welt, das Faust als die
Wirklichkeit wahrnehme:
[…] so würdest immer du,
Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande,
Nur eigne Schatten schaun nichts erkennen. […]
Nachhallen muß ich deiner Worte Schall,
Nachspiegeln deines Denkens Schatten dir,
Nachlügen deiner Weisen Traumgebilde,
Dir, einem Menschen, ich, ein Geist, zu nahen;
Gedanken, Worte, Menschenträume fassen
Kein ähnlich Bild der ewig dir Verhüllten.
Doch Wahrheit, Wahrheit hast du dir bedungen;
Nun! was der Mensch vermag, sollst du erkennen:
Der Zweifel ist menschlichen Wissens Gränze [sic!] [.]
944
Jürgen Schwann hat in seiner Dissertation ausführlich die Kontinuitäten aufgezeigt, die zwischen der Konzeption des Faust-Projekts und Peter Schlemihls wundersamer Geschichte bestehen, in dem immerhin ein Teufelspakt zur Debatte steht.945 Markierungen für intermediale
Bezüge zum Schattenspiel liegen nicht vor, sind aber bei der exzessiven Ausbeutung des
Schattenwortfeldes durch den Erzähler, der damit nach Gero von Wilpert angeblich komische
Effekte erzielen will,946 auch nicht nötig. Wenn mit Schatten ‚gespielt‘ wird, muss man das
vielleicht auch nicht sonderlich betonen.
Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass hier nur natürlich erzeugte Schatten von Menschen auf mehr oder minder horizontalen Boden in Erscheinung treten. Die Sonne und der
Mond sind die Lichtquellen, die Schlemihl meidet. Er erscheint in der Erzählung nicht als
Bestandteil einer schwarz-weiß gestalteten Phantasiewelt. Sehr dominant können jedoch die
noch nicht in Abrede gestellten Bezüge auf das Schattentheater hervortreten. Der Mann im
grauen Rock erinnert selbst noch am meisten an einen Schatten, denn seine „blasse Erscheinung“ (PS 27) ist nicht so schwarz, wie man den Teufel malt (vgl. PS 64). Er wird schon des942
Vgl. ebd.
Chamisso, Adelbert von: Faust. Ein Versuch, in: Gedichte. Dramatisches, Bd.1. Hg. v. Werner Feudel u.
Christel Laufer, Leipzig 1982 (Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. v. Werner Feudel u. Christel Laufer,
Leipzig 1982ff., Bd. 1), 397-406, hier 406.
944
Ders., 397-406, hier 404f. Trägt man der metaphorischen Sprechweise Rechnung und der damals semantischen Austauschbarkeit der Begriffe Schatten und Spiegelbild, ließe sich die Passage sogar verwenden den Teufel zum Phantasmagoren zu machen. Schon bei Grimmelshausen bezichtigt man den Teufel der Anwendung
medial erzeugter Trugbilder; denn die Zauberkünstler in dem zweiten Vogelnest-Roman (dazu unten mehr) agieren wohl mit einer Zauberlaterne teuflischer als der Teufel selbst. Vgl. Bergengruen, Maximilian: "Des Lachens
schwerlich enthalden". Zur göttlichen Logik des Teuflischen in Grimmelshausens Vogel-Nest, in: Simpliciana.
Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 135-145, hier 138f.
945
Vgl. Schwann 1984.
946
Vgl. Wilpert 1978, 49.
943
228
halb nicht als Schatten eingeführt, da er, entgegen allen ‚volkstümlichen‘ Teufelsvorstellungen, zumindest einen ihm äußerst ähnlich sehenden Schatten besitzt.947 Er ist durchaus der
‚Schattenspieler‘ von dem Kaliber des Bösen Geists in Chamisso Faust: denn er stellt sich als
einen Mann vor, der für seine vortrefflichen Künste nur Undank erntet und „keinen andern
Spaß [kennt …], als sein bißchen Experimentieren“ (PS 51). Als Verführer bedient er sich der
Strategie, das Verhalten und die moralische Vorstellungen Schlemihls zu imitieren.948 Damit
will der schattenhafte ‚Doppelgänger‘949 eine Atmosphäre von Vertrautheit erzeugen, damit
ihm der Protagonist die angebliche Unbedenklichkeit seiner Tauschgeschäfte abnimmt. Bis
ins kleinste Detail ist die erste Versuchungsszene auf Sir Johns Landgut inszeniert.950 Hier
wird – das muss betont werden – kein Schattentheater gespielt, aber die Zauberkunststücke
des Grauen wirken, wie Systemreferenzen auf Schattenspiele mit Menschen bzw. Figuren.
Seine Aufführung der Operation951 befördert aus der eng anliegenden Kleidung eine riesige
Brieftasche mit englischem Pflaster, dann ein Dollond-Fernrohr, drei schwarze (!) Pferde
samt Zaumzeug, einen ausgedehnten Teppich und ein orientalisches Lustzelt (vgl. PS 24ff.).
Dasselbe Prinzip findet seine Fortsetzung in der unerschöpflichen Geldbörse des Glückssäckels, das ein ‚Ableger‘ aus der Rocktasche des grauen Mannes ist. Bei Schlemihls letzter
Begegnung holt der graue Mann den untoten Sir John aus der Rocktasche, der Zeugnis von
seiner Verdammnis infolge eines anzunehmenden ‚Teufelspaktes‘ ablegt (vgl. PS 68). In einen solchen Schatten soll Schlemihl verwandelt werden.952 Während seines Machtkampfes
mit dem Widersacher ist er massiv gealtert (vgl. PS 70). Der graue Mann will ihn seinem ‚Ensemble‘ einverleiben: „Ich halte Sie […] am Schatten fest, und Sie kommen mir nicht los“
(PS 65). Schlemihl verschreibt ihm nicht die Seele, damit er ihn nicht inklusive des zurückerlangten Schattens wie eine Spielfigur benutzt. Da es dem grauen Mann nicht gelingt, alles und
jeden in seine Tasche zu stecken, erscheint der Text nicht als durchgehendes Schattentheater.
Nur punktuell werden Schatten von ihm manipuliert:
Er zog sogleich meinen Schatten aus seiner Tasche, und ihn mit einem geschickten Wurf auf der Heide
entfaltend, breitete er ihn auf der Sonnenseite zu seinen Füßen aus, so daß er zwischen den beiden ihm
aufwartenden Schatten, dem meinen und dem seinen, daher ging, denn meiner mußte ihm gleichfalls
gehorchen und nach allen seinen Bewegungen sich richten und bequemen. (PS 53f.)
Mit Hilfe der Tarnkappe macht er sich unsichtbar – wie die Spieler des FigurenSchattenspiels durch ihre Positionierung jenseits des Lichtkegels der beleuchteten Leinwand –
kann er auch Schlemihls verkauften Schatten herrenlos über die öde Heide streichen lassen
947
Vgl. ders., 26.
Zur Strategie der Assimilation hinsichtlich Gestik und Mimik, vgl. Schwann 1984, 218ff.
949
Vgl. ders., 224.
950
Vgl. ders., 217ff.
951
Es ist sehr fraglich, ob Chamisso je von dem Stück des spanischen Schattentheaters gehört hat.
952
Im sogenannten ‚Volksglauben‘ erscheinen Tote als Schatten. Vgl. Wilpert 1978, 26.
948
229
(PS 55). Seine magischen Fähigkeiten machen sichtbare Führungsmechanismen obsolet.953
Hier findet dichterisch ein ideales Schattentheater statt, das es in dieser Form nie in der Realität gegeben hat. Ein durchaus in der Wirklichkeit denkbares ‚Schattenspiel‘ führt Schlemihls
Diener Bendel auf: er versucht immer wieder mit seinem Körper den fehlenden Schatten seines Herrn nachzustellen (vgl. PS 36f.). Er manipuliert seinen eigenen Schatten, wie die Mimen des Menschen-Schattentheaters hinter der Leinwand. Seine Slapstick-artige Kampfszene
mit dem grauen Mann (vgl. PS 53) würde jedenfalls zu den ‚Volksbelustigungen‘ des Schattentheaters passen. Es ließen sich sicher noch mehr solche ‚Übereinstimmungen‘ mit transmedialen Merkmalen des Dispositiv anführen, doch ihre Überzeugungskraft ist als äußerst
gering zu veranschlagen. Obwohl die Fakten zum Schattentheater auf mögliche Anknüpfungspunkte im Text hin selektiert und ihrer Darstellung entsprechend gewichtet worden sind,
kann von einer Schattenspiel-Ästhetik, nach deren Modell implizit der Text konstruiert worden sein soll, nicht die Rede sein. Dass Chamisso die Idee erzeugt, ein literarisches Schattentheater zu gestalten, ist durchaus möglich. Insofern kann er Hoffmann zu seinen phantasmagorischen Abenteuern der Silvesternacht angeregt haben, wobei er sich mit der Zauberlaterne
ein geeigneteres Referenz-Medium herausgesucht hat.
953
Das perfekte Figuren-Schattentheater zeigen die Silhouetten-Filme von Lotte Reiniger aus dem 20. Jahrhundert. Alle Bewegungsphasen der Animationsfiguren wurden von ihr einzeln in winzigen Schritten gelegt und auf
Film dokumentiert. Beim Abspielen sorgte der Phi-Effekt für halbwegs natürliche Bewegungsabläufe. Vgl. Margit, Downar / Happ, Alfred / Huber, Gabriele / Schwendner, Karin: Silhouettenfilm und Schattentheater. 2.6. 17.8.1979. Ausstellung des Puppentheatermuseums im Münchner Stadtmuseum, München 1979 und Happ, Alfred: Lotte Reiniger (1899 – 1981) – Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst (Tübinger Kataloge 67), Tübingen
2004.
230
7.3. Die Suche nach einer Ästhetik der Phantasmagorien in Jean Pauls Wunderbarer Gesellschaft
Innerhalb der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht gibt es keine Markierungen für
intermediale Bezüge auf Projektionsmedien. Dennoch liegt wohl eine phantasmagorische Erzählweise vor. Eine Inhaltsparaphrase des Textes von Monika Schmitz-Emans umgibt den
Erzähler im Arbeitszimmer mit „phantasmagorischen Besuchern“.954 Leider findet sich hierzu
keine Begründung in ihrem jüngst erschienenen Aufsatz über Die Laterna magica der Erzählung, der eine Rezeptionsgeschichte dieses Mediums in der Literatur darstellt – und sich aufgrund der gegebenen Materialfülle nur mit wenigen eindeutigen Fällen auseinandersetzen
kann.955
Bereits fünf Jahre vor dem fraglichen Text bringt Jean Pauls Romanheld Viktor im Hesperus
das Gefühl zum Ausdruck, sich durch eine simulierte, projizierte Umwelt zu bewegen:
es schien ihm, als wär‘ in irgend einer hellern [zweiten] Welt eine Zauberlaterne – und durch die Laterne rückten Gläser, worauf Erden und Frühlinge und Menschengruppen gefärbet wären – und die herabgeflossenen hüpfenden Schattenbilder dieser Gläsern nennten wir Uns und eine Erde und ein Leben –
und allem Bunten liefe ein großer Schatten nach.956
Aus dieser teilreproduzierenden Systemreferenz wird ersichtlich, dass Jean Paul der Gedanke
nicht fremd war, erzählte Welten als Medienprodukte von Zauberlaternen darzustellen. Dies
ist kein Einzelfall, sondern eher eine Konstante in seinem Werk. In seinen Flegeljahren
(1804-1805) existiert eine fast gleich lautende, allerdings weniger sorgfältig gearbeitete Passage: „Die Zauberlaterne des Lebens warf jetzt ordentlich spielend bunt laufende Gestalten
auf seinen [= Walt] Weg; und die Abendsonne war das Licht hinter den Gläsern“. 957 Die erwähnten Gläser sind, anders als im ersten Zitat nicht mit absoluter Sicherheit als bemalte Slides zu erkennen. Es könnten auch die Linsen des Projektionsapparates sein. Da den „bunt
laufenden Gestalten“ (s.o.) hier kein auffälliger Bewegungsgestus zugeschrieben wird, bleibt
offen, auf welchen Bautyp der Laterna magica sich der Erzähler bezieht. Mit den Slides ist
lediglich eine ‚fließende‘ Schiebebewegung möglich, bei der die Figur auf dem Glas selbst
954
Vgl. Schmitz-Emans 2005, 75-110, hier 94.
Vgl. Schmitz-Emans 2010, 301-325. Im Rahmen der Erlanger Jean-Paul-Ringvorlesung 2013 konnte der
Verfasser Prof. Schmitz-Emans fragen, was sie unter „phantasmagorische Besucher“ verstehe? Sie schloss nicht
aus, dass mediale Aspekte ihre Wortwahl beeinflusst hätten und bestärkte im Grunde genommen die hier vertretene Sichtweise. – In der zweiten Jahreshälfte 2013 zeigt(e) man in Berlin Zauberlaternen auf einer Jean-PaulAusstellung mit der Begründung, er habe die Laterna magica und camera obscura als Metaphern der produktiven
Einbildungskraft gesehen und verweist auf einen seiner bekanntes Dichtungen, Die Rede des todten Christus
vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. Vgl. Steinsiek, Angela: Katalog. Automaten, Maschinen, Phantastik,
in: Markus Bernauer / Angela Steinsiek / Jutta Weber (Hgg.): Jean Paul. Dintenuniversum. Schreiben ist Wirklichkeit, Berlin 2013, 79-87, hier 80f.
956
Jean Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage, Werke, I. Abt., Bd. 1, 471-1236, hier 781.
957
Paul, Jean: Flegeljahre. Eine Biographie, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 2. Hg. v. Norbert Miller, München
1971, 567-1088, hier 876.
955
231
statisch bleibt. Durch Wippen lässt sich die andere Bewegungsdimension als ein ‚Hüpfen‘
darstellen. Als Lichtquelle ist in beiden Zitaten die Sonne anzunehmen, während die komplette Umgebung der Protagonisten als Projektionsfläche anzusehen ist. So ist auch Walts
Weg im übertragenen Sinne zu verstehen. Auf ihn wirkt die wahrgenommene Umwelt nicht
verdächtig, nur aus der Sicht des Erzählers erscheint sie als Zauberlaternenprojektion. Dieser
nimmt in den Flegeljahren eine Perspektive außerhalb des Dispositivs ein, während er im
Hesperus die Gedanken der Figur im Dispositiv selbst wiedergibt. In beiden Fällen werden in
der fiktiven Welt Zweifel an der Wahrnehmung der Realität erzeugt,958 wodurch der Leser
implizit aufgefordert wird, auch seiner eigenen zu misstrauen. Die Werke Jean Pauls stellen
immer wieder die Frage, ob es eine „zweite Welt“ außerhalb des subjektiven Wahrnehmungsdispositivs gibt?959 Schließlich machen sich alle Völker und Kulturen Vorstellungen von einer
solchen. Da einer anthropologischen Grundkonstante keine Beweiskraft zukommt, läuft es auf
eine Glaubensfrage mit religiösen Implikationen hinaus. Zu ihrer Veranschaulichung bedarf
es nicht unbedingt medialer Modelle. Er meint aber, dass ‚geschriebene‘ Bilder, die keine
Wirklichkeit besitzen, eine gewisse Anschaulichkeit haben sollten und vielleicht prägnante
Momente aus entlegenen Sphären herbeiholen sollten, wie es Mikroskope, Teleskope oder
auch andere optische Medien vermögen, um auf diese Weise tiefere Einsichten zu vermitteln.960
Der Erzähler der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht weiß schlicht und ergreifend nicht, ob er es mit Wesen der zweiten Welt oder seines Gehirnglobus zu tun hat, der offenbar der ersten Welt zugehörig ist (vgl. NG 1126). Mit dem Aufgreifen des Diskurses um
Sein und Schein wird implizit eine phantasmagorische Ästhetik markiert, wie man an den
zitierten Jean-Paul-Romanen sehen kann. Die Frage nach dem Realitätsgehalt der wahrgenommenen Wirklichkeit muss das erzählte Geschehen in der Wunderbaren Gesellschaft aufwerfen.
Der Erzähler unternimmt im Nachhinein den Versuch, die Gestalten der wunderbaren Gesellschaft als Kopfgeburten, als Phantasmen seines Gehirns zu interpretieren – worauf noch gesondert eingegangen wird. Er will in ihnen keine Wesen einer zweiten Welt sehen. Diese Tatsache spricht allerdings nicht gegen eine phantasmagorische Ästhetik. Auch Bilder aus dem
Innern können in Analogie zu Projektionen gesehen werden. Phantasmen werden vom Gehirn
als Empfindbilder in die Wirklichkeitswahrnehmung montiert:
958
Vgl. Allert 2012, 175-198, hier 176.
Vgl. Goebel, Eckhart: Am Ufer der Zweiten Welt. Jean Pauls „Poetologische Landschaftsmalerei“ (Stauffenburg Colloquium 51), Tübingen 1999.
960
Vgl. Allert 2012, 175-198, hier 180.
959
232
Da bekanntlich alle diese Gestalten nicht von außen durch die Sehnerven kommen, nicht einmal durch
einen Augapfeldruck derselben – denn diese Mechanik könnte wohl Funken und Farben, aber nicht bestimmte Bilder malen und ründen –; und da hinter der Netzhaut kein Licht steht und wirkt: so kann bloß
das Gehirn, als Organon aller Organe […], diese Empfindbilder gestalten, und zwar mit einer solchen
Gewalt, daß dasselbe mit seinen von innen kommenden Gesichten der Netzhaut der Sehnerven gegen
die von außen kommenden entkräftet und […] überdecken, aus welchem sonst wahre Strahlen und Gestalten zu uns kommen würden. (BT 1024)
Nach Ausweis dieser Zeilen ist die Netzhaut eine Projektionsfläche, auf die das Licht der Außenwelt als Aufprojektion trifft (wie bei einer Camera obscura) und über die Sehnervenfasern
ins Gehirn weitergeleitet wird. Der Sehnerv, der offenbar nicht als Einbahnstraße betrachtet
wird, transportiert allerdings auch die inneren Bilder des Gehirns als Rückprojektion auf die
Netzhaut, die aus unerklärlichen Gründen gegenüber der Aufprojektion dominant ist.961 Die
Wahrnehmung der Netzhaut, bestehend aus Rückprojektion und nicht überlagerten Bereichen
der Aufprojektion gelangt über den Sehnerv zum Gehirn. Dieses wäre als Lichtquelle für die
Rückprojektion anzusehen, wenn der Autor nicht Skrupel hätte, durch eine Systemreferenz zu
Projektions-Apparaten den menschlichen Organismus als Mechanismus, den Menschen als
Automaten darzustellen. Nach Beate Allert ist das Gesehene bei Jean Paul ein Nichts, ein
Phantom, oder etwas Projiziertes.962 Er hebt im Zitat typographisch nicht die Negation, sondern die negierte Analogiebildung hervor.
Fazit: Wesen des Gehirnglobus und der zweiten Welt sind in der Wahrnehmung nicht zu unterscheiden. Folglich müssen beide als Projektionen erscheinen – und dies belegen in dem zu
untersuchenden Text die nun nachfolgenden transmedialen Merkmale von Phantasmagorien.
(1) Das Wunderbare
Das „Wunderbare“ verspricht schon der Titel Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht. Das Attribut „wunderbar“ bezieht sich eindeutig auf die Gesellschaft, also die Figuren,
unter denen sich die drei Propheten der Zeit befinden. Was ist nun an der Gesellschaft „wunderbar“? Sie erscheint und verschwindet auf „unerklärliche“ Art und Weise für den Erzähler,
der erst im Nachhinein sie zu erklären sucht. Als Ungewöhnlich präsentiert sich das Aussehen
der Figuren (s. Physiognomie-Kapitel); ihr Verhalten überrascht den Erzähler immer wieder.
So formt Pfeifenberger z.B. Figürchen aus Brot, mit denen sich der Hund zu dessen Füßen
füttern lässt. Wunderbar sind die Reden bzw. Prophezeiungen dieser fremden Personen. Die
gesellschaftlichen, politischen und technischen Entwicklungen der Zukunft sind „wunderbar“,
961
Vgl. dazu auch Schneider, Sabine: Die Visionen des Benvenuto Cellini: Künstlerische Inspiration als Schwellenphänomen bei Johann Wolfgang von Goethe, E.T.A. Hoffmann und Hugo von Hofmannsthal, in: Roger Paulin / Helmut Pfotenhauer (Hgg.): Die Halbschlafbilder in der Literatur, den Künsten und den Wissenschaften,
Würzburg 2011, 93-110, hier 95.
962
Vgl. Allert 2012, 175-198, hier 181.
233
da sie außerhalb des gegenwärtigen Erfahrungshorizontes des empirischen Autors und Publikums liegen.
Die wunderbare Gesellschaft ist dem Erzähler unheimlich, obwohl er dies zu verschleiern
sucht. Er gesteht sich selbst ein, dass sein Benehmen gegenüber der Nacht-Sozietät mehr seinen Mut verberge als zeige (vgl. NG 1123):
Himmel! wer sind sie, wie kamen sie, was wollen sie? – An Räuber dacht' ich nicht im geringsten – so
nahe auch der Gedanke lag, es könnten ja während unsers Dialogs Helfershelfer mich ausstehlen, mir
die Juwelen einpacken und das Federvieh aus den Ställen treiben –; die edle feierliche Gestalt des bleichen Jünglings vertrat mir sogleich diesen kleinlichen Argwohn. […] Aus einem gelinden Nervenschlag
– nicht aus elender Mutlosigkeit – muß es abgeleitet werden, daß ich unvermögend war, mich zu regen,
geschweige zu erheben, als der hohe Jüngling winkte und langsam sagte: »tritt in das Reich der Unbekannten […]« (NG 1125f.)
Die vom „Gespensterhauche kalt geblasenen Nerven“ (NG 1128) wirken sich auf die Kommunikationssituation aus. So gefasst wie möglich, sucht er auf Pfeifenbergers Weissagungen
zu reagieren. Die wunderbare Gesellschaft ist sich selbst darüber im Klaren, unheimlich zu
sein: „»Schaudert nicht, mein Herr,« (sagte die Maske und ihrzete mich, wie Leute tun, die
lange in Frankreich und Italien gewesen) – »wenn alles Erscheinung hienieden ist, so ist der
Schauder darüber auch eine und nicht sehr erheblich […].«“ (NG 1126).
Unschwer erkennt man hier eine Abwandlung der „Fürchtet Euch nicht“-Formel von Engelserscheinungen in der Bibel, die als Wunder verstanden werden. Unmittelbar davor heißt es:
„[Der] Engel der Zeit[…] fliegt mit sechs Flügeln, zwei decken ihren Ursprung, zwei decken
ihren Ausgang, und auf zweien rauscht sie dahin – Heute heben wir die Flügel auf, die auf
ihrem Antlitz liegen“ (NG 1126)!
(2) Übertreibungen
All dies ist dazu angetan, eine gruselige Stimmung, also Angst und Schrecken, beim Leser zu
evozieren. Der Erzähler sucht Mitleid mit seiner Person zu erwecken. Selbstbemitleidende
Klagen über seinen Gesundheitszustand und melancholischen Gedanken bestimmen die geschilderte Einsamkeit der Eingangssequenz. Dann stellen sich unheimliche Gäste ein, die mit
ihren Prophezeiungen seine düsteren Gedanken über die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz bestätigen und mit Details anreichern. Über mehrere Seiten wird ein Werden und Vergehen geschildert, das in der Apokalypse gipfelt:
Vernimm weiter, Erschrockner! In der Ewigkeit kommt ein Tag, wo auch alle diese [Milch-]Straßen
und weißen [Sternen-]Wölkchen sich verfinstern und wo in der weiten Unermeßlichkeit nur Gewitterwolken ziehen, aus Sonnen gemacht, und wo es dämmert in der ganzen Schöpfung... Dann ist Gott
noch; er steht licht in der Nacht, seine Sonne zog die Sonnen-Wolken auf, seine Sonne zerteilt sie wieder – und dann ist wieder Tag. (NG 1134)
Dieser Hoffnungsschimmer kann kaum Wirkung entfalten, da der Erzähler sich im folgenden
„Geister-Chaos“ (NG 1135) mit Spiegelscherben verletzt und so stark blutet, dass er kurzzeitig in Ohnmacht fällt. Hermina, die von einem Krankenbesuch aus der Stadt zurückkehrt, fin234
det sofort ein neues Betätigungsfeld für ihr Mitleid. Liebevolle Zuwendung lässt die Zeitläufe
als Gegenstand der Reflexion vergessen und eine (gefährdete) Idylle entstehen.
Das Selbstmitleid des Erzählers und sein ‚Spiegelfechten‘ wirken komisch. Pfeifenberger
sucht den Erzähler in seinem schriftstellerischen Streben lächerlich zu machen und schildert
ironisch die Zukunft als Wiederholung der Vergangenen. Der Erzähler akzeptiert die Prophezeiungen und somit ungewollt auch die Vergänglichkeit seines Ruhms. Mit dem Beharren auf
dem Vergehen gegenüber dem Werden, liegt eine Übertreibung vor.
(3) Überraschungen
Prophezeiungen haben den Anspruch, einzutreten. Damit stehen sie dem Zufallsprinzip der
Phantasmagorien scheinbar im Wege. Die Wiederkehr des Gleichen, Werden und Vergehen
können trotzdem mit dem Zufall in Verbindung gebracht werden. Die spätmittelalterliche
Allegorie des Glücksrades der Fortuna ist ein theologischer Behelf den Zufall in eine Welt der
göttlichen Vorsehung einzuordnen. Dem Mensch erscheint das Wirken Gottes, die Vorsehung, zufällig, weil ihm der nötige Überblick fehlt.963
Die Prophezeiungen zeigen deshalb auch keinen Zusammenhang, stellen eine ausgedehnte
Aneinanderreihung von ‚beliebigen‘ Episoden bzw. Bildern dar. Die Länge der entsprechenden Passagen durch entsprechend lange Zitate zu belegen, verbietet sich. Hier kann man wirklich nur auf den Text selbst verweisen. Auf den Inhalt der Prophezeiungen soll hier nicht näher eingegangen werden. Indem die Zukunft als Wiederholung der Vergangenheit und als
Fortsetzung der Gegenwart verstanden wird, macht der implizite Autor deutlich, dass es sich
eigentlich um Prognosen handelt. Es ist folglich auch nicht erstaunlich, dass einiges davon in
mehr oder minder ähnlicher Form eingetreten ist, z.B. die Glas-Metallträger-Architektur oder
die Nutzung von Sonnenenergie. Sinn dieser Arbeit kann nicht sein, Ähnlichkeiten für diese
Bilder in unserer Gegenwart oder unseren Zukunfts-Visionen zu suchen.
(4) Die Aktivierung von Erinnerungen und inneren Bildern
Dass Zeitlichkeit, Tod und die Unentrinnbarkeit des Schicksals Thema sind, braucht nach
dem Vorangegangenen nicht näher ausgeführt werden. Wie bei den Phantasmagorien begegnet ein Lebender einigen Figuren, die wie Geister erscheinen und verschwinden – z.T. Merkmale von Toten aufweisen.964
963
„Jean Paul ist von der Theodizee überzeugt, ohne sie in der Welt selbst noch erkennen zu können. Der Dichter soll die göttliche Provenienz, die in der Welt selbst nicht mehr sichtbar ist, in einem Roman sichtbar machen.“ Wels, Volkhard: Anthropologie versus Theodizee im Roman am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Euphorion 104 (2010), 151-174, hier 173.
964
Dazu ausführlicher das nächste Kapitel „8. Nicolais Phantasmen und Jean Pauls Gestalten – Innere Bilder und
Phantasmagorien“.
235
(5) Wiederholungs- und Variationsstrukturen
Der Diskurs um das Verstreichen der Zeit zieht sich in verschiedenen Variationen durch den
ganzen Text. Dies sind die referierten Gedankengänge des Erzählers, seine wörtliche Rede
und die Äußerungen der Propheten der Zeit. Es werden Zukunftsvisionen aneinandergereiht,
in denen die Vergänglichkeit des Seins – ausgenommen Gott – wiederholt zum Ausdruck
kommen. Der Erzähler nimmt die Perspektive eines Archäologen oder Geologen ein. Die
Welt ist ein großer Friedhof. In Schichten legen sich die Überreste von Lebewesen und Architekturen übereinander. Pfeifenberger nimmt die Perspektive eines Historikers oder Literaturwissenschaftlers ein, indem er das Werk des Erzählers vor das Einsetzen der schriftlichen
Überlieferung ansetzt, die den Forschern in der Zukunft zur Verfügung steht. Der Erzähler
bestätigt dies und spricht sogar seinen letzten Leser an. Die rote Maske fragt den bleichen
Jüngling, wann es endlich zur Apokalypse käme. Er sieht die Ereignisse sich endlos wiederholen und greift schließlich die Standpunkte des Erzählers und Pfeiffenbergers auf: alle landen auf dem Gottesacker und alles menschliche Wirken wird vergessen. Daraufhin wird vom
bleichen Jüngling die Apokalypse als große Vernichtung des gesamten Kosmos dargestellt,
der nicht den letzten Leser, sondern den letzten Menschen anspricht. Gott ist gegen alle Vernichtung resistent.965 Der menschliche Körper ist vergänglich; das geschriebene Wort kann
ihn eine Zeit lang überdauern, wenn es rezipiert wird und im Diskurs durch Wiederholung
und Variation präsent ist.
Einzeltextreferenzen und die Nennung von Autorennamen bei Jean Paul mögen vor dem Hintergrund als Memoria, als ein unbewusstes Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit interpretiert werden, doch dies wird sich als zu kurz gegriffen erweisen. Fremdes Wissen und Gedankengut stimuliert die Phantasie von Jean Paul enorm und sorgt für eine melancholische Stimmung, in der sich das Subjekt seiner Vergänglichkeit bewusst wird. Ursache und Wirkung
sind zu trennen, lassen sich aber vielleicht als zyklischer Prozess verstehen. Jenseits aller
Spekulationen liegen jedenfalls zahlreiche intertextuelle Bezüge vor.
Die Bibel oder übersetzte Teile, wie Otfrieds „Evangelium“ (NG 1129) werden neben anderen
Texten religiösen Inhalts explizit erwähnt: „Sprachgelehrte werden in alten Bibliotheken nach
einer Edda und nach einer Bibel forschen, und ein künftiger Schiller wird das Neue Testament
lesen, um sich in die Charaktere eines Christen und Theisten täuschend zu setzen und dann
beide aufs Theater [bringen]“ (NG 1127). Pfeifenberger ‚spiegelt‘ die Labels von Autoren966
965
966
Die Untersterblichkeit der Seele steht m.E. in der Erzählung nicht zur Debatte.
Zum Begriff des „Autoren-Labels“, vgl. Niefanger 2002, 521-539.
236
der Vergangenheit und ‚Gegenwart‘ zusammen mit ihrem Schaffen in die Zukunft 967 und
spricht sie ihm noch unbekannten Personen zu: von dem „homerischen Hans Sachs […], von
dessen Werken ein künftiger Wolf erweisen wird, daß sie von mehrer[e]n Sängern zugleich
gemacht worden“ (ebd.). Naturgeschichte (Plinius), Rhetorik (Redner Gorgias), Geschichtsschreibung (Enikels Chronik) und Philosophie (J.J. Rousseau) stehen beim Erzähler als pars
pro toto für das gesamte Wissen um 1800, zu dem sogar schon Konfuzius mit seiner religionsbegründenden Philosophie gehört (vgl. NG 1129). Dieses ‚Name-Dropping‘ aus der Wunderbaren Gesellschaft bringt aber kaum einen signifikanten Erkenntnisgewinn. Tiefer gehende intertextuelle Beziehungen gibt es offenbar nur in einem Fall, der noch eigens dargestellt
wird.
Zuvor ist aber die Faktur des gerade skizzierten intertextuellen Verfahrens auf den Grund zu
gehen. Christian Schwaderer beschreibt die Quellmaschinerie von Jean Pauls Werken folgendermaßen:
Ein Aspekt aus einer Wissenschaft wird in eine andere verlegt, ein Gesetz aus vergangener Zeit auf seine möglichen Auswirkungen in der heutigen überprüft, bestimmte Facetten einer Sache werden zugunsten anderer ausgeblendet oder durch neue überblendet (dementsprechend verglich Christian Otto, Jean
Pauls Freund und erster Lektor, in einem Brief vom 2. März 1796 dessen satirische Handlungsabläufe
mit dem »von Person zu Person springenden Wettlauf oder dem Wechsel einer Laterna magika [sic!]«;
SW IV/2,150)968
Dem Springen von Person zu Person entspricht in den Zukunftsvisionen der Wunderbaren
Gesellschaft der fliegende Wechsel zwischen den Autorennamen, die das intertextuelle Pasticcio durchsetzen. Sie werden wie die Slides von Zauberlaternen ausgetauscht, die der Phantasmagore aus seinen Bild-Beständen zieht. Der Dichter zieht seine sprachlich vermittelten
Bilder aus seinen Wissensbeständen, die in verschiedenen Manifestationen vorliegen können.
Der Erzähler von Jean Pauls Quintus Fixlein suggeriert im Untertitel des kurzen Romans, dass
er die Geschichte aus Zettelkästen gezogen habe.969 Besaß nun der empirische Autor Jean
Paul Zettelkästen? Die Frage muss verneint werden, wenngleich das Literaturarchiv Marbach
zum Jubiläum des 250. Geburtstages des Dichters 2013 eine Zettelkasten-Ausstellung gestaltet hat. Seine Zettelkästen haben die Gestalt von Exzerpten.970 Jean Paul las unablässig in den
967
Dies scheint ein für Jean Paul charakteristisches Erzählverfahren zu sein: „Vergangenes und künftiges wirken
ineinander und überlagern sich wie Filter und Linsen, optisch gefächert. Das, was zum Ausdruck kommt, gehört
oft verschiedenen Bildspendern an.“ Allert 2012, 175-198, hier 183.
968
Schwaderer, Christian: Jean Pauls Quellmaschinerie. Der satirische Nachlass aus textgenetischer Sicht, in:
JbJPG 99 (2010), 99-108, hier 106.
969
Vgl. Paul, Jean: Leben des Quintus Fixlein aus funfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mußteil und
einigen Jus de tablette, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 4. Hg. v. Norbert Miller, München 1967, 7-260.
970
Vgl. Heike Gfrereis / Ellen Strittmacher (Hgg.): Zettelkästen. Maschinen der Phantasie (Marbacher Katalog
66), Marbach am Neckar 2013. Zur Materialität der Exzerpte und dem in ihnen ablesbaren Interesse an den verschiedensten Formen schriftlicher Speicherung von Wissen vgl. Ortlieb, Cornelia: Schöpfen und Schreiben.
Weimarer Papierarbeiten, in: Sebastian Böhmer / Christiane Holm (Hgg.): Weimarer Klassik – Kultur des Sinn-
237
verschiedensten Quellen – Zeitungen, Lehrbüchern, Romanen, Reisebereichten – und notierte
sich Naheliegendes wie Exotisches, das Wissenswerte ebenso wie das Absurde. 971 Die abgeschriebenen Passagen, inhaltlichen Paraphrasen oder eigenen Gedanken sammelte er unter
Schlagwörtern in Exzerptheften, zu denen er Exzerpt-Exzerpte und Register anfertigte. 972 Die
Listen beflügelten als Erinnerungsspeicher das Weiterdenken: sie leisteten keine Festschreibung, sondern trieben eine Bewegung an, die vom Einzelglied zum nächsten drängt. 973 Obwohl die Liste das Unermessliche zu erfassen versucht, Vielem eine Einheit, dem Disparaten
eine Ordnung verleiht, so übersetzt sie jede Einheit auch wieder in die Fülle ihrer Aspekte
zurück.974 Somit ist die Aufzählung der roten Maske in der Wunderbaren Gesellschaft in der
Neujahrsnacht, die in 27 Halbsätzen die schier unendlich erscheinende Zeit bis zum Jüngsten
Tag in Schlaglichtern zu erfassen versucht, geeignet ihre Unvollständigkeit zu demonstrieren
(vgl. NG 1129ff.). Die grammatikalische Unvollständigkeit des ‚Satz-Monstrums‘ unterstreicht dies sogar noch: auf das Wenn folgt das Dann nur in einer Neufassung des Fragesatzes: wann wird es zur Apokalypse kommen?
Zusammenfassend ist also zu sagen, dass die Exzerpte bzw. Listen die Funktion von Zettelkästen übernehmen und die Schreibweise von Jean Paul massiv beeinflussen. Sie dienen einer
ritualisierten Memoria beim Schreiben, wiederholen und vergegenwärtigen Wissensbestände,
wobei zahlreiche zufällige Verknüpfungen entstehen, die die Phantasie in Bewegung versetzen. Wiederholen, Erinnern und Totenbeschwörung wurden als transmediale Charakteristika
der Projektionskunst von den Phantasmagoren herausgearbeitet. Jean Pauls intertextuelle
Praktiken bedienen sich der gleichen Mittel.
Dass das wiederholte Nutzen der wachsenden Exzerptsammlung bzw. des Wissensspeichers
im Kopf zur Mehrfachbenutzung eines Registereintrags führen kann, verwundert nicht. Die
begriffliche Matrix „Nicolai, Phantasmen und Blutegel“ scheint von Jean Paul wissentlich
mehrfach in seine Werke eingearbeitet worden zu sein. In der Wunderbaren Gesellschaft
(1800 entstanden), dem Essay Blicke in die Traumwelt (nach 1813 entstanden) und im unvollendeten Roman Der Komet (1811 angefangen, 1820-1822 veröffentlicht)975 hat sie mindestens ihre Spuren hinterlassen. Der sich hinter diesen drei oben genannten Begriffen verberlichen, Berlin 2012, 76-85, hier 83ff. und jüngst: dieselbe: Ochsenknochen, Scherben und Papier. Jean Pauls
Schreibmaterialien, in: Bernauer / Steinsiek / Weber 2013, 130-147.
971
Vgl. Hunfeld, Barbara: Die erzählte Liste. Aufzählen und Erzählen bei Jean Paul, in: JbJPG 47 (2012), 5-30,
hier 13 und Pfotenhauer 2013, 34ff.
972
Vgl. dieselbe, 5-30, hier 6f.
973
Vgl. Hunfeld 2012, 5-30, hier 9.
974
Vgl. dieselbe, 5-30, 8f.
975
Vgl. Paul, Jean: Der Komet oder Nikolaus Marggraf. Eine komische Geschichte, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd.
6. Hg. v. Norbert Miller, München 1967, 563-1036, hier 982 und Miller 1967, 1221-1124, hier 1284ff. Belegstellen zu den anderen Werken Jean Pauls s.u.
238
genden Intertext lohnt den Aufwand einer eingehenden Betrachtung, da ausgehend von ihm
das Verhältnis von Intermedialität, Intertextualität und Wirklichkeitswahrnehmung für Jean
Paul zu rekonstruieren ist. Er verdeutlicht, dass der Dichter im Schnittpunkt von Aufklärung
und Romantik stand, will man sich auf eine Autorität der Jean-Paul-Forschung, wie Helmut
Pfotenhauer berufen.976 Letztendlich ist er auch aufschlussreich für die Ästhetik von Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht.
976
Vgl. Pfotenhauer, Helmut: Unbändige Sinnenwelt. Halbschlafbilder bei Jean Paul, in: Paulin / Pfotenhauer
2011, 43-52, hier 43.
239
8. Nicolais Phantasmen und Jean Pauls Gestalten – Innere Bilder und Phantasmagorien
Einen bedeutenden Fall von Intratextualität bzw. Intramedialität innerhalb der Wunderbaren
Gesellschaft in der Neujahrsnacht stellen die intertextuellen Bezüge auf einen Essay des Berliner Spätaufklärers Friedrich Nicolai (1733-1811) dar,977 dessen ausgedehnter Titel keinen
Platz in dem literarischen Werk eingeräumt bekommt. Lediglich der Name seines Autors
(s.u.) markiert die diskursive Ausgangslage, das Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen, nebst einigen erläuternden Anmerkungen. Vorgelesen in der K. Akademie zu Berlin, d. 28. Hornung [= Februar] 1799.978 Da der Berliner Buchhändler, Verleger, Literat und
Philosoph das Vortragsmanuskript bereits in der Mai-Ausgabe seiner erfolgreichsten Zeitschrift, der Neuen Berlinischen Monatsschrift abdruckte, muss ein gewisses Interesse an seinen Ausführungen bestanden haben. Sie greifen – nicht gerade aus freien Stücken – die zeitgenössische Diskussion über die Existenz von Geistererscheinungen auf und thematisieren
Halluzinationen.
Während eines Aufenthalts in Bad Pyrmont erzählte Nicolai dem Kurarzt Christoph Wilhelm
Hufeland (1762 – 1836)979 von seinem erfolgreichen Kampf gegen „Phantasmen“ (dazu vgl.
NP 328) – heute würde man dazu wohl Halluzinationen sagen. Wenig später präsentierte Hufeland die anonymisierte Krankengeschichte in dem von ihm herausgegebenen Journal der
practischen Arzneykunde und Wundarzenykunst. Da er sie dramatisch zuspitzt, sah Nicolai
den wissenschaftlichen Wert des Beitrags gefährdet und sich auf den Plan gerufen. 980 Sein
aufklärerischer Impetus verlangte nach einer Richtigstellung. Er gab sich als „der würdige
und geistreiche Mann“ Hufelands zu erkennen.981 Mit seiner Version der Krankengeschichte
erregte Nicolai nach eigenem Bekunden einiges Interesse in der Öffentlichkeit. Postalisch
erreichten ihn „sehr sonderbare Anfragen“, die ihn veranlassten, Noch einige Anmerkungen
977
Dies verwundert ein wenig, da Jean Paul sich offenbar von der vorangegangen Begegnung mit Nicolai enttäuscht sah: „Jean Paul, der am 23. Mai 1800 über Leipzig anreiste, traf Nicolai bereits fünf Tage nach seiner
Ankunft anlässlich eines Diners bei Matzdorff. Das gängige Vorurteil, der fast siebzigjährige Nicolai sei so
langweilig wie seine Werke, fand Jean Paul bestätigt, wie er am 1. Juli an Christian Otto schrieb.“ Zaremba
2012, 165.
978
Hinweis auf diesen Text vgl. Miller 1967, 1221-1124, hier 1224.
979
Vgl. Michler, Markwart, „Hufeland, Christoph Wilhelm“, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 1-7. Onlinefassung: URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118554514.html (4.10.2013).
980
In der hier stattfindenden Auseinandersetzung mit Nicolais Aufsatz wird kein Unterschied zwischen dem
empirischen Autor und dem autodiegetischen Erzähler seines Textes gemacht. Jean Paul lässt in seinen Markierungen der Intertextualität keine entsprechende Differenzierung erkennen. Dass Nicolai selbst deutlich „zwischen dem Autor als paratextuell sichtbare und deshalb angreifbare Institution im Umfeld eines Texte[s] und die
geschützte Person des Autors unterscheidet“, belegt für Dirk Niefanger bei dem Verleger und Buchhändler eine
modern anmutende Vorstellung von Autorschaft. Niefanger, Dirk: Friedrich Nicolais Beitrag zu den Briefen, die
neueste Literatur betreffend, in: Stefanie Stockhorst / Knut Kiesant / Hans-Gert Roloff (Hgg.): Friedrich Nicolai
(1733-1811), Berlin 2011, 253-269, hier 256.
981
Hufeland, Christoph Wilhelm: „XII. Kurze Nachrichten und medizinische Neuigkeiten. 1. Sonderbare Geistererscheinung, in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzenykunst 6/4 (1798), 905-907.
240
über die Erscheinung von Phantasmen zu machen, obgleich ihm seine persönlichen Gegner
Spott entgegen brachten.982 Dieser riss nicht ab und hielt in gebildeten Kreisen offenbar die
Erinnerung an die beiden Essays lange wach. Sonst hätte 1808 kaum jemand in Goethes Faust
den Auftritt des Proktophantamisten, des Steißgeistersehers, als eine Nicolai-Parodie in der
Walpurgisnachtszene erkennen können (vgl. Vs. 4144ff.).983 Sechs Jahre später kann es
E.T.A. Hoffmann auch im Goldenen Topf nicht lassen, massiv auf „gewisse Fantasmata“ des
berühmten, bereits verstorbenen Gelehrten anzuspielen.984
Als Jean Paul mit der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht auf die Beiträge in der
Neuen Berlinischen Monatsschrift reagierte, hatten sie von ihrer Aktualität noch kaum etwas
eingebüßt. Ihre Veröffentlichung lag erst zwei Jahre zurück. Da die beiden Abhandlungen
heute nicht mehr jedermann geläufig sind, erscheint es sinnvoll, kurz auf ihren Inhalt einzugehen, ehe ihre Rezeption durch Jean Paul gewürdigt wird.
Nicolai setzt sich mit den Phantasmen auseinander, die er acht Jahre vor der Niederschrift
seiner Version der eigenen Krankengeschichte, zwei Monate lang wahrgenommen haben will.
Seiner Ansicht nach hält man Phantasmen oft fälschlicherweise für übernatürliche Erscheinungen. Philosophische und anthropologische Betrachtungen, die auch gegen Fichte gerichtet
sind (vgl. NP 354ff.), rahmen die Beobachtungen. In Übereinstimmung mit den Zeitgenossen
versteht er unter dem semantischen Konstrukt „Geister“ reale Erscheinungen der Umwelt.
Einen empirischen Nachweis ihrer Existenz ist man bislang schuldig geblieben: „Indeß wollen die, welche das Wunderbare lieben, diesen Einwürfen nichts einräumen, sondern nennen
ihre Einbildungen Wirklichkeit“ (NP 327). Nicolai ist sich der Problematik bewusst, im
Nachhinein seine „Krankheit“ wissenschaftlich-objektiv beschreiben zu wollen. Kritik an
seiner methodischen Vorgehensweise sucht er deshalb wenig überzeugend im Vorfeld der
Ausführungen zu entkräften. Er habe sich beim Erscheinen der Phantasmen stets nahestehenden Personen anvertraut, seine Erfahrungen mitprotokolliert und auch gegenüber seinem Arzt,
dem Geheimrat Selle, verbalisiert (vgl. NP 329). Sein gutes Gedächtnis garantiere Authentizität (ebd.). Zudem sei er noch völlig bei Verstand gewesen: „Hätte ich die Phantasmen von den
Phänomen gar nicht unterscheiden können, so wäre ich wahnsinnig gewesen“ (NP 353). Allen
Beteuerungen zum Trotz, ist der Wahrheitsgehalt der geschilderten Fakten schon für Zeitge-
982
Nicolai, Friedrich: Noch einige Anmerkungen über die Erscheinung von Phantasmen, in: Neue Berlinische
Monatsschrift 1 (1800), 436-452, hier 436. Dieser Text soll hier nicht besprochen werden, da er nichts wesentlich Neues bringt.
983
Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie, in: ders.: Dramatische Dichtungen, III. Abt., Bd.1.
Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 101979 (Goethe, Johann Wolfgang von:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz, Berlin 101979, Bd. 1), 7-364, hier 130f.
984
Vgl. AS* 240f. und Steinecke 1993, 533-858, hier 783.
241
nossen nicht zu überprüfen gewesen. Das biographische Wissen über Nicolai spricht allerdings gegen ein ‚Propagandamärchen‘ zur Verbreitung des aufklärerischen Denkens. Sowohl
die alte, als auch die neue Forschung betonen Nicolais Wahrheitsliebe.985 Er hätte gegen seine
eigenen Überzeugungen – nicht mit bornierten Dogmen zu verwechseln – verstoßen müssen.
Gewisse gestalterische Freiheiten im Umgang mit seiner Geschichte deutet er sogar zwischen
den Zeilen an: „Ich werde […] nichts übergehen, dessen ich mich sicher erinnere.“ (NP 328)
Er befindet darüber, woran er sich sicher erinnern will. Ihm Unangenehmes tilgt er – wie man
noch sehen wird.
Nicolais Leser dürften dennoch keinen Zweifel an der Faktualität der vermittelten Informationen gehegt haben. Jean Pauls Prätext wurde sicherlich nicht als ein Werk fiktionaler Literatur
aufgefasst. Der Verfasser der beiden Phantasmen-Essays fordert eine radikale Aufklärung der
menschlichen Phantasie und rechtfertigt damit aber ungewollt die Produktion phantastischer
Literatur (vgl. NP 327). Die in diesem Zusammenhang behauptete Illusionswirkung der Phantasmen muss jeden Dichter aufhorchen lassen. Die Reproduktion innerer Bilder durch eine
detaillierte Ekphrasis oder die Ausgestaltung des bereits gesammelten Materials könnte die
Attraktivität seiner Werke steigern.
In wie weit Jean Paul mit der Wunderbaren Gesellschaft der Neujahrsnacht letzteren Weg
beschreitet, gilt es nun zu untersuchen. Erst gegen Ende seines Textes treten gehäuft Markierungen der intertextuellen Bezüge zu den Essays in der Neuen Berlinischen Monatsschrift auf.
Der Erzähler vermutet schließlich, von Nicolais „Gestalten“ (v.a. NG 1136) heimgesucht
worden zu sein. Von Phantasmen spricht er auffälliger Weise nirgendwo, da der Begriff schon
eine Interpretation der wahrgenommenen Erscheinungen impliziert. Insgesamt drei Systemerwähnungen weisen auf die Teilreproduktion des Intertextes hin. Für sich betrachtet, evoziert die erste die Bannung der Phantasmen durch einen Aderlass. Nicolais Wahrnehmungsstörung nimmt ein Ende, als ein Arzt sechs Blutegel an seinen After setzt (vgl. NP 339f.).
Jean Pauls Erzähler kommt ungewollt einer ärztlichen Behandlung zuvor. In seinem Wahn
zerschlägt er einen Spiegel, da er sich von einem Doppelgänger angegriffen glaubt:
In dem von innen hell erleuchteten Spiegel war nichts als mein sitzendes Bild; dieses richtet sich auf,
bewegt sich, tritt nahe vor das Glas und will drohend heraus und sagt, mich anblickend: »O seh' ich
mich dort selber? – Warte, Lufterscheinung, ich fürchte dich nicht, ich setze mir, wie Nicolai, einen
Blutigel an den After, und dann zerfließest du.« (NG 1135)
985
Vgl. stellvertretend Palm, Mathias: „… so gewiß, daß die genauste Kritik uns unentbehrlich ist“. Friedrich
Nicolai – Ein Leben für die Aufklärung, in: Stockhorst / Kiesant / Roloff 2011, 11-28 und Fleig, Anne: „Wahrheitsliebe und Anstand“ – Zur Entlarvung Cagliostros durch Elisa von der Recke und Friedrich Nicolai, in: Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung (Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam 2), Göttingen 2013, 235-252.
242
Die Schnittverletzungen sorgen für einen Blutverlust, der den Erzähler von seinen Halluzinationen befreit. Der Existenzkampf zwischen Post- und Prototyp fällt zu seinen Gunsten aus. In
Folge dessen kann er den Standpunkt seines Wiedergängers einnehmen. „Nicolai, dem ähnliche Erscheinungen viel länger zugesetzt“ haben (NG 1136), gibt ihm Hoffnung auf Heilung.986 Um die besorgte Hermina zu beruhigen, beruft er sich auf Nicolai. Auch die Leser
sollen seiner Eigendiagnose folgen. Da er eingangs selbst die Erklärung von erzählerischen
Labyrinthen als Traum abgelehnt hat (vgl. NG 1123), versteckt er sie in einer umfangreicheren Fußnote. Es genügt, ihren Anfang zu zitieren: „Dem Publikum sind die Gestalten, die
Nicolais Augen und Ohren erschienen, schon bekannt. Ich kenne drei zartorganisierte und
phantasiereiche Mädchen, welche dieselbe optische Plastik quälte“ (NG 1136).
Leidet der inkonsequente Erzähler tatsächlich an Nicolais ‚Krankheit‘? Eine gezielte Irreführung des Rezipienten könnte beabsichtigt sein. Ein Nachweis der bislang nur behaupteten Intertextualität ist nötig. Die Situation, in dem die Phantasmen bzw. Gestalten erstmals auftreten, ist grundverschieden. Der Erzähler des Jean-Paul-Textes hält sich alleine in seinem Arbeitszimmer auf und konzipiert eine neue Dichtung. Nicolais Darstellung ist in vielerlei Hinsicht offener. Er geht keiner Arbeit nach, befindet sich aber in einem Raum, zu dessen Ausstattung sein Schreibtisch gehört. Seine Frau muss anwesend sein, da sie nicht erst geholt
werden muss, als sich Nicolai der Nicht-Existenz seines ersten Phantasmas vergewissert (vgl.
NP 331f.).
Die Jugenderinnerungen seines Enkels Gustav Parthey (1798-1872) zeigen, dass hier gezielte
Desinformation vorliegt. Besonders signifikant werden die Leerstellen bei der abstrahierenden
Darstellung der psychischen Verfassung: „Ich war in allzuheftiger Gemüthsbewegung über
eine Reihe von Vorfällen, die mein ganzes moralisches Gefühl empört hatten, und woraus ich
keinen Ausgang sah“ (NP 331). „Nicolai hatte heftigen Aerger mit seinem Sohn Karl gehabt,
und war im höchsten Affekt begriffen, als plötzlich sein verstorbener Sohn Samuel, der sich
selbst das Leben genommen [hatte], hinter dem Schreibtische vor ihm Stand“. 987 Dieses Wissen dürfte Jean Paul kaum besessen haben. Dass aus einem Prätext nicht mehr übernommen
werden kann, als in ihm steht, sieht man an der heftigen Gemütsbewegung des Erzählers von
der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht. An die Stelle der moralischen Entrüstung tritt die anschauliche Beschreibung seiner Melancholie:
986
„Nie habe ich wieder dergleichen gesehn“ (NP 340).
Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Handschrift für Freunde, Bd. 1, Berlin 1907, 41. Aus dem Abschnitt
unmittelbar vor der zitierten Passage geht hervor, dass Parthey nur eine von verschiedenen „Familientraditionen“
zu den Phantasmen seines Großvaters wiedergibt. Später berichtet er, dass er selbst zu gegen war, als sein Großvater von seinen akuten Phantasmen berichtet hat. Vgl. ders., 43.
987
243
[Er] bedeckte die Augen mit der Hand und ließ alles vor mir vorüberziehen, weswegen der Mensch das
Leben eitel und nichtig nennt – schnell eilten die künftigen Jahrhunderte […] vorbei, endlich kamen
lange Jahrtausende und trieben ein Volk nach dem andern aus den Städten in die Gräber; die Generationen verfolgten einander wie fliegende Strichregen und schossen in die Grüfte herunter und rissen den
Himmel auf, worin der Todesengel sein Schwert durch die Welten hob und keine Sterbenden, sondern
bloß das Sterben sah. (NG 1124f.)
Aus diesen Vorstellungen scheinen sich die Halluzinationen des Erzählers zu entwickeln, die
sich zunächst akustisch bemerkbar machen: „»Die drei Propheten der Zeit«; ich tat die Hand
vom Auge – – die wunderbare Nacht-Gesellschaft war im Zimmer“ (NG 1124f.). Nicolais
Halluzinationen gehen keine Phantasien voran, vor denen er die Augen zu schließen versucht:
„Plötzlich stand, ungefähr zehn Schritte entfernt, eine Gestalt vor mir, die Gestalt eines Verstorbenen“ (NP 331). Warum er in dieser stummen Erscheinung (vgl. ebd.) einen Toten sieht,
führt er nicht aus. In Partheys Jugenderinnerungen ist die Sachlage klar. Anhand der Physiognomie erkennt Nicolai seinen Sohn Samuel, der nicht mehr unter den Lebenden weilt (s.o.).
Folglich ist die Gestalt ein Verstorbener.
In dem Jean-Paul-Text sind zunächst alle Gestalten, mit denen der Erzähler konfrontiert wird,
fremd. Der bleiche Jüngling und der abgemagerte Pfeifenberger erwecken zwar im fahlen
Mondlicht einen morbiden Eindruck, doch der Erzähler macht sich keine Gedanken, was
Schleier und Schminke der übrigen Figuren verbergen könnten. Verstorbene vermag auch er
nur sicher zu erkennen, wenn sich unter den Gestalten nahestehende Personen befinden, die
bereits verstorben sind:
Luftschiffe voll unbekannter Gestalten jagten nach, und eines ging wie unter Schleiern vorüber, worauf
alle Menschen waren, die ich innig geliebt und nur am Grabe verloren habe – und dann schoß eines vorüber, worin der Knabe und die verhüllte Jungfrau ruhten[.] (NG 1135)
Weder ihm, noch Nicolai ist es offenbar möglich, ein unbekanntes Phantasma als Toten zu
identifizieren:
Die Gestalt des Verstorbenen erschien nicht mehr nach dem ersten erschütternden Tage, hingegen kamen sehr deutlich viele andere Gestalten zum Vorschein: zuweilen Bekannte, aber meistens Unbekannte. Unter den Bekannten waren Lebende und Verstorbene, mehrentheils erstere; nur bemerkte ich, daß
Personen mit denen ich täglich umging, mir nicht als Phantasmen erschienen, es waren jederzeit Entfernte. (NP 335)
Ob die Phantasmen von lebenden oder toten Personen am Ende dominieren, lässt sich in beiden Texten nicht abschließend beantworten.988
Was vermeinen die Erzählenden überhaupt zu halluzinieren? Bei Jean Paul erzeugt die Einbildungskraft angeblich Männer, Frauen, Kinder und einen Hund. Nicolai sieht sich konfrontiert mit Phantasmen von Männern, Frauen, Reitpferden und Vögeln (vgl. NP 337). Die
Schnittmenge der Gestalten erweist sich als relativ groß: Menschen und Haustiere in Lebens988
Ein Paar bekannte Tote in den Luftschiffen voller unbekannter Gestalten bedeutet nicht zwangsläufig (s.o.),
dass alle Insassen tot sind; die Dominanz von lebenden Personen unter den bekannten Phantasmen bei Nicolai
beweist keine entsprechende Gewichtung bei den unbekannten Gestalten.
244
größe. Im Jean-Paul-Text kommen zu den Lebewesen auch Objekte: Flugmaschinen, ein Blütenregen, Sprachrohre, Masken, Kränze, Rosen und Uhren. Nicolais Wesen besitzen nur Gewänder in „verschiedenen Arten und Farben“ (NP 337). Detaillierte Äußerungen zu dem
Thema macht er nicht, obwohl ihm „diese Gestalten zu jeder Zeit unter den verschiedensten
Umständen gleich deutlich und bestimmt“ (NP 336) erschienen sind. Die wenig erschöpfenden Figurenbeschreibungen in dem Jean-Paul-Text, die im Kapitel über den physiognomischen Diskurs behandelt worden sind, erweisen sich dagegen als ziemlich ‚anschaulich‘. In
beiden Texten vermeinen die schreibenden Subjekte, die realen Mitmenschen von den Phantasmen unterscheiden zu können.
Nicolais Phantasmen zeigen eine große Beweglichkeit, während Jean Pauls Gestalten die
meiste Zeit im Raum sitzen oder stehen. Erst kurz vor ihrem Verschwinden heißt es: „Ich
blickte nach dem Zimmer zurück. Welches ringende Geister-Chaos! Die alten Gestalten gingen durcheinander – neue liefen zwischen sie“ (NG 1135). Damit werden sogar noch Nicolais
unruhige Geister übertroffen: „sie gingen gewöhnlich durch einander[,] als hätten sie nichts
unter sich zu verkehren, so wie sie etwa auf einem Markte, wo sich Alles nur fort drängt; zuweilen schienen sie Geschäfte mit einander zu haben“ (NP 337).
Ihre anfängliche Passivität erstreckt sich nur auf den motorischen Bereich. Sie halten Monologe vor dem Erzähler, die sich an ihn und die anderen Phantasmen richten. Ihre Sprachhandlungen geben längeren Passagen wörtlicher Rede wieder, die mit Angaben zur Intonation,
Gestik und Mimik kommentiert werden. Ihre Stimmen verfremden Sprachrohre (vgl. NG
1126)989 und erbebende Klaviersaiten (vgl. NG 1123). Die rote Maske bedient sich einer ungewöhnlichen Syntax. Sie reiht 27 Halbsätze, „entsetzlich-lange Perioden“ (NG 1129) zu einem unvollständigen Fragesatz aneinander.
Nicolais Phantasmen erreichen, selbst mit enormer Zeitverzögerung, nicht diese akustische
Präsenz:
Nach etwa vier Wochen, fing ich auch an reden [sic!] zu hören. Zuweilen sprachen die Phantasmen unter sich, mehrentheils aber ward ich angeredet. Diese Reden waren meist kurz, und hatten nie etwas Unangenehmes; mehrmal[s] erschienen mir verständige und von mir verehrte Freunde und Freundinnen,
deren Reden mich über Gegenstände meines Kummers, der natürlich noch nicht ganz verschwunden
sein konnte, trösteten. Diese Reden hörte ich doch mehr wann ich allein war; indeß auch zuweilen mitten in Gesellschaft, mitten unter den Reden wirklicher Personen: oft nur in einzelnen Phrasen, zuweilen
auch zusammenhangend [sic!] […]. (NP 338)
Über die Inhalte der sogenannten Reden schweigt sich Nicolai nahezu aus. Sie betreffen den
„Kummer“, der von seinen geheimen Familienangelegenheiten herrührt. In Jean Pauls Text
989
Jean Paul berichtet in seinen Blicken in die Traumwelt, dass der Philosoph „Moses Mendelssohn in seiner
Nervenkrankheit abends die Stimmen des Tags wie von einem nahen Hörrohr nachgeschrieen vernahm“ (BT
1040f.), was er nicht von Nicolai haben kann, da er zwar die Krankheit seines Freundes erwähnt, aber nicht näher beschreibt (vgl. BT 1040f.).
245
bestätigen die Figuren dem Erzähler die Nichtigkeit aller Existenz, womit sie ihn kaum trösten. Sie verstärken seinen Weltschmerz bzw. Kummer. Die Gestalten beider Krankengeschichten gehen in ihrer Weise auf die persönlichen Leiderfahrungen der Erzählenden ein.
Letztere thematisieren ihre psychische Verfassung, vermeiden aber sie explizit für das Auftreten der Erscheinungen verantwortlich zu machen. Auslöser der Phantasmen sind für Nicolai
die Kongestionen, sprich Blutandrang (vgl. NP 331). Seit 1783 ließen ihn Ärzte mindestens
zweimal jährlich mit dem Ansetzen von Blutegeln zu Ader. Sonst ist Nicolai physisch völlig
gesund. Von Jean Pauls Erzähler ist dies nicht zu behaupten. Er klagt über Kopfschmerzen
und Fieber (vgl. NG 1124) und vergleicht sich mit einem christlichen Märtyrer, der vom römischen Kaiser Nero wegen seines Glaubens verbrannt wird (vgl. ebd.). Andererseits nimmt
er auch die Rolle eines Ketzers oder Hexers ein, indem er die Glut eines Scheiterhaufens der
Inquisition in einem zweiten Vergleich die Leser evozieren lässt. Derartig weit hergeholte
Vergleiche stehen übrigens in einem harschen Kontrast zu Nicolais sachlichem Stil. Jean
Pauls Erzähler schmückt seine Krankengeschichte mittels sprachlich formulierter Bilder aus,
die auf Gelesenes bzw. Gesehenes zurückgehen.
Seine Propheten der Zeit haben wahrscheinlich skurrile Figuren aus dem Romanschaffen des
befreundeten Dichters Karl Philipp Moritz (1756-1793) zum Vorbild. Dieser trat als Mentor
Jean Pauls auf und verhalf ihm durch sein Engagement mit zum literarischen Durchbruch. 990
Die beiden Hartknopf-Bände von Moritz zählte Jean Paul zu seinen Lieblings-Büchern.991
Ein einsamer Erzähler imaginiert in melancholischer Stimmung den befreundeten Protagonisten Andreas Hartknopf als sein zweites Ich:
Oft unterhält sich meine Seele in einsamen Stunden mit dir in Gesprächen; ich sehe dich in meine kleine
Kammer treten; wir sehen uns und sehen den Himmel aus dem eröf[f]neten Fenster an – und ob wir
gleich nur gegen ein altes Gemäuer blicken, so erhebt sich doch unser Herz, wenn die Sonne darauf
scheint, und unsre Seelen ergießen sich gegeneinander in Liebe und Wärme, in süßen Gesprächen von
Zukunft und Vergangenheit (HK 3)
Hartknopf ist ein ehemalige Schmiedegeselle und Kandidat der Theologie auf Wanderschaft,
der zwei ketzerischen Ideen zu verbreiten sucht: die Viereinigkeit Gottes und die Schöpfung
der Welt aus alkalischen Salzen (vgl. HK 4). Dieser falsche Prophet wird zu einem Christus
stilisiert, indem ihm auf seiner Wanderschaft nachts zwei doppelgängerische „Schächer“ (HK
12) zugesellt werden. Der zur rechten ist ein Küster namens Küster, der seinen Dienst quittieren musste, weil er seinem Pfarrer als Prediger Konkurrenz zu machen suchte; der zur linken
ein ehemaliger Schuster namens Hans Hagebuck (vgl. HK 23ff.). Dieser hat u.a. die Schriften
990
Vgl. Schrimpf, Hans Joachim: Nachwort, in: Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1786).
Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790). Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787). Faksimiledruck der Originalausgaben. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Hans Joachim Schrimpf, Stuttgart 1968,
3*-83*.
991
Vgl. Jean Paul an Johann Christian Conrad Moritz am 30.10.1795, in: HK 437f.
246
des Schumachers, Mystikers und Philosophen Jakob Böhmes gelesen und tritt mit Küster missionarisch auf (vgl. ebd.).
Beide „Weltreformatoren und Kosmopoliten“ (HK 12) werden vom Erzähler als Marktschreier mit Taschenspielerkünsten denunziert (vgl. ebd.). Hartknopf, Hagebuck und Küster kann
man als falsche Propheten bezeichnen. Ein weiterer bekommt im Romangeschehen Platz eingeräumt: in seinem Geburtsort Gellenhausen begegnet Hartknopf seinem ehemaligen Lehrer
Elias (!), einem Rektor Emeritus, wieder (vgl. HK 51ff.). Am Galgenberg (vgl. HK 62ff.)
sprechen beide über das Träumen, Erwachen, Reflektieren im und jenseits des Traums, ehe
die sogenannten Weltreformatoren mit der Gellenhausener Jugend den Sonnenaufgang zelebrieren wollen. Ein lahmer, einäugiger Pudel, der Hartknopf begleitet hat und dessen Vetter
gehört, ist wie in der wunderbaren Nachtgesellschaft Jean Pauls mit von der Partie. Er wird zu
Tode getreten, als er Hagebuck bei der Rezitation seines Sonnengesangs stört. Hartknopf hält
für ihn eine Leichenpredigt (vgl. HK 81ff.). In dem Roman kommt es immer wieder zu ausgeprägten wörtlichen Reden, wie in Jean Pauls Erzählung. Elias melancholische Worte anlässlich des Wiedersehens mit Hartknopf beschreiben das Werden und Vergehen ähnlich einprägsam wie der Schlossherr von Mittelspitz in seiner Gemütslage:
Sonnen sind aufgegangen und Sonnen sind untergegangen, seit ich dich nicht gesehen habe, Menschen
sind in Staub gesunken, und Menschen sind geworden, der Schnee hat oft diese Hügel und diese Thäler
bedeckt, und ist wieder von den Strahlen der Sonne hinweggeschmolzen (HK 64)
Jean Pauls Erzähler kann wirklich nur einiges seiner Dichtung „aus den Gemälden [… seines]
Zimmers zu erklären“ (NG 1136). Es scheint sich um Reproduktionen von Gemälden zu handeln. Der Besitzer des „Schlößlein zu Mittelspitz“ (NG 1124) dürfte kaum das Original von
„Da Vinci's“ Christus im Tempel erworben haben (s.o.). Für die Ausstattung des Raumes
kommen Kupferstiche genauso wie Ölgemälde in Frage. Diese ‚unvollkommenen Bilder‘ stimulieren nach Auffassung des Erzählers die Phantasie während der Betrachtung und werden
dadurch so lebendig, dass sie den Stoff zur Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht
liefern. Ob der empirische Autor Jean Paul seine Ansicht teilt, ist eher fraglich. Bekanntlich
verfügte Jean Pauls Arbeitszimmer über keinerlei Bildschmuck. Daraus ist zu schließen, dass
er entweder die Entfesselung seiner Phantasie durch Bilder fürchtete – oder dieses Hilfsmittel
entbehren konnte. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Fantasiestücke in Callot‘s
Manier der Fiktion nach wie die Wunderbare Gesellschaft durch die Betrachtung von Kunstwerken generiert worden sein sollen. Das Erklärungsmodell für die Entstehung ausgefallener
Phantasieprodukte scheint eine Akzeptanz über Jean Pauls Text hinaus zu besitzen, wenngleich seine Gültigkeit für die reale Literaturproduktion ungewiss ist.
247
Nicolai nimmt knapp zwei Monate die Erscheinungen wahr. Am 24. Februar 1791 stellen sie
sich um 10.00 Uhr Vormittag zu Hause schlagartig ein; am 20. April desselben Jahres verschwinden dieselben innerhalb von neun Stunden bis 20.00 Uhr infolge des Aderlasses (vgl.
NP 331 und NP 339f.). Das sind nicht die einzigen Zeitangaben, die der Leser über sich ergehen lassen muss. Mit ihnen wird der Eindruck genauesten, wissenschaftlichen Protokollierens
erweckt, der sich bei der Auswertung der Phantasmen-Beschreibungen eher verflüchtigt.
Die Wahrnehmungsstörung des Erzählers von der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht ist von wesentlich kürzerer Dauer. Die erzählte Zeit umfasst etwa einen halben
Tag. Um 15.00 Uhr setzt die Schilderung der Neujahrsnacht ein (vgl. NG 1123); nach 00.00
Uhr klingt sie aus (vgl. NG 1138). Der ‚Besuch‘ der wunderbaren Gesellschaft ist von noch
kürzerer Dauer. Dementsprechend schnell muss auch der Spuk vergehen. Nicolais Phantasmen verblassen neun Stunden nach Ansetzen der Blutegel völlig!
Die zeitliche Verdichtung des Phantasmen-Erlebnisses in Jean Pauls Text geht mit einer
räumlichen einher, wodurch der Fall spektakulärer und bedrohlicher wirkt. Folge dieser Konzeption ist das Wegfallen einiger Beobachtungen Nicolais. Da der Erzähler den Innenraum
seines Arbeitszimmers nicht verlässt, ist es müßig darüber zu spekulieren, wo ihm noch Phantasmen begegnen könnten. Eine Omnipräsenz ist nur wahrscheinlich. Er sieht Phantasmen
nicht nur im Zimmer, sondern auch im Nachthimmel, wenn er aus dem Fenster blickt. Nicolai
nimmt sie bei Aufenthalten in seinem Haus, im Freien und fremden Häusern zu allen Tageszeiten wahr (vgl. NP 336). In dem Text von Jean Paul behaupten die drei Propheten der Zeit,
zum Wechsel des Jahrhunderts verschwinden zu müssen.
Dem Erzähler Jean Pauls bleibt keine Zeit, die Phantasmen durch Nicolais Experimente zu
erforschen: „Wenn ich [= Nicolai] die Augen zumachte, so waren zuweilen die Gestalten
weg, zuweilen waren sie auch bei geschlossenen Augen da. Blieben sie aber alsdann weg, so
erschienen nach Öf[f]nung der Augen wieder ungefähr vorher gesehenen Figuren“ (NP 336f.).
Ein kontrolliertes Erzeugen der Phantasmen misslingt Nicolai: „Auch versuchte ich, nachdem
diese Erscheinungen einige Wochen gedauert hatten, und ich mich dabei ganz ruhig befand,
Phantasmen von mir bekannten Personen selbst hervorzubringen, welche ich mir deshalb sehr
lebhaft vorstellte; aber vergeblich“ (NP 335). Sein Selbstversuch wird durchaus in dem JeanPaul-Text berücksichtigt. Der Erzähler erklärt sich die Gestalten aus seinen Gedanken und
äußeren Einflüssen, denen sich offenbar Nicolai nicht ausgesetzt hat. Er hat sich entschieden
in Nicolais Sinne seine Frage zu beantworten: „Ob es nicht Wesen entweder der zweiten Welt
oder meines Gehirnglobus sind“ (NG 1126)?
248
Als Ergebnis der Betrachtung von beiden Texten lässt sich festhalten: Jean Pauls Fiktion folgt
bei aller gestalterischen Freiheit, die er sich genommen hat, im wesentlich der faktual rezipierten Krankengeschichte Nicolais. Der ‚gesunde‘ Nicolai vertritt die Ansicht, dass jeder
unter gewissen Umständen mit Phantasmen konfrontiert werden könnte. Sein Versuch, die
Existenz von Geistern zu widerlegen, beweist dem dichtenden Erzähler Jean Pauls die Wirkungsmächtigkeit der Einbildungskraft. Bei der zeitgenössischen Leserschaft dürfte der Eindruck erweckt worden sein, einen direkten Einblick in die Werkstatt eines Schriftstellers erhalten zu haben. Dass dieses fiktionale Konstrukt eines schöpferischen Vorgangs keine ‚LiveÜbertragung‘ aus dem Arbeitszimmer Jean Pauls ist, wurde bereits angedeutet. Man rufe sich
auch die tatsächliche Entstehungszeit der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht ins
Gedächtnis zurück, den Sommer 1800. Selbst wenn der faktische und fiktive Zeitpunkt der
Niederschrift, wie bei Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht zusammenfallen würden,
bliebe der fiktionale Charakter des Ganzen erhalten.
Wie ist nun der erwiesene ‚papierene‘ Ursprung von Jean Pauls Text mit seiner phantasmagorisch-intermedialen Schreibweise in Einklang zu bringen? Schließlich war es nicht möglich,
markierte Referenzen auf Projektionsmedien zu finden. Diese ließen sich nur aus anderen
Werken des Autors gewinnen, obgleich die Erzählung etliche transmediale Merkmale damaliger Projektions-Spektakel aufweist.
Das Problem sieht folgendermaßen aus: Schreibende Personen und Phantasmagoren suchen
Phantasmen jeweils mit den ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln nachzubilden. Während
der empirische Autor der Wunderbaren Gesellschaft völlig auf die schon einmal verbalisierten Phantasmen Nicolais setzt, bedient sich Hoffmann der inszenierten Phantasmen Enslens.
Beiden literarischen Erzählungen ist gemein, dass sie nicht direkt auf primäre Erlebnisse zurückgehen bzw. nicht diesen Eindruck erwecken wollen.992 Indem die geschilderten Erscheinungen über fremde Medienprodukte vermittelt werden, wird die Aufmerksamkeit auf das
Dispositiv (der Wahrnehmung) gelenkt. Die Wahrnehmung der fiktiven Erzähler unterliegt
möglicherweise einer Täuschung. Nicolai versucht ‚genauso‘ wie Enslen, ‚seine‘ Phantasmen
so anschaulich zur Darstellung zu bringen, dass sich beim Publikum die Illusion selbsterlebter
Halluzinationen einstellt. Beide verfolgen natürlich diametral auseinanderliegende Ziele.
Während Nicolai im Endeffekt desillusionieren – alle belehren will, dass es keine Geister ge-
992
Hoffmann hat auf einem Ball am 8.11.1809 den sonderbaren Einfall gehabt, sein Ich durch ein Vervielfältigungsglas zu sehen und alle Gestalten, die sich um ihn bewegten als Ichs anzusehen, über deren Tun und Lassen
er sich ärgert. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Tagebücher 1803-1813, in: ders.: Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift. Werke 1794-1813, Bd.1. Hg. v. Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut
Mangold, Jörg Petzel u. Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 2003, 325-488, hier 375.
249
be, sucht Enslen für beste Unterhaltung eines Publikums zu sorgen, das sehr wohl getäuscht
werden will.
Fazit: Phantasmagoren und Dichter bemühten sich zur Zeit der Romantik innere Bilder zu
erzeugen. Beide ‚Künstler-Gruppen‘ vermochten die Illusionswirkung ihrer Medienprodukte
mit Referenzen auf altermediale Nachschöpfungen von Halluzinationen zu unterstützen. Daraus ergeben sich in praktischer Hinsicht zwei Fragen:
(A) Wie sind innere Bilder beschaffen?
(B) Wo kommen die inneren Bilder her?
Antworten sucht Jean Paul zu geben – in einem deutlichen zeitlichen Abstand zur Publikation
der Wunderbaren Gesellschaft. Sein Aufsatz, Blicke in die Traumwelt,993 ist als ein Beitrag
zum wissenschaftlichen Diskurs über das Träumen bzw. die Phantasie zu verstehen – freilich
aus der Perspektive eines Dichters. Er fasst jahrzehntelange Überlegungen zu Träumen und
Gesichten zusammen, in denen sich innere Bilder einstellen.994 Daraus ergibt sich für den
heutigen Interpreten eine dritte Fragestellung, die zu den beiden oben genannten, ‚praktischen‘ quer liegt:
(C) Inwiefern gelten Jean Pauls ästhetische Systematisierungsversuche (A) und Hypothesen (B) zur Entstehung von inneren Bildern schon für die sprachliche Umsetzung
der alptraumhaften Erzählung über die dichterischen Visionen einer Neujahrsnacht?
Vor einer Auseinandersetzung mit den Blicken in die Traumwelt sind zwei Aspekte hervorzuheben, die eine gewisse Bedeutung für Jean Pauls und Hoffmanns Schreiben haben sollten.
Erstens verspricht der Essay eine Relativierung des erweckten Eindrucks einer rein intertextuell und intermedial geprägten Literaturproduktion bei Jean Paul, gegen die z.B. sein VitaBuch und „Gedanken“-Hefte sprechen. In ihnen sammelte er, ähnlich den Lesefrüchten, seine
Träume.995 Er folgte also privat Nicolais Aufruf, Phantasmen bzw. innere Bilder zu fixieren
und zu sammeln. Von einer völlig ‚papierenen‘ Herkunft der Wunderbaren Gesellschaft ist
dementsprechend nicht auszugehen.
Zweitens kannte E.T.A. Hoffmann mit sehr großer Wahrscheinlichkeit diese Schrift; denn auf
den ersten Aufsatz in Jean Pauls Textsammlung Museum beruft sich der dichtende Cyprian in
993
Er schließt als elfter Beitrag einen Sammelband mit (nicht literarischen) Schriften Jean Pauls ab, die dieser
unter dem Titel Museum zusammenstellte. Das Vorwort liefert zwei Erklärungen. Erstens gebe es gebaute und
geschriebene Museen. Zweitens handele es sich bei allen folgenden Aufsätzen, bis auf die letzten drei (einschließlich der Blicke in die Traumwelt) um Texte, die er in ihren Urfassungen als korrespondierendes Mitglied
des Frankfurter Museums zwischen 1809 und 1813 zum Vorlesen dorthin geschickt habe. Vgl. Paul, Jean: Museum, in: ders.: Jugendwerke II. Vermischte Schriften I, Sämtliche Werke, II. Abt., Bd. 2. Hg. v. Norbert Miller,
München 1976, 877-1048, hier 878-883.
994
Vgl. Pfotenhauer 2006, 7-36, hier 11 und Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: „Der Traum ist unwillkürliche
Dichtkunst“. Traumtheorie und Traumaufzeichnung bei Jean Paul, in: JbJPG 35/36 (2001), 93-113.
995
Zum Vita-Buch und „Gedanken“-Heften vgl. Pfotenhauer 2011, 43-52, hier 47.
250
den Serapionsbrüdern.996 Natürlich kann nicht der Beweis erbracht werden, dass er den Aufsatz noch vor der Niederschrift der Abenteuer der Silvesternacht gelesen hat, denn die Zeitspanne zwischen dem Erscheinen des Museums am 12.10.1814997 und dem 1.1.1815 ist kurz.
Andererseits reagiert Hoffmann schnell: Peter Schlemihls wundersame Geschichte hat er jedenfalls erst im Herbst 1814 kennengelernt.
Jean Paul stellt mit den Blicken in die Traumwelt zunächst eine Typologie innerer Bilder auf,
in die er die bekannten Phantasmen von Nicolai einordnet. Auf eine Kritik von Nicolais Text
kommt es ihm dabei genauso wenig an, wie auf die Formulierung einer literaturästhetischen
Position. Er führt seine anthropologischen Vorstellungen aus. Jean Pauls Darstellung der
Traumwelt zeichnet sich durch eine für ihn seltene, klare Strukturierung des Textes aus, verzichtet aber oft auf eine Bündelung der beschriebenen Phänomene unter aussagekräftigen
Überbegriffen.998
(A) Mit der Differenzierung von „Vorstellbildern“ und „Empfindbildern“ erspart sich Jean
Paul, diese inneren Bilder begrifflich in einer Klasse zusammenzufassen. In seinem Sinne
wären die inneren Bilder als Traumbilder zu bezeichnen; doch er kommt seinen Rezipienten
entgegen. Mit Unbehagen nennt er die Empfindbilder auch Traumbilder, obwohl das für ihn
ebenso die Vorstellbilder sind. Schärfe und Farbintensität gelten ihm als Hauptunterscheidungskriterien der inneren Bilder. Vorgestellte Bilder sind schwächer als empfundene Bilder:
Die Vorstellungen sind aber mit ihrer Dürftigkeit der Farbe und des Umrisses in Vergleichung mit den
Empfindbildern noch gar nicht tief genug herunter gestellt. Stelle dir irgend einen alten Bekannten vor:
wie fließet das Bild ohne Innenhalten auf und ab, ohne klare Farbe, ohne abgeschnittenen Umriß, kurz,
wie ist es, gegen das Spiegelbild des Traums, nicht etwan ein fester Kupferstich, sondern ein durchsichtiger Schattenriß, ein wallendes Bild in bewegtem Wasser. Ist dagegen nicht das Empfindbild von demselben Freund ein wahres, in allen Theilen ein festes Wachsbild? (BT 1020)
Die Beschreibung innerer Bilder erfolgt bemerkenswerterweise über Analogien zu Medienprodukten. Schattenrisse, die als Silhouetten paradoxerweise keinen Umriss besitzen und in
ihrer Transparenz zur Unsichtbarkeit tendieren, repräsentieren die diffusen Vorstellbilder.
Wachsfiguren und Spiegelbilder stehen für die Empfindbilder. Das Spiegelbild, bekommt
damit eine weitere Bedeutungsdimension neben Reflexion (in einem Spiegel) und projiziertem Bild (mit oder ohne Beteiligung eines Spiegels). Nun bezeichnet das Spiegelbild auch
Traumbilder.
996
Gemeint sind die Muthmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus. Vgl. Neumann 1999,
107-142, hier 131. Hoffmann trieb intensive Studien zu Halbschlafbildern und kannte dementsprechend einschlägige, wissenschaftliches Schrifttum seiner Zeit, wie Gotthilf Heinrich Schuberts Symbolik des Traumes, die
noch im Jahr ihres Erscheinens (1814) in Bamberg gelesen hat. Vgl. Pfotenhauer, Helmut: »Jenes Delirieren, das
dem Einschlafen vorherzugehen pflegt«. Zur Poetik und Poesie der Halbschlafbilder bei Tieck und Hoffmann,
in: Pfotenhauer / Schneider 2006, 53-69, hier 61.
997
Vgl. ebd.
998
Dies wurde bei der graphischen Umsetzung seines Modells besonders deutlich.
251
Vor einer detaillierteren Darstellung der Empfindbilder Jean Pauls muss auf seinen weit gefassten Bild-Begriff hingewiesen werden. Er enthält neben einer visuellen auch eine akustische Komponente. Auf diese verzichtet er bewusst bei der Klassifizierung der inneren Bilder.
Er gibt Probleme bei dem Unterscheiden imaginierter Hörbilder von akustischen Reizen der
realen Umwelt zu (vgl. BT 1026f.).
Innere Bilder
"Vorstellbilder"
"Fieberbilder"
"Empfindbilder"
(bzw. "Traumbilder"
oder "Spiegelbilder")
Halbschlaftraumbilder
Schlaftraumbilder
Jean Pauls Klassifikationsmodell der inneren Bilder.
Die Begriffe mit Anführungszeichen stammen von Jean Paul, die anderen sind auf Grundlage des Textes
gebildet worden.
Die Anwendbarkeit seines Klassifikationsmodells für innere Bilder beruht auf der klaren
Trennung von innerem und äußerem Erleben, zu der die betroffenen Personen mehr oder
minder gut in der Lage sind – man denke nur an Hoffmanns reisenden Enthusiasten. Die Dominanz der Wirklichkeitswahrnehmung von der realen Umwelt ist in den Empfindbildern
unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Reinheit der Empfindbilder kann verschiedene Güteniveaus erreichen, was Jean Paul im Bild der „Stufenreihe“ (BT 1024ff.) zum Ausdruck bringt.
Jeder Stufe weist er eine Erscheinungsform von Empfindbildern zu. Auf der untersten Stufe
rangieren die Fieberbilder. Sie „treten kräftig mitten in die helle Gegenwart mit festen Farben“ (vgl. BT 1024). Auf der nächst höheren Stufe werden Bilder angesiedelt, die sich „nicht
in die Tages-Wirklichkeit […] drängen und mit den Farben der Gegenwart zu streiten haben“
(BT 1025). Sie erschienen dem „geschloßnen, aber wachen Auge kurz vor dem Einschlafen“
(ebd.). Dies geschehe „in Erhitzungen und Ermattungen“ (ebd.), „am stärksten in schlaftrunkenen und schlafdurstigen Nächten“ (ebd.). Unter diesen Umständen stellten sich „die Gestalten, welche um Nikolai und andere gaukelten“ (BT 1024) ein. Fließend gestaltet sich (trotz
des Bildes der Treppe) der Übergang zu den deutlichsten Formen der Empfindbildern, dem
252
sich „Selbersehen“ (ebd.) und dem „Sehen abwesender Freunde“ (ebd.): „Und hier betreten
wir das Gaukelerreich des Traums, wo die Empfindbilder gewöhnlich einsam auf ihrer Bühne,
ohne ein durch die Kulissen einfallendes Tag[es]licht äußerer Empfindungen, spielen“ (BT
1025). Doppelgängern und in der Ferne weilenden Freunden kann man demnach nur schlafend im Traum begegnen.
Nach dieser Orientierung in Jean Pauls Systematisierung der inneren Bilder muss man eine
wenig sorgfältige Bestimmung von Nicolais Phantasmen feststellen. Da dieser zuweilen in der
Ferne weilende Bekannte gesehen haben will, sind seine Empfindbilder nicht nur auf der
zweiten Stufe, sondern auch auf deren dritten Stufe anzusiedeln. Die erste Stufe der Empfindbilder, die Fieberbilder, hat Nicolai nach seinem Bekunden schon vor den Phantasmen kennengelernt:
Ich bin ferner sehr oft in einem Zustande zwischen Schlafen und Wachen, in welchem sich eine Menge
Bilder von aller Art, oft die seltsamsten Gestalten, zeigen, sich ändern und verschwinden. Im J. 1778
hatte ich ein Gallenfieber[,] das zuweilen, doch selten, bis zum Phantasi[e]ren stieg. Gegen Abend kam
täglich der Fieberanfall. Wenn ich zu der Zeit die Augen geschlossen hatte, so konnte ich den Anfang
der Kälte des Fiebers, selbst ehe die Empfindung des Frostes merklich ward, daraus spüren, daß kolorierte Bilder in weniger als halber Lebensgröße, wie in einem Rahm[en] gefaßt, sich mir deutlich zeigten. Es waren Arten von Landschaften[…]. Behielt ich die Augen geschlossen, so ändere sich nach einer Minute immer etwas in dieser Vorstellung, einige Figuren verschwanden und andere erschienen.
Öf[f]nete ich aber die Augen, so war alles weg; schloß ich sie wieder, so war eine ganz andere Landschaft da. (NP 350f.)
(A/C) Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht scheint gegenüber Nicolais
Schilderungen die ganze Palette von inneren Bildern abzudecken. Die Gedanken über die
Zeitläufe führen zu Vorstellbildern:
[Ich] hatte besonders über den unabsehlich-langen, um die Erde kriechenden Strom der künftigen Zeit
meine schwermütigen Gedanken […]. In die hinter fünf, sechs Jahrtausenden liegende Vergangenheit
zurückzuschauen, gibt uns mutige Jugend-Gefühle; sie kommt uns als unsere antizipierte Kindheit vor;
hingegen vorauszublicken weit über unsern letzten Tag hinweg, und unzählige Jahrtausende herziehen
zu sehen, die unsern bemooseten Spiel- und Begräbnisplatz immer höher überschneien und auf uns neue
Städte und Gärten und auf diese wieder neuere und so ungemessen fort aufschlichten, dieses ewige immer tiefere Eingraben und Überbauen verfinstert und belastet uns das freie Herz. (NG 1124)
Fieber und Ermattung durch Migräne scheinen zusammenzukommen, so dass sich Empfindbilder bis zur zweiten Stufe in der Folge einstellen können (NG 1124). Als die Luftschiffe mit
den toten, innig geliebten Menschen am Fenster vorbeifliegen (vgl. NG 1135), ist die letzte
Stufe der Empfindbilder erreicht. Geliebte Verstorbene entsprechen räumlich entfernten
Freunden (vgl. NP 335). Das Auftreten einer Doppelgänger-Erscheinung im Zusammenhang
mit einem Spiegel bestätigt dies (vgl. NG 1135). Da eine Loslösung des Spiegelbildes von der
reflektierenden Fläche wahrgenommen wird, handelt es sich um einen Doppelgänger. Jean
Paul bezeichnet in Abgrenzung zu den Vorstellbildern die Empfindbilder als Spiegelbilder.
Wenn er sich über das Navigieren durch die Traumwelt auslässt, schildert er einen Mecha-
253
nismus, der wie das Zerschlagen des Doppelgängers im Spiegel die Empfindbilder vernichten
soll (vgl. ebd.):
Zu manchen Gestalten sag’ ich, aber in einer erhabenen Qual: »Ich wecke mich, so seid ihr ja vertilgt«;
so wie ich einmal mit diesem Bewußtsein des nichtigen Bestandes mich vor den Spiegel stellte und
fürchtend sagte: »ich will sehen, wie ich im Spiegel mit geschloßnen Augen aussehe.« (BT 1036)
Hier wird ein aktives Eingreifen in den Traum durch den Geist für möglich gehalten. Außerhalb seines Modells für innere Bilder beschreibt Jean Paul Wahl- oder Halbträume (vgl. BT
1034ff.) beim kurzzeitigen Erwachen aus dem Nachtschlaf am Morgen.
(B) Die Blicke in die Traumwelt bleiben nicht bei der Klassifikation von inneren Bildern stehen, sondern suchen ihre Entstehung mit eigenen Erfahrungen und dem anatomisch –
medizinischen Wissen der Zeit zu erklären. Einen besonders hohen Stellenwert billigt die Argumentation erlebten Wahlträumen zu (vgl. BT 1038ff.). Als die vier „Mit-Schöpfer“, „Mitbildner“ oder „Mitarbeiter am Traume“ werden (1) das „Gehirn“, (2) der „Geist“, (3) das
„körperliches Gedächtnis der Fertigkeit“ und (4) die „Außenwelt“ postuliert999, sowohl (a) die
vergangene als auch (b) die gegenwärtige.
körperliches
Gedächtnis
der Fertigkeit
Geist
Gehirn
Außenwelt
Traum
Die Einflussfaktoren, die nach Jean Paul den Ablauf von Träumen und die Gestalt ihrer inneren Bilder
bestimmen.
Im Gehirn1000 (1) sind die Reize einer vergangenen Außenwelt (4a) als Empfindungen
gespeichert, die der Geist (2) im Schlaf auswählt und als Empfindbilder betrachtet: der Geist
tritt nicht nur „als bloßer Zuschauer und Zuhörer seines Gehirns, sondern als Bilderaufseher
und Einbläser der Empfind-Bilder“ auf (BT 1043). Aus jedem Erinnerungsprozess resultiert
999
Zur Entlastung des Textes werden hier die Fundstellen der Direktzitate in Reihenfolge ihrer Verwendung
aufgelistet: BT 1045, BT 1046, BT 1044f., BT 1040, BT 1043, BT 1044 und BT 1045.
1000
Jean Paul versteht unter Gehirn nicht die endliche Ansammlung materieller Teile, Gehirnmasse, sondern ein
Äthergehirn, das er mit Geist oder Seele gleichsetzt. Vgl. Pfotenhauer 2011, 43-52, hier 51.
254
folglich eine temporäre Ich-Dissoziation. Gefangen im „Traum […] wird das sinnende Ich in
drei Ich[s] zersetzt, in das fragende, das suchende, das findende; nur daß das erste [das fragende Ich] und das dritte [das findende Ich vermögen] sich hinter ein[em] Empfindbild [zu]
verstecken“ (BT 1044). Als das „sinnenden Ich“ betätigt sich offenbar der Geist, der die Empfindbilder betrachtet und auswählt. Dabei erweist sich er sich sogar noch produktiver und kreativer als sonst.1001 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jean Paul nicht erklärt,
was der „Geist“ an sich ist. Das körperliche Gedächtnis der Fertigkeit (3) meint die Reihung
und Ordnung der Bilder ohne Einmengung des Geistes, nur aufgrund von habitualisierten Abläufen.1002 Die Reize der gegenwärtigen Außenwelt (4b) nötigen den Geist (2) „sich eine Bilderwelt zu ihrer Erklärung zu schaffen“ (BT 1045). Die „Mitarbeiter am Traum“ sind die Personifikationen von organischen, psychischen und physischen Dispositionen des Menschen,
sowie der auf ihn wirkenden Umwelteinflüsse. Sie stehen mehr oder minder stark in Wechselwirkung zueinander.
(B/C) In wie weit trifft man sie in der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht an?
Während des Traumes sind als Außenwelt (4a, 4b) vor allem das Arbeitszimmer, sein Interieur, das Dorf und der Himmel, die im Fenster sichtbar sind, anzusprechen. Hinzu kommt noch
die Temperatur. Der Erzähler vermutet allerdings eine alleinige Beeinflussung seines Traumes
durch die Bilder an den Wänden seines Arbeitszimmers. Der Spiegel als Teil der Einrichtung
und Außenwelt (4b) repräsentiert diese samt der Physiognomie des Erzählers als Reflexion.
Damit übt sie unverkennbar eine Wirkung auf den Träumenden aus. Wie im Wachen, schlägt
er aufgrund des körperlichen Gedächtnisses der Fertigkeit (3) erstaunlicherweise tatsächlich
zu. Infolge der Verletzungen durch das splitternde Glas endet der Traum. Der Träumende (!)
fragt sich bekanntlich zuvor, ob die Personen der wunderbaren Gesellschaft Wesen einer
zweiten Welt oder seines Gehirnglobus sind (vgl. NG 1126). Im Weltbild des Erzählenden
kann das Gehirn (1) an der Erzeugung von Figuren, sprich Empfindbildern, beteiligt sein.
Entsprechend der Theorie Jean Pauls wissen die Ich-Anteile von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr als das Erzählersubjekt. Es vermag deshalb den Ausführungen
der anderen Ich-Anteile bestens zu folgen. Pfeifenberger, der mit der Rolle eines Dichters
kokettiert, spricht Zukunftsvisionen aus, die nur die Gedankengänge des Erzählers fortsetzten,
ehe er in die Traumwelt hinübergedämmert ist: „Übrigens bescheid‘ ich mich gar gerne, daß
Jahrhunderte, ja Jahrtausende kommen, die mich nicht lesen“ (NG 1128). Er und Pfeifenberger suchen vergeblich nach etwas, das ewig währt. Hinter dem Empfindbildern der roten
1001
1002
Pfotenhauer 2011, 43-52, hier 51.
Vgl. Pfotenhauer 2006, 18.
255
Maske und des Jünglings verbergen sich die übrigen Ich-Anteile des Erzählers: der Fragende
und der Findende. Die rote Maske fragt, ob das offenbar endlose Werden und Vergehen die
Ewigkeit ist? Der Jüngling findet die Ewigkeit in Gott, der noch immer existiert, wenn alle
Existenz der Vergangenheit angehört. Das „zersetzte“, „sinnende Ich“ (s.o.) findet also in der
Traumerzählung seine komplette Darstellung.1003 Da der Zuschauer und Zuhörer der IchAnteile (Plural!) der Erzähler selbst ist und mit diesen kommuniziert, nimmt er die Position
des ordnenden Geistes (2) in dem Modell ein. Er macht sich über die Zukunft schwermütige
Gedanken und rekapituliert entsprechend seines christlichen Weltbildes die fünf bis sechs
Jahrtausende Vergangenheit (vgl. NG 1123). Dazu benötigt er die Erinnerung an Empfindungen, die aus seinem Kontakt mit der Außenwelt resultieren. Sowohl das leibliche Geschehen
und seine Automatismen, als auch die Wahrnehmung der externen Welt, sind ihm Veranlassung innerer Aktivitäten, nicht aber deren Festlegung.1004 Das angeeignete Wissen besteht aus
primären Wahrnehmungen der Umwelt und vorhandenen Medienprodukten. Somit stellt der
Traum eine Melange aus Alltagserfahrungen und rezipierten Medien dar. Jeder Traum ist intermedial – betrachtet man ihn selbst als ein Medienprodukt. Damit enthält ein Traum in
schriftlicher Form1005 stets intermediale und intertextuelle Bezüge.
Traumdichtung muss in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts notwendigerweise genauso
intermedial wie die Phantasmagorien sein, die ihrerseits Träume nachbilden – Episoden aus
literarischen Stoffen aufgreifen. Sie stehen in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander.
Intermediale Bezüge auf Projektionsvorstellungen seitens der Dichter bringen dies zum Ausdruck. Nachdem die vielfältigen Bezüge auf Projektionsmedien in den Abenteuern der Silvesternacht und ihren beiden mutmaßlich wichtigsten Prätexten sich weitgehend bestätigt haben,
gilt es die Intertextualität des Fantasiestücks von Hoffmann näher in Augenschein zu nehmen.
Wie hängt sie mit der Intratextualität und der Intermedialität zusammen, die nachweislich in
einer Wechselwirkung zueinander stehen?
1003
Jungfrau, Kind und Pudel deuten möglicherweise an, dass das Ich noch in weitere Bestandteile zerfallen ist.
Vgl. Pfotenhauer 2006, 15 und Pfotenhauer 2011, 43-52, hier 51.
1005
Das kann ein rekonstruierter Traum genauso wie ein konstruierter Traum sein. Wenn man einen Traum als
Medienprodukt begreift, so ist ein rekonstruierter Traum in Form eines Textes die Manifestation eines Medienwechsels. Vgl. Kremer, Detlef: Traum als Präfiguration, topologische Schwelle und Verdichtung des romantischen Textes, in: Alt / Leiteritz 2005, 113-128, hier 115.
1004
256
9. Die Intertexte von Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Silvesternacht
9.1. Die unmarkierten, intertextuellen Bezüge auf Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in
den Abenteuern der Silvesternacht
Da Jean Pauls Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht durch das letzte Kapitel noch
halbwegs präsent ist, bietet es sich an, diesen Prätext von E.T.A. Hoffmanns Abenteuern der
Silvesternacht als ersten zu besprechen. Er nimmt unter den Intertexten des Fantasiestücks
ohnehin eine Sonderstellung ein; denn die vorhandenen Referenzen verfügen über keine signifikanten Markierungen. Sie blieben wohl den meisten Zeitgenossen und Literaturwissenschaftlern bis zur Entdeckung durch Barbara Neymeyr verborgen, 1006 da der Auftritt von
Chamissos Peter Schlemihl die Aufmerksamkeit massiv in eine andere Richtung lenkt und
Jean Pauls Erzählung sich vergleichsweise einer geringeren Popularität erfreut.
Anders als Chamisso, äußerte sich Jean Paul weder schriftlich, noch mündlich über das ‚Plagiat‘. Nur ganz pauschal soll er Hoffmann einer generellen Nachahmung und Plünderung seiner besten Ideen in einem privaten Gespräch mit Ludwig Rellstab bezichtigt haben. 1007 Öffentlich konnte er diese Kritik wohl nicht üben, da er als intensiver Nutzer seiner umfangreichen Exzerpte, wie unmittelbar vor dem Kapitel „Jean Pauls Gestalten und Nicolais Phantasmen“ bereits dargestellt, selbst Gefahr lief, sich den Vorwurf des Nachahmers und Plünderers
zuzuziehen.
Über das distanzierte, aber nicht dezidiert feindliche Verhältnis beider Dichter zueinander,
braucht hier nicht geschrieben werden, da immer wieder dazu Informationen zusammengestellt wurden.1008
Auf die Unterschiedlichkeit ihrer künstlerischen Positionen soll kurz eingegangen werden,
ehe die Verwandtschaft zweier Werke herausgearbeitet wird. In dem Vorwort zur zweiten
Auflage des Romanfragments Die unsichtbare Loge grenzt sich Jean Paul deutlich von der
romantischen Schule ab. In diesem Zusammenhang äußert er sich auch über E.T.A. Hoffmann
und die Fantasiestücke in Callots Manier, zu denen er die Vorrede verfasst hat:
Dieser romantische Kunst-Wahnwitz schränkt sich glücklicherweise nicht auf das Weinen ein, sondern
erstreckt sich auch auf das Lachen, was man Humor oder auch Laune nennt. Ich will hier der VorredenKürze wegen mich bloß auf den kraftvollen Friedrich [sic!] Hoffmann berufen, dessen Callotische Phantasien ich früher in einer besondern Vorrede schon empfohlen und gepriesen, als er bei weitem weniger
hoch, und mir viel näher stand. Neuerer Zeit nun weiß er allerdings die humoristischen Charaktere –
zumal in der zerrüttenden Nachbarschaft seiner Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtgespenster, welche
kein reines Taglicht und keinen festen Erdboden mehr gestatten – zu einer romantischen Höhe hinauf1006
Vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier 72.
Vgl. Rellstab, Blätter der Erinnerung, Schnapp 1974, 596.
1008
Vgl. stellvertretend Pfeiffer-Belli, Wolfgang: E.T.A. Hoffmanns Begegnungen mit Jean Paul, in: Hesperus.
Blätter der Jean-Paul-Gesellschaft 11(1956), 49-51 und Steinecke 1993, 533-858, hier 599ff.
1007
257
zutreiben, daß der Humor wirklich den echten Wahnwitz erreicht; was einem Aristophanes und Rabelais und Shakespeare nie [hat] gelingen wollen. Auch der heitere Tieck tat in frühern Werken nach
diesen humoristischen Tollbeeren einige glückliche Sprünge, ließ aber als Fuchs sie später hangen und
hielt sich an die Weinlese der Bacchusbeeren der Lust. – –1009
Hoffmann geht Jean Paul mit seiner phantastischen Erzählweise zu weit. Er selbst lässt Visionen, Träume und Dämmerzustände nur Episoden in seiner Dichtung sein, die im Kontrast zur
Wirklichkeit stehen. Als Konstrukt eines Erzählers und seiner Figuren, das über eine bildreiche Sprache transportiert wird, erscheint sie sicherlich nicht „realistisch“ oder „naturalistisch“
wie in der Literatur der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Welche Werke Jean Pauls rezipierte nun Hoffmann als Leser? Eine frühe Lektüre des Fragments der Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin (1796) lässt sich
nachweisen.1010 Das ist jedoch in einer Zeit, in der Hoffmann keine schriftstellerischen Ambitionen zeigt – und die Quellenlage über ihn eher dünn ist. Die überlieferten, frühen Briefe
haben durchaus einen schwärmerischen Duktus, der an Jean Pauls Schreibstil erinnert. Man
darf annehmen, dass Hoffmann als junger Erwachsener alle Neuerscheinungen des Dichters
sofort verschlungen hat. Im Januar 1811 las Hoffmann Dr. Katzenbergers Badereise
(1809).1011 Die Lektüre des Siebenkäs (1796–97) ist ebenso wahrscheinlich. Zum einen erwähnt Jean Paul seinen Roman (!) in dem Vorwort der Fantasiestücke Hoffmanns, zum anderen existiert in der ersten Fassung der Abenteuer der Silvesternacht noch eine deutliche Anspielung auf dessen barock anmutenden, vollständigen Titel: „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel“.1012 Für den reisenden Enthusiasten des Fantasiestücks hat der
Teufel an jedem Silvesterabend ein „besonderes Fest und Dornenstück“ (AS 326) aufgespart.
Nach der Überarbeitung der Erzählung im Jahr 1819 lässt ein „ganz besonderen Feststück“
kaum noch Jean Pauls Romantitel assoziieren. Das deutet auf ein gezieltes Verwischen von
Spuren hin. Über die Gründe dafür kann nur gemutmaßt werden. Weitere Referenzen auf den
Siebenkäs scheint der Text nicht zu enthalten, auch wenn sich Ernst Fedor Hoffmann bei
Spikhers frommer Hausfrau an Lenette erinnert fühlt.1013 Mit beiden Frauen werden zeitgenössische Vorstellungen der idealen Gattin hinterfragt.
1009
Paul, Jean: Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 1. Hg. v. Norbert
Miller, München 1969, 7-352, hier 17.
1010
Vgl. E.T.A. Hoffmann an Theodor Gottlieb von Hippel, 21.1.1797, Werke 1794-1813, Bd.1, 88-93, hier 93.
1011
Vgl. Hoffmann, Tagebücher 1803-1813 [10.1.1811], Werke 1794-1813, Bd.1., 325-488, hier 377.
1012
Vgl. Paul, Jean: Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten
F. St. Siebenkäs, in: ders.: Werke, I. Abt., Bd. 2. Hg. v. Norbert Miller, München 1971, 7-566 und Steinecke
1993, 533-858, hier 805.
1013
Vgl. Hoffmann 1970, 167-187, hier 178 und Anm. 44 (ebd.).
258
Was spricht nun für die Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht als Intertext von
E.T.A Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht? Die beiden Punkte, die Barbara Neymeyr
skizziert, um die intertextuelle Abhängigkeit beider Texte nahezulegen, sind rasch kommentiert.1014 Erstens werde sowohl bei Hoffmann, als auch bei Jean Paul die Identitätsproblematik
inszeniert. Dem ist zuzustimmen, allerdings sieht die Regie in den Vergleichstexten grundverschieden aus. In Hoffmanns Fantasiestück gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich das verlorene Spiegelbild zu einem Doppelgänger verselbstständigt. Zweitens besäßen weder die wunderbare Gesellschaft Jean Pauls, noch Erasmus Spikher bei Hoffmann Spiegelbilder. Das registrieren unzweifelhaft die Erzähler. In dem mutmaßlichen Prätext finden sich aber keine
erklärenden Geschichten über verlorene Spiegelbilder. Auf den ersten Blick ist das alles nicht
sehr überzeugend. Der ‚sperrige‘ Jean-Paul-Text wäre aber nicht in diese literaturwissenschaftliche Abhandlung hineingenommen worden, wenn ihm keinerlei Relevanz zugebilligt
würde. Die Frame-Analyse brachte signifikante Parallelen in der Erzählstruktur und dem situativen Rahmen zum Vorschein: dominante Traumerlebnisse mit verschwimmenden Grenzen,
in Verbindung einer metafiktionalen Wendung, einer mise en abyme. Bei der Betrachtung der
intermedialen Bezüge wurde anhand derselben transmedialen Merkmale eine phantasmagorische Ästhetik nachgewiesen. Der den Texten gemeinsamen Skepsis gegenüber der Physiognomik kommt eine eher geringere Aussagekraft zu. Die Autoren teilen ihre Zweifel mit etlichen Zeitgenossen.
Sie lassen zu nächtlicher Stunde Gesellschaften aus phantasmagorischen Gestalten zusammenkommen, denen etwas Wunderbares anhaftet. Phantasmen von bleichen und mageren
Gestalten, die an Verstorbene erinnern, umgeben den Erzähler des postulierten Prätextes und
betätigen sich als Propheten der Zeit. Der reisende Enthusiast Hoffmanns macht in einer ‚realen‘ Kellerschenke die Bekanntschaft mit zwei Gestalten, die mehr oder minder nicht existent
sind: Peter Schlemihl, die literarische Figur – und Spikher, der mit dem verstorbenen General
Suworow verwechselt wird. In dem Fantasiestück finden sich sogar noch zwei weitere Gesellschaften mit Figuren, die über ein phantasmagorisches Erscheinungsbild verfügen. Sie bevölkern den ‚realen‘ und ‚geträumten‘ Salon des Justizrates. In dem letzteren bewegen sich auch
die beiden ‚Spukgestalten‘ aus der Kellerschenke. Man muss sich also fragen, ob die Philister-Karikaturen auf der ‚realen‘ Feier des Justizrates sich von den Traum-Gestalten überhaupt
unterscheiden. Die wunderbare ‚Geisterversammlung‘ erscheint also in den Abenteuern der
Silvesternacht gleich dreimal als Motiv.
1014
Diese Punkte vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier 72.
259
Weitere Anknüpfungspunkte für Hoffmann werden in der Wahl des (1) zeitlichen Rahmens
und (2) der Schauplätze, (3) der psychischen Erregtheit der Erzählerfiguren durch Verlusterfahrungen, sowie (4) der Selbstwahrnehmung und -inszenierung der Erzähler als Aktanten
eines Welttheaters gesehen.
(1) Der zeitlicher Rahmen
Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht spielt in der Gegenwart Jean Pauls. Ihre
phantasmagorischen Gäste finden sich am Abend des 31.12.1800 in dem Arbeitszimmer des
Erzählers ein und verlassen dieses noch vor dem Anbruch des Jahres 1801. In diesem Zusammenhang gibt es Differenzen in der Zeitrechnung. Die ‚Gäste‘ erscheinen. Der bleiche
Jüngling kündigt sogleich an, dass sie alle mit dem (alten) Jahrhundert verschwinden würden
(vgl. NG 1126). Pfeifenberger ergänzt sogleich, dass der Polterabend des Jahrhunderts in „Einer Minute um 12 Uhr, nämlich der sechzigsten“ (ebd.) verstumme. Also sollte es 23.59 Uhr
sein. Für die folgenden Prophezeiungen blieben nur eine Minute Zeit. Würde man die nun
abgedruckten wörtlichen Reden der wunderbaren Gesellschaft und des Erzählers rezitieren,
vergingen gut und gerne 15 bis 20 min. Die unheimlichen Gäste vergessen dabei keineswegs
die Zeit. Der etwa zweijährige Knabe hat eine Taschenuhr mit sieben Zeigern 1015 im Blick:
„Plötzlich änderte sich alles in der überirdischen Minute; der Knabe rief schreckhaft: »es wird
12 Uhr; meine Weiser stehen.« Auf der Uhr mit sieben [Zeigern] ruhten schon fünfe über einander und nur die schnellsten flogen noch um.»“ Daraufhin verschwindet die wunderbare
Gesellschaft der Neujahrsnacht. Der Erzähler will Glockenschläge gehört haben, ehe er in
Ohnmacht fällt. Da er in dem eröffnenden Rahmen die Absicht bekundet, am Abend Notizen
zu machen, die er am nächsten Tag zu dem hier besprochenen Werk verarbeiten will, ist eine
geplante ‚Ausschmückung‘ des vorhandenen Materials wahrscheinlich – wie bei der Geschichte von verlornen Spiegelbild bei E.T.A. Hoffmann.
Der Erzähler zeigt sich wohl aus diesem Grund nicht verwundert über die Länge des Aufenthalts der wunderbaren Gesellschaft. Ihn irritiert, dass sie eine Stunde zu früh gekommen und
verschwunden ist:
Wie erstaunt' ich, als mir Hermina sagte, sie habe ihr Wort gehalten, noch früher zu kommen, als das
19te Säkulum. Es war erst 11 Uhr; so richtig hatte das innere Ohr, das immer den zwölften Schlag begehrte, mitten unter den Stürmen nachgezählt; dieser stille Sonnenzeiger in uns bewies sich schon bei
Wahnsinnigen und am Ende bei Schlafenden, die in der vorgesetzten Stunde erwachen. (NG 1136)
Die Erklärung liefert hierfür folgende Prophezeiung:
In der künftigen Zeit wird freie Reflexion und spielende Phantasie regieren, keine kindischen Gefühle;
man wird keinen Namens- und Geburts- und Neujahrstag mehr feiern und kein Ende des Jahrhunderts,
weil man nicht weiß, wenn es schließet, ob bei dem ersten Viertel- oder letzten Glockenschlage, oder ob
1015
Offenbar handelt es sich um Zeiger für Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden.
260
bei dem Ausgehen oder bei dem Anlangen des Schalles; und weil in jeder Minute 100 Jahre zu Ende
sind. (NG 1127)
Den tatsächlichen Jahrhundertwechsel bekommt er wachend kaum mit, da er das Einläuten
des neuen Jahres bei Herminas Gesang und Klavierspiel nicht wahrnimmt. Die erzählte Zeit
reicht also vom Nachmittag bis nach Mitternacht. Die Niederschrift des Werks, die nicht mehr
erzählt wird, sich aber durch ihre Existenz ergibt, erfolgt am nächsten Tag.
Die Silvesternacht, von der E.T.A. Hoffmanns Werk erzählt, ist kalendarisch nicht mit der
Neujahrsnacht bei Jean Paul identisch. Da der reisende Enthusiast Peter Schlemihls wundersame Geschichte kennt, die 1814 veröffentlicht wurde (vgl. AS 337), liegt ein terminus post
quem für den Jahreswechsel vor. Die früheste mögliche Jahresschwelle für das Erleben der
Abenteuer ist somit die Nacht vom 31.12.1814 auf den 1.1.1815. In der Realität begann
E.T.A. Hoffmann die Arbeit an dem Fantasiestück am Neujahrsmorgen 1815, was die Eintragungen in seinem ‚Tagebuch‘ belegen. Dieses Faktum soll keine Identität von Autor und reisendem Enthusiasten behaupten oder suggerieren, sondern einzig und allein die zeitgenössische Aktualität des ‚Settings‘ belegen.
Brüche im Zeitkonzept scheint es auch in Hoffmanns Text zu geben. 1016 Für Barbara Neymeyr manifestieren sie sich in der Darstellung einer belauschten Menschengruppe auf der
Straße:
Sie sprachen von prächtigen Austern und dem guten Eilfer-Wein. »Recht hatte jener doch«, rief einer
von ihnen, wie ich beim Laternenschein bemerkte, ein stattlicher Ulanenoffizier, »Recht hatte jener
doch, der voriges Jahr in Mainz auf die verfluchten Kerle schimpfte, welche Anno 1794 durchaus nicht
mit dem Eilfer herausrücken wollten.« – Alle lachten aus voller Kehle […]. (AS 331)
Beim Eilfer-Wein handelt es sich um Wein des Jahrganges 1811.1017 Dieser ist 1794 natürlich
noch nicht verfügbar. Offenbar hat der Ulanenoffizier sich damals den Scherz erlaubt, etwas
Unmögliches zu bestellen. Nur wenn das „vorige Jahr in Mainz“ 1794 sein soll (s.o.), ergibt
sich ein Problem mit dem terminus post quem der Handlung. Viel wahrscheinlicher ist allerdings ein Mainz-Aufenthalt im Jahr 1813, bei dem es zu einem Wiederzusammentreffen mit
den „Kerlen“ gekommen ist (AS 331). Da einem (bequemen) Leser kaum die Auflösung der
komplexen, chronologischen Zusammenhänge abverlangt werden kann, hat zwar Barbara
Neymeyr in diesem Fall in der Sache Unrecht, beschreibt aber eine intendierte Wirkung des
Textes.1018 Die bereits dargestellte Fehl-Bestimmung Spikhers als den längst verstorbenen
General Suworow dürfte für den zeitgenössischen Leser ebenso für irritierende Momente gesorgt haben. Die Wiedergabe einer populärwissenschaftlichen Klassifizierung von Flechten
1016
Vgl. Neymeyr 2004, 60-74, hier v.a. 63f.
Dieser Jahrgang war offenbar auch für Champagner gut und wird im Peter Schlemihl erwähnt (vgl. PS 39).
1018
Schon Arnold Hermann Ulbrich stellt fest, dass in Hoffmanns Dichtungen die Relativierung der Dimension
von Raum und Zeit die Realität durchbricht und in einer Weise erschüttere, dass die Wirklichkeit vernichtet
werde. Vgl. Ulbrich 1969, 158.
1017
261
und Moosen aus der Botanisiertrommel Schlemihls als Alpenpflanzen vom Tschimborasso
(vgl. AS 334), ist indes kein Indiz für eine verkehrte Welt oder Wahrnehmungsstörung. 1019
Bedenklich wäre Seetang vom Tschimborasso oder Edelweiß vom Strand.
Sowohl Jean Pauls, als auch Hoffmanns Erzählung, ereignen sich in einem Zeitraum von 24
Stunden um einen Jahreswechsel. Mehr oder minder starke Störungen finden sich im jeweiligen Gesamtensemble von Zeitangaben bzw. erwähnten Realien.
(2) Die Wahl der Schauplätze: das Raumkonzept
Die komplette Handlung der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht spielt sich einzig und allein im Arbeitszimmer des Schlosses Mittelspitz ab. In ihm macht sich der autodiegetische Erzähler Notizen für das vorliegende literarische Werk. Nur seine dichterische Phantasie begibt sich auf eine Reise durch Raum und Zeit. Seine Gedankengänge in den Prophezeiungen fortführend, antizipiert die wunderbare Gesellschaft mit seinem Weltwissen die Zukunft in Europa, den anderen Kontinenten, sowie diverser Himmelskörper im All. Die beim
Dichten störenden Bediensteten sind heimgeschickt worden, die Frau kommt andernorts ihren
gesellschaftlichen Verpflichtungen nach. Der Enge des geschlossenen Raumes steht die weite
Welt gegenüber. Fenster und Türen sorgen aber für einen gewissen Austausch von Innen und
Außen, wie auch die Bücher und Bilder der museal eingerichteten Schreibwerkstatt. Hermina
sucht nach einem Krankenbesuch in der Stadt ihren dichtenden Mann im Arbeitszimmer auf.
So präsentiert sich im Grunde genommen auch das Raumkonzept in den Abenteuern der Silvesternacht auf der Erzählebene des reisenden Enthusiasten. Als ‚Reisender‘ verlässt er das
Zentrum von Berlin nicht, in dem er normalerweise eine „Klause“ bewohnt. Da die Extension
des Traumes im Kapitel, das den Titel „Erscheinungen“ trägt, ungewiss ist, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder träumt er alles und schreibt seine Erlebnisse in dem Zimmer des Gasthofs „Zum Golden Adler“ auf, oder er macht Station an drei Orten, zwischen denen nächtliche Straßen liegen: dem Salon des Justizrates, der Schankstube der Kellerwirtschaft und dem
Zimmer der Unterkunft. Peter Schlemihl und Erasmus Spikher begegnen ihm als weit gereiste
Figuren. Beim reisenden Enthusiasten tritt am Ende keine Hermina durch die Tür, sondern ein
Kellner mit dem Frühstück.
Jean Paul und Hoffmann lassen ihre Erzählerfiguren in der Einsamkeit von Innenräumen
‚Abenteuer‘ imaginieren, die sie hinterher literarisch ausgestalten. Das temporäre KlausnerDasein des Dichters in der Wunderbaren Gesellschaft kommt deutlicher zur Darstellung als
der Rückzug des ewig fliehenden, reisenden Enthusiasten in ‚seine‘ vier Wände, da letzterer
1019
Dass es sich um einen Verfremdungseffekt handelt soll nicht in Abrede gestellt werden. Vgl. Ulbrich 1969,
88.
262
sich scheinbar in die Gesellschaft des Justizrates und die zunächst leere (!) Kellerschenke mit
ihren Wirtsleuten begibt. Insgesamt lässt sich sagen, dass in beiden Werken eine Einheit von
Ort und Zeit vorliegt, die den zeitgenössischen Vorstellungen vom ‚Regelwerk‘ der griechischen Tragödie entspricht. Die erzählte Zeit beträgt nicht mehr als 24 Stunden, Mittelspitz
und Berlin werden als Schauplätze nicht verlassen.
(3) Psychische Erregung durch Verlusterfahrungen
Sowohl bei Jean Paul, als auch bei Hoffmann wird der Blick in die Vergangenheit verklärt;
richtet er sich in die Zukunft, wird nur die Vergänglichkeit allen Seins wahrgenommen. Nur
in den zeitlichen Dimensionen, die die Erzählerfiguren durchdenken, gibt es Unterschiede.
Jean Pauls Schriftseller sieht seine Gegenwart in ein wesentlich größeres, zeitliches Kontinuum eingebettet, als der reisende Enthusiast Hoffmanns:
In die hinter fünf, sechs Jahrtausenden liegende Vergangenheit zurückzuschauen, gibt uns mutige Jugend-Gefühle; sie kommt uns als unsere antizipierte Kindheit vor; hingegen vorauszublicken weit über
unsern letzten Tag hinweg, und unzählige Jahrtausende herziehen zu sehen, die unsern bemooseten
Spiel- und Begräbnisplatz immer höher überschneien und auf uns neue Städte und Gärten und auf diese
wieder neuere und so ungemessen fort aufschlichten, dieses ewige immer tiefere Eingraben und Überbauen verfinstert und belastet uns das freie Herz. Dadurch verdorrt uns die Gegenwart zur Vergangenheit und sie wird von totem Schimmel traurig überzogen. Der Geist des Menschen hasset nach seiner
Natur die Veränderung (NG 1123f.)
In der korrespondierenden Stelle der Abenteuer der Silvesternacht wird nicht mehr als ein
Jahr Rückschau gehalten und im Wesentlichen das Stimmungstief nach dem soeben erlebten
Weihnachtsfest geschildert:
Weihnachten! das sind Festtage, die mir in freundlichem Schimmer lange entgegenleuchten. Ich kann es
nicht erwarten – ich bin besser, kindlicher als das ganze Jahr über, keinen finstern, gehässigen Gedanken nährt die der wahren Himmelsfreude geöffnete Brust; ich bin wieder ein vor Lust jauchzender Knabe. Aus dem bunten vergoldeten Schnitzwerk in den lichten Christbuden lachen mich holde Engelgesichte an, und durch das lärmende Gewühl auf den Straßen gehen, wie aus weiter Ferne kommend, heilige Orgelklänge: »denn es ist uns ein Kind geboren!« – Aber nach dem Feste ist alles verhallt, erloschen der Schimmer im trüben Dunkel. Immer mehr und mehr Blüten fallen jedes Jahr verwelkt herab,
ihr Keim erlosch auf ewig, keine Frühlingssonne entzündet neues Leben in den verdorrten Ästen. Das
weiß ich recht gut, aber die feindliche Macht rückt mir das, wenn das Jahr sich zu Ende neigt, mit hämischer Schadenfreude unaufhörlich vor. »Siehe,« lispelts mir in die Ohren, »siehe, wie viel Freuden
schieden in diesem Jahr von dir, die nie wiederkehren, aber dafür bist du auch klüger geworden und
hältst überhaupt nicht mehr viel auf schnöde Lustigkeit, sondern wirst immer mehr ein ernster Mann –
gänzlich ohne Freude.« (AS 326)
Diese Vanitas-Erfahrung findet in Hoffmanns Fantasiestück keine weitere Fortsetzung. Zu
stark ist der Schmerz durch den Verlust der ehemaligen Geliebten. Nicht ihr Tod, sondern ihr
distanziertes Verhalten als Ehefrau eines Anderen bewirkt dies.
Der Erzähler der Wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht erfreut sich noch eines ungetrübten Liebesglücks. Umso mehr lässt ihn der Gedanke an einen möglichen Verlust seiner
geliebten Gattin erschaudern:
»O wie gut ist es, Hermina,« (sagt' ich, als ich ihre von der Reise sanft nachglühenden Wangen ansah)
daß Du vorhin nicht unter den Gestalten erschienest, die neben mir blaß wurden – es hätte mich sehr ergriffen.« – »Du hast ihr Gesicht nicht gesehen«, sagte sie, »vielleicht war ich die knieende Gestalt mit
263
dem Schleier.« – »Das verhüte Gott,« (sagt' ich), »denn die Verschleierte saß mit auf dem TodtenSchiff, das durch den Himmel flog – Rühre mich heute nicht sehr - ich bin ganz aufgelöset, und noch
immer schießen mir weiße Gesichter auf und es tönet mir noch von weitem her.« (NG 1137)
Diese ‚rührende‘ Passage leitet das versöhnliche Ende des Textes ein, in dem die Liebesgeschichte nur eine äußerst untergeordnete Rolle spielt. In Hoffmanns Fantasiestück kommt den
Frauen eine größere Bedeutung zu. Der reisende Enthusiast leidet nahezu genauso intensiv
unter dem Verlust seiner Julia, wie Erasmus Spikher unter dem seiner Giulietta. Beide Damen
sind für die verwundeten Herzen der Lamentierenden unerreichbar.
(4) Selbstinszenierung in einer theatral wahrgenommenen Umwelt
In Hoffmanns Fantasiestück und Jean Pauls Erzählung macht sich eine Selbstinszenierung der
schreibenden Subjekte in einer als theatral wahrgenommenen Umwelt bemerkbar.1020 Damit
soll ein Phänomen umschrieben werden, in dessen Hintergrund frühere Vorstellungen des
Welttheaters stehen, deren Gültigkeit infolge der Aufklärung zur Disposition steht. Das geistige Konzept des Welttheaters sah eine Analogie zwischen göttlicher Schöpfung und dem
Theater. Calderóns Großes Welttheater versucht die Welt als Gottes vorbestimmtes ‚Kunstwerk‘ abzubilden. Das Theaterstück baut ‚intermediale‘ Bezüge zur geglaubten Wirklichkeit
auf, wie sie auch für andere Medien denkbar wären. Aus diesem Grund sind die Allusionen
auf Bühnengeschehen bei den Autoren der romantischen Zeit nicht in dem Kapitel über Intermedialität abgehandelt worden.
Das „Maskenspiel des irdischen Lebens“ (AS 335) bei Hoffmann und die griechische Tragödie (vgl. NG 1136) bei Jean Paul sind Traumspiele, in denen die phantasierenden und schriftstellernden Erzählerfiguren die Dichtung und Regiearbeit Gottes übernehmen und sich selbst
beim Mitspielen zusehen. Monika Schmitz-Emans hat sich intensiv mit der TheaterMetaphorik in Jean Pauls Werken auseinandergesetzt und schließlich die Analogie von
Traum- und Theater-Dispositiv herausgearbeitet.1021 Auch Hoffmanns Affinität zu Effekten
und Affekten des Theaters ist bekannt.1022 Das Neben- und Ineinander von Tragik und Komik,
die stete Veränderung der Gefühlswelt und die Rolle, die der Mensch auf der Bühne spielt,
1020
Belegstellen in den Werken, siehe unten.
Vgl. stellvertretend Schmitz-Emans, Monika: Dramatische Welten und verschachtelte Spiele. Zur Modellfunktion des Theatralischen in Jean Pauls Romanen, in: JbJPG 22 (1987), 67-93., Schmitz-Emans, Monika: Die
Doppelgänger der Doppelgänger, in: Gerhard Binder / Bernd Effe (Hgg.): Das antike Theater. Aspekte seiner
Geschichte, Rezeption und Aktualität (BAC 33), Trier 1998, 295-344 und Schmitz-Emans 2005, 75-110. Natürlich ist Monika Schmitz-Emans nicht die einzige, die sich mit dem ‚Theater-Spielen‘ in Jean Pauls Texten auseinandergesetzt hat. Vgl. z.B. auch Döll, Heike: Rollenspiel und Selbstinszenierung. Zur Modellfunktion des Theaters in Jean Pauls „Titan“ und „Komet“ (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 46), Frankfurt a. M. 1995.
1022
Vgl. den Abschnitt über die Inszenierung der Calderón-Stücke an der Bamberger Bühne im Kapitel „6.2. Die
Einsatzweisen der Projektionsmedien“.
1021
264
stellten für ihn ein Faszinosum dar.1023 Auch er hätte ausrufen können: „O wie ist der Spieler,
der Mensch, ein Spiel!“ (NG 1135).
Da Hoffmanns Protagonisten später als ‚Spielbälle‘ feindlicher Mächte (vgl. AS 326) und
‚Rollen-Spieler’ noch Peter Schlemihl geschlossen gegenübergestellt werden, 1024 wird hier
der Fokus hauptsächlich auf den Jean Paul-Text gerichtet. Ihn präsentiert Monika SchmitzEmans als ein Paradebeispiel für das theatrale Interagieren von Ich-Anteilen im Traum.1025
Sie interpretiert die Phantasmen nicht als Wesen einer zweiten Welt, sondern als Gestalten
aus dem „Gehirnglobus“ des Erzählers (vgl. NG 1126):
Ja jedes Wort der wunderbaren Gesellschaft getrau' ich mir aus den Betrachtungen herzuleiten, die ich
nachmittags über die Zukunft angestellt; und selber die drei Akteurs (wie anfangs in der griechischen
Tragödie) scheinen nur Söhne und Konterfeie der Charaktere zu sein, denen ich im Aufsatz für dieses
Werkchen meine säkularischen Betrachtungen soufflieren wollen. (NG 1136)
Dieses ‚Welttheater‘ erweist sich als ein Sprechtheater,1026 dessen Mimen die Mitglieder der
wunderbaren Gesellschaft sind. Die drei Akteure sind die drei Propheten der Zeit. Ihre
ausufernden, rhetorisch durchkonstruierten und wörtlich wiedergegebenen Reden erinnern an
Bühnenmonologe.1027 Die vergleichsweise knappen Schilderungen von Gesten, Mimen und
Spielpositionen der Figuren zwischen den einzelnen Repliken gemahnen an Regieanweisungen: „Die Jungfrau schwieg, der Knabe sah unwillig gegen den Schwedenkopf, der
schöne Jüngling hatte die Hand der Jungfrau genommen und beschauete auf dem Ringe ein
herrliches großes Auge, dem gleich, unter welchem sonst die Maler den Allsehenden
vorstellten“ (NG 1126). Der Blick des Erzählers aus dem Fenster gerät zur Teichoskopie:
Luftschiffe mit Toten sollen vorbeifliegen, Sterne herabregnen und Rosen explosionsartig ihre
Verteilung finden (vgl. NG 1135). Das Geschehen gliedert sich explizit in Akte und Szenen:
„Aber nun war ich für die letzte Szene des fünften Akts ganz kalt. Ein Jahrhundert schwand ein vor den
gigantischen Jahrmillionen, die der Jüngling vorübergeführt; und selber die Lebendigen schienen mir,
wie die wunderbare Gesellschaft, sich jetzt leichter zu entfärben und aufzulösen.“ (NG 1136f.)
Über die sonstigen Szenen- und Aktgrenzen lässt der Erzähler den Leser im Unklaren. Sicher
sind nur Anfang und Ende des angeblich fünfaktigen Stücks. Der ‚Vorhang‘ öffnet sich,
nachdem der Erzähler die Hand vom Auge genommen hat (vgl. NG 1124f.):
»Tritt in das Reich der Unbekannten […] – der Engel der Zeit [Fußnote: „Zwei Flügel verhüllen die Füße der Seraphim, zwei das Haupt, zwei tragen sie.“] fliegt mit sechs Flügeln, zwei decken ihren Ur-
1023
Vgl. Ulbrich 1969, 82.
Der schattenlose Mann will die Notwendigkeit der Vorsehung verehren (vgl. PS 60), indem er folgsam die
ihm zugedachte Rolle spielt.
1025
Vgl. Schmitz-Emans 2005, 75-110, hier 82ff.
1026
Vgl. dieselbe, 75-110, hier 94.
1027
Kurt Wölfel diagnostiziert bei Jean Paul eine generelle, elaborierte ‚Künstlichkeit‘ der Figurenrede, die einen
‚dramatischen‘ Charakter besitze, weil sich die Charaktere durch ihre Sprachhandlungen selbst setzen würden.
Vgl. Wölfel, Kurt: Die schwierige Geburt des Gesprächs aus dem Geist der Schrift, in: ders.: Jean Paul-Studien,
Frankfurt a. M. 1989, 72-101, hier 90f.
1024
265
sprung, zwei decken ihren Ausgang, und auf zweien rauscht sie dahin – Heute heben wir die Flügel auf,
die auf ihrem Antlitz liegen!« (NG 1126)
Die Engelsflügel geben den Blick auf das Geschehen der Zukunft frei. Das bestätigt Hans
Keiths Aussage zu bevorzugten Metaphern für die Zukunft in den Werken Jean Pauls: das
sind das Theater, der Bühnenvorhang und das verhüllte Bild!1028 Das Theaterstück beendet
der Hand-Schlag des Erzählers in den Spiegel, der zum unfreiwilligen Aderlass und dem Verschwinden der Phantasmen vor Herminas Auftritt führt.
Einer kleinen Klärung bedarf es noch, warum die Propheten der Zeit den Erzähler an die drei
Schauspieler der griechischen Tragödie seit Sophokles erinnern (s.o.)? 1029 Viel mehr als die
in der Renaissance konstruierte Einheit von Ort, Zeit und Handlung (s.o.) sind als Gemeinsamkeiten nicht zu erkennen. Bei Euripides können fünf „Epeisoden“ etwa gleicher Länge1030
mit den fünf Akten Jean Pauls mehr oder minder gleichgesetzt werden. Aber statt materieller
Gesichtsmasken1031 gibt es bei ihm nur eine Maske aus roter Schminke. Ein Chor ist auch
nicht vorhanden. Reflexionen über die Dramentheorie, wie in einem thematischen Metadrama,1032 würde man auch nicht erwarten: „Bossu versichert, in die Nacht sei keine Tragödie zu
verlegen; das wollen wir heute sehen, wenn der Polterabend des Jahrhunderts verstummt in
einer Minute um 12 Uhr, nämlich in der sechzigsten“ (NG 1126).1033 Produktion und Rezeption des Stücks werden miteinander enggeführt – ähnlich wie bei Hoffmann.1034 Dabei muss
betont werden, dass Produktion immer auch Reproduktion von Wissen ist, entsprechend des
Melancholie-Topos.
1028
Vgl. Keith 1965, 47.
Zu den drei Schauspielern vgl. Pöhlmann, Egert: Die Anfänge der Tragödie und Komödie in Athen, in:
Susanne Moraw / Eckehart Nölle (Hgg.): Die Geburt des Theaters in der griechischen Antike, Mainz am Rhein
2002, 19-16, hier 19.
1030
Vgl. Ponte, Susanne de: Im Wettkampf der Spielformen und Lebenshaltungen. Anmerkungen zur Gestalt der
«klassischen» dramatischen Genera: Tragödie, Satyrspiel und Komödie, in: Moraw / Nölle 2002, 104-118, hier
112.
1031
Vgl. Froning, Heide: Masken und Kostüme, in: Moraw / Nölle 2002, 70-95.
1032
In der griechischen Komödie ist dies durchaus denkbar. Vgl. Moraw, Susanne: Die großen Dramatiker –
Aischylos, Sophokles, Euripides und Menander, in: Moraw / Nölle 2002, 119-127, hier 119.
1033
Vermutlich bezieht sich Jean Paul auf die Reflektionen über die erzählte Zeit in den verschiedenen literarischen Gattungen der griechischen Antike in René Le Bossus vierbändiger Abhandlung über epische Gedichte.
Vgl. Le Bossu, Réne: Traite du Poëme epique, Paris 1693, 247, einzusehen über die Bayerische Staatsbibliothek:
http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10574183.html (27.10.2013).
1034
Vgl. Schmitz-Emans 2005, 75-110, hier 81.
1029
266
9.2. Die ‚unbedeutenderen‘, ‚markierten’ Intertexte von Hoffmanns Abenteuern der
Silvesternacht
Hoffmann, der Schöpfer der Fantasiestücke, versteht es ebenso wie Jean Paul, den Horizont
seiner Erzählerfiguren mit intertextuellen Bezügen abzustecken, seien es auch nur marginale.
Sie dienen nicht nur der teils unbewussten Selbstdarstellung, sondern auch der suggestiven
Darstellung des von ihnen behandelten Geschehens oder Gegenstandes. Ein Beispiel für diese
Form der Figurenzeichnung ist schon bei der Vorwegnahme der simulierenden Einzelreferenz
auf Schillers Romanfragment Der Geisterseher angesprochen worden.1035 Der fiktive Herausgeber bezeichnet im Vorwort den reisenden Enthusiasten als Geisterseher, für den eine fehlende Trennung zwischen innerem und äußerem Erleben charakteristisch sei. Damit weist er
sich selbst als Teilnehmer an dem zeitgenössischen Diskurs über die menschliche Wahrnehmung aus, der seinen Ausgang in der Aufklärung nimmt. Gleichzeitig setzt er voraus, dass das
antizipierte Publikum an diesem selbst teilnimmt. Der tatsächliche Erfolg des Schillertextes in
gebildeteren Kreisen lässt hier Fiktion und Realität zusammenfallen. Mit der impliziten Berufung auf eine literarisch anerkannte Autorität rechtfertigt der fiktive Herausgeber seine Veröffentlichung, d.h. im Diskurs wirken auch Kräfte, die sich gegen solche Texte aussprechen.
Nicolai gehört sicherlich dazu, obwohl er als Aufklärer paradoxerweise seine eigene Geisterseherei dargestellt hat. Mit der Bezugnahme auf den Geisterseher verortet sich der Herausgeber in der Literatur- und Geistesgeschichte zeitlich nach der Veröffentlichung des Werkes von
Schiller – und auch nach der Niederschrift des Tagebucheintrags des reisenden Enthusiasten.
Man muss sich fragen, ob am Ende der fiktive Herausgeber eine vorgeschobene Figur des
reisenden Enthusiasten ist – und sich damit die Hierarchie der Erzählebenen umkehrt. Um
diese Schein-Sein-Frage kreist sowohl Schillers Romanfragment, als auch die romantische
Ästhetik.
Der autodiegetische Erzähler, der reisende Enthusiast, gibt sich als Romantiker zu erkennen.
Ausführlich schildert er Empfindungen, Stimmungen und Gefühle während der Silvesternacht, die im Nachvollzug bis in die Wortwahl und den Sprachduktus wirken bzw. durch den
gezielten Einsatz von Psycholekt (situationsbedingte Ausdrucksweise), Ellipsen, Gedankenstrichen, Interpunktion allgemein, Ausrufen und dergleichen konstruiert werden. Ein anderes
Mittel der literaturgeschichtlichen Positionierung stellen die intertextuellen Referenzen da, die
Rückschlüsse auf den Lektürekanon des reisenden Enthusiasten zulassen.
1035
Siehe in dem Kapitel „5. Vorstellungen von der Wirklichkeit in der Philosophie und Literatur“.
267
Dazu gehören offenbar die Dramen von William Shakespeare. Eine simulierende Einzelreferenz bezieht sich auf das Historiendrama Heinrich IV. in der Übersetzung von A.W. Schlegel: „Fühlte sich der Shakespearsche Heinrich nicht einmal so ermattet und demüthig, daß
ihm die arme Creatur Dünnbier in den Sinn kam? In der That, mir geschah Gleiches, meine
Zunge lechzte nach einer Flasche guten englischen Biers“ (AS 811, Hervorhebung: V.R.).1036
Der reisende Enthusiast identifiziert sich mit Prinz Heinrich. Dieser begründet die Bestellung
des Arme-Leute-Getränks damit, dass er sich „ungemein müde“ fühlt: „Vielleicht war […]
mein Appetit nicht prinzlich erzeugt, denn […] jetzt kommt mir nur die arme Kreatur Dünnbier in den Sinn“ (Hervorhebung: V.R.).1037 Über den konkreten Grund seiner physischen
Verfassung kann man nur spekulieren. Vor kurzem hat der Prinz sich heldenhaft in einer
Schlacht gegen die Truppen einer Adelsopposition betätigt und den Sturz seines Vaters verhindert. Sein zuvor ausschweifender Lebensstil dürfte nachwirken. Kneipenbesuche und Umgang mit kleinkriminellen Gestalten der Londoner Halbwelt, wie dem heruntergekommenen
und feigen Sir John Falstaff haben dazu gehört. Wie sieht nun die Situation des reisenden Enthusiasten aus? Er ist alles andere als ein Held. Ohne rational nachvollziehbaren Grund ist er
vor der Bekanntschaft mit Julias Gatten aus der bürgerlichen Festgesellschaft in die unwirtliche Winternacht geflohen. Hat er beim Justizrat gerade noch poetisch inspirierenden Punsch
genossen1038, sehnt er sich nun nach Bier und einem „sublimen Philistrismus“ (AS 333) Der
reisende Enthusiast wagt nur den wiederholten Abstieg in eine Kellerkneipe einzugestehen,
nachdem er sich durch den ausgesprochen schiefen Vergleich mit dem englischen Prinzen
selbst geadelt hat; denn in ihr verkehren keine „vornehmen Leute“ (AS 331) wie beim Zuckerbäcker auf dem Straßenniveau.
Er ist dennoch etwas Besonderes; er weiß die Welt zu poetisieren. Dass er die Hauptforderung
der romantischen Literaturströmung internalisiert hat, stellt er bei den nichtigsten Anlässen
unter Beweis. Mustertexte bekannter Vertreter der Universalpoesie hat er offenbar eingehend
studiert.1039 Mit der größten Selbstverständlichkeit rekurriert er auf eine relativ unbedeutende
1036
Erst in der zweiten Auflage der Fantasiestücke, an Stelle des dramatischen Dialogs der Wirtsleute. Vgl.
Steinecke 1993, 533-858, 810ff.
1037
Vgl. Shakespeare, William: König Heinrich der Vierte. Historisches Schauspiel. Erster und zweiter Teil.
Übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Stuttgart 1959, 128 (= Teil 2, II,2).
1038
Man denke an E.T.A. Hoffmanns Stimulierung der literarischen Produktivität durch Punsch – oder: wem dies
zu biographisch argumentiert ist, an die Rolle des Getränks im vorangegangenen Goldnen Topf. Vgl. Momberger, Manfred: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann,
Frankfurt a. M. 1984, 69 und AS* 229ff.
1039
Vgl. Birkner, Nina: Wirkung auf dem Theater, in: Claudia Stockinger / Stefan Scherer (Hgg.): Ludwig
Tieck. Leben – Werk – Wirkung, Berlin 2011, 659-665, hier 661ff.
268
Szene in Ludwig Tiecks weitschweifigen Lesedrama Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel.1040
Dieses ist Ausdruck der einsetzenden Wertschätzung und Rezeption der Literatur aus dem
Mittelalter und der Frühen Neuzeit, die 1807 mit Görres lexikalisch anmutender, Erfassung
der Teutschen Volksbücher einen ersten Niederschlag in der gerade entstehenden germanistischen Forschung fand.1041 Literarisch äußert sie sich beispielsweise auch bei Chamisso. Er
aktualisierte Sagenstoffe in seinen Gedichten1042 und machte sich an die Dramatisierung des
Fortunatus-Prosaromans, wobei er sich auf Anraten Fouqués an Tiecks Vorgehensweise beim
Kaiser Octavianus orientierte und dessen Vielfalt der Vers- und Strophenformen nachahmte,
die der Personenzeichnung und den situativen Gegebenheiten angepasst sind.1043 In Hoffmanns Bekanntenkreis – Fouqué und Chamisso gehören dazu – stand also Tiecks Kaiser
Octavianus hoch im Kurs.
Zurück zu dem nichtigen Anlass für die simulierende Einzelreferenz auf das sogenannte Lustspiel: ein Diener bietet dem reisenden Enthusiasten beim Justizrat Punsch auf einem ServierTablett an:
Wie der [Pokal] unter die gewöhnlichen Gläser kam, weiß jener am besten, den ich [… allmählich]
kennen lerne; er macht wie der Clemens im Oktavian daherschreitend mit einem Fuß einen angenehmen
Schnörkel und liebt ungemein rote Mäntelchen und rote Federn. (AS 329f.)
Um zu verstehen, was der autodiegetische Erzähler sagen will, braucht man keine besonderen
literarischen Kenntnisse. Nur der Teufel wisse, wie der Punsch-Pokal unter die Gläser gekommen sei. Entsprechend verbreiteter Vorstellungen trägt der Teufel einen Hut mit Hahnenfeder und hinkt wegen seines Pferdefußes. Der intertextuelle Bezug ist die ausführliche Umschreibung des Begriffes „Teufel“, den der reisende Enthusiast durchaus auch beim Namen
nennt. Der erwähnte Clemens ist keine dämonische Gestalt, sondern eine komische Nebenfigur, die von Shakespeare-Dramen inspiriert sein mag. Er nimmt sich als Ziehvater des ausgesetzten Kaisersohnes Florens an, den er von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land in die französische Heimat mitbringt. Als er Jahre später sich als Heide verkleidet und das Gesicht mit Ruß
schwärzt, um dem Sultan aus dem Heerlager ein Pferd zu rauben, hält ihn seine Frau Susanne
für den Teufel.1044 Florens beobachtet ihn bei der Probe seines Auftritts vor dem Invasoren:
1040
Vgl. Tieck, Ludwig: Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel in zwei Theilen, Jena 1804 und Adalbert von Chamisso an Varnhagen und Neumann, 28.8.1806, in: Chamisso, Adelbert von: Leben:1s und 2s Buch. – Briefe, Bd. 5.
Hg. v. Julius Eduard Hitzig, Leipzig 1839, 149-151, hier 150.
1041
Vgl. Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher, Heidelberg 1807 (als Reprint des Exemplars der Erlanger
Universitätsbibliothek, Signatur – Ltg.: VII 53i) Hildesheim / New York 1982.
1042
Vgl. Psaar, Werner: Chamissos „Deutsche Volkssagen“. Zur Aktualisierung von Sagenstoffen, in: Michael
Krejci / Karl Schuster (Hgg.): Literatur. Sprache. Unterricht. Festschrift für Jacob Lehmann zum 65. Geburtstag,
Bamberg 1984, 47-52.
1043
Vgl. Feudel, Werner: Anmerkungen, in: Chamisso, Adelbert von: Gedichte. Dramatisches, Bd. 1. Hg. v.
Werner Feudel u. Christel Laufer, Leipzig 1982, 683-779, hier 776f.
1044
Vgl. Tieck 1804, 413.
269
„Ihr hinkt recht angenehm und recht natürlich; / Doch wozu das? Es ist überflüssig“.1045 Die
Antwort lautet:
’Ne kleine Zugab nur beim Wagestück, / Ein angehmer Schnörkel, der nicht schadet / Und mir doch
nutzt, denn wenn ich als lahm thu / Und keinen Augenblick das Hinken lasse, / So thu ich mir auch
überhaupt Gewalt, / Daß ich nicht aus der Rolle falle, solch / Aeußeres zufäll’ges Ding bringt auf Gedanken, / Aufmerksamkeit, und es hängt mehr von ab, / Als man im Anfang denkt. 1046
Clemens spielt zwar keinen Teufel, aber einen muslimischen Magier, der seiner Meinung
nach sicher mit dem Teufel im Bunde steht. Dies wird am Anerbieten seiner vorgeblichen
Künste im Rahmen der Audienz beim Sultan deutlich:
Ich habe Studien gar manche[…], / Kann ich noch Kunstverwandten manches schenken. // Ich bin Seiltänzer und Equillibrist, / Ich wahrsage aus der Tasse und aus dem Becher, / Englischer Reiter, etwas Alchymist, / Ein Improvisator und Riemenstecher, Ein taschenspiel’nder Physikus, mir ist es leicht, in
Kleidern auszuklopfen Löcher, / Fettfleck‘ zu tilgen und in Luftballonen / Zu fliegen zum Erstaun‘ der
Nationen. // Vor allem doch ist meine Wissenschaft / Die edlen Steine nach dem Werth zu schätzen, /
Zu kennen eines jeden eigne Kraft, / Und seinen Preis und Würde ihm zu setzen; / Doch was am meisten mir den Vortheil schafft / Und reichen Leuten, Fürsten, groß Ergetzen, / Ist meine Wissenschaft von
allen Pferden, / Denn darinn gleicht mir keiner auf Erden. 1047
Genau diese Gestalt nimmt der Teufel (als Schauspieler) auch in der Welt von Hoffmanns
Abenteuern der Silvesternacht ein. Dapertutto tritt in der Geschichte vom verlornen Spiegelbild als Wunderdoktor und Scharlatan auf. Er trägt das „rote Mäntelchen“, das der reisende
Enthusiast bemerkenswerterweise bei seiner Lektüre „in Callot‘s Manier“ imaginiert haben
muss. Weder Regieanweisungen, noch Repliken geben einen Hinweis auf eine solche Kostümierung. Hinsichtlich der noch zu besprechenden, intertextuellen Beziehungen zu Chamissos
Peter Schlemihls wundersamer Geschichte ist die dortige Verkörperung des Teufels als „taschenspielender Physikus“ (s.o.) bemerkenswert. Der graue Mann zieht in der Gesellschaft
von Sir John ein großes Fernrohr, ein ausgedehntes türkisches Lustzelt und etliche Pferde aus
der Rocktasche (vgl. PS 24ff.); später stellt er sich dem Protagonisten als eine Art Physikus
vor (vgl. PS 51). Hier spielt nicht ein Mensch den Teufel, sondern der Teufel mimt den Menschen. Beides lässt sich in der fiktiven Welt kaum voneinander unterscheiden. Erst geht der
Justizrat dem Teufel wacker zur Hand, indem er den reisenden Enthusiasten auf die Silvesterfeier einlädt. Dann drängt sich das „verfluchte Gesicht eines geschäftigen Bedienten“ (AS
329) mit einem Serviertablett Punsch zwischen Julie und dem reisenden Enthusiasten, als er
ihr gerade näherkommen will. Er verdammt den Punschpokal als Teufelswerk, obwohl er ihn
von Julie gereicht bekommt und er am Ende neben ihr auf dem Ottomane sitzt (vgl. ebd.). Die
dämonische Herkunft des Punschpokals, die mittels der intertextuellen Referenz aufwändig
suggeriert wird, wirkt übertrieben an dieser Stelle. Der Alkohol sorgt beim reisenden Enthusiasten nicht einmal für ein kompromittierendes Verhalten.
1045
Ders., 414. Hervorhebung: V.R.
Ebd. Hervorhebung: V.R.
1047
Ders., 421.
1046
270
Eine weitere, unmarkierte, verbale Anleihe vom Tieck-Drama charakterisiert stimmiger die
Situation. Dort schildert die Kaiserin den verletzenden Blick ihres Gemahls, als er sie wegen
vermeintlicher Untreue verstößt: „Ein Ungeheuer sah, als aus der Liebe / Ein Basilisken: Auge tödtlich blickte, / Ich würde nie ’den Blick vergessen“. 1048 Der reisende Enthusiast baut die
Metapher aus, als er Julies Verhalten bei seinen ersten Versuch einer Wiederannäherung als
Zurückweisung interpretiert:
Du nahst dich der herrlichen Blume [hier: Julie], die in süßen heimischen Düften dir entgegenleuchtet,
aber so wie du dich beugst ihr liebliches Antlitz recht nahe zu schauen, schießt aus den schimmernden
Blättern heraus ein glatter kalter Basilisk und will dich töten mit feindlichen Blicken! (AS 327f.)
Die genaue Kenntnis einer weiteren Prosaroman-Dramatisierung geht aus einem direkten Zitat hervor, das in Anführungszeichen steht. Trotz seiner verkappten Inquit-Formel als Einleitungsphrase präsentiert es sich eher unauffällig in dem Textfluss, da weder Autor noch Werk
genannt werden. Bei E.T.A. Hoffmann sitzt der reisende Enthusiast in einer Berliner Kellerschenke, trinkt Bier und betrachtet mit einem gewissem Grauen Peter Schlemihl, den neuen
Gast: „Man hätte beinahe von ihm sagen können, daß er »vornehm und unzufrieden aussähe.«“ (AS 333). In Goethes Faust I zecht der Leipziger Student Frosch in Auerbachs Keller
mit seinen Kommilitonen. Er taxiert Mephistopheles und Faust beim Eintreten in das Gewölbe und bringt seinen ersten Eindruck zu Sprache: „Sie sehen stolz und unzufrieden aus" (Vs.
2178)!1049 Der räumliche und situative Rahmen – Bierkelleratmosphäre – stimmen in beiden
Werken überein.1050 Mit diesem intertextuellen Bezug suggeriert er dem idealen Leser, gleich
mit einer besonderen Person Bekanntschaft zu machen. Diese Erwartung wird nicht enttäuscht
werden, doch schickt der reisende Enthusiast den Rezipienten beinahe auf den Holzweg.
1048
Ders., 97
Goethe, Faust, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, III. Abt., Bd.1, 7-364, hier 69.
1050
Vgl. Schäfer 2007, 77-85, hier 80.
1049
271
9.3. Die intertextuellen Bezüge von den Abenteuern der Silvesternacht auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte
9.3.1. Markierte Referenzen auf Peter Schlemihls wundersame Geschichte in den Abenteuern der Silvesternacht
Mit Goethe wird von einer sehr ausgeprägten, teilreproduzierenden Einzelreferenz abgelenkt.
Ihre Markierungen werden bis zum Kapitelende zahlreicher und weisen immer deutlicher auf
Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Chamisso hin. Peter Schlemihl, der Fremde,
ist selbst ein ‚Zitat‘.1051 Anders als Faust hat er sich dem Teufelspakt verweigern können, der
ihm angeboten worden ist. Dass Chamisso seine Figur auch (!) nach dem Vorbild des FaustStoffes gestaltet hat, hat Jürgen Schwann mit seiner Dissertation belegen können.1052 Insofern
ist das indirekte Faust-Zitat eine Referenz auf eine teilreproduzierende Einzelreferenz von
Peter Schlemihls wundersamer Geschichte. Diese Memoiren zitiert gleich der erste Satz des
Tagebuchs vom reisenden Enthusiasten, indem er eine aus ihnen stammende, pathetische
Phrase aus einer emphatischen Klimax entstehen lässt:1053 „Ich hatte den Tod, den eiskalten
Tod im Herzen, ja aus dem Innersten, aus dem Herzen heraus stach es wie mit spitzigen Eiszapfen in die glutdurchströmten Nerven“ (AS 325, Hervorhebung der Phrase aus PS: V.R.).
Damit wird der Chamisso-Text in das Fantasiestück eingespeist. Die nächste Stufe der Markierung der Figur als Übernahme äußert sich in der folgenden Empfindung des reisenden Enthusiasten: „aber immer mehr regte sich eine Ahnung in meinem Innern, und es war mir, als
habe ich den Fremden nicht sowohl oft gesehen als oft gedacht [= vorgestellt]“ (AS 334). Die
typographischen Hervorhebungen lassen aufhorchen und über die Identität des Fremden
nachdenken.1054 In der Schilderung seiner Person (Kapitel über die Physiognomik) und einiger Verhaltensaspekte hat der reisende Enthusiast bereits wesentliche Erkennungsmerkmale
aus dem Chamisso-Text ‚unbewusst‘ reproduziert. Wie im später erfundenen Kriminalroman
darf sich der Leser an der Aufklärung des Falles beteiligen. Hat er die Medienkompetenz erlangt, die anhand von Kupferstichen im Essay Jacques Callot bewusst gemacht wird, versteht
1051
Das ‚Zitat‘ ist als Markierung zu verstehen. Vgl. May 2003, 127-152, hier 149.
Vgl. Schwann 1984.
1053
Zu der zitierten Wendung bei Hoffmann vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 167 und Frenschkowski 1995, 130,
sowie die Vorlage:
(1) „Schwer aufseufzend und den Tod im Herzen, schickt ich mich endlich an, mein Wort zu lösen, und, wie ein
Verbrecher vor seinen Richtern, in dem Förstergarten zu erscheinen“ (PS 48, Hervorhebung: V.R.).
(2) „Ich setzte meine Reise auf derselben Straße fort; es fanden sich bei mir alle Bequemlichkeiten des Lebens
und selbst ihre Pracht wieder ein; ich konnte mich frei und leicht bewegen, da ich einen, obgleich nur erborgten,
Schatten besaß, und ich flößte überall die Ehrfurcht ein, die der Reichtum gebietet; aber ich hatte den Tod im
Herzen“ (PS 65, Hervorhebung: V.R.).
1054
Gero von Wilpert bespricht diese Stelle schon als Markierung und Quellenangabe, denkt nicht darüber nach,
dass sie fiktiv sein könnte. Vgl. Wilpert 1978, 59.
1052
272
er „sehen“ und „denken“ im übertragenen Sinne als inneren Vorgang produktiver Rezeption.
Nach wie vor gilt die ‚Warnung‘ des fiktiven Herausgebers vor der Suggestivkraft des abgedruckten Tagebuch-Auszuges. Literarische Gestalten, gleich welchen Schöpfers, könnten wie
alte Bekannte in das äußere Leben der fiktiven Welt treten und mit einem ganz vertraut umgehen (vgl. AS 325). Vom Standpunkt des reisenden Enthusiasten spielt sich dieses auch in
der beschriebenen Kellerschenke ab. Bei einer deutlich fremdartig-bekannten Figur, die in
Erscheinung tritt, bleibt dem Leser kaum Zeit ihre Herkunft im Innern des reisenden Enthusiasten zu verorten. Der seltsame Auftritt Spikhers zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Die letzten Stufen der Markierung werden erreicht, wenn der fehlende Schlagschatten mehrfach als
Schlagwort auftritt, zweimal der Name „Peter Schlemihl“ fällt und schließlich die Quelle genannt wird:
»Ha ha ha ha«, lachte und kreischte der Kleine [= Spikher] in tollem Hohn, »ha ha ha – meinst du?
meinst du? Hab' ich doch meinen schönen Schlagschatten, o du jämmerlicher Geselle, hab' ich doch
meinen Schlagschatten!« – Und damit sprang er fort, noch draußen hörten wir ihn recht hämisch meckern und lachen: hab' ich doch meinen Schlagschatten! Der Große [= Schlemihl] war wie vernichtet totenbleich in den Stuhl zurückgesunken, er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und aus der tiefsten
Brust atmete schwer ein Seufzer auf. »Was ist Ihnen?« fragte ich teilnehmend. »O mein Herr«, erwiderte der Große, »jener böse Mensch […] hat mich zurückgeführt in mein tiefstes Elend. Ach – verloren,
unwiederbringlich verloren habe ich meinen [Schlagschatten] – Leben Sie wohl!« – Er stand auf und
schritt mitten durch die Stube zur Tür hinaus. Alles blieb hell um ihn – er warf keinen Schlagschatten.
Voll Entzücken rannte ich nach – Peter Schlemihl – Peter Schlemihl!* rief ich freudig, aber der hatte
die Pantoffeln weggeworfen. Ich sah wie er über den Gendarmesturm hinwegschritt und in der Nacht
verschwand. (AS 337)
Der Asterisk markiert eine Fußnote, die nun am Ende des Kapitels den Prätext nennt und das
Literaturrätsel auflöst:1055 „* Peter Schlemihls wundersame Geschichte, mitgeteilt von Adalbert [sic!] von Chamisso und herausgegeben von Friedrich Baron de la Motte Fouqué. Nürnberg bei J. l. Schrag. 1814“ (ebd.). Das Abwerfen der Filzpantoffel zum Enthemmen der Siebenmeilenstiefel und die Schattenlosigkeit der davoneilenden Figur „bestätigen“ ihre Identifizierung durch den reisenden Enthusiasten. Ob er sich ihrer Fiktivität bewusst ist, lässt die
Quellenangabe offen. Er kann Schlemihl auch als Verfasser einer zeitgenössischen Autobiographie verstehen.
1055
Eine zweite Fußnote in Abenteuer der Silvesternacht stellt eine ‚Finte‘ dar. Sie markiert keine weitere, teilaktualisierende Einzelreferenz, sondern eine explizite Erwähnung eines Einzeltextes dar. Der Merkwürdige Fall
einer schnell tödtlich gewordenen Selbstvergiftung durch Blausäure weist keine Parallele zur Geschichte vom
verlornen Spiegelbild auf. Hier hat die bibliographische Angabe medizinischer Fachliteratur nur die Existenz
eines Giftes zu belegen, das in winzigen Mengen sofort tödlich wirkt: „* Dapertuttos Phiole enthielt gewiß rektifiziertes Kirschlorbeerwasser, sogenannte Blausäure. Der Genuß einer sehr geringen Quantität dieses Wassers
(weniger als eine Unze) bringt die beschriebenen Wirkungen hervor. Horns Archiv für mediz. Erfahr. 1813 Mai
bis Dez. Seite 510“ (AS 355). Vgl. Anonymus: Merkwürdiger Fall einer schnell tödtlich gewordenen Selbstvergiftung durch Blausäure. Aus einem Schreiben aus Schlesien, in: Horns Archiv für medizinische Erfahrung o.B.
(1813), 510-513.
273
Mit Peter Schlemihls Aufenthalt im Keller erschöpfen sich die intertextuellen Bezüge zum
Prätext von Chamisso noch lange nicht. Schlemihls Lebensgeschichte wird nicht einmal, sondern gleich dreimal in den Abenteuern der Silvesternacht teilweise reproduziert. Überlagerungen der Figurenbiographien durch das zeitweilige Zusammentreffen der Protagonisten
führt man sich am besten durch die Auflistung ihrer Auftritte in den einzelnen, mit römischen
Ziffern durchnummerierten Kapiteln, vor Augen. Nur so behält man den Überblick innerhalb
der intratextuellen Verflechtungen der intertextuellen Bezüge:
(1) Peter Schlemihls (II),1056
(2) Erasmus Spikhers (II, III, IV)
(3) der reisenden Enthusiasten (I, II, III, Postskript).
In den beiden letzten Fällen liegen subtilere Markierungen der Intertextualität vor, als im ersteren. Der reisende Enthusiast bezieht die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild auf Peter
Schlemihls wundersame Geschichte: „Auf dem Tische, an dem nachts der spukhafte Kleine
saß, fand ich ein frisch beschriebenes Blatt, dessen Inhalt ich dir mitteile, da es unbezweifelt
des Kleinen wundersame Geschichte ist“ (AS 341, Hervorhebung: V.R.). Hinter der vorläufigen Titelgebung durch den Finder verbirgt sich die Interpretation des Erzählers des Textes als
Pedant zu Schlemihls Memoiren.1057
Dass das gesamte Fantasiestück eine teilreproduzierende Einzelreferenz zu dem Werk von
Chamisso darstellt, wird noch dezenter gekennzeichnet. Obwohl der reisende Enthusiast in
der Berliner Kellerschenke gerade erst zwei ihm unbekannte Gästen kennen gelernt hat, vermutet er gleich eine innere Verwandtschaft mit ihnen, ohne sie näher spezifizieren zu können
(vgl. AS 335f.):
»[… Uns Allen scheint] schon etwas abhanden gekommen [zu sein], wiewohl mir diese Nacht vorzüglich Hut und Mantel [fehlen ...]. [… Beide hängen] an einem Haken in des Justizrats Vorzimmer wie Sie
wissen!« Der Kleine und der Große fuhren sichtlich auf als träfe sie unversehens ein Schlag. Der Kleine
schaute mich recht häßlich […] an, sprang aber gleich auf einen Stuhl und zog das Tuch fester über den
Spiegel, während der Große sorgfältig die Lichter putzte. (AS 336)
Dem reisenden Enthusiasten gelingt es, Spikher und Schlemihl einen panischen Schrecken
einzujagen. Sie fühlen sich ertappt und ergreifen Maßnahmen, das Fehlen des Spiegelbildes
und des Schattenwurfes zu verbergen. Selbst wenn ein Erstleser ihr Verhalten nicht zu deuten
weiß, muss er der postulierten Seelenverwandtschaft eine größere Bedeutung beimessen.
Schließlich kommt Erasmus Spikher im nächsten Kapitel auf diese zurück: „[Ich] merke, daß
wir Unglücksgefährten sind. – Sollten Sie auch? – Julia – Giulietta – Nun es sei wie es wolle,
Sie üben eine unwiderstehliche Gewalt über mich aus – ich kann nicht anders, ich muß Ihnen
1056
1057
Als geträumte Figur erscheint er auch im dritten Kapitel (vgl. AS 340f.).
Diese Markierung vgl. Wilpert 1978, 60.
274
mein tiefstes Geheimnis entdecken“ (AS 339). Mit den letzten beiden Zitaten werden auf intratextueller Ebene Beziehungen zwischen den drei Schicksalen hergestellt. Diese intramediale „Ausbreitung“ von intertextuellen Bezügen korrespondiert in der Funktionsweise mit den
aufgezeigten Gleichsetzungs- oder Spiegelungsverfahren im Zusammenhang mit der Intermedialität. Auf den Punkt gebracht: im Grunde genommen wird eine Geschichte gleich dreimal
erzählt1058 und eine Technik der abweichenden Spiegelung eingesetzt.1059 So entstehen strukturelle Doppelgänger in den Abenteuern der Silvesternacht.1060
9.3.2. Vergleich dreier Figuren aus den Werken von Hoffmann und Chamisso
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man mit den drei ‚Parallelgeschichten‘ umgehen soll?
Es gilt ein Chaos beim Vergleich der Variationen mit der Vorlage zu vermeiden. Zudem ist
die Ausklammerung des intratextuellen Aspektes als perspektivische Verkürzung zu vermeiden. Man könnte jeweils zwei der drei Figuren einander gegenüberstellen und ihre Geschichten miteinander vergleichen. Die Konsequenz daraus wäre, dass dreimal nach demselben
Muster vorgegangen würde und etliche Aspekte auf ermüdende Weise wiederholt würden.
Eine Synthese der Ergebnisse birgt die Gefahr, eine vierte Wiederholung zu werden.
Eine Vereinfachung des Vorgehens ist angebracht. Diese lässt sich erreichen, indem man die
drei Figuren gleichzeitig, Punkt für Punkt durchgeht.1061 Es ist ein Script an die Geschichten
heranzutragen, das als tertium comparationis außer den Handlungsabläufen auch das situative
und erzählerische ‚Setting‘ berücksichtigt. Jeder Slot des Scripts stellt sich zunächst als intertextuelle-intratextuelle Matrix dar, die dann einer Interpretation unterzogen wird.1062 Am Ende sollten sich aus der Zusammenschau der Zwischenergebnisse allgemeine Tendenzen im
Umgang mit dem Material des Prätextes ergeben. Mit der nun folgenden Tabelle wird der
Versuch unternommen, die entworfene Vorgehensweise zu visualisieren und damit die Lektüre des folgenden Vergleichs zu erleichtern.
Das Script, das ich an Abenteuer der Silvesternacht und Peter Schlemihls wundersame Geschichte anlege, besteht aus zehn durchnummerierten und namentlich benannten Slots (linke
Tabellenspalte). Diese werden als fett gedruckte Überschriften den nachfolgenden Vergleich
der Intertexte in Abschnitte gliedern. In diesen Abschnitten wird die Ausgestaltung der Situationen verglichen, in denen Peter Schlemihl, der reisende Enthusiast und Erasmus Spikher als
1058
Vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 69.
Hoffmann 1970, 167-187, hier 181.
1060
Vgl. Orosz 2001, 66f.
1061
Natürlich sind auch hier Wiederholungen bestimmter Sachverhalte nicht völlig auszuschließen!
1062
Zu den Begriffen „script“, „slot“ und „filler“ vgl. Busse 2008, 57-87, hier 73.
1059
275
Figuren Chamissos und E.T.A. Hoffmanns befinden (die drei rechten Spalten). Als Situationen verstehe ich „slots“; als Ausgestaltungen die „fillers“. Ein Beispiel: Außenseitertum wird
als Situation angesehen, die sich u.a. über Ursachen und Wirkungen definiert. Die Ursachen
unterscheiden sich bei den Figuren. Ganz vereinfacht gesagt: Zum Außenseiter werden die
Figuren in den zu untersuchenden Texten, weil ihnen der Schatten fehlt (Peter Schlemihl), die
bürgerliche Kleidung abhandengekommen ist (der reisende Enthusiast) oder das Spiegelbild
verschwindet (Erasmus Spikher). Ursachen, Wirkungen, etc. ergeben in ihrer figurenbezogenen Gesamtheit einen „filler“ für eine Situation bzw. einen „slot“.
Die Einzelabschnitte des intertextuellen Vergleichs untergliedern sich also nach Figuren, die
durch Unterstreichungen markiert sind. In der Tabelle sind die „fillers“ nur mit den Ordnungsnummern der „slots“ bezeichnet, damit der Rahmen der Tabelle nicht gesprengt und
dem anschließenden Text nicht vorgegriffen wird. Es handelt sich um „Platzhalter“.
Script
Slots (1) bis (10)
Schlemihl
Der
reisende
Enthusiast
Spikher
(bei)
(Chamisso)
(Hoffmann)
(Hoffmann)
(1) Ort und Zeit des Geschehens
(2) Die erzählte Zeit
(3) Die Ausgangslage und Reiseziele der Protagonisten
(4) Das Außenseiter-Dasein der Protagonisten von
Anfang an
(5) Die Beziehungen der Protagonisten zum anderen
Geschlecht
(6) Die Anfälligkeit der Protagonisten für ‚Teufelspakte‘
(7) Die Allusionen zum biblischen Sündenfall
(8) Die Verschärfung des Außenseiter-Daseins der
Protagonisten
(9) Das Rollenverhalten und Rollenbewusstsein der
Protagonisten
(10) Die Situation am Ende der Biographien
Fillers
(1) bis (10)
Fillers
(1) bis (10)
Fillers
(1) bis (10)
Die Gliederung des folgenden Kapitels.
Ein Vergleich der Schlemihl-Figur von Chamisso mit der in Hoffmanns Abenteuer der Silvesternacht erübrigt sich, da dieser bei der Untersuchung der Personenbeschreibungen und der
Darstellung der Markierungen des Intertextes erfolgt ist.
Zunächst gilt es, sich über den situativen Rahmen zu verständigen, in dem die einzelnen Protagonisten agieren. Die Handlungen sind das Ergebnis von Gedankenexperimenten, die
Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Individuen mit z.T. irrealen Beeinträchtigungen
276
beschreiben. Aus diesem Grund kommt der räumlichen und zeitlichen Verortung der Geschichten eine große Aussagekraft zu.
(1) Ort und Zeit des Geschehens
Peter Schlemihls wundersame Geschichte spielt in der Gegenwart ihres empirischen Autors.
Von Peter Braun ist einer der ausführlichsten Nachweise erbracht worden, dass die dargestellte Welt Signaturen um 1810 trägt.1063 Die Handlung ereignet sich hauptsächlich im deutschen
Sprachraum damaliger Ausdehnung: in einer unbestimmten Hafenstadt an der Nord- oder
Ostsee und einem südlicher gelegenen Kurort,1064 in dem man den „gute[n] König von Preußen“ (als Landesvater?) inkognito erwartet (PS 41). Das Manuskript mit den biographischen
Aufzeichnungen gibt Schlemihl persönlich im brandenburgischen Kunersdorf am Aufenthaltsort des fiktiven Chamisso ab. Mit dem Erwerb der Siebenmeilenstiefel erweitert sich der
Aktionsraum des Protagonisten, da seine Ortswechsel beschleunigt werden. Das magische
Schuhwerk ermöglicht die Erforschung der Botanik, Fauna und Geographie entfernterer Regionen, wobei ausgedehnte Wasserflächen keine natürlichen Barrieren bilden. Sie verbauen
den ‚Landweg‘ nach Ozeanien und Australien, das Anfang des 19. Jahrhunderts noch Neuholland genannt wird.1065 Ohne Schatten wagt Schlemihl sich auf kein Schiff. Eigenartigerweise fühlt er sich wie ein Gefangener im „Kerker“ (PS 74), obwohl er weiter als die meisten
Europäer seiner Zeit herumgekommen ist. Mit Sextant, physikalischen Instrumenten und Büchern wird die Welt erschlossen (vgl. ebd.). Magie und Wissenschaft ergänzen sich gegenseitig, dienen aber beide aufklärerischen Zwecken,1066 mit denen sich Schlemihl in seiner Einsamkeit sinnvoll zu beschäftigen sucht. Die Steigerung der Mobilität geht mit dem Abbau der
sozialen Kontakte einher, die ohnehin nur noch rudimentär vorhanden sind. Zusammen mit
einem Hund lebt er in einer ehemaligen Eremitenhöhle in der ägyptischen Wüste bei Theben.
Die Welt der Reichen, die er verlassen hat, stellt sich mit ihren fragwürdigen Wert- und Moralvorstellungen als eine verkehrte Welt dar.1067
Der reisende Enthusiast macht in den Abenteuern der Silvesternacht keineswegs seinem Namen alle Ehre. Er bewohnt gerade eine „Klause“ (AS 326) in Berlin,1068 die er ursprünglich
nur zu einem Spaziergang durch das Stadtzentrum verlässt. Der vorrübergehende Verlust seines Haustürschlüssels nötigt ihn zu einer Übernachtung im Gasthaus „Zum Goldenen Adler“
1063
Vgl. Braun 2007, 214.
Ein Gebirge wird überquert, das man an der Küste nicht finden kann. Vgl. PS 38.
1065
Vgl. Braun 2007, 217.
1066
Vgl. ders., 216f.
1067
Auf diesen Topos wird schon aufmerksam gemacht bei Wilpert 1978, 41 und Bachorsky, Hans-Jürgen: Geld
und soziale Identität im "Fortunatus". Studien zur literarischen Bewältigung frühbürgerlicher Widersprüche
(Göppinger Arbeiten zur Germanistik 376), Göppingen 1983, 308.
1068
Unschwer an Straßennahmen, Hotels und dergleichen festzumachen. Vgl. hierzu Nährlich-Slatewa 1995, 49.
1064
277
(vgl. AS 338).1069 Abgesehen davon, dass in der Kürze einer Silvesternacht keine langen Reisen möglich sind, dürfte das Attribut „reisender“ im Falle des Enthusiasten in übertragenem
Sinne zu verstehen sein: er reist durch seine Fantasie als Erzähler eines Fantasiestücks.1070 Als
Horizont der vorgeblichen Erlebnisse deutet sich dennoch die weite Welt an. Ein italienischer
Zuckerbäcker, Passanten, Erasmus Spikher und Peter Schlemihl kommen von außen nach
Berlin.
Erasmus Spikhers Geschichte vom verlorenen Spiegelbild ereignet sich, wie auch Peter
Schlemihls wundersame Geschichte vor der Silvesternacht in Berlin. Ihr Protagonist begibt
sich aus der deutschen Heimat nach Italien. Mehr als Florenz und seine Umgebung lernt er
von dem Land nicht kennen, da er nach dem begangenen Todschlag in den Schoß seiner Familie flieht. Der Aufenthalt am Ausgangspunkt seiner Reise ist allerdings nur von kurzer
Dauer. Als seine Frau den Verlust des Spiegelbildes bemerkt, setzt sie ihn vor die Tür. Erst
wenn er es Dapertutto und Giulietta wieder abgejagt habe, dürfe er zurückkommen. Da dies
ziemlich unwahrscheinlich ist, zementiert sie damit die Trennung. Im Gegensatz zu Schlemihl
will er sich wohl nicht mit dem Schicksal abfinden. Er zieht sich in keinen Schlupfwinkel
zurück. Ratlos, wie er das Spiegelbild ohne Preisgabe seiner Seele und dem Leben seiner Familie zurückerlangen könnte, reist er ziel- und sinnlos durch die Gegend. Nach Florenz, wo
bislang Giulietta und Dapertutto ihr Unwesen getrieben haben, wird er sich aufgrund seines
Totschlagdelikts kein zweites Mal wagen. Weil er über keine Siebenmeilenstiefel verfügt,
dürfte er sein unstetes Leben in einem Bereich führen, der wesentlich enger als bei Peter
Schlemihl gesteckt ist. Er befindet sich in einer schlimmeren Lage als Schlemihl, was auch
schon Clemens Brentano in dem an Hoffmann gerichteten Briefentwurf erkannt und kritisiert
hat.1071
In Hoffmanns Variationen von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte findet eine räumliche Verdichtung gegenüber der Vorlage statt. Schlemihl durchstreift fast die ganze Welt;
Spikher reist nachweislich nur durch Deutschland und Italien; der reisende Enthusiast hält
1069
Da er den Besitzer bestens kennt, kann es frühere Gasthaus-Aufenthalte in Berlin gegeben haben. Der „Goldene Adler“ ist kaum mit dem Hôtel im Don Juan identisch, das in einer Provinzstadt liegen dürfte. Vgl. AS*
83ff.
1070
Das hat zumindest in der Französischen Literatur ein Vorbild. Xavier des Maistre veröffentlichte 1795 den
Roman Voyage Autour de ma Chambre und 1825 – nach Hoffmanns Tod – die Fortsetzung Expédition Nocturne
Autour de ma Chambre. Vgl. Maistre, Xavier de: Die Reise um mein Zimmer. Aus dem Französischen von Eva
Mayer, Berlin 2011.
1071
Vgl. Clemens Brentano an Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vermutlich ab September 1817, FBA 33,
Briefe V, 283ff., hier 283.
278
sich zumindest in dem vorliegenden Fantasiestück ausschließlich in Berlin auf. Genau lokalisierbare Orte geben die Kulisse der Handlung ab – keine diffuse, fremde Umgebung. 1072
Hoffmanns Figuren verfügen über keine Siebenmeilenstiefel, die sie in Sicherheit vor ihren
echten und vermeintlichen Widersachern bringen. Dadurch erhöht sich die Ausweglosigkeit
ihrer Lage, obwohl ihre Verluste weniger schwerwiegend sind als der fehlende Schatten
Schlemihls. Spiegel und spiegelnde Flächen lassen sich besser meiden als Sonnenschein und
erleuchtete Räume. Der Verlust von Stock, Hut und Mantel beim reisenden Enthusiasten ist
zwar nur ein vorübergehender; doch in der kalten Silvesternacht treibt es ihn deshalb in warme Innenräume. Dass seine Gesundheit und damit sein Leben auf dem Spiel stehen, macht er
sich auf der Straße nicht hinreichend bewusst – er betrachtet die Auslagen eines Zuckerbäckers und lauscht den Gesprächen von Passanten. Seine Lage während der Silvesternacht ist
prekärer als die von Schlemihl und Spikher. Beide besitzen die passende Bekleidung für winterliche Temperaturen. Schlemihl kann sich jederzeit in seine thebanische Einsiedlerhöhle
zurückziehen, Spikher in den nächsten Gasthof begeben. Der reisende Enthusiast ist dagegen
völlig dem Sturm und der Kälte ausgesetzt, als er sich nach dem Rauswurf aus der Kellerschenke auf den Weg zum „Goldenen Adler“ (vgl. AS 338) macht. Ohne Schlüssel nutzt ihm
seine „Klause“ (AS 326) nur wenig. Der Protagonist mit der vermeintlich größten Bewegungsfreiheit, besitzt die geringsten Fluchtmöglichkeiten. Die Ausweglosigkeit seiner Lage
drückt sich in der Konzentration des Geschehens auf Berlin aus. Mit der räumlichen Verdichtung gegenüber der Vorlage, die weniger deutlich ausgeprägt auch für die Geschichte vom
verlorenen Spiegelbild festzustellen ist, wird also eine klaustrophobische Atmosphäre erzeugt.
Indirekt begünstigt dies auch eine stärke Fokussierung auf das Innenleben der Erzählersubjekte.
(2) Die erzählte Zeit
Eine Konzentration auf psychische Vorgänge müsste sich an einer signifikanten Zurücknahme
der äußeren Handlung in Hoffmanns Variationen zu Peter Schlemihls wundersamer Geschichte zeigen lassen. Die Auswahl und Darstellung der Lebensabschnitte der drei Figuren
sind zu betrachten.
Schlemihls Memoiren behandeln die Jahre zwischen dem Jugend- und dem Greisenalter. Nur
wenige Episoden werden im ‚showing‘-Gestus erzählt. Längere Zeiträume finden eine summarische Darstellung.1073 Nach den ersten neun Kapiteln tritt eine Stagnation in der Handlung
ein, da der Alltag des Naturforschers in Routine erstarrt. Zwei Kapitel für nahezu ereignislose
1072
1073
Vgl. Wilpert 1987, 63.
Vgl. Braun 2007, 215.
279
Jahrzehnte sind relativ lang. Sie werden aber für die glaubwürdige Umwertung der Situation
benötigt, den Abbau der Existenzangst und die Neuorientierung hinsichtlich der Lebensziele.
Am Ende hat Schlemihl zwar nicht das Glück gefunden, aber ein hohes Maß an Zufriedenheit
erreicht.
Eine Zurücknahme der Spannung ist in keiner der beiden Variationen der Geschichte bei
Hoffmann festzustellen. Sein Alter ist völlig unbestimmt. Es bleibt offen, woher der reisende
Enthusiast kommt und geht? Lediglich die Erlebnisse der knapp 24 Stunden zwischen Silvesterabend und dem Mittag des Neujahrstages werden erzählt.
Spikher ist zu Beginn seiner Geschichte 27 Jahre alt (vgl. AS 342); als Ehemann und Vater
sehr wahrscheinlich älter als Schlemihl. Aussagekräftige Zeitangaben fehlen für die Dauer
seiner Italienreise und das anschließende Zusammenleben mit der Familie; doch dürften zwischen dem Verlust des Spiegelbildes und dem Exorzismus seiner dämonischen Besitzer kaum
mehr als ein Jahr vergangen sein. Das rastlose Leben danach wird gerade noch mit dem Hinweis auf eine erfolglose Kompagnie von Spikher und Schlemihl angedeutet. Durch editorische Eingriffe des reisenden Enthusiasten oder des fiktiven Herausgebers in das Manuskript
erhöht sich die Erzählgeschwindigkeit kurzfristig, da z.B. „manches Abenteuer“ (AS 352) auf
der Flucht aus Italien übergangen wird.
Neben einer räumlichen Verdichtung kommt es bei Hoffmann zu einer inhaltlichen Reduktion, Beschleunigung und zeitlichen Begrenzung der referierten Geschichten. Die Ereignisse
scheinen sich zu überstürzen. Nur so kann das fremde Zauberreich (vgl. AS 325), das Innenleben, entsprechend des Herausgeber-Vorworts den Leser übermannen. Die Konfrontation mit
gleich zwei Variationen des Prätextes steigert durch Wiederholung die intendierte Affektwirkung. Zusammen nehmen sie nur etwa die Hälfte des Umfangs Vorbildes ein!
(3) Die Ausgangslage und Reiseziele der Protagonisten
Aufbruchssituationen der Protagonisten stehen bei Chamisso und Hoffmann an dem Anfang
der zu vergleichenden Geschichten. Hinsichtlich der Ausgangslange und der Ziele, die mit
ihnen verbunden sind, bestehen allerdings deutliche Unterschiede.
Peter Schlemihl kommt nach einer längeren Schiffsreise in einer norddeutschen Hafenstadt
an, was das Verlassen eines ungenannt bleibenden Ortes impliziert. Diese Abreise muss vorbereitet worden sein. Etwas Gepäck und ein Empfehlungsschreiben stehen Schlemihl in der
Fremde zur Verfügung. Seine finanziellen Mittel sind begrenzt, da er sich in einen billigen
Gasthof einquartiert und mit einem engen Zimmer unter dem Dach vorliebnimmt. Sein
schwarzer Rock ist gewendet worden, d.h. einen Neuen hat er sich nicht leisten können. Er
befindet sich auf keiner Vergnügungsreise. Die Investition in eine Schifffahrt und die Herstel280
lung einer halbwegs ordentlich wirkenden Garderobe dienen Werbungszwecken. Das offenbar
schmale Budget nötigt den Protagonisten sofort den Kaufmann Sir John mit dem Empfehlungsschreiben aufzusuchen, ohne dass er sich von der beschwerlichen Reise im Gasthof ausgeruht hätte. Schlemihl benötigt ein Auskommen. Seine ökonomische Lage erklärt die Attraktivität des Glücksäckels für ihn, nachdem die Kontaktaufnahme mit Sir John wenig erfolgversprechend verlaufen ist. Er hat den Träger des Empfehlungsschreibens kaum beachtet (s.u.).
Was sich Schlemihl wünscht, wenn seine Grundbedürfnisse befriedigt sind, sieht man, sobald
er reich ist. Ein Domizil mit Garten und liebender Ehefrau scheinen Teil seiner Glückvorstellungen zu sein. Ob ein nachgeordneter Wunsch besteht, irgendwelche Interessen auszuleben,
verdecken seine Bemühungen um Sicherheit. Unvermittelt nimmt er nach dem Erwerb der
Siebenmeilenstiefel die Tätigkeit eines Naturforschers auf, zu der er irgendwo die nötigen
Grundkompetenzen vor dem Einsetzen der Handlung erworben haben muss.
Der reisende Enthusiast sieht sich gezwungen, seine „friedliche Klause“ (AS 326) zu verlassen, um eine Silvesterfeier zu besuchen, die der Justizrat alljährlich organisiert. Dabei verspürt er keinerlei Verlangen nach einer Ablenkung von seiner Melancholie, in die er stets
nach Weihnachten verfällt (vgl. ebd.). Nur seinem Tagebuch wagt er den Widerwillen an der
Teilnahme anzuvertrauen, für die er den Gastgeber verantwortlich macht: „jedem [wolle der
Justizrat] eine besondere Freude bereiten, wobei er sich so geschickt und täppisch anstellt,
daß alles Lustige was er mühsam ersonnen, untergeht in komischem Jammer“ (AS 326f.).
Seine Lebensumstände bekümmern den reisenden Enthusiast wenig. Reist er tatsächlich von
Ort zu Ort, quälen ihn keine Sorgen finanzieller Art. Er befindet sich vor keinen Gläubigern
auf der Flucht. Mit Herrn Matthieu, dem Besitzer des „Goldenen Adlers“, ist er freundschaftlich verbunden. Regelmäßige Kneipenbesuche übersteigen sein Budget nicht, da er zu wohlgelittenen Stammkundschaft der Kellerschenke zählt (vgl. AS 332f.). Darüber hinaus ist er so
weit salonfähig, dass ihn der Justizrat zu einer elitären Gesellschaft mit Auftritt eines Klaviervirtuosen bitten kann. Richtet man den Blick auf Don Juan aus den Fantasiestücken oder das
viel später entstandene Billett des reisenden Enthusiasten, erlebt man ihn als Zuschauer in der
Loge bei einer Aufführung von Mozarts Oper Don Giovanni und in einer Ausstellung. Bildung, Zeit und Geld erlauben also, die Auseinandersetzung mit Musik und Gemälden und
dergleichen. Die Wertschätzung von Mozarts 39.Symphonie, die Bekanntschaft mit dem Maler Philipp und die zahlreichen Vergleiche von Personen mit Gemälden in Abenteuer der Silvesternacht bestätigen auch in diesem Werk seine Interessen an den schönen Künsten. Berlin
ist für den literarisch bewanderten fiktiven Verfasser der Fantasiestücke in Callot‘s Manier
sicherlich nicht der schlechteste Ort seine Neigungen auszuleben.
281
Erasmus Spikher verlässt gesicherte Verhältnisse. Als verheirateter Mann und Vater eines
kleinen Sohnes kann er es verantworten, seine Familie für die Dauer einer Italienreise in seiner Vaterstadt in einem eigenen Haus (vgl. AS 352) zurückzulassen. Sie scheint bestens versorgt zu sein, wie auch er: die Reisekasse besteht aus einem wohlgefüllten Beutel (vgl. AS
342). Mit einem Wagen für sich allein, keiner öffentlichen Postkutsche, fährt er in das „schöne warme Welschland“. Über den Zweck des Aufenthalts im Süden schweigt er sich aus. Da
mehrfach im Fantasiestück die klimatische Gunst Italiens betont wird, könnte es ihm um das
Auskurieren gesundheitlicher Probleme gehen. Zudem besteht die Möglichkeit zu Bildungserlebnissen.1074 In der Wiedergabe seiner Aufzeichnungen zur Reise, finden sich bei den Personenbeschreibungen sehr wahrscheinlich einige Erwähnungen von Malern, deren Bilder dem
reisenden Enthusiasten bestens vertraut sind. Auch Spikher dürfte sich für Malerei interessieren. Weil er Musik zu schätzen weiß, verliebt er sich in Giulietta, maßgeblich wegen ihres
Gesanges. Liebesabenteuer hat er in Florenz nicht gesucht: Er bemüht sich um keine Donna,
die er auf das Gartenfest mitbringen kann. Wäre sich aber Spikhers Frau völlig seiner Liebe
sicher, so würde sie ihm wohl kaum die im Nachhinein berechtigte Ermahnung, „denke fein
fleißig an mich, bleibe mir treu“, mit auf die Reise geben. Er organisiert immerhin von sich
aus die „Lebenslust“ (AS 342) der dortigen Deutschen, denen er sich willig anschließt. Ihren
Übermut und das Schwelgen in üppigen Genüssen (vgl. ebd.) heißt er damit gut.
Ist er am Ende aus der bürgerlichen Idylle ausgebrochen, die Schlemihl vergeblich zu erreichen sucht? Er verzichtet zumindest zeitweise auf die Geborgenheit eines Familienlebens.
Damit werden implizit Schlemihls Glücksvorstellungen im Prätext in Frage gestellt. Latent
äußert sich hier der Antagonismus zwischen dem negativ bewertetem, bürgerlichen „Philistertum“ und dem wahren Künstlertum, der in einigen der umliegenden Fantasiestücke und auch
späteren Werken Hoffmanns deutlicher artikuliert wird. Jedenfalls ist Spikher genauso wenig
auf Reichtum versessen, wie der reisende Enthusiast – und auch Schlemihl sieht im Geld nur
das Mittel zum Zweck. Zum Zeitpunkt des Tauschhandels glaubt er offenbar noch Glück kaufen zu können. Er investiert seinen Schatten letztendlich wie Spikher sein Spiegelbild in Liebe.1075 An der Zuneigung einer Frau ist es auch dem reisenden Enthusiasten gelegen. Er will
seine Ex-Geliebte Julia wieder erobern. Sowohl im Streben nach Liebe, als auch im Liebesleid gleichen sich schließlich die drei Protagonisten. Nur die tragische Fallhöhe stellt sich in
Abhängigkeit ihrer Ausgangslage unterschiedlich groß dar.
1074
Nährlich-Slatewa sieht im Beginn der „Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ die Parodie zeitgenössischer
Italienreisen, die die ‚nördlichen‘ Deutschen mit oder ohne Volkmanns Reiseführer seit Generationen absolvieren. Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 86.
1075
Der Glückssäckel ist aus dieser Perspektive redundant, was womöglich die Tilgung des magischen Objekts
in Hoffmanns beiden Variationen von der Verlust-Geschichte erklärt.
282
(4) Das Außenseiter-Dasein der Protagonisten von Anfang an
Hinsichtlich der Ausgangslage gibt es noch einen wichtigen Punkt zu klären. In wie weit
nehmen sich die Figuren als Außenseiter wahr bzw. werden als solche behandelt, ehe sie
Schatten, Straßenkleidung oder Spiegelbild verlieren?
Von Anfang an beobachtet Schlemihl aufmerksam die Reaktionen der Umwelt auf seine Person. Er befindet sich in fremder Umgebung. Die geschilderten Situationen erwecken den Eindruck, man grenze ihn wegen seiner Armut aus. Ein Bediensteter des Gasthauses am Hafen
taxiert den Angekommenen und weist ihm das Zimmer zu, das den wenigsten Komfort bieten
dürfte. Sir John schenkt Schlemihl trotz seines Empfehlungsschreibens1076 nur wenig Aufmerksamkeit: „Er brach das Siegel auf und das Gespräch nicht ab, das sich auf den Reichtum
lenkte. »Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million«, warf er hinein, »der ist, man verzeihe
mir das Wort, ein Schuft!« »O wie wahr!« rief ich aus mit vollem überströmenden Gefühl“
(PS 24). Schlemihl, der auf jeden Fall kein Herr einer Million ist, stimmt aus taktischen Erwägungen dieser kruden These unklugerweise zu. Indem er die Meinung des Hausherrn akklamatorisch bestätigt, akzeptiert er die Bewertung seiner eigenen Person als „Schuft“ (ebd.).
Sir John duldet ihn als Gast auf dem gerade stattfindenden Gartenfest, das nach der zitierten
Äußerung ein Akt der Selbstdarstellung ist. Niemandem wird der Neuankömmling vorgestellt.
Die Gäste und das Personal schenken Schlemihl keine Beachtung. Schließlich nehmen sie
selbst die spektakulären Zauberkunststücke des grauen Mannes mit der größten Selbstverständlichkeit hin. Auch diesem auffälligen Gast kommt in ihrer Wahrnehmung nur eine Statistenrolle zu. Einzig der graue Mann bringt Schlemihl Interesse entgegen. Man muss betonen, dass Schlemihl schon lange vor dem Gartenfest und dem Verkauf des Schattens ein Außenseiter gewesen ist.1077 Bereits in Berlin gilt Hitzigs Freund wenig beim poetischen Tee, wo
er während des Schreibens einschläft (vgl. PS 17).
Der reisende Enthusiast führt nach Weihnachten ein zurückgezogenes Leben in seiner „friedlichen Klause“ (vgl. AS 326). Viele Freunde sind von ihm im vergangenen Jahr geschieden
(vgl. ebd.), aber sein „guter Freund“ (AS 337) Mathieu betreibt noch immer den Gasthof
„Zum Goldenen Adler“.1078 Er lebt in keiner völligen Isolation, sonst fühlte er sich nicht verpflichtet, die wiederholte Einladung des Justizrates zu einer unliebsamen Neujahrsfeier anzu-
1076
Dieses stammt von Sir Johns Bruder, von dem er lange nichts mehr gehört hat (vgl. PS 24). Das Verhältnis
der beiden Verwandten zueinander bleibt genauso offen, wie das Schlemihls zu seinem Mentor. Der ‚Empfohlene‘ misst dem Beziehungsgeflecht für die weitere Entwicklung der Dinge keine Bedeutung bei. Eine Sprachbarriere liegt nicht vor, wie das folgende Zitat im Haupttext (oben) zeigt.
1077
Schlemihl ist von Anfang an ein Außenseiter. Vgl. Schulz, Franz: Die erzählerische Funktion des Motivs
vom verlorenen Schatten in Chamissos PETER SCHLEMIHL, in: GQ 45 (Mai 1972), 429-442, hier 430.
1078
Über die Qualität dieser Freundschaft kann nicht geurteilt werden, da sie lediglich am Rande erwähnt wird.
283
nehmen. Dass er aus Versehen dem Gastgeber die Teetasse aus der Hand schlägt, nimmt ihm
niemand in der Gesellschaft übel. Man lacht über des Justizrates Unstern, noch mehr über
seine Tölpelhaftigkeit (vgl. AS 328). Natürlich stellt sich die Situation für den reisenden Enthusiasten besonders unangenehm dar. Mit seiner Ungeschicklichkeit imponiert er gewiss
nicht seiner einstigen Geliebten Julia, deren Erscheinung längst vergessene Gefühle wiederbelebt. Immerhin enthält sie sich taktvoll des allgemeinen Gelächters. Da die übrigen Gäste
rasch zur ‚Tagesordnung‘ übergehen, muss er sich nicht ausgegrenzt fühlen. Ein kleiner
Skandal ist eher seine überstürzte Flucht ohne Verabschiedung vom Gastgeber. Sie soll die
bevorstehende Begegnung mit dem ihm unbekannten Gatten Julias vermeiden, was auch als
ein Akt der Unhöflichkeit zu bewerten ist. Jetzt verliert er Mantel, Hut und Stock, die Insignien des bürgerlichen Status und der Wohlanständigkeit.1079 Der reisende Enthusiast manövriert
sich erst in eine asoziale Position;1080 Ungeschicklichkeit und Lächerlichkeit sind lediglich als
Symptome für ein Außenseiter-Dasein zu werten.1081
Erasmus Spikher ist in der Fremde nur bedingt ein Außenseiter. In Florenz schließt er sich
problemlos etlichen, jungen deutschen Männern an, mit denen ihn vor allem die Herkunft
verbindet. Nur sein relativ fortgeschrittenes Alter und seine familiäre Bindungen unterscheiden ihn von seinen Genossen.1082 Erst auf einem Gartenfest fällt er auf: „Jeder, nur nicht
Erasmus, hatte eine liebliche Donna mitgebracht.“ (AS 342) Friedrich stellt ihn vor allen zur
Rede, weil er „[entgegen] aller Verabredung, Ordnung und Sitte […] keine Donna [… zum]
Feste geladen“ hat (AS 343). Der Verkehrte-Welt-Topos aus dem Prätext (s.o.) wird hier aufgegriffen. Mit der Moral und den Normen der bürgerlichen Gesellschaft sucht Spikher sich zu
rechtfertigen und erntet Gespött. Als Familienvater wolle er seiner fernen Frau treu bleiben.
Friedrichs Donna nennt ihn daraufhin einen kalten Deutschen. Dennoch bleibt er und passt
sich an. Giulietta darf seine Donna werden. Die sich anschließende Affäre führt zu einer Vernachlässigung der Kontakte zu seinen Landsleuten, noch ehe der Totschlag und der Verlust
des Spiegelbildes als Liebesgabe die Trennung zementieren.
Während Schlemihl mit seiner Unauffälligkeit kämpft, erregen der reisende Enthusiast und
Spikher kurzzeitig die Aufmerksamkeit der sie umgebenden Festgesellschaften. Der sie treffende Spott ist nur von kurzer Dauer und in seiner Bedeutung keineswegs zu überbewerten.
Beide sind nach wie vor gern gesehene Gäste, v.a. Spikher, dessen „besonders munt[e]rer
Geist“ (AS 342), gepaart mit dem Talent, den „tollen Ausgelassenen das Sinnige beizufügen,
1079
Vgl. May 2003, 127-152, hier 149.
Vgl. Woodgate 1999, 232.
1081
Vgl. Ulbrich 1969, 66.
1082
Er ist also Außenseiter in einer leichtlebigen Gesellschaft. Vgl. Wilpert 1987, 63.
1080
284
einen eignen Schwung“ zu geben (ebd.), dürfte auch ohne Geliebte weiterhin gefragt sein. Bei
Spikher und Schlemihl führt gerade der Weg, sich anzupassen in die Katastrophe: Liebeshandel und Schattenhandel. Man kann beide nicht gegeneinander ausspielen: der eine wolle Immaterielles, der andere Materielles.1083 Schlemihl will sich mit Geld letztendlich Liebe kaufen
– von der Gesellschaft und ‚einer‘ Frau. Obwohl Julia den reisenden Enthusiasten mit ihrem
Mann bekannt zu machen wünscht, entzieht er sich der Begegnung im letzten Augenblick
durch Flucht. Verlöre er seine Beherrschung gegenüber seinem Konkurrenten um Julias
Gunst, wären die Folgen unabsehbar. Man denke an Spikhers Auseinandersetzung mit Giuliettas italienischem Verehrer. Der reisende Enthusiast weiß sich und seine Ehre zu retten.
(5) Die Beziehungen der Protagonisten zum anderen Geschlecht
Da das Bedürfnis nach Liebe als ein bedeutendes Movens für den negativen Verlauf der drei
Geschichten erkannt worden ist, liegt es auf der Hand, die Kontakte der Protagonisten mit
dem andren Geschlecht zu betrachten. Sie machen Erfahrungen mit jeweils zwei unterschiedlichen Frauentypen.
Peter Schlemihl empfindet zunächst alle Damen in Sir Johns Gartengesellschaft als Schönheiten (vgl. PS 24). Nach einem kleinen Unfall richtet sich seine Aufmerksamkeit auf die „schöne Fanny“ (ebd.). Aus „Eigensinn“ (ebd.) hat sie eine Rose gepflückt und sich an den Dornen
verletzt. Dies bringt die ganze Gesellschaft in Bewegung. Beim Behandeln der Wunde dürfte
ihr Namen gefallen sein. Schlemihl kennt niemanden und Sir John kaum. Weder der Anlass
des Festes, noch die Stellung der Gäste zueinander, erschließen sich ihm durch Beobachtung.
Fannys Verhältnis zu Sir John bleibt rätselhaft, obwohl ihr Schlemihl später den Hof macht.
Wenn sie tatsächlich die „Herrin des Tages“ ist und im Zentrum des Festes steht, das Sir John
ausrichtet, muss sie in einem näheren Verhältnis zu ihm stehen. Ist sie seine Tochter, Frau,
Geliebte oder Kurtisane? Immerhin bietet der Hausherr ihr nach Schlemihls Empfang den
Arm. Wenig besagt ihr Erscheinen an drittem Ort und das Kokettieren mit Schlemihl.
Fanny schenkt Schlemihl nach seinem plötzlichen Reichtum „einige Aufmerksamkeit, denn
jetzt hatt [… er] Witz und Verstand“ (PS 37). Aus Eitelkeit macht er ihr den Hof. An einem
schönen Abend wandelt er mit ihr Arm in Arm am Rande einer Gesellschaft und bemüht sich,
Fanny Redensarten vorzudrechseln (vgl. 37f.). Er hat schon einen Diamantreif für sie bestimmt, mit dem er weiter um ihre Gunst werben will. Es gilt die vermeintlichen Freiheiten
des Reichtums auszukosten. Nun kann er sich ein solches Geschöpf leisten. Dabei hat er ein
schlechtes Gewissen, da er seinen „Rausch aus dem Kopf ins Herz [zu] zwingen“ sucht (PS
37). Er liebt sie also nicht wirklich. Ob der Rausch in Eitelkeit oder erotischer Faszination
1083
Vgl. ders., 62.
285
besteht, bleibt offen. Die Geschichte ist ihm peinlich und fällt, wie der Erzähler selbst zugibt,
fast gänzlich der Selbstzensur zum Opfer (vgl. PS 37). Ihr Äußeres hat dennoch eine erhebliche Wirkung auf ihn. Dass er sich in die Kokette, die sich am Ende nur „diamantene Krone“
(PS 409) und andere Annehmlichkeiten von Schlemihl verspricht, verliebt, ist verständlich.
Einem erotischen Abenteuer dürfte er trotzdem nicht abgeneigt gewesen sein. Seine moralischen Vorstellungen vermögen ihn kaum zurückzuhalten. Die Entdeckung des Schattenverlustes und die daraus resultierende Flucht beenden jäh die Beziehung in dem Augenblick, in
dem Schlemihl sich bei Fanny einhaken darf. Es ist müßig, über ihre mögliche weitere Entwicklung zu philosophieren.
Im Falle von Mina stellt sich offenbar Liebe ein, die auf Gegenseitigkeit beruht. Es kommt
beinahe zur Verlobung. Schlemihl kündigt ihrem Vater an, zu einem festgesetzten Zeitpunkt,
um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Minas Schönheit spielt nur eine untergeordnete Rolle. Er verliebt sich zwar in ihr Paar blaue Augen (vgl. PS 39), verzichtet aber nach ihrer ersten
Beschreibung als Lichtgestalt darauf, sie permanent „schön“ zu nennen. Diesmal spürt er
zwar den Liebesrausch an der richtigen Stelle, nämlich im Herzen, doch sein Werben wird
dadurch noch problematischer. Er wirft sich nun vor, „in tückischer Selbstsucht“ einen „Engel“ mit reiner Seele an sich „gelogen“ und „gestohlen“ zu haben (alle PS 44). Statt Glück
bringe er ihr Verderben (vgl. ebd.).
Ihre idealisiert wirkende Charakterisierung kann der Leser nachvollziehen, da sie sich später
als zutreffend erweist:
Mina war wirklich ein liebewertes, gutes, frommes Kind. Ich hatte ihre ganze Phantasie an mich gefesselt, sie wußte in ihrer Demut nicht, womit sie wert gewesen, daß ich nur nach ihr geblickt; und sie vergalt Liebe um Liebe mit der vollen jugendlichen Kraft eines unschuldigen Herzens. Sie liebte wie ein
Weib, ganz hin sich opfernd; selbstvergessen, hingegeben den nur meinend, der ihr Leben war, unbekümmert, solle sie selbst zu Grunde gehen, das heißt, sie liebte wirklich. (PS 44)
Die Förstertochter hält Schlemihl für eine Art Märchenprinz; denn der ganze Kurort will in
ihm den König von Preußen erkennen, der inkognito durch das Land reist. Als Schlemihl sich
für sie zu interessieren beginnt, erleidet sie dennoch keinen Realitätsverlust. Sie verkennt den
anzunehmenden Standesunterschied nicht, der einer Heirat im Wege stünde. In einer Art Liebesbrief gibt sie Schlemihl frei: „Du sollst mir nichts opfern, mir nichts opfern wollen“ (PS
45). Sie spricht sich gegen eine Mesalliance aus, die ihm in gesellschaftlicher und finanzieller
Hinsicht schaden könnte. Sein Glück liegt ihr am Herzen. Das mit Diamanten besetzte Diadem weckt bei ihr keine opportunistischen Gedanken, wie bei ihren Eltern: „Die Mutter war
wohl eitel genug, an die Möglichkeit einer Verbindung zu denken, und darauf hinzuarbeiten;
der gesunde Menschenverstand des Alten gab solchen überspannten Vorstellungen nicht
Raum“ (PS 44). Der Vater denkt zwar realistischer, lässt sich dafür umso leichter von Geld
286
korrumpieren. Schlemihl beschäftigt den Aufpasser mit Landeinkäufen zu Gunsten Minas.
Rascal, der als zweitbeste Partie weniger brisant als ein Schattenloser zu sein scheint, erkauft
sich bei ihm schließlich die Zwangsehe.
Mina will sich aufopfern und Schlemihls Schattenlosigkeit übersehen:
[Im Förstergarten ging ich] auf Mina zu; wie sie aufsah, und mich anblickte, machte sie eine unwillkürliche Bewegung; da stand mir wieder klar vor der Seele die Erscheinung jener schaurigen Nacht, wo ich
mich im Mondschein ohne Schatten gezeigt. Sie war es wirklich. Hatte sie mich aber auch jetzt erkannt?
Sie war still und gedankenvoll – mir lag es zentnerschwer auf der Brust – ich stand von meinem Sitz
auf. Sie warf sich stille weinend an meine Brust. Ich ging. (PS 47)
Sie zeigt keine Furcht vor Schlemihl wie Fanny, sondern bekundet insgeheim Mitleid mit
ihrem Geliebten: „Nun fand ich sie öfters in Tränen, mir wards finster und finsterer um die
Seele“ (PS 47). Ohne ihr Zutun kennt sie nun den „Fluch, der [… als] einzige[s] Geheimnis“
zwischen ihnen liegen soll (PS 45). Mitleid scheint eine Grundkonstante in ihrem Verhalten
zu sein. Jahre später gründet sie nach der Hinrichtung Rascals mit Schlemihls verbliebenen
Reichtümern ein Spital, in dem sie sich zusammen mit Bendel in Nächstenliebe ergeht und
die gefährliche Pflege der Kranken persönlich übernimmt. Obwohl sie bestens mit Bendel
harmoniert, bleibt sie Schlemihl treu und heiratet kein zweites Mal. Die Einlieferung ihres
Geliebten als anonymer Patient kommt unerwartet. Schon unter der Tarnkappe hat sich
Schlemihl davon überzeugen können, dass sie ihm echte Tränen nachweint. Mina verkörpert
das Gegenteil von der gefühlskalten Fanny, der Schlemihl wirklich nicht nachzutrauern
braucht. Nur das jähe Ende der zweiten Beziehung ist im Nachhinein als ein Unglück anzusehen.
Der reisende Enthusiast sieht sich ebenfalls mit zwei Frauen konfrontiert: der erinnerten ExGeliebten Julia der vergangenen Frühlingszeit (vgl. AS 329) und der verheirateten Julia in der
gegenwärtigen Silvesternacht. Die Wahrnehmung der ehemaligen Geliebten oszilliert daher
zwischen Fremdheit und Nähe.1084 Die Julia von einst betrachtet er als Idealgestalt. Er macht
sie in keinerlei Hinsicht für das Ende der Beziehung verantwortlich. Jedenfalls will er ein
Himmelsbild in ihr sehen, während ihn jetzt ihr Alter und ihre Mimik befremden. Verständlicherweise sucht sie ihn als verheiratete Frau bei allem freundschaftlichen Umgang auf Distanz zu halten. Er liebt sie. Sie interessiert sich genauso wenig wie er dafür, was in der Zeit
vorgefallen ist, in der sie sich aus den Augen verloren haben. So trifft es ihn völlig unerwartet, dass sie verheiratet ist. Der reisende Enthusiast fühlt sich verraten und beklagt seinen Verlust. Julia will er nur für sich ganz alleine oder gar nicht haben. Er hätte wohl keine moralischen Skrupel vor einer Affäre mit einer verheirateten Frau. Nährlich-Slatewa stellt zu Recht
fest, dass sie die ehemalige Geliebte in der Gesellschaft am Silvester-Abend genauso verhält,
1084
Vgl. May 2003, 127-152, hier 148.
287
wie es ihrem gegenwärtigen Status einer verheirateten Frau entspricht.1085 Ob Julia eine Wiederbegegnung mit ihm gesucht hat, bleibt offen. Die Überraschung, die der Justizrat dem reisenden Enthusiasten angekündigt hat, kann durchaus auch Bergers Klavierkonzert sein.
Schließlich dürfte seine Musikalität bekannt sein.
Erasmus Spikhers Affäre mit Giulietta beginnt als Liebe auf den ersten Blick:
Dem Erasmus war bei dem ersten Blick, den er auf Giulietta warf, so ganz besonders zu Mute geworden, daß er selbst nicht wußte, was sich denn so gewaltsam in seinem Innern rege. Als sie sich ihm näherte faßte ihn eine fremde Gewalt und drückte seine Brust zusammen, daß sein Atem stockte. (AS 344)
Giulietta provoziert dies mit ihrem ganzen Auftritt. Sie erkennt sofort, dass Spikher ohne
Damenbegleitung auf dem Fest erschienen ist und fragt ihn scherzend: „Soll ich denn Eure
Donna sein“ (ebd.)? Die Situation verkennend, wirft er sich sofort vor ihr auf die Knie und
erklärt ihr seine Liebe. Sie lässt ihn gewähren und nährt damit genügend seine Illusion, auf
Gegenliebe zu stoßen. Als Kurtisane zweifelhaften Rufs, vor der Spikher sogar schon vor dem
ersten Zusammentreffen gewarnt wird, wendet sie versiert alle Verführungskünste an. Sie
sucht über ihn, genauso wie über andere Männer Gewalt zu erlangen und daraus ihre Vorteile
zu ziehen, wie die Aneignung des Spiegelbildes für erpresserische Zwecke beweist. Bei
Hoffmann ist das Spiegelmotiv unmittelbar mit der Liebesthematik verknüpft.1086
Spikhers Frau hat keine „Engelsschönheit“ (ebd.) oder „süße, liebliche Stimme“ (vgl. AS
344) zu bieten. Giulietta entfacht dagegen mit ihrer „wunderbaren Krystallstimme“ (vgl. AS
345) „Himmelstöne“ (ebd.) „nie gekannte nur geahnte Lust“ (ebd.) und „geheimnisvolle
Glut“ (ebd.). Spikher setzt bei Giulietta die aufrichtige Liebe voraus, da er in seiner Heimat
wohl bislang keine negativen Erfahrungen gemacht hat. Die „liebe fromme Hausfrau“ (AS
342) vergießt „tausend Tränen“ (ebd.) bei Spikhers Abreise und empfängt ihn auch entsprechend freudig bei seiner Rückkehr in der Vaterstadt. Sie verzeiht ihm sogar am Ende seine
Affäre. Nur aus gesellschaftlichen Rücksichten verlangt sie eine Trennung von Spikher. Die
tatsächlichen Verhältnisse erahnend, entscheidet er sich schließlich für das Wohl seiner Familie. Man nimmt im Guten voneinander Abschied, was direkt unglaubwürdig komisch wirkt:
„Hast du's [Spiegelbild] wieder, so sollst du mir recht herzlich willkommen sein. Küsse mich,
(Spikher tat es) und nun – glückliche Reise“ (AS 358)!
Die drei Protagonisten lernen jeweils zwei grundsätzlich verschiedene Frauentypen im Laufe
der Handlung kennen. Nachdem sich Schlemihl mit einer eitlen, gefühlskalten Schönheit beschäftigt hat, lernt er eine empfindsame, bescheidene, junge Dame kennen, die ihn tatsächlich
liebt. Der reisende Enthusiast begegnet zwar nur einer Frau, doch das alte und das neue Bild
1085
1086
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 56.
Vgl. Frenschkowski 1995, 139.
288
von der inzwischen gealterten Jugendliebe Julia stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Idealität und Realität liegen im Widerstreit miteinander. Spikher entfremdet sich von
der frommen Hausfrau (vgl. AS 342) und entflammt für die Kurtisane Giulietta. Er muss
schließlich die Wahl zwischen ‚Hure‘ und ‚Heilige‘ treffen – und verliert beide. Das meint
Ernst Fedor Hoffmann damit, wenn er schreibt, Spikher schwebe zwischen der Hausfrau und
Giulietta.1087
Mit der Flucht vor der realen Julia entscheidet sich der reisende Enthusiast für ein verschwundenes bzw. nie existentes Ideal. Bei Chamisso macht der Protagonist auch nacheinander seine Erfahrungen, mit zwei Frauen aus Fleisch und Blut. Aus der Rückschau bewertet er
Mina wesentlich positiver als Fanny. Zwischen ihnen hat er sich nie entscheiden müssen. Die
Beziehungen zum anderen Geschlecht, das Verhältnis der männlichen Figuren zur Sexualität,
werden zum Gradmesser der moralischen Position zwischen Gut und Böse.
(6) Die Anfälligkeit der Protagonisten für ‚Teufelspakte‘
Anfälligkeit für ‚Teufelspakte‘ besitzen alle drei Liebhaber,1088 aber keiner verschreibt seine
Seele. Ihre Jäger1089 gehen leer aus, obwohl sie sich als Menschen zu tarnen wissen und sich
auf psychologische Kriegsführung verstehen. Im Peter Schlemihl kommt dem grauen Mann
oder dem Mann im grauen Rocke die Funktion des Teufels zu. Da er fast ausschließlich nur
von Schlemihl wahrgenommen wird, bleibt sein Realitätsstatus in der erzählten Welt unbestimmt, was ihn zu einer unheimlichen Gestalt macht.1090 Er inszeniert sich als Biedermann in
einem altfränkischen Rock aus Taft, trägt wie jeder Mann einen Hut, ergeht sich in Höflichkeiten und bewegt sich nach der Etikette. Auf die Nachfrage, wer er sei, gibt er eine verharmlosend wirkende Antwort: „Ein armer Teufel, gleichsam so eine Art von Gelehrten und Physikus [=Arzt], der von seinen Freunden für vortreffliche Künste schlechten Dank erntet, und
für sich selber auf Erden keinen andern Spaß hat, als sein bißchen Experimentieren“ (PS 51).
Das Experimentieren besteht offenbar darin, die Menschen, am geschicktesten zu einem
1087
Vgl. Hoffmann 1970, 167-187, hier 179.
Stellvertretend für das Vorkommen von Versatzstücken von Teufelspakten in Abenteuern der Silvesternacht
vgl. Wilpert 1978, 64.
1089
Zu ihnen dürfte der Justizrat nicht gezählt werden, da seine Interpretation als Konfiguration des Teufels
durch den reisenden Enthusiasten als unzuverlässigen Erzähler mit Vorsicht zu genießen ist (vgl. AS 326).
1090
Man nimmt seine Zauberkunststücke auf der Gartengesellschaft von Sir John mit der größten Selbstverständlichkeit hin, als wären sie Handreichungen eines angestellten Lakaien (vgl. PS 24f.). Die Bediensteten des
Kaufmanns kennen ihn auf Nachfrage nicht, wobei ihre komisch wirkende Antwort sicherstellt (vgl. PS 26), dass
sie tatsächlich den grauen Mann sehen. In einsamen Parkregionen und auf der Heide (vgl. PS 27ff. und 50ff.),
wo keine Augenzeugen sind, trifft Schlemihl grauen Mann. Nur Schlemihls Diener Bendel scheint die Existenz
des grauen Mannes zu bezeugen. Als er ihn suchen soll, bekommt er eine detaillierte Personenbeschreibung auf
den Weg, erkennt ihn nicht, richtet aber dessen Botschaft an Schlemihl aus (vgl. PS 33f.). Ein gutes Jahr später
schlägt er mit einem Knüppel auf Schlemihl unempfindlichen Widersacher ein (vgl. PS 53). Obwohl sich Bendel
genauso wie Schlemihl in seinem tobenden Wahnsinn (vgl. PS 50) den grauen Mann einbilden könnte, spricht
einiges dafür, dass dieser aktiv seine Wahrnehmbarkeit steuert.
1088
289
„Teufelspakt“ zu bewegen. Der Tauschhandel, Glücksäckel gegen Schatten, soll Schlemihl
erpressbar machen. Nur wenn er seine Seele verschreibt, erhält er seinen Schatten zurück. Auf
der vorbereiteten Urkunde steht. „Kraft dieser meiner Unterschrift vermache ich dem Inhaber
dieses [Pergaments] meine Seele nach ihrer natürlichen Trennung von meinem Leibe“ (PS
51). Der Wortlaut ist tückischer als Schlemihl denkt. Er garantiert weder den Rückerhalt des
Schattens, noch eine Rechtssicherheit, die bei einer übergeordneten Instanz – wie Gott – einzuklagen wäre. Was als natürlicher Tod gilt, wird nicht definiert. Der graue Mann drückt ihm
rasch eine neu geschnittene Feder in die Hand, damit er sich nicht lange besinnt und unverzüglich mit einem Tropfen Blut unterschreibt, der aus einem frischen Dornenriß auf der Hand
quillt (vgl. PS 51). Schlemihl widersteht der Versuchung, weniger aus rationalen Gründen, als
aus Abneigung gegenüber dem grauen Mann und Angst vor einem zweiten Handel mit unabsehbaren Folgen. Dass der graue Mann auch Erfolg hat, beweist die Präsentation des „untoten“ Sir John, den er aus der Rocktasche zieht.1091 Ihn hat er mit Leib und Seele in seiner Gewalt.
Ein weiteres Opfer seiner Verführungskunst könnte die „schöne Fanny“ sein. Beim unmotiviert erscheinenden Rosenpflücken (vgl. PS 24) zieht sie sich wie Schlemihl zu späterem
Zeitpunkt einen „frischen Dornenriß“ zu (PS 51), den der graue Mann sofort mit einem
Wundpflaster behandelt. Dass hier nahezu unbemerkt ein Teufelspakt unterzeichnet worden
ist, findet seinen Niederschlag in dem Bewusstsein des reisenden Enthusiasten in Abenteuer
der Silvesternacht: viele „Haken hat der Teufel überall für uns eingeschlagen, in Zimmerwänden, Lauben, Rosenhecken, woran vorbeistreifend wir etwas von unserm teuern Selbst hängen
lassen“ (AS 336). Der reisenden Enthusiasten verteufelt materielle Haken an Garderoben,
während Spikher und Schlemihl Spiegel bzw. Schattenwurf verdammen. Die Laubengänge
weisen natürlich nur im übertragenen Sinne Haken auf. Wo letztere lichtdurchlässig sind, fällt
ein fehlender Schatten auf. Schlemihl lässt im Kurort eine Laube nach seinen Wünschen anlegen, um gefahrloser sein Haus verlassen zu können. Rosenhecken haben Dornen als Haken.
Da Schlemihl nur von einem unbestimmten Dorn geritzt wird und Spikher in derselben Situation die Ader platzt, ist eine sinnvolle Möglichkeit, die „Rosenhecke“ über die Fanny-Episode
zu erklären.
Intratextuell kann sich die „Rosenhecke“ (ebd.) auch auf das „Fest und Dornenstück“ (AS
326, natürlich nur in der 1. Fassung) beziehen, das der Teufel angeblich jeden Silvesterabend
dem reisenden Enthusiasten bereitet: „Er weiß im richtigen Moment recht furchtbar höhnend
1091
Vermutlich hat er gegen irgendeinen magischen Gegenstand, der ihm zu Reichtum verholfen hat, seinen
Schatten eingetauscht – und diesen mit seiner Seele ausgelöst.
290
mit der scharfen Kralle in die Brust hineinzufahren, und weidet sich an dem Herzblut, das ihr
entquillt. Hilfe findet er überall, so wie gestern der Justizrat ihm wacker zur Hand ging“ (AS
326). Unverständlicherweise wird der Justizrat wegen angeblicher organisatorischer Ungeschicklichkeiten in der Vergangenheit zum Komplizen des Teufels erklärt. An dem vorübergehenden Verlust von Hut, Mantel und Stock trägt er eigentlich keine Schuld. Dem reisenden
Enthusiasten würde er sicherlich seine Garderobe nicht verweigern, wenn er um sie bäte. Der
reisende Enthusiast versucht seine kaum erzählenswerten Erlebnisse zu Abenteuern mit diffusen, dämonischen Mächten nach dem Vorbild von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
zu stilisieren. Er macht sie allerdings nicht für den Spiegelbildverlust in abgeschwächter Form
verantwortlich, der sich nach Helena Frenschkowski in der wiederholten Nicht-Identifikation
mit dem Bild im Spiegel äußert.1092
Erasmus Spikher begegnet nicht einer, sondern gleich zwei dämonischen Figuren, deren Zusammenhörigkeit sich erst im Verlauf der Geschichte herausstellt: Giulietta und der anfänglich im Hintergrund agierende „Signor Dapertutto“ (AS 346). Als „Wunderdoktor“ (ebd.)
verkauft er „Wunderessenzen“ (AS 347), die ihm den Ruf eines „Ciarlatano“ (ebd.) einbringen. Er ist also als Mediziner tätig, wie der graue Mann im Peter Schlemihl, der sich als Physikus ausgibt. Erasmus überkommt ein „Grauen“ (vgl. AS 346) bei der ersten Begegnung mit
ihm, das auch schon bei Chamisso kennzeichnend für das erste Zusammentreffen mit dem
Protagonisten ist: „Mir war schon lang unheimlich, ja graulich zu Mute“ (PS 26). Spikhers
Diener und sein Freund Friedrich kennen diffuse Gerüchte über den Mann, die ihn in „gar
besonder[e]m Lichte erscheinen lassen“ (AS 347). Auch Spikhers Frau wird ihn aus einem
Versteck beobachten. Im Gegensatz zu dem Grauen in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte suggerieren Spikhers Aufzeichnungen eine größere Realität desselben. Mit seinem
roten Mantel, dem Tragen einer Warnfarbe, lenkt er alle Aufmerksamkeit auf sich. Ganz Florenz scheint ihn zu kennen, dennoch scheint das öffentliche Auftreten die beste Tarnung für
seine Machenschaften zu sein. Damit unterscheidet er sich kaum von dem grauen Mann, dessen ‚Taschenspielertricks‘ auf dem Gartenfest von Sir John für selbstverständlich hingenommen werden. Dapertutto ist überall, wie sein auf Italienisch ‚sprechender Name‘, suggeriert.1093 Er entsteht aus den Funken einer verlöschenden Fackel und verschwindet mit Rauch
und Donner, wodurch in E.T.A. Hoffmanns Werk sein verstärkter Realitätsstatus relativiert
wird. Dieser lange, dürre „Mann mit spitzer Habichtsnase, funkelnden Augen, hämisch ver1092
Vgl. Frenschkowski 1995, 137.
Vgl. Baldes, Dirk: „Das tolle Durcheinander der Namen“. Zur Namensgebung bei E.T.A. Hoffmann, St.
Ingbert 2001, 138. Er stützt ebd. seine Interpretation des Namens mit einer korrespondierende Textstelle bzgl.
des dämonisierten Justizrates: „Hilfe findet er [= Teufel] überall“ (AS 326).
1093
291
zogenem Munde […und] unangenehm gellender Stimme“ (AS 346) erfüllt bis auf einen Pferdefuß so gut wie alle Klischees volkstümlicher Teufelsvorstellungen.
Dapertutto geht bei Giulietta ein und aus (vgl. Friedrich) und tritt am Ende quasi als ihr Anwalt auf. Da Giulietta als Kurtisane (vgl. AS 347) in der Abschrift von Spikhers Text bezeichnet wird, entsteht die Suggestion eines hierarchischen Verhältnisses zwischen den beiden dämonischen Figuren. Implizit bekommt somit Dapertutto die Rolle eines Zuhälters zugewiesen. Giulietta würde damit in seinem Auftrag arbeiten; Teile ihres ‚Lohns‘ müsste sie an
ihn abführen. Dafür spricht auch der Teufelspakt, der beide, Dapertutto und Giulietta begünstigt. Er schickt eine attraktive Frau vor.1094 Da er es offenbar auf Seelen abgesehen hat, kann
Giulietta auch das Spiegelbild als ‚Geisel‘ nehmen, um Spikher in ihre Gewalt zu bekommen
und ein ‚Lösegeld‘ zu erpressen. Ob Fanny und die anderen schönen Frauen auf Sir Johns
Gartenfest Lockvögel des grauen Mannes sind, bleibt in Chamissos Text offen. Hoffmanns
impliziter Autor braucht keine Reichtümer, damit sich Kontakte zu verführerischen Frauen
ergeben.
Die Verdoppelung des teuflischen Personals durch die Mittlerperson Giulietta1095 führt zu
einer gesteigerten Bedrohung des Subjekts gegenüber der Vorlage von Chamisso: zwei Figuren stehen gegen eine. Diese Tendenz findet auch ihren Niederschlag im Wortlaut eines Dokuments, das Spikher unterzeichnen soll und ihn zu einem ‚Teufelspakt‘ mit Giulietta verpflichten würde:
Ich [Spikher] gebe meinem guten Freunde Dapertutto Macht über meine Frau und über mein Kind, daß
er mit ihnen schalte und walte nach Willkür und löse das Band, das mich bindet, weil ich fortan mit
meinem Leibe und mit meiner unsterblichen Seele angehören will der Giulietta, die ich mir zum Weibe
erkoren und der ich mich noch durch ein besonderes Gelübde auf immerdar verbinden werde. (AS 357)
Dapertutto bekäme uneingeschränkte Gewalt über Spikhers Familie, zwei Menschen mit Leib
und Seele. Das „besondere Gelübde“ (ebd.) wäre der ‚Teufelspakt‘ mit Giulietta, die damit
einen Leib und eine Seele erhielte. Erst in diesem müsste das Spiegelbild als auszulösendes
‚Liebespfand‘ erwähnt werden.1096 Da dieser lediglich harmlos klingende ‚Vorvertrag‘ eine
Verpflichtung zum ‚Teufelspakt‘ darstellt, fällt er funktionell mit diesem zusammen. Die geforderte Unterzeichnung mit Blut verrät seinen wahren Charakter. Selbst wenn Spikher vertragsbrüchig würde und kein „besonderes Gelübde“ (ebd.) Giulietta leisten würde, hätte das
1094
Das Motiv, dass der Teufel einen Helfershelfer vorschickt, findet sich wohlgemerkt schon in der Geschichte
des reisenden Enthusiasten: Julie ist möglicherweise die angekündigte Überraschung des dämonisierten Justizrates (vgl. AS 327).
1095
Vgl. Wilpert 1978, 63.
1096
Während Schlemihls Schatten eine materiellen Gegenwert erhält, bekommt Spikher immaterielle ‚Tugenden‘, Liebe und Treue für sein Spiegelbild zugesichert, die als ‚Leistungen‘ von Seiten Giuliettas schwierig zu
beweisen sind. Der Tauschhandel bei Chamisso ersetzt in gewisser Weise ein Schenkungsvorgang, der als ein
einseitiger Prozess anzusehen ist. Spikher erhält von Giulietta kein Liebespfand.
292
„Höllengesindel“ (AS 357) gesiegt. Nach einem doppelten Menschenopfer dürfte Spikher
ihnen ohnehin verfallen sein. Sie müssten ihn nur umbringen oder seine Hinrichtung veranlassen. Schon hätten sie Leib und Seele. Hoffmanns dämonische Gestalten übertreffen Chamissos Teufel an juristischer Perfidie, die sich gewiss aus der berufliche Erfahrung des empirischen Autors speist.
Das Spiegelbild ist im Endeffekt mehr wert als der Schatten.1097 Nicht eine, sondern gleich
drei Seelen sind sein Gegenwert. Zum Abschluss eines Teufelspaktes kommt es in keinem
Fall. Alle Versucher scheitern schließlich.1098
(7) Die Allusionen zum biblischen Sündenfall
Gemeinsam sind allen drei Geschichten Allusionen zum Sündenfall in der Bibel:1099 im Paradies-Garten verführt der Teufel in der Gestalt der Schlange Eva, diese schließlich Adam zum
Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Vertreibung aus dem Paradies und
Sterblichkeit sind bekanntlich die unabwendbaren Folgen. Sir Johns Garten, der als ein locus
amoenus geschildert wird, ist nur scheinbar eine Idylle.1100 Schlemihl spürt diese Gefahr: „Ich
sah ihn [= der graue Mann] voller Furcht stier an, und war wie ein Vogel, den eine Schlange
[Hervorhebung: V.R.] gebannt hat“ (PS 27). Der Teufel in der Gestalt des grauen Mannes
verführt Schlemihl zum Verkauf des Schattens. Dieses Geschäft sieht Schlemihl als seinen
persönlichen Sündenfall an: „wie ich früher den Reichtum meinem Gewissen aufgeopfert,
hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingegeben“ (PS 30).1101 Der Ausschluss aus dem
vermeintlichen Paradies der Gesellschaft ist damit gegeben.
Der reisende Enthusiast kann aufgrund des Settings, der stürmischen Silvesternacht kein Gartenfest besuchen. In Gesellschaft ängstigt ihn kein grauer Mann, sondern die ehemalige Geliebte Julia:
Du nahst dich der herrlichen Blume, die in süßen heimischen Düften dir entgegenleuchtet, aber so wie
du dich beugst, ihr liebliches Antlitz recht nahe zu schauen, schießt aus den schimmernden Blättern heraus ein glatter kalter Basilisk und will dich töten mit feindlichen Blicken! (AS 327f.)
Aus der Schlange ist ein wesentlich gefährlicherer Basilisk geworden. Seit der Antike stellt
man sich dieses Fabelwesen als bekrönte Schlange vor, deren Blick und Hauch augenblicklich
tötet.1102 Sein angeblich tödlicher Blick aus der „Blume“ verschärft das Motiv aus der Bibel:
Der Sündenfall wird nicht nur mit der Vertreibung aus dem Paradies, sondern auch der Sterb-
1097
Vgl. Driesen 1997, 54.
Vgl. Wilpert 1978, 64.
1099
In Peter Schlemihls wundersamer Geschichte liegen etliche biblische Anspielungen vor. Vgl. Braun 2007,
236.
1100
Vgl. Schwann 1984, 199f. und Detering 2002, 160.
1101
Kurz vorher hat er noch dem Angebot exotischer Früchte widerstanden (vgl. PS 25).
1102
Vgl. Sammer, Marianne: Basilisk, in: Butzer / Jacob 2008, 35.
1098
293
lichkeit der Menschen bestraft. Nach der Verlockung und Verletzung1103 durch den Basiliskenblick nimmt der reisende Enthusiast den Pokal aus den Händen Julias an, den ihr ein teuflisch empfundener Diener anstelle des Apfels gereicht hat. In seinem Traum, der die Szene
wiederholt,1104 warnt ihn Spikher:
Julie stand auf und reichte mir den krystallnen Pokal, aus dem blaue Flammen emporleckten. Da zog es
mich am Arm, der Kleine stand hinter mir mit dem alten Gesicht und lispelte: Trink nicht, trink nicht –
sieh Sie doch recht an! – hast du Sie nicht schon gesehen auf den Warnungstafeln von Breughel, von
Callot oder von Rembrandt? (AS 340)
Spikher ‚versteinert‘ auf dem italienischen Gartenfest beim Anblick der attraktiven Dame, vor
der man ihn gewarnt hat:
Als sie sich ihm näherte faßte ihn eine fremde Gewalt und drückte seine Brust zusammen, daß sein
Atem stockte. Das Auge fest geheftet auf Giulietta mit erstarrten Lippen saß er da und konnte kein Wort
hervorbringen, als die Jünglinge laut Giuliettas Anmut und Schönheit priesen. (AS 344)
Spikher nimmt von Giulietta – wie der reisende Enthusiast von Julia – einen Pokal an (vgl.
AS 344). Auf dem zweiten Gartenfest, das auf Giuliettas Landgut ausgetragen wird, trifft
Spikher zum wiederholten Mal „jener sonderbare Blick, der ihm jederzeit innern Schauer“
erregt (AS 348), ehe er den Totschlag an dem eifersüchtigen Italiener begeht und aus dem
Garten ins Haus fliehen muss. Die Notwendigkeit seiner Flucht bedeutet für ihn eine Vertreibung aus dem Paradies. Als seinen Sündenfall betrachtet er lediglich die nahezu zeitgleiche
Trennung von seinem Spiegelbild, die freiwillige Liebesgabe an Giulietta (vgl. AS 340). In
zwei weiteren Versuchungsszenen bewährt er sich durch unvorhersehbare Störung der Vorgänge: die Taube des kleinen Rasmus stirbt, nachdem sie in die ihm aufgedrängte Phiole gepickt hat, mit der er seine Familie vergiften soll – und die Frau ruft den Heiland an, als sie zur
mitternächtlichen Beschwörung Giuliettas hinzukommt.1105
Schlemihl und Spikher erleben eine Art Sündenfall, während der reisende Enthusiast mit psychischen Blessuren und materiellen Verlusten einem solchen in der Silvesternacht entgeht.
Zum richtigen Zeitpunkt ergreift er die Flucht und meidet jegliche Konfrontation mit Julias
Gatten, seinem Konkurrenten. Ihr Glück meinen aber alle drei Protagonisten verloren zu haben.
(8) Die Verschärfung des Außenseiter-Daseins der Protagonisten
Alle Fluchten der Protagonisten zeigen, wie sich nach dem Verlust von Schatten, bürgerlicher
Garderobe oder dem Spiegelbild die Außenseiterposition der betroffenen Figuren verschärft.
Nach dem Schattenhandel ändert sich für Peter Schlemihl die Situation grundlegend. Hat man
ihn vorher nahezu gänzlich ignoriert, richtet sich nun alle Aufmerksamkeit auf ihn und den
1103
Vgl. Mazza 2005, 153-178, hier 169.
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 84.
1105
Vgl. dieselbe, 89 und 100.
1104
294
fehlenden Schatten. Der Verlust des Schattens stellt eine Steigerung des Außenseiter-Daseins
dar.1106 Spott erntet er kaum, eigentlich nur von einer Gruppe Jugendlicher (vgl. PS 30). Sein
Erscheinen erregt hauptsächlich Mitleid und Furcht (vgl. PS 32). Er unterscheidet sich von
der übrigen Menschheit, was den Verdacht erregt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Ist
er in der Hafenstadt noch an der Schildwache des Nordertors vorbei gekommen, so stellt man
im Kurort ein Ultimatum, abzureisen (vgl. PS 29 und 62). Obwohl es sicherlich keine Gesetze
für den Umgang mit Schattenlosen gibt, meinen Behörden, die Bürger schützen zu müssen.
Da Schlemihl alle diese unangenehmen Reaktionen auf seine Person von Seiten der Gesellschaft unterbinden will, beginnt er seinen Verkehr mit ihren Vertretern zu kontrollieren. Gerade dieses geheimnisvolle Auftreten macht ihn verdächtig bzw. interessant, so dass erst recht
die Notwendigkeit besteht, sich abzuschotten und das Verhalten gänzlich zu ändern:
Ich hatte mir die größte Vorsicht zur Regel gemacht, es durfte, unter keinem Vorwand, kein anderer, als
Bendel, die Zimmer, die ich bewohnte, betreten. So lange die Sonne schien, hielt ich mich mit ihm darin
verschlossen, und es hieß: der Graf arbeite in seinem Kabinet. Mit diesen Arbeiten standen die häufigen
Kuriere in Verbindung, die ich um jede Kleinigkeit abschickte und erhielt. – Ich nahm nur am Abend
unter meinen Bäumen, oder in meinem nach Bendels Angabe geschickt und reich erleuchteten Saale
Gesellschaft an. Wenn ich ausging, wobei mich stets Bendel mit Argusaugen bewachen mußte, so war
es nur nach dem Förstergarten, und um der Einen willen; denn meines Lebens innerlichstes Herz war
meine Liebe. (PS 43)
Schlemihls Angst lässt ihn ein selbstauferlegtes Gefangenendasein fristen. Unter Menschen
leben, bedeutet für Schlemihl Unfreiheit. Dieser kann er nur scheinbar entkommen, indem er
sich in die völlige Isolation begibt. Er siedelt sich schließlich in der ägyptischen Wüste an und
bereist mit den Siebenmeilenstiefeln entlegene Naturlandschaften, z.T. weiße Flecken auf der
zeitgenössischen Landkarte.
Ohne Mantel, Stock und Hut fällt auch der reisende Enthusiast in der stürmischen Winternacht auf. Dem Betreiber-Ehepaar der Kellerkneipe kommt er so verwunderlich vor, dass der
Mann sich anschickt zu Fragen, gerade als ein Neuankömmling seine Aufmerksamkeit fordert. Der Umgang mit Schlemihl und Spikher, deren Geheimnisse offenbar werden, macht
den reisenden Enthusiasten für die Augen- und Ohrenzeugen selbst verdächtig: „Als ich in
den Keller zurück wollte, warf mir der Wirt die Türe vor der Nase zu, sprechend: »Vor solchen Gästen bewahre mich der liebe Herre Gott!«“ (AS 337). Die Angst ist so groß, dass man
nicht einmal an die fällige Zeche denkt. Der reisende Enthusiast begegnet seinem temporären
Problem mit Aufklärung, als er ein Zimmer im Gasthof begehrt – mit Erfolg: er bekommt
eines zugewiesen (vgl. AS 337f.).
Spikhers Außenseiterrolle verschärfen zwei Faktoren schlagartig: Erst begeht er ein Totschlagdelikt, dann verschenkt er sein Spiegelbild. Ersteres lässt ihn die Flucht ergreifen, letz1106
Vgl. Schulz 1972, 429-442, hier 433.
295
teres beschleunigt sie. Erst unterwegs macht er Schlemihls Erfahrungen. 1107 Sowohl Spott der
Straßenjungen, als auch Angst und Schrecken erregt er (vgl. AS 352). Wie bei Schlemihl beginnen die Behörden, sich für ihn zu interessieren.
Noch hatte Erasmus gar nicht bemerkt, daß ihm das Alles galt, als ein ernsthafter Mann vom Tische
aufstand, ihn vor den Spiegel führte, hinein sah und, dann sich zur Gesellschaft wendend laut rief:
Wahrhaftig er hat kein Spiegelbild! »Er hat kein Spiegelbild – er hat kein Spiegelbild!«, schrie alles
durch einander; ein mauvais sujet [= Taugenichts], ein homo nefas [= Frevler], werft ihn zur Tür hin
aus! – Voll Wut und Scham flüchtete Erasmus auf sein Zimmer, aber kaum war er dort, als ihm von Polizei wegen angekündigt wurde, daß er binnen einer Stunde mit seinem vollständigen völlig ähnlichen
Spiegelbilde vor der Obrigkeit erscheinen oder die Stadt verlassen müsse. Er eilte von dannen vom müßigen Pöbel, von den Straßenjungen verfolgt, die ihm nachschrien: da reitet er hin, der dem Teufel sein
Spiegelbild verkauft hat, da reitet er hin! (AS 352)
Man könnte zwar meinen, dass es leichter sei spiegelnden Flächen auszuweichen, als Lichtquellen zu entgehen, die einen Schattenwurf erzeugen, doch sie sind in ihrem Auftreten äußerst unberechenbar. Taschenspiegel (vgl. AS 353) oder spiegelnde Gegenstände (vgl. AS
335) können urplötzlich von den Mitmenschen gezückt werden. Obwohl Spiegel Anfang des
19. Jahrhunderts gegenüber heutigen Verhältnissen Luxusgegenstände darstellten, erfreuten
sie sich in bürgerlichen Bevölkerungsschichten einer größeren Beliebtheit, weil man mit
ihnen das Licht in den Innenräumen zu verstärken suchte.1108 Ihre Kostbarkeit kann man daran ermessen, dass in Spikhers Haus und auch in der Kellerkneipe Vorrichtungen vorhanden
sind, diese zu verhängen. Selbst im Freien herrscht keine absolute Sicherheit, denkt man an
reflektierende Wasserflächen und Taschenspiegel. Spikher weicht nicht den spiegelnden Flächen aus, sondern sucht sie aus seinem Umfeld zu verbannen: Schnupftabaksdosen haben in
die Hosentasche zu verschwinden, Wandspiegel müssen verhängt werden. Ihm gelingt es,
eine Zeit lang ein ganz normales Leben in seinem Haus und seiner Heimat zu führen.
Schlemihl hat dagegen nur begrenzten Zugriff auf die Gefahrenquellen. Künstliche Lichter
kann er zwar noch manipulieren, aber Sonnenschein und Mondlicht richten sich nicht nach
ihm. Selbiges gilt für das Wetter, dem der halbbekleidete reisende Enthusiast ausgesetzt ist.
Er kann es auch nur meiden und warme Innenräume aufsuchen. Nur seine Probleme erscheinen behebbar zu sein, da sie in unserem alltäglichen Erfahrungshorizont liegen: selbst wenn er
nicht mehr an seine Kleidung herankommt, ist gleichwertiger Ersatz zu beschaffen. Auch ein
endgültiger Verlust des Schlüssels, wäre in der Zeit vor der Entstehung von Schlüsseldiensten
keine riesige Katastrophe. Theoretisch müssten Spikher, erst recht der reisende Enthusiast ein
„normaleres“ Leben als Schlemihl führen können, doch sie zeigen sich stärker als dieser von
1107
Vgl. Wilpert 1978, 63.
Vgl. Dewitz, Hans-Georg / Maisak, Petra: Das Goethe-Haus. Das Goethe-Haus in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1999, 27f.
1108
296
den Verlust-Erfahrungen betroffen. Dies mag aus der geringeren zeitlichen Distanz resultieren, die zwischen Erleben und Niederschrift der sogenannten Abenteuer liegt.
(9) Das Rollenverhalten und -bewusstsein der Protagonisten
Das verschärfte Außenseiter-Dasein zwingt den Protagonisten bestimmte Rollen auf und regt
möglicherweise ihre kreative Ausgestaltung an. Mehr oder minder stark werden sie sich bewusst, eine Rolle im Welttheater zu spielen.1109
Peter Schlemihl, der den Besuch bei Sir John als einen Auftritt angesehen hat, entscheidet
sich aufgrund des unheimlichen Besuchers zum Abtritt von der „Bühne“ des Gartenfestes:
„Ich beschloß, mich aus der Gesellschaft zu stehlen, was bei der unbedeutenden Rolle, die ich
darinnen spielte, mir ein Leichtes schien“ (PS 27). Nachdem er die ersten Folgen des Schattenverkaufes zu spüren bekommen hat, will er an dem Ort, an dem einigen Leuten schon sein
Geheimnis bekannt ist, eine neue Rolle einzustudieren, mit einer neuen, seiner Situation angemessenen Lebensweise experimentieren. Als alter Mann erinnert er sich, dass er „hier bloß
[eine] Probe halten [wollte], um anderswo leichter und zuversichtlicher auftreten zu können“
(PS 37). Den gezielten Aufbau und die Pflege gesellschaftlicher Kontakte belegen die Wiederbegegnung mit Fanny an einem „dritten Ort“ und das Hofieren der jungen Dame. Es gelingt ihm den Diener Bendel als ‚Schattenspieler‘ zu engagieren, der mit seinem Körper im
Ernstfall die hell bleibenden Flächen zu decken sucht. So wagt Schlemihl sich wieder unter
die Menschen, und beginnt eine Rolle in der Welt zu spielen (vgl. PS 37). Als die Illusion
auffliegt, das Fehlen des Schattens bemerkt wird, sucht er sich trotz seines Scheiterns eine
neue „Bühne“:
Ich sollte dort in dem Bade[ort] eine heroische Rolle tragieren, schlecht einstudiert, und ein Neuling auf
der Bühne, vergaff ich mich aus dem Stücke heraus in ein Paar blaue Augen. Die Eltern, vom Spiele getäuscht, bieten alles auf, den Handel nur schnell fest zu machen, und die gemeine Posse beschließt eine
Verhöhnung. (PS 39)
Nachdem sich die Bevölkerung nicht von dem Irrtum abbringen lässt, nimmt er die für ihn
vorteilhafte Rolle des Grafen Peter an. Für das unwissende Publikum der Anwohner, Badegäste und die Geliebte bahnt sich ein bürgerliches Trauerspiel an, da mit einer Mesalliance
kaum gerechnet werden kann: „Zu dem alten, wohlbekannten Spiele, worin ich gutmütig eine
abgedroschene Rolle übernommen, kam freilich eine ganz eigens gedichtete Katastrophe hinzu, mir und ihr [Mina] und allen unerwartet“ (PS 37). Mit der Katastrophe meint Schlemihl
das Scheitern der Heiratspläne, für das die Intrige Rascals verantwortlich ist. Abweichend
vom Schema hat sie die Schattenlosigkeit der ‚Standesperson‘ zum Inhalt. Für die Betroffe1109
Wenige Hinweise auf die Metapher des Schauspielers in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte vgl.
Blamberger 1996, 109-117, hier 111ff. und – etwas ausführlicher, sogar mit Jean-Paul-Bezug – Brüggemann
1999, 143-188, hier 177f.
297
nen, die in Tränen zerfließende Mina, und Schlemihl ist die Schadenfreude der Bevölkerung
freilich eine Tragödie. Schlemihls Erfahrungen und Weltsicht aufgreifend, verlangt der graue
Mann, von diesem nicht zum „Narren im Spiele“ (PS 61) gemacht zu werden und ihm endlich
doch die Seele zu verschreiben. Nach der Katastrophe und der Flucht Schlemihls aus dem
Badeort sucht der graue Mann Bendels Rolle zu übernehmen, um manipulativen Einfluss auf
den Protagonisten zu gewinnen. Schlemihl entschließt sich, den grauen Mann und keinen anderen Mitspieler mehr neben sich zu dulden. Schlemihl inszeniert sich als ein Opfer, das eine
Entwicklung durchmacht. Die Hybris, das eigene Glück zu gestalten, weicht der Demut, den
Dingen ihren Lauf zu lassen. Er akzeptiert die Vorsehung, leidet an seiner Anomalität und
sucht den Zufällen seines Schicksals, der Beliebigkeit seiner Rollen zu entgehen, indem er für
sich die Rolle des Wissenschaftlers verbindlich macht.1110 Aus dem einstigen ‚Regisseur‘ und
‚Selbstdarsteller‘ wird ein ‚Mitspieler‘. Diese Haltung nimmt auch der gereifte Bendel im
Gespräch mit Mina ein, als sie sich um die Kranken im Hospital kümmern:
»Sei Gott gedankt, ja, edle Frau. Es ist uns doch wundersam ergangen, wir haben viel Wohl und bitteres
Weh unbedachtsam aus dem vollen Becher geschlürft. Nun ist er leer; nun möchte einer meinen, das sei
alles nur die Probe gewesen, und, mit kluger Einsicht gerüstet, den wirklichen Anfang erwarten. Ein anderer ist nun der wirkliche Anfang, und man wünscht das erste Gaukelspiel nicht zurück, und ist dennoch im ganzen froh, es, wie es war, gelebt zu haben. Auch find ich in mir das Zutrauen, daß es nun unserm alten Freunde besser ergehen muß, als damals.« (PS 77)
Wenn Schlemihl alles als Theater auffasst, tendiert er verständlicherweise zu einer summarischen Erzählweise, um kleine und große Katastrophen szenisch mit längeren Passagen wörtlicher Rede schildern zu können.1111
Der reisende Enthusiast inszeniert seine recht alltäglichen Erfahrungen in der Silvesternacht
als Abenteuer. Er sucht Mitleid zu erregen, indem er seine Verlusterfahrungen hochstilisiert.
Im Leiden will er Schlemihl und Spikher in Nichts nachstehen:
In dem Maskenspiel des irdischen Lebens sieht oft der innere Geist mit leuchtenden Augen aus der Larve heraus das Verwandte erkennend, und so mag es geschehen sein, daß wir drei absonderliche Menschen im Keller uns auch so angeschaut und erkannt hatten. Unser Gespräch fiel in jenen Humor, der
nur aus dem tief bis auf den Tod verletzten Gemüte kommt. (AS 336)
Auch seine Anspielungen auf die Dramen Shakespeares, Goethes und Tiecks dienen der
„Romantisierung“1112 seiner wenig spektakulären Erlebnisse. Als Erzähler ergeht er sich in
einem endlosen Monolog wenig alltäglicher Pathetik: „Ich hatte den Tod, den eiskalten Tod
im Herzen, ja aus dem Innersten, aus dem Herzen heraus stach es wie mit spitzigen Eiszapfen
in die glutdurchströmten Nerven.“ (AS 325). Seine Umwelt beobachtet er unter literarischen
Gesichtspunkten. Nachdem er eine fröhliche Gesellschaft belauscht hat, prägt er sich das Ge1110
Vgl. ders., 109-117, hier 113.
Vgl. Braun 2007, 215.
1112
Vgl. Novalis: Die Welt muß romantisiert werden, in: ders.: Das philosophisch-theoretische Werk, Bd. 2. Hg.
v. Hans-Joachim Mähl, München 22005 (Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, 4
Bde. Hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, München 22005, Bd. 2), 545.
1111
298
spräch der Wirtsleute von der Kellerschenke ein, um nachträglich einen komischen Dialog in
Form einer Dramenszene zu verfassen (vgl. AS 331). Im Alltag zieht er die passive Rolle des
Publikums vor, während er als Erzähler aktiv sein Erleben umgestaltet. Nur aus Gründen der
Höflichkeit macht er dem Justizrat vor, seine Gesellschaften zu schätzen. Anders als der reisende Enthusiast, bemüht sich der Gastgeber im wirklichen Leben um Selbstdarstellung: er
organisiert Überraschungen und Konzerte für seine Silvesterfeierlichkeiten.
Erasmus Spikher trifft auf deutsche Jünglinge und beteiligt sich in Florenz an der Veranstaltung von Gelagen, indem er dem Ausgelassenen das Sinnige beifügt (vgl. AS 342). Dabei
geht es offenbar mehr um den Genuss, als um eine Anerkennung durch die Landsleute. Möglicherweise erlauben sich die anderen den Spaß, eine Kurtisane auf den Tugendhaften anzusetzen. Sobald er Giulietta sieht, geht er unbewusst in der Rolle des Liebhabers und Verehrers
auf. Er fällt ihr in aller Öffentlichkeit zu Füßen und erklärt ihr seine Liebe. Giulietta versucht
er mit einer extravaganten Garderobe zu imponieren und setzt sich z.B. ein Federbarett auf.
Wie in der Commedia dell’arte tritt ein Konkurrent um die Gunst der Geliebten auf den Plan:
„Der widrige junge Italiener trat jetzt in die Rolle des Erasmus, von Eifersucht getrieben stieß
er allerlei spitze beleidigende Reden gegen Teutsche und insbesondere gegen Spikher aus“
(AS 348). Giulietta spielt als Kurtisane mit den Männern, macht allen Hoffnungen. Mit Liebesliedern und Umarmungen gaukelt sie Spikher wahre Liebe vor. Als mutmaßliche Organisatorin des Gartenfestes auf ihrem Landsitz verantwortet sie die Einladung der Gäste, das Zusammentreffen von Spikher und dem Italiener. Sie provoziert wahrscheinlich die Eifersucht
von Spikher und dem Italiener, um sie gegeneinander aufzuhetzen. Nachdem Spikher in Notwehr seinen Konkurrenten erschlagen hat, kann sie ihn sich endlich gefügig machen, ihm das
Spiegelbild abverlangen. Auf seiner Flucht infolge des Totschlags nennt man Spikher wegen
seiner Spektrophobie spottweise Suworow (vgl. AS 352). In Anlehnung an Peter Schlemihls
wundersame Geschichte könnte man sagen, dass er sich den General a.D. gefallen lässt. Ob er
diese Rolle auch spielt, ist äußerst fraglich. Wieder zu Hause, verhält er sich nach dem Verhängen der Spiegel so, als ob in Italien nichts vorgefallen wäre. Diesen uneingestandenen
Selbstbetrug kann man schlecht als absichtsvolle Täuschung bezeichnen.
Er besitzt nur ein rudimentäres Bewusstsein dafür, dass jeder eine oder mehrere Rollen in der
Gesellschaft spielt – im Gegensatz zum reisende Enthusiast oder Peter Schlemihl. In seiner
Naivität argwöhnt er keinerlei Intrigen in seinem Umfeld: weder den deutschen Jünglingen,
noch Giulietta traut er ein Spiel mit seiner Person zu. Da die Ereignisse aus der beschränkten
Figurenperspektive beschrieben werden, lässt sich dies nicht beweisen. Wenn die deutschen
Jünglinge Spikher einen Streich gespielt haben, dann haben sie die Kontrolle über ihr Spiel
299
verloren. Friedrich zeigt sich besorgt um Spikhers Wohlergehen und warnt ihn vergeblich vor
einem weiteren Umgang mit Giulietta (vgl. AS 347). Da er seine Handlungsspielräume nicht
erkennt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich treu zu bleiben. Schlemihl weiß zwar nicht,
was auf dem Gartenfest von Sir John gespielt wird, begreift aber bald nach dem Verkauf des
Schattens die Welt und die Gesellschaft als Bühne. Er erkennt seine Handlungsspielräume
und verhält sich entsprechend. Schließlich gelingt es ihm den Teufel hinter der Maske des
Biedermanns zu entlarven. Bewusst tritt er von der Bühne ab, verzichtet auf Selbstdarstellung
in der Öffentlichkeit. Wie der reisende Enthusiast reagiert er diesen Trieb im Verfassen autobiographischer Aufzeichnungen schließlich ab.
(10) Die Situation am Ende der Biographien
Dauerhaftes Glück ist keiner der drei zu vergleichenden Figuren vergönnt. Ihre Situation gestaltet sich an den Enden der jeweiligen Texte recht verschieden; sie gehen mit ihrer ausweglosen Lage auf unterschiedliche Art und Weise um: emotional, wie auch lebenspraktisch.
Peter Schlemihl lernt das Verzichten auf Liebe, Reichtum und Gemeinschaft zu Gunsten anhaltender Zufriedenheit. Triebverzicht, Ersatzhandlungen und Verdrängung sind seine Antwort auf die Perspektivlosigkeit: „Für mangelndes Glück hatt ich als Surrogat die Nicotiana,
und für menschliche Teilnahme und Bande der Liebe eines treuen Pudels“ (PS 75). Er findet
sich damit ab, keinen Schatten mehr zu besitzen und sein Schicksal passiv hinzunehmen. Um
seinem Leben wenigstens einen Sinn zu geben, beschäftigt er sich mit Naturforschungen für
die Allgemeinheit. Der entsagende Held lebt in einer Art liebenswerter Idylle,1113 die ein Jean
Paul als „Vollglück in der Beschränkung“ bezeichnen würde.1114 Die Gesellschaft wird durch
die Natur substituiert.1115
Am hoffnungsvollsten ist die Lage des reisenden Enthusiasten. Am Neujahrstag wird er sich
wohl der tauben Aufwärterin des Justizrates mit lautem Klopfen bemerkbar machen. Ist er erst
wieder im Besitz von Kleidung und Haustürschlüssel, kann er in seine Behausung zurückkehren. Wenn seine Gesundheit keinen Schaden genommen hat, wird er seiner unbekannten Beschäftigung in Berlin weiter nachgehen. Im schlimmsten Fall hat er die Stammkneipe wechseln. Nur auf die Julia seiner Erinnerungen muss er verzichten, die zudem inzwischen vergeben ist. Die Chance mit anderen Frauen in Beziehung zu treten, besteht weiterhin. Faktisch
besteht Hoffnung auf glücklichere Tage. Den „Tod im Herzen“ (AS 325) sucht er offenbar
schreibend durch das Konstruieren literarischer Leidensgenossen zu bewältigen.
1113
Vgl. Berger 1978, 106-138, hier 129.
Definition der Idylle als epische Gattung vgl. Vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5,
7-456, hier 258. Volker Hoffmann listet in seiner Interpretation der Erzählung gleich acht Zugewinne nach
Schlemihls einseitigem Paktabbruch. Vgl. Hoffmann 1993, 46-76, hier 57.
1115
Vgl. Renner 1991, 653-673, hier 664.
1114
300
Erasmus Spikher verfolgt am Ende ein aussichtsloses Ziel: das Wiederzusammenleben mit
seiner Familie. Seine Frau ermutigt ihn, den gebannten (!) Höllengeistern das Spiegelbild abzujagen. Gelinge ihm dieses, dürfe er zu seiner Familie zurückkehren (vgl. AS 357f.). De facto erteilt sie ihm ein Hausverbot. Lediglich einen postalischen Kontakt zu den Seinen gesteht
sie ihm zu. Kommt er nach Nürnberg, soll er seinem Sohn Rasmus einen Lebkuchenmann
schicken. Den Anspruch auf das Spiegelbild und die Familie wahrend, muss er ziellos umherreisen. Die Anonymität einer größeren Stadt wie Berlin bietet ihm anders als Schlemihls Wüsten-Einsamkeit nur vorübergehend Schutz vor den Menschen. „Lebensbeichten“ und das
Treffen von Leidensgenossen zeitigt keine erlösende Wirkung. Sein weiteres Schicksal ist
zwar offen, aber ohne innere Umwertungsprozesse hoffnungslos.1116 Spikher will auf Nichts
verzichten. Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild verrät, dass er noch immer Giulietta
liebt und sich innerlich von ihr bislang nicht hat befreien können.1117
Als Verworfener beneidet er Schlemihls reine und gute Seele (vgl. AS 340). Mit Selbstkritik
spart er gegenüber dem reisenden Enthusiasten nicht. Wie Schlemihl wird er Zeit zum Bewältigen seiner Schicksalsschläge brauchen. Seine Verlusterfahrungen sind nur frischer.
Schlemihl ist am Ende der zufriedenste von allen drei Protagonisten zum Zeitpunkt des Erzählvorganges, da er auf menschlichen Kontakt verzichten gelernt hat. Der reisende Enthusiast kann zwar seine Hoffnungen auf Julia begraben, doch er vermag es nicht, seine ExGeliebte zu vergessen. Sonst könnte er vor der Wiederbegegnung mit Julia keine „Himmelsfreude“ (AS 326) in der Weihnachtszeit empfinden. Verzichten wird er kaum, aber sein Enthusiasmus wird ihm ablenken. Zufriedenheit wird sich dauerhaft kaum einstellen, da er wieder sich für irgendwen oder irgendetwas begeistern wird, das unerreichbar ist. Driesens
Schwarz-Malerei seiner Lage ist deutlich zu relativieren:
Der reisende Enthusiast hat das miserabelste Schicksal unter den drei Gefährten im Unglück. Er hat
nicht nur von seinem teuren Selbst eingebüßt, er hat seine gesamte Persönlichkeit an Julia verloren.
Schatten und Spiegelbild des reisenden Enthusiasten sind lediglich von Julia kreditiert worden, denn er
gehört ihr ganz, Schatten und Spiegelbild inklusive.1118
Spikhers halbherziger Verzicht auf Giulietta und das Spiegelbild ist eine Entscheidung für
sein früheres Familienleben, das nicht mehr möglich ist. Da er weder auf seine ehemalige
Geliebte, noch auf seine Familie verzichtet, sind die Voraussetzungen für ein Arrangement
1116
Hoffmann hat sich entsprechend von Clemens Brentano briefliche Kritik zugezogen. Gerade weil er sich mit
Spikher identifiziert hat, bemängelt er das Ende: Hoffmann hätte ihn Erlösung in Jesus Christus finden lassen
sollen. Vgl. Clemens Brentano an Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vermutlich ab September 1817, FBA 33,
Briefe V, 283ff., hier 285.
1117
Vgl. Hoffmann 1970, 167-187, hier 179.
1118
Driesen 1997, 55.
301
mit der Situation denkbar schlecht.1119 Das Fantasiestück lässt das weitere Schicksal der Protagonisten ‚offen‘, während im Prätext alles auf ein gezwungen wirkendes 1120 „Explicit“ hinausläuft (PS 79). Damit wird die bei Chamisso propagierte Verehrung der Notwendigkeit als
Patentlösung für alle Probleme massiv in Frage gestellt. Die Religion vermag nicht mehr alle
Wunden zu heilen. Hoffmanns Werk führt kein Versöhnliches Ende durch Selbstbetrug gewaltsam herbei, wie seine Vorlage. Verzichten bedeutet das Verdrängen von Glücksvorstellungen. Die Unglücklichen sind zu sich ehrlicher als die Zufriedenen – solange sie das Negative ihrer Situation nicht überbewerten. Natürlich vermag Schlemihl auch seine Situation
durch positives Denken neu zu bewerten, da er ein Pechvogel mit Glücksmomenten ist.1121
Von einem Umdenken oder einer inneren Entwicklung ist bei Hoffmanns Figuren aber nicht
auszugehen.1122
1119
Agnes Derjanecz sieht in der Emanzipation von den dämonischen Figuren keine seelische Stärke des Einzelnen, sondern ein Eingreifen der göttlichen Gnade. Vgl. Derjanecz 2003, 66. Spikher trennt sich von Giuliettas
Liebe nicht wie Schlemihl von seiner Teufelsgabe. Vgl. Wilpert 1978, 64.
1120
Deshalb spricht Ernst Fedor Hoffmann von einem mehr oder minder offenen Schluss. Vgl. Hoffmann 1970,
167-187, hier 179.
1121
Vgl. Wilpert 1978, 55.
1122
Vgl. Dahms 2012, 95, bezugnehmend auf Hoffmann 1970, 167-187, hier 181.
302
10. Die Intertexte von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte
10.1. Fortunatus-Dichtungen als Intertexte von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
10.1.1. Hoffmanns und Chamissos Rezeption des Fortunatus-Stoffs im Allgemeinen
Die Ankündigung, die Prätexte eines Prätextes zu behandeln, könnte die Befürchtung aufkommen lassen, dass nun eine rückwärts gerichtete Stoff- und Motivgeschichte droht, welche
die Gefahr positivistischer ‚Stoffhuberei‘ in sich birgt. Das suspekte Handeln wird seine
Rechtfertigung aus einem m.E. verblüffenden Ergebnis erfahren (s.u.), dem hier nicht vorgegriffen werden soll.
Ob Hoffmann die ‚Prä-Prä-Texte‘ seiner Abenteuer der Silvesternacht kannte, lässt sich nicht
zweifelsfrei belegen, obgleich ihnen gerade eine enorme Bedeutung – nicht zu verwechseln
mit Einfluss – für das Werk zugesprochen worden ist. Es kultiviert die Erinnerung an Verlorenes wie Spikhers Spiegelbild – warum sollte es dann nicht auch die Erinnerung an ‚vergessene‘ Literatur kultivieren? Der schon mehrmals herangezogene Briefentwurf Brentanos mit
der Kritik an Hoffmanns Abenteuern belegt zumindest eine zeitgenössische Lektüre des Fantasiestücks, deren durchdringender Blick auf Chamissos wichtigste Quelle gestoßen ist: „[Ich]
möchte schier Ihr Werk [= Die Abenteuer der Silvesternacht] ausführen, wenn die Laune
drinn nicht wie ein Maulwurf um die Tiefe spielte, vielleicht thun Sie es selbst, wenn
Spiecker [sic!] [,] der hiesige Bibliotheckar aus England aus St[.] Patricks Hö[h]le
kömmt“.1123 Liest man das, ist man erst einmal überfordert; und einen direkten Hinweis auf
ein anderes literarisches Werk vermag man nicht sogleich entdecken. Verständlich dürfte lediglich folgendes gewesen sein: Brentano möchte am liebsten die Abenteuer umschreiben,
besinnt sich eines Besseren und fordert ihren Autor dazu auf. Er fürchtet den philologischen
Maulwurf in sich mit dem Trieb zu weitreichenden intertextuellen Spielereien. Dass seine
Phantasie durchgehen könnte, belegt die zweite Hälfte des Satzes, an der Brentanos Lektüre
festgemacht werden soll. Ihr ‚Witz‘ ist ohne Hintergrundwissen kaum nachvollziehbar.
Brentano bezieht sich auf Hoffmanns Berliner Bekannten Samuel Heinrich Spiker (17861858), der sich als Königlicher Bibliothekar zu einem Kenner der britischen Literatur, Geschichte und Verfassung entwickelt hatte.1124 In späteren Jahren waren ihm Erfolge als Über-
1123
Brentano, Clemens: an Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vermutlich ab September 1817, FBA 33, Briefe
V, 283ff., hier 285.
1124
Vgl. Frenschkowski 1995, 131 und Pröhle, Heinrich: Spiker, Samuel Heinrich, in: ADB (1893), 164-166.
Onlinefassung: URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd117491055.html?anchor=adb (26.9.2013).
303
setzer und Verfasser eines Bildbandes über die preußische Metropole beschieden. Mit Alexander Humboldt korrespondierte er.1125
Offenbar wusste Brentano von dessen Planungen einer sowohl dienstlichen, als auch privaten
Reise nach England, Wales und Schottland, die vom September 1815 bis zum November
1816 reichen sollte.1126 Eine zweibändige Reisebeschreibung gibt über sein Programm Rechenschaft: 1820 wurde dieses Werk sogar ins Englische übersetzt.1127 Neben Bibliotheken,
Museen, Buchhändlern, Druckereien, Manufakturen, frühindustriellen Betrieben, Stahlbrücken, Sternwarten, Theatern, Blindenschulen, Gefängnissen und Jahrmärkten werden auch
‚romantische Ziele‘ angesteuert: gotische Kathedralen, Friedhöfe, vorgeschichtliche MegalithBauten, Botanische Gärten und Naturdenkmäler.1128 Eine besondere Vorliebe scheint er für
mehr oder minder gefährliche Höhlen-Touren zu haben, bei denen er sich auch einmal das
ohrenbetäubende Vergnügen eines unterirdischen Feuerwerks leistet, das ihm sein Führer anbietet.1129 St. Patricks Höhle hätte er sicherlich besucht, wäre er nach Irland gekommen und
diese noch zugänglich gewesen wäre. Brentano muss mit Spiker vertrauter als mit Atlanten
gewesen sein.
In der Hoffmann-Kritik, auf die ich nun zurückkomme, fordert er den Verfasser der Fantasiestücke auf, den realen Spikher nach dessen Rückkehr aus England (!) aus St. Patricks Höhle
zu holen und seine Erlösung in Jesu Christi finden lassen.1130 Was hat es nun mit der St. Patricks Höhle auf sich?
Es handelt sich der Sage nach um eine Höhle, in die St. Patrick die bösen Geister Irlands bei
seiner Missionierung der Insel gebannt haben soll. Diese befindet sich – seit längerem verschüttet – unter einer Kloster- und Wallfahrtskirche, die in der Reiseliteratur aus der Frühen
Neuzeit beschrieben wird.1131 So hat sie als St. Patricks Fegefeuer Eingang in die FortunatusProsaromane1132 gefunden, die Chamisso wiederum zu dramatisieren suchte. In der Redaktion, die diesem wahrscheinlich vorlag, gibt der Abt über die Höhle folgende Auskunft. Die
1125
1126
Vgl. Ingo Schwarz (Hg.): Alexander von Humboldt. Samuel Heinrich Spiker. Briefwechsel, Berlin 2007.
Spiker, Samuel Heinrich: Reise durch England, Wales und Schottland im Jahre 1816, Bd. 1, Leipzig 1818,
VI.
1127
Vgl. Spiker, Samuel Heinrich: Travels through England, Wales, & Scotland, in the year 1816, 2. Bde. London 1820.
1128
Vgl. Spiker 1818, Bd.1, IX-XVI und Spiker, Samuel Heinrich: Reise durch England, Wales und Schottland
im Jahre 1816, Bd. 2, Leipzig 1818, IIV-VIII.
1129
Vgl. Spiker 1818, Bd.1, 124ff. und 257ff.; letztere Passage für: Peak-Höhle (Feuerwerk) und Poole’s Loche
bzw. Pooleshole; Fingals Cave, Boatman’s Cave und Clamshals’ Cave.
1130
Vgl. Clemens Brentano an Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vermutlich ab September 1817, FBA 33,
Briefe V, 283ff., hier 285.
1131
Zu St. Patricks Fegefeuer vgl. Kästner 1999, 53ff., Mühlherr, Anna: ›Melusine‹ und ›Fortunatus‹. Verrätselter und verweigerter Sinn (Fortuna vitrea 10), Tübingen 1993, 95ff. und Valckx, Jozef: Das Volksbuch von Fortunatus, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 16 (1975), 91-112, hier 96.
1132
Wegen der zahlreichen Textfassungen in der Druckgeschichte steht hier der Plural.
304
einen Pilger würden sagen „sie haben ein elendig Geschrey gehört, etliche, sie haben nichts
gesehen noch gehört, nur daß es ihnen sehr gegrauset“ (FA 53). Fortunatus begibt sich dennoch mit seinem Diener hinein und verirrt sich; erlebt nichts außer der Angst, nicht mehr aus
der Finsternis heraus zu kommen. Als er in der größten Verzweiflung Gott um Hilfe gebeten
hat, veranlasst der Abt des Klosters eine Rettungsaktion: ein alter Mann, der einst, vor Jahren,
die Höhle vermessen hat, muss sie herausschaffen – erlösen (vgl. ebd.). Erasmus Spikher befindet sich in Hoffmanns Abenteuern der Silvesternacht in einer psychisch ähnlich belastenden, hoffnungslosen Situation; bedroht von echten, eingebildeten und noch drohenden Gefahren. Sie verwandeln seinen Alltag in ein Fegefeuer. Brentano hat Recht, dass er erlösungsbedürftig ist.
In Hoffmanns Fantasiestück ist noch am ehesten an der Person Spikhers festzumachen, dass
er Chamissos Peter Schlemihl von Prosaroman-Stoffen inspiriert gesehen hat. Dapertutto verhöhnt Spikhers Kostüm, mit dem er Giulietta zu imponieren sucht: „Ihr seid wohl aus einem
alten Bilderbuch herausgestiegen mit Euerm Mantel, Euerm geschlitzten Wams und Euerm
Federnbarett“ (AS 346). Prosaromane sind oft eine Medienkombination aus Text und Holzschnitten – ‚Bilderbücher‘, allerdings keine Pergamentbände (vgl. ebd.), die man im Mittelalter aufwändig illuminierte.1133 Mantel, Wams und v.a. Federbarett1134 tragen die reichen Figuren in den Abbildungen des Fortunatus-Prosaromans, allerdings in damals, weniger gut zugänglichen, alten Ausgaben.1135 Dieser „altertümliche Putz“ (AS 344), der auch Giulietta in
Hoffmanns Gegenwart fremdartig bekannt (vgl. AS* 17 und AS 325) erscheinen lässt, ist in
Verbindung mit Spikher als Renaissance-Kleidung bezeichnet worden.1136 Dass er mit seiner
Garderobe aus der Zeit gefallen zu sein scheint, bestätigt Dapertuttos Reaktion. Sie impliziert,
dass die gegenwärtige Mode anders aussieht. Gleichzeitig markiert sie in der Tat diffuse Reminiszenzen an „alte Bilderbücher“, nennt aber leider keine Titel.1137
1133
Dass der Pergamentband das Gehäuse einer Zauberlaterne sein könnte, ist trotz Hoffmanns phantasmagorischer Schreibweise ein ziemlich abwegiger Gedanke, aber die Verschmelzung von Buchblöcken und Projektoren
scheint für die Neuzeit belegbar zu sein. Vgl. Berns, Jörg Jochen: Der Zauber der technischen Medien – Fernrohr, Hörrohr, Camera obscura, Laterna magica, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 26
(2004), 245-266, hier 258.
1134
„[Der] durch die Welt reisende Fortunatus [trägt] ebenso wie später der zur großen Hofreise aufbrechende
Andolosia eine besonders auffallende Kopfbedeckung: ein Barett mit wallendem Federbusch. Ein vergleichender
Blick auf ähnliche Federhüte der deutschen Renaissancegraphik […] enthüllt deren Symbolgehalt: sie stehen für
Eitelkeit und Hoffart“. Kästner 1999, 256.
1135
Vgl. Anonymus: Fortunatus, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen
Holzschnitten (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1). Hg. v. Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990, 383-588, für:
Fortunatus: 419, 435, 438, 443, 445, 456, 485 und 494; für: Andolosia: 509, 512 und 526; für: Theodorus, Andolosias Mörder mit dem offenbar geraubten Federbarett: 575.
1136
Vgl. Nährlich-Slatewa 1995, 108.
1137
Dass E.T.A. Hoffmann den Fortunatus-Prosaroman gut kannte, belegt eine Anspielung im 1821 erschienen
Elementargeist. Vgl. Hoffmann, E.T.A.: Der Elementargeist in: ders. 1992, 659-707, hier 675. Ob er den Prosaroman schon vor der Niederschrift der Abenteuer der Silvesternacht kannte, bleibt offen.
305
Der Stelle kommt demnach nur eine eingeschränkte Beweiskraft für Hoffmanns Kenntnis von
Chamissos Inspirationsquellen zu. Chamissos intensive Rezeption des FortunatusProsaromans ist dagegen zweifelsfrei zu belegen. Er bemühte sich den zweiten Teil des Prosaromans zu dramatisieren. Das Tragödien-Projekt blieb 1806 in einem weit fortgeschrittenen
Zustand stecken und kam nicht über den Fragment-Status heraus.1138 Hoffmann, den der Peter
Schlemihl so begeisterte, dürfte sich auch für seine sonstige literarische Produktion interessiert haben – und von gemeinsamen Freunden wie Fouqué wenigstens von der Existenz des
unvollendeten Manuskripts gewusst haben. Wahrscheinlich versuchte Chamisso 1813 einige
Ideen seines gescheiterten Dramas in Peter Schlemihls wundersame Geschichte zu retten.
Hans-Jürgen Bachorsky und Annemarie Wambach richten erstmals den Blick auf den Fortunatus-Prosaroman, wobei das Dramenfragment Chamissos so gut wie überhaupt nicht gewürdigt wird.1139 Ein Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte des Fortunatus-Stoffes am Ende
einer Dissertation und der Artikel einer Zeitschrift erlauben natürlich kaum mehr als auf die
augenfälligste, teilreproduzierende Einzelreferenz einzugehen. Sie ist mit deutlichen Markierungen in einer Schlüsselszene verankert. Der graue Mann bietet dem Protagonisten ein ganzes Sortiment magischer Gegenstände als Gegenwert für den begehrten Schatten an:
[Als] Beweis meiner Erkenntlichkeit gegen den Herrn, überlasse ich ihm die Wahl unter allen Kleinodien, die ich in der Tasche bei mir führe: die ächte Springwurzel, die Alraunwurzel, Wechselpfennige,
Raubtaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein Galgenmännlein zu beliebigem Preis; doch, das
wird wohl nichts für Sie sein: besser, Fortunati Wünschhütlein, neu und haltbar wieder restauriert; auch
ein Glücksseckel, wie der seine gewesen.« – »Fortunati Glücksseckel«, fiel ich ihm in die Rede, und
wie groß meine Angst auch war, hatte er mit dem einen Wort meinen ganzen Sinn gefangen. (PS 28f.;
Hervorhebungen: V.R.)
Schlemihl trifft rasch seine Wahl, da ihm zumindest das Wunschhütlein und der Glückssäckel
etwas besagen. Er entscheidet sich für letzteren, den unerschöpflichen Geldbeutel. Das Auftreten von Gegenständen aus der fiktiven Welt des Prosaromans in seiner Gegenwart überrascht ihn keineswegs.1140 Ihre Hinnahme sorgt für das ‚Verschwinden‘ der illusionsstörenden
Markierungen der intertextuellen Bezüge ebenso, wie die ‚alles’ erklärende Erprobung des
Glückssäckels.
1138
Dazu Kapitel „12. Anhang: Chamissos Fortunatus-Vorlage“.
Vgl. Bachorsky 1983, 301ff. und Wambach, Annemarie: „Fortunati Wunschhütlein und Glückssäckel“ in
neuem Gewand: Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl, in: GQ 67/2 (Frühjahr 1994), 173-184. Myun Kim
untersucht das Motiv des unversiegbaren Gelds u.a. anhand des Fortunatus-Prosaromans von 1509 und Chamissos Peter Schlemihl – vergleichen darf der Leser die nahezu isoliert aufeinander folgenden Ausführungen selbst,
angeleitet von drei Seiten Schlussbetrachtung. Vgl. Kim, Myun: Glückssäckel und Gesellschaft. Vergleichende
Untersuchungen zu Bearbeitungen des unversiegbaren Geld-Motivs im Spiegel des Gesellschaftsbewusstseins
(Wissenschaftliche Schriftenreihe Germanistik 11), Berlin 1998.
1140
Dies passt in das Konzept von Chamissos Werk, da die fiktiven Memoiren von Peter Schlemihl durch die
rahmenden Briefe als das Manuskript einer realen Person angekündigt werden. E.T.A. Hoffmanns Abenteuer der
Silvesternacht gehen auf das Spiel ein und lassen den reisenden Enthusiasten eine Begegnung mit Peter Schlemihl in der Realität der fiktiven Welt haben. Die Prosaromangestalten sind logischerweise in ihr historische
Personen.
1139
306
Man beachte die Wortwahl des dämonischen Antagonisten: er behauptet keineswegs die Identität der Zauberutensilien mit den Vorbildern aus dem Prosaroman. Das von Ampedo zerstörte
Wunschhütlein, mit dem man sich an jeden nur erdenklichen Ort wünschen kann, ist „neu und
haltbar wieder restauriert“. Der Glückssäckel ähnelt nur dem Modell, in dessen Besitz Fortunatus gelangt ist. Chamisso nimmt sich künstlerische Freiheiten; er reproduziert nur Aspekte des Prosaromans. Das ist auch notwendig; denn nach dem Tod der beiden Nachkommen
Fortunatus‘ erlischt laut der Vorlage die magische Potenz des Glückssäckels. Für dieses hat
Fortunatus alle vier Jahre ein armes Mädchen mit einer Mitgift auszustatten und diesen Tag in
Keuschheit zu üben. Seinen Schatten kann er behalten. Lediglich heiraten muss er, damit die
Geldquelle am Sprudeln bleibt. Von Schlemihl kann dies nicht verlangt werden, da bei ihm
gerade die Schattenlosigkeit einer Eheschließung im Wege steht.
Um weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Konzeption von Peter Schlemihls
wundersame Geschichte und dem Fortunatus-Stoff untersuchen zu können, bietet es sich wieder an, Lebensläufe ‚aufeinander‘ zu legen – wie bei der Gegenüberstellung von Hoffmanns
und Chamissos Texten. ‚Aufeinander gelegt‘ werden sollen die sich intratextuell ‚spiegelnden‘ Geschichten, die Biographien von Fortunatus und seinen beiden Söhnen Ampedo und
Andolosia, sowie die sogenannte Lebensbeichte Schlemihls. Über letztere ist durch das vorangegangene Kapitel auch der Bezug zu Hoffmanns Fantasiestück gegeben. Eine Interpretation des Gesamtensembles von sechs Figuren-Schicksalen aus drei verschiedenen Werken soll
sich anschließen, damit es nicht bei einer reinen ‚Stoffhuberei‘ bleibt.
Zunächst gilt es noch, ein technisches Problem zu lösen. Welcher Fortunatus ist zum Vergleichen heranzuziehen? Chamissos Tragödienfragment oder die von ihm wahrscheinlich verwendete Prosaroman-Fassung? Beide können als Prätexte für die Schlemihl-Erzählung angesehen werden. Gegen das Drama spricht seine Unvollständigkeit; gegen die ProsaromanFassung die Unsicherheit, die richtige Vorlage zu sein. Letztendlich kann man nur über das
Fragment des Schauspiels Sicherheit darüber erlangen, was Chamisso vom Fortunatus-Stoff
mitbekommen hat. Es stört die Intertextualität nicht, dass Prä- und Post-Text von ein und
demselben Autor stammen.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Quellenlage für den Vergleich bietet sich ein unschöner
Kompromiss an, nämlich die Ergänzung von Chamissos Szenenfolge mit der in Frage kommenden Vorlage nach ‚vorne‘ und ‚hinten‘.1141 Funktionieren kann das durchaus, weil Cha1141
Eine ausführliche und qualitätsvolle Inhaltsangabe des Volksbuches von 1509 findet sich bei: Spiewok,
Wolfgang: Fortunatus. Das Volksbuch vom Fortunatus und seinen Söhnen aus dem Jahre 1509 (Rieneckes Taschenbuch-Reihe 71), Greifswald 1997, 1-24. Zur Wahl der hier verwendeten Prosaromanfassung sei auf das
Kapitel „12. Anhang: Chamissos Fortunatus-Vorlage“ verwiesen.
307
missos Dramatisierung, soweit sie gediehen ist, ziemlich ‚werksgetreu‘ ist. Der Handlungsverlauf und die propagierten Wert- und Moralvorstellungen stimmen weitgehend überein. Der
romantische Dichter schreibt nicht gegen die Tradition an, sondern nimmt sich die Freiheit,
sie weiterzudenken.1142 Da der Handlungsverlauf des Prosaromans in germanistischen Kreisen
bekannt ist,1143 ist der vom Chamissos dramatisierte Bereich der Geschichte rasch abgesteckt.
Seine Szenenfolge setzt unmittelbar nach dem Tod des Fortunatus ein und endet mit dem Abschied Andolosias von der gehörnten Agrippina, die er der Obhut einer Äbtissin anvertraut.
Ein Brief aus der Endphase seines Schaffensprozesses dokumentiert die Absicht, der Prosaromanhandlung zunächst weiter zu folgen.1144 Andolosia heilt Agrippina, befreit sie aus dem
Kloster und arrangiert eine standesgemäße Ehe mit dem König von Zypern. Nach den Festlichkeiten wird Andolosia von Raubrittern überfallen, entführt und nach Preisgabe des
Glückssäckels getötet. Sein Verschwinden ängstigt Ampedo. Um einem solchen Schicksal zu
entgehen, zerstört er das zurückerhaltene Wunschhütlein, aber er grämt sich um den Bruder zu
Tode. Damit erlischt die Kraft des Glückssäckels. Diesen tragischen Schluss wollte Chamisso
offenbar überbieten. Agrippina und der zypriotische König, an die im Prosaroman, die übrigen Güter und Schätze der Fortunatus-Söhne fallen, sollten auch noch ausgelöscht werden. Es
ist die größte mögliche Katastrophe vorgesehen, wohingegen der Peter Schlemihl auf Schadensbegrenzung hinausläuft.
1142
Da Chamissos Dramenfragment in der Forschung bislang nur auf wenig Interesse gestoßen ist und keine
Interpretationen zu den späten Prosaromanfassungen existieren, von denen er mindestens eine verwendet hat,
erfolgt eine Auseinandersetzung mit ‚brauchbaren‘ Gedanken zu dem ältesten, erhaltenen Druck; außerdem soll
natürlich den heutigen ‚Plagiatsjägern‘ keine Angriffsfläche geboten werden. Es muss aber betont werden, die
verdienten Literaturwissenschaftler, die hier zitiert werden, besprechen i.d.R. nicht die vorliegenden Texte.
Da hier kein Platz für einen Forschungsüberblick ist, sei auf folgende hingewiesen: Steinmetz, Ralf-Henning:
Welterfahrung und Fiktionalität im ‚Fortunatus’, in: ZfdA 133 (2004), 210-225, 210ff. und Roth, Detlef: Negativexempel oder Sinnverweigerung? Zu neueren Deutungsversuchen des ‚Fortunatus’-Romans, in: ZfdA 136
(2007), 201-230, hier 207ff.
1143
Eine ausführliche und qualitätsvolle Inhaltsangabe des Prosaromans von 1509 findet sich bei: Spiewok,
Wolfgang: Fortunatus. Das Volksbuch vom Fortunatus und seinen Söhnen aus dem Jahre 1509 (Rieneckes Taschenbuch-Reihe 71), Greifswald 1997, 1-24.
1144
Zum geplanten Ende des Dramas, vgl. Adelbert von Chamisso an Varnhagen, 28.9.1806, in: Chamisso’s
Werke, Bd. 5, 157-161, 159f.
308
10.1.2. Vergleich Peter Schlemihls mit den Figuren der Fortunatus-Dichtungen
Der Vergleich von Chamissos Dramenfragment und dem Prosaroman soll durch eine systematische Gegenüberstellung der Figurenschicksale strukturiert werden. Dazu ist der Fortunatus-Stoff geeignet, weil ihn starke Typ-Gegentyp-Konstellationen und eine strukturelle
Symmetrie prägen:1145
Fortunatus verkörpert [… gegenüber der frühen sapientia das ‚neue‘ Ideal einer Weltklugheit] in der
Kombination von Weltzugewandtheit und vorsichtiger Distanz. In der Folgegeneration sind diese Aspekte in zwei Figuren aufgeteilt, so daß jeder der beiden Söhne einen davon auf extreme Weise repräsentiert und beide in ihrer Einseitigkeit jeweils Negativfiguren sind. 1146
Ralf-Henning Steinmetz sieht sogar den Prosaroman in der Tradition mittelalterlicher Texte,
deren Sinn möglicherweise von ihrer Doppelstruktur konstituiert wird.1147 Er bezieht sich auf
das von Hugo Kuhn entdeckte Prinzip des „doppelten cursus“ in der Heldenepik,1148 dessen
Gültigkeit für die Sinnkonstitution seit Elisabeth Schmid zur Disposition steht.1149 Aus diesem
Grund werden hier nicht einzelne Vater- bzw. Sohn-Episoden in der chronologischen Reihenfolge in Bezug zueinander gesetzt. Außerdem würde dies den Vergleich mit Peter Schlemihl
erschweren, der doch in einer ziemlich anderen Welt lebt. Peter Schlemihls Leben weist Parallelen zu den Biographien der Prosaroman- und Dramenfiguren auf. Es kann als ein Konglomerat aus intertextuellen Referenzen verstanden werden. Die Wesensmerkmale, Erfahrungen und Erlebnissen von Fortunatus und seinen beiden Söhnen korrespondieren zudem im
Prosaroman auf intratextuelle Ebene miteinander.
(1) Ort und Zeit des Geschehens
In welcher Welt leben die ‚Vorgänger‘ von Peter Schlemihl? In der germanistischen Forschung hat sich die Meinung herausgebildet, dass der Autor des Fortunatus-Prosaromans die
Handlung in seiner Gegenwart angesiedelt habe.1150 Diese sei noch vor dem Jahr 1509 anzusetzen, auf das der Druck des ältesten Textzeugen datiert ist. Das Königreich Zypern, in dem
1145
Vgl. Mühlherr 1993, 62 und Cleve, John van: Magie und Struktur im Fortunatus (1509). Zur ästhetischen
Einschätzung eines Renaissancetextes, in: Neuphilologische Mitteilungen 97 (1996), 81-90, hier 89.
1146
Mühlherr 1993, 63.
1147
Vgl. Steinmetz 2004, 210-225, hier 214 und v.a. 222.
1148
Vgl. Hugo Kuhn: Erec, in: Hartmann von Aue: Erec. Hg. v. Hugo Kuhn u. Christoph Cormeau, Darmstadt
1973 (WdF 359), 17-48.
1149
Vgl. Schmid, Elisabeth: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen
Artusforschung, in: Friedrich Wolfzettel / Peter Ihring (Hg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, 69-85.
1150
Besonders wichtig ist diese Sichtweise für Walter Raitz soziopsychologische Interpretation. Vgl. Raitz 1984,
7ff. und 93ff. Hinweis: das hier zitierte ‚Handbuch‘ ist eine entschlackte und aktualisierte Version folgender
Hochschulschrift dar: Raitz, Walter: Zur Soziogenese des bürgerlichen Romans. Eine literatursoziologische
Analyse des ››Fortunatus‹‹, Düsseldorf 1973.
309
die Protagonisten des Prosaromans leben, hat nur bis 1489 existiert.1151 Die Insel erschien den
Zeitgenossen nach dem Niedergang der Kreuzfahrerstaaten unermesslich reich: „Der Lebensstil des durch den Exodus vom Festland zahlenmäßig stark angewachsenen Adels sowie der
zahllosen Kaufleute erregte ungläubige Bewunderung, er galt als Quintessenz des verfeinerten
orientalischen Luxus“.1152 Vor diesem Hintergrund ist es nicht so verwunderlich, dass die
Geschichte von dem unerschöpflichen Geldbeutel, Zypern als Dreh- und Angelpunkt wählt.
Dem realistischen Setting widersprechen nicht die wunderbaren und märchenhaften Elemente,
die angeblich in den jüngeren Prosaromanredaktionen abgeschwächt werden.1153 In der nachmittelalterlichen Welt besitzen magische Gegenstände wahrscheinlich noch einen Realitätsstatus. Als phantastische Literatur hat man den Prosaroman sicherlich nicht wahrgenommen.
Fortunatus bereist die bis 1492 bekannte Welt, Orient und Okzident, einschließlich Nordafrika und Ostasien.1154 Auffallend ist die wesentlich geringere Mobilität der Söhne Andolosia
und Ampedo. Andolosia bewegt sich nur im europäischen Raum, der bei Chamisso auf London, Hibernia (Irland) und Venedig beschränkt wird. Obwohl die beiden Zauberdinge eine
Unabhängigkeit von der Begrenzung des Raumes gewährleisten,1155 ist eine Reduzierung der
Schauplätze über das ganze Werk festzustellen.1156
Ampedo verlässt nicht einmal zum Jagen den Palast in Famagusta (Zypern). Da er in Chamissos Dramenfragment eine „Kalamos“ (FC11, 634), eine indianische Friedenspfeife raucht,
muss Amerika schon entdeckt sein. Der Romantiker belässt die Geschichte in der Übergangsphase vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit.
Peter Schlemihl kommt zwar weiter herum als Fortunatus, doch dies scheint vom geographischen Wissen seiner Zeit abzuhängen. Beide Figuren bewegen sich jeweils durch die Welt
ihrer empirischen Autoren und zeitgenössischen Leser.1157 Hoffmann stellt der SchlemihlGestalt auf ähnliche Weise zwei Figuren-Varianten zur Seite, die zumindest innerhalb seines
1151
Vgl. Feldbauer, Peter / Liedl, Gottfried / Morrissey, John: Venedig 800-1600. Die Serenissima als Weltmacht (Expansion – Interaktion – Akkulturation. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt
18), Wien 2010, 107ff.
1152
Dieselben, 108.
1153
Vgl. Valckx 1975, 91-112, hier 95 und van Cleve 1996, 81-90, hier 86.
1154
Das Wunschhütlein kann nur innerhalb der Grenzen des Weltbildes seines Benutzers angewendet werden!
1155
Vgl. Müller, Jan-Dirk: Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hgg.): Fortuna (Fortuna vitrea 15), Tübingen 1995, 216-238, hier
216.
1156
Vgl. Wiemann 1970, 161.
1157
Ein Unterschied besteht natürlich in der Tatsache, dass die Glückssäckel und Siebenmeilenstiefel in Chamissos Gegenwart wie Fremdkörper längst vergangener Zeiten erscheinen; denn die weitvorangeschrittene Aufklärung ist nicht mehr rückgängig zu machen – selbst wenn sie in weniger gebildeten Bevölkerungsschichten noch
nicht völlig zum Durchbruch gekommen ist. In gewisser Weise wird hier eine Restauration des Wunderbaren
versucht: der graue Mann im Peter Schlemihl bietet nicht von ungefähr „Fortunati Wünschhütlein, neu und haltbar wieder restauriert; auch ein Glücksseckel, wie der seine gewesen“ an (PS 28f.).
310
Textes nur noch in Mittel- und Südeuropa bzw. der Stadt Berlin auftreten. Ob Hoffmann sich
Anregungen holte, die Geschichte von Chamisso nach seinen Vorstellungen zu transformieren, kann hier freilich nicht entschieden werden.
(2) Die erzählte Zeit
Die erzählte Zeit deckt die komplette Lebensspanne von Fortunatus und seinen beiden Söhnen
ab.1158 Das sind drei Generationen Familiengeschichte, da Fortunatus bei seinen Eltern aufwächst. Er selbst stirbt im hohen Alter eines natürlichen Todes. Seine Nachkommen dürften
das dritte Lebensjahrzehnt kaum überschritten haben. Andolosia wird von Raubrittern überfallen, gefangen, gefoltert und schließlich ermordet. Sein unbedeutend älterer Bruder Ampedo
ahnt das Schicksal des Vermissten und grämt sich nach der Vernichtung des Wunschhütlein
zu Tode.
Chamisso hat nach Aussage seiner Briefe keine Familien-Saga geplant.1159 Der Umfang des
zu dramatisierenden Stoffes lässt ihn den Umgang mit der Vorsehung in Konnex mit individuellen Glücksvorstellungen anhand einer Figur diskutieren. Er konzentriert sich auf das
Schicksal Andolosias, der mit dem passiven Ampedo einen starken Widerpart in funktioneller
Hinsicht besitzt. Eine weitere Reduktion der äußeren Handlung sieht die Konzeption von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte vor. Der Wechsel vom Drama zur Erzählprosa ermöglicht eine verstärkte Verlagerung der diskursiven Spannungen in das Figureninnere, das
der autodiegetische Erzähler kommentiert zur Sprache bringt. Unwesentliches wird weggelassen; auf eine Vorgeschichte oder eine ausführlichere Schilderung mehrerer Jahrzehnte naturkundlicher Forschungen wird verzichtet. Zu Gunsten einer Psychologisierung wird die erzählte Zeit beschränkt. Damit einher geht die Reduzierung der äußeren Handlung. Hoffmann
konnte hier sicherlich von Chamisso lernen.
(3) Die Ausgangslage und Reiseziele der Protagonisten
Da Reisen eine der zentrale Beschäftigung der Protagonisten in den Fortunatus-Prosaromanen
und den beiden, hier interessierenden Werken Chamissos ist, stellt sich die Frage, was die
zahlreichen Ortswechsel motiviert, wenn nicht gerade wegen echter oder vermeintlicher Ge1158
Mit 18 Jahren bricht Fortunatus in Zypern auf; 60 Jahre erfreut er sich des Besitzes des Glückssäckels; macht
zusammen mindestens 78 Jahre. Zu diesen käme aber noch die Zeitspanne zwischen dem Verlassen der Heimat
und der Begegnung mit Fortuna, die kleiner 15 Jahre anzusetzen ist: so lange ist er seiner Heimat fern. Zeittafel
für die ganze Handlung siehe Wiemann 1970, 163.
1159
Er tat sich hart mit dem Verse-Schmieden. Vgl. Zum geplanten Ende des Dramas vgl. Adelbert von Chamisso an Varnhagen, 28.9.1806, in: Chamisso’s Werke, Bd. 5, 157-161, hier 160. Durch die Beschränkung auf die
zweite Prosaroman-Hälfte werden Figuren-Namen als konzeptionelle Rahmen undeutlich. Im Prosaroman beginnt und endet die Dynastie des Fortunatus‘ mit dem Namen Theodorus: so heißen der Vater des Fortunatus‘
und der Mörder seines Sohnes Andolosia. Figuren mit negativen Eigenschaften scheinen Namen mit A-Anlaut
bekommen zu haben: Andreas, Andolosia, Ampedo und Agrippina. Alles, was hier zu diesen ‚Namen-Rahmen‘
gesagt worden ist, vgl. Cleve 1996, 81-90, hier 82f.
311
fahren geflohen werden muss? Nach Hannes Kästner soll der Fortunatus-Prosaroman ein Beitrag zur zeitgenössischen Reisediskussion sein und demonstrieren, dass Welterfahrung und
christliche Lebensführung nicht unbedingt ein Gegensatz sein müssen.1160 Ob man dieser
These zustimmt oder nicht,1161 unstrittig ist, dass das rezeptions- und produktionsgeschichtliche Interesse an dem Innenleben und der Gesinnung der Figuren zunimmt.
Drei Reisen erfüllen bei Fortunatus mehr oder weniger das Kriterium der Freiwilligkeit: die
dienstliche Übersiedlung von Zypern nach Flandern, die Erkundung Europas nach dem Erhalt
des Glückssäckels und die Orientreise, die ihren Ausgang wieder von der Heimatinsel nimmt.
Motiviert werden sie verschieden. Hintergrund der ersten Reise ist die familiäre Situation.
Fortunatus wird in eine Familie hineingeboren, die im sozialen Abstieg begriffen ist. Sein
Vater führt ein ausschweifendes Leben und bringt mit der Zeit das ererbte Vermögen samt der
Mitgift seiner Frau durch (vgl. FA 3ff.). Erstaunlich spät, erst am Endpunkt der Entwicklung,
entdeckt der Sohn die finanzielle Lage seiner Eltern. Da er ihnen nicht mehr weiter zur Last
fallen will, beschließt er, sein Glück in der Welt zu suchen (vgl. FA 6). Unverhofft bietet ihm
der durchreisende Graf von Flandern die Stelle eines Dieners an. Fortunatus willigt ein und
verlässt mit ihm sogleich Zypern. Das abfahrende Schiff seines Dienstherrn erlaubt weder ein
Abschiednehmen von den Angehörigen, noch ihre Benachrichtigung über seinen weiteren
Verbleib. Aus welchen Gründen er auch aus der Fremde keinen Kontakt zu seinen Eltern aufnimmt, bleibt offen. Auffälliger Weise erlöst er sie auch nicht aus dem selbstverschuldeten
Elend, als ihm der Besitz des Glückssäckels unermesslichen Reichtum beschert. Ein kurzer
Aufenthalt in seiner Heimat, täte seiner Reisetätigkeit in ganz Europa keinen Abbruch. Nicht
einmal nach der Irland-Reise, die der finanziellen Absicherung der Familie seines Reisegefährten Lupoldus dient (vgl. FA 51f.), denkt er an seine Anverwandten. Bei seinem Aufbruch
in die Fremde kann es ihm tatsächlich nur um sein eigenes Wohl und Glück, gegangen sein.
Worin besteht es für Fortunatus? Als er den Glückssäckel erhalten hat, besitzt er die Mittel,
sich alle Wünsche zu erfüllen. Sofort nach der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse schafft
er sich sechs Reitpferde an. Mobilität scheint für das Ausleben seiner Glücksvorstellungen ein
Garant zu sein. Ob er mit dem Pferdekauf in Statuskonkurrenz mit dem Adel treten will, sei
dahingestellt,1162 denn er reist später mit einem größeren Gefolge, das nicht nur dem Prestige
dient: es bietet – selbst wenn es nicht explizit gesagt wird – Schutz, übernimmt logistische
und organisatorische Aufgaben. Natürlich ist im Zusammenhang mit dem Pferdekauf zu beto1160
Vgl. Kästner 1999, 196.
Gegen die sogenannte Tourismus-These, vgl. Roth 2007, 201-230, hier 208.
1162
Vgl. Kellner, Beate: Das Geheimnis der Macht. Geld versus Genealogie im frühneuzeitlichen Prosaroman
‚Fortunatus’, in: Gert Melville (Hg.): Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in
der Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2005, 309-333, hier 325.
1161
312
nen, dass er zunächst lernen muss Höhergestellte nicht zu provozieren und sich vor Habgier,
auch der Niederen, zu schützen.1163 Erst bei seiner Ansiedlung in Zypern ergibt sich eine signifikante Statuskonkurrenz mit dem Adel, bei der es Fortunatus mehr um Bequemlichkeit, als
um Macht geht.
Auf der Orientreise sucht Fortunatus seine Glücksvorstellungen zu verwirklichen. Seine
Wissbegier und Neugier auf für ihn Unbekanntes lassen ihn 15 Jahre kreuz und quer durch
Europa reisen und z.T. sehr gefährliche Orte aufsuchen wie ein Höhlenlabyrinth, das nicht zu
Unrecht Patricius Fegefeuer heißt. In diesem Fall geht es nicht um die Erforschung der Natur,
wie man annehmen könnte, sondern um Erfahrung mit der Anziehungskraft eines Wallfahrtsortes. Nach unseren heutigen Maßstäben wären seine Interessen ethnographischer Natur. Gebräuche, Sitten und Machtverhältnisse hält er in schriftlicher Form fest:1164
und do er allso die länder und die künigreiche alle durchtzogen ir sitten unnd gewonhaiten und ire gelauben gar eben gesehen und gemerckt het. Auch selb ain büchlin gemacht / darinne er aller künig unnd
hertzogen / graffen / freyem / macht und ir vermügen erschriben / und auch was die gaystlichen fürsten /
Bischoff / äbbt / prelaten von land und leütten / dartzwischen so ergetzogen was gesehen hett. 1165
Auf eine Nutzung ihres Wissens für Handelsunternehmungen oder dergleichen sind er und
seine Nachfahren nicht angewiesen, solange sie Zugriff auf die unerschöpfliche Geldquelle
besitzen. Fortunatus sucht mit großer Wahrscheinlichkeit mit seiner Reisetätigkeit das zu erwerben, was man ihm nicht nehmen kann: Weisheit. Mehrfach bereut er in bedrohlichen Situationen, sich nicht diese von der Glücksgöttin ausbedungen zu haben.1166 Er nimmt den weitgereisten Leopoldus als welterfahren Mann in seinen Dienst, 1167 damit er in den verschiedensten Gesellschaften Erfahrungen sammeln kann. Natürlich soll dabei das Vergnügen nicht zu
kurz kommen. Ein Reiseziel werden die Festlichkeiten zur Krönung des Kaisers von Konstantinopel sein. Der ‚Tourist‘1168 sammelt nicht nur Eindrücke, sondern trägt auch ‚Souvenirs‘
für seine Wiederansiedlung in Zypern zusammen.
Dort kann er der Rolle eines Familienvater und aller „Kurzweil“ (FA 88) bald nichts Neues
mehr abgewinnen. Es kommt Langeweile1169 und damit verbunden Fernweh auf. Nun geht es
in den Orient, der ihm noch völlig unbekannt ist. Neben den bisherigen Interessen, macht sich
beim ihm auch eine Neugier im botanischen Bereich bemerkbar:
1163
Vgl. ebd.
Vgl. dazu auch Kästner 1999, 32.
1165
Darin sieht auch Chamissos Andolosia den Zweck der Reisen seines Vaters: „Ihn freute nur / Das fremde
Land zu schauen, und die Sitten / Der Völker zu erkennen, die er sah. / Der Arme kannte nicht ein andres Glück,
/ Ihm ward zu Teil der dürftige Genuß; / Befriedigt zog er heim von dieser Erden“ (FC7, 624).
1166
Vgl. Mühlherr 1993, 61.
1167
Vgl. dieselbe, 65.
1168
Vgl. Kästner 1999, 15, 77 und 83.
1169
Vgl. ders, 94. Dass Langeweile eine unbefriedigende Motivation für die Orientreise sein soll, kann man
Walter Raitz nicht unbedingt abnehmen. Vgl. Raitz 1984, 42f.
1164
313
Do nun Fortunatus die länder wol durchfaren was / benügt jn noch nit / er wolt auch kommen da der
pfeffer wechßt / vnd schanckt priester Johann gar schöne klainat […] vnd bat ym fürdernuß zu geben
mit leüten vnd mit brieffen / das er käm gen Lumbet [= Insel Lombok, s.o.] […] das ist das land da der
pfeffer wechßt […] Do nun Fortunatus daz alles gesehen hett / vnd auch nit verrer kommen mocht. gedacht er […] wider haim zu keren […].1170
Erst auf der Rückreise erfährt er von der Existenz eines Wunschhütleins, mit dem man sich an
jeden nur erdenklichen Platz auf der Welt wünschen kann. Es gehört dem Sultan in Alexandria, der vor ihm mit dem Besitz dieses Schatzes prahlt. Fortunatus stiehlt ihm daraufhin das
Wunschhütlein, nutzt es zu seiner Flucht und danach kein weiteres Mal mehr. Ob die Trauer
um seine zwischenzeitlich gestorbene Frau, das zunehmende Alter oder eine endlich befriedigte Neugier hierfür verantwortlich sind, bleibt offen.
Sein Sohn Andolosia nutzt dagegen das Wunschhütlein intensiv, wenn ihm der Glückssäckel
nicht zur Verfügung steht. In Chamissos Dramenfragment macht er gegenüber Agrippina
deutlich, dass er „anderen Sinnes“ als sein Vater die Welt durchzieht: ein „quälend unbegriffnes Sehnen“ triebe ihn „ohne Rast / Durch vieler Herren Höfe“, weil ein „verzehrend Dursten
/ Nach Unbekanntem“ ihn forttrage (alle Stellen: FC7, 624). 1171 Unbestimmte Sehnsucht oder
unbefriedigtes Fernweh motivieren auch Andolosias Abreise gegenüber seinem Bruder. Der
Erwerb von Wissen steht dabei eher im Hintergrund: „Vielleicht mit Weisheit zieh ich heim,
im Ringen / Erworben, wie sie einzig mir gefällt. […]Mich freut es selbst mein Schicksals
Buch [zu] entfalten“ (FC1, 606). Andolosia will sein Schicksal bzw. Fortuna herausfordern:
„Ich muß versuchen meines Glückes Stern“ (FC1, 607). Der Prinz von Zypern sieht in ihm
dementsprechend einen Abenteurer (vgl. FC2, 610). Ihm und seinem Bruder sind alle magischen Gegenstände samt Reichtum durch Erbschaft in den Schoß gefallen. Obwohl er seinem
Vater mit dem Verlassen der Heimat nacheifert, sieht sein Aufbruch völlig anders aus. Er reist
nicht heimlich ab, sondern bittet den Prinzen von Zypern um „Urlaub“ (FC2, 609) und verabschiedet sich von seinem Bruder. Mit einer ganzen Schar von Bediensteten besteigt er eine
gut ausgerüstete Galeere. Ein „Fortunabild am Steuerruder“ (FC3, 611) unterstreicht nochmals seine Absicht, sein Schicksal zu lenken, es selbst zu bestimmen. Das Meer ist symbolisch als ein Ort des jähen Glückswechsels zu verstehen.1172 Der weitere Verlauf des Dramas
offenbart auch die inoffiziellen Motive der Reise. Sie decken durchaus mit denen Andolosias
1170
Anonymus, Fortunatus, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken. Hg. v. Jan-Dirk Müller, 383-588, hier 491f. In dem Fortunatus-Druck, der in dieser Monographie hauptsächlich verwendet wird,
entfällt bei der inhaltlich nahezu identischen Skizze der Reise, der Wille des Fortunatus. Vgl. FA 94.
1171
Diese divergierenden Glücksauffassungen beider Protagonisten sind schon im Prosaroman angelegt. Vgl.
Raitz 1984, 49.
1172
Zur symbolischen Konnotation des Meeres vgl. Müller 1995, 216-238, hier 234ff. samt Literaturangaben.
Schicksal, Meerfahrt, Segelschiff und Seesturm in Verbindung mit der Fortuna-Allegorie vgl. auch Kästner
1999, 22 samt dortiger Literaturangaben. Nicht von Ungefähr steht eine Schiffsreise am Anfang von Peter
Schlemihls wundersamer Geschichte (vgl. PS 23).
314
im Prosaroman. Diesen interessieren Ruhm und Ehre im Kampf, sowie die Gunst schöner
Frauen. Er nimmt an einem Ritterturnier in London teil und macht der englischen Prinzessin
Agrippina den Hof.1173
Erst als sie ihn um den Glückssäckel, später auch das Wunschhütlein, gebracht hat, dienen
seine Reisen allein dem Zweck einer Rückgewinnung beider Zaubergegenstände. Nachdem er
dieses Ziel erreicht hat, scheint er vom Reisen auf längere Sicht genug zu haben. Mönch
möchte er deshalb noch lange nicht werden, wie es ihm der Einsiedler nahegelegt hat. Er bemüht sich um eine Wiederaufnahme der guten Beziehungen zum zypriotischen Königshaus.
Bereitwillig übernimmt er die Rolle eines Brautwerbers und führt seinem Landesherrn die
Prinzessin Agrippina zu, die nun ihren Hochmut genug hinter Klostermauern abgebüßt hat.
Vielleicht ist er mit Weisheit heimgekommen, doch seine auch bei Chamisso vorgesehene
Ermordung, lässt ihn kaum mehr diese demonstrieren. Kurz vor dem Abbruch des Dramentextes gibt er sich dem herausgeforderten Schicksal geschlagen: „Gescheh der Wille Gottes, des Allmächtigen“ (FC17, 658).
In „feiger Trägheit“ (FC1, 607) verlässt laut Andolosia sein Bruder Ampedo bei Chamisso die
Mittelmeerinsel nie. Die geschilderten Gefahren in den Aufzeichnungen seines Vaters schrecken ihn vom Reisen ab.1174 Er pflegt nicht einmal den Kontakt zum Hof in der Nachbarstadt.
Sein einziger Umgang ist der Probst eines Klosters, das sein Vater gestiftet hat. Am liebsten
sitzt er selbstzufrieden „allein an einem offenen Fenster“ (FC11, 633) und raucht „aus einer
irdenen Pfeife“ (ebd.): nicht anderen Genuss verschaffe ihm der Reichtum gleich diesem (vgl.
FC11, 634).
Er scheint auf sein Glück zu warten, während es Andolosia fast ein Leben lang erzwingen
will. Fortunatus hat zuvor einen dritten Weg beschritten und ist damit am weitesten gekommen. Er hat das Glück nur gesucht. Peter Schlemihl tritt mit derselben Prämisse seine Reise in
die Hafenstadt an, begeht allerdings den Irrtum, das Glück zwingen zu wollen, als sich ihm
vermeintlich die Gelegenheit mit dem grauen Mann bietet. Erst als er wie Andolosia die Notwendigkeit, d.i. Gottes Wille, verehren lernt (vgl. PS 60), entspannt sich seine Situation. Er
verabschiedet sich von zahlreichen Wunschvorstellungen, deren Realisierung ihn als Schattenlosen überfordern. Wie Fortunatus stammt er aus armen Verhältnissen. Ob er noch bedürftige Verwandtschaft in seiner Heimat besitzt, wird aus dem Text nicht ersichtlich. Folglich
kann man ihm nicht anlasten, dass er seine Familie wie Fortunatus vergisst. Andolosia nicht
1173
Die Turnier-Aufenthalte in Frankreich und Spanien fallen weg, wie auch der gescheiterte Versuch eine Pariser Hofdame mit Geld zum Ehebruch zu bewegen. Sie sind in den wahrscheinlichen Vorlagen des ChamissoDramas nicht mehr vorhanden. An der Figurenkonzeption ändert sich dennoch wenig; denn für dessen Andolosia
„scheint Genuß nur Kampfes Ehrenpreis“ zu sein (FC1, 603).
1174
Vgl. Kästner 1999, 34.
315
unähnlich, ist Schlemihl in einer Frühphase seiner Entwicklung eitel, auf die Ehre und Achtung aller aus (vgl. PS 37).
Die Zufriedenheit des gereiften Peter Schlemihl hängt anders als bei Ampedo nicht nur von
Tabak und rudimentärer Gesellschaft ab:
Für mangelndes Glück hatt ich als Surrogat die Nicotiana, und für menschliche Teilnahme und Bande
der Liebe eines treuen Pudels, der mir meine [Eremiten-]Höhle in der Thebais bewachte, und wenn ich
mit neuen Schätzen [= naturkundliches Forschungsmaterial] beladen zu ihm zurückkehrte, freudig an
mich sprang, und es mich doch menschlich empfinden ließ, daß ich nicht allein auf der Erde sei. (PS 75)
Es muss auch die Betätigung als Forscher hinzukommen. Ruhebedürfnis und Reiselust stehen
bei ihm in einem relativ ausgeglichen Verhältnis. Seine botanischen und zoologischen Studien
sind auf Exkursionen angewiesen. Sie dienen der Beschaffung von Forschungsmaterial, dessen Präparation und Auswertung eine dauerhafte Bleibe erfordert. Wie Fortunatus kommt er
über Lombok, einer heute indonesischen Insel, nicht hinaus. Für den einen ist das Land, in
dem der Pfeffer wächst, das Ende der Welt, für den anderen das Ende seines Aktionsradius.
Der australische Kontinent liegt außerhalb der Reichweite von Schlemihls Siebenmeilenstiefeln, die nur ein unvollkommenes Pendant zu dem Wunschhütlein darstellen.1175 In seiner
besonderen Situation wagt er kein Schiff zu besteigen: er wähnt sich hinter den fest verschlossenen Gittern eines Kerkers (vgl. PS 74). Offenbar führt die Gewöhnung an die ungewöhnliche Mobilität zu einem gewissen Realitätsverlust. Andolosia endet in einem wirklichen Kerker. Insgesamt zeigt Schlemihl mehr Wesensverwandtschaft mit Fortunatus, als mit dessen
beiden Söhnen. Sie verkörpern die Extreme der Aktivität und Passivität, die der implizite Autor antagonistisch aufeinander bezieht. Mit ihnen verdeutlicht er, welche Prinzipien in Fortunatus im Widerstreit liegen.
(4) Das Außenseiter-Dasein der Protagonisten von Anfang an1176
Die Hauptfiguren des Prosaromans geraten immer wieder in Außenseiterrollen. Fortunatus
wird, wie bereits dargestellt, in eine bürgerliche Familie hineingeboren, die ins gesellschaftliche Abseits gerät. Bald meiden den Vater alle schmarotzenden Freunde und Bekannte – und
der Sohn erhält keine standesgemäße Erziehung. Diesen halten weder Freunde, noch Verpflichtungen in Zypern zurück. Bei seinem Dienstherrn, dem Grafen von Flandern, fallen sein
überdurchschnittlicher Ehrgeiz und Fleiß positiv auf. Seine Leistungsbereitschaft und die Anerkennung durch seinen Vorgesetzten verstärken sich wechselseitig. Bald stellt sich ein gefährlicher Neid auf den fremden Günstling bei den übrigen Bediensteten ein (vgl. FA 10ff.).
Man spinnt eine Intrige, die in ihrer Perfidie an das heutige ‚Mobbing‘ erinnert. In letzter
Konsequenz flieht Fortunatus nach London, ohne bemerkt zu haben, das Opfer einer Ver1175
1176
Vgl. Braun 2007, 211 und Wambach 1994, 173-184, hier 174.
Fortunatus und Schlemihl werden in die Handlungen als Außenseiter eingeführt. Vgl. Bachorsky 1983, 301f.
316
schwörung geworden zu sein. Dementsprechend kann er auch keine Lehre aus dem Geschehen ziehen. Ehe er sich aber in seinem nächsten Dienstverhältnis erneut Feinde geschaffen
hat, findet dieses ein jähes Ende durch den Raubmord an seinem neuen Herrn (vgl. FA 21ff.).
Zuvor hat ihm der florentinischen Kaufmanns Hieronymus Robertus angemerkt, „daß er […]
bey ehrsamen Leuten gewesen“ ist (FA 21) und ihn sofort auf eine verantwortungsvolle
Dienstreise geschickt. Ihr allein verdankt er letztendlich sein knappes Entkommen der kollektiven Hinrichtung der anderen Hausangestellten. Im Zusammenhang mit dem fehlinterpretierten Verbrechen statuiert der König von England ein Exempel, da sein bestellter Schmuck
verschwunden ist.
Zwischen den beiden geschilderten Dienstverhältnissen bringt Fortunatus seine aus Flandern
geretteten Ersparnisse in London durch. Er schließt sich jungen zypriotischen Landsleuten an,
die das Geschäftskapital ihrer Väter verprassen. Als alle ihre Mittel völlig aufgebraucht haben, zeigen Fortunatus‘ neuen Freunde keinerlei Solidarität. Sie denken nur an die Rettung
ihrer eigenen Haut und setzten sich in ihre Heimat ab. Auch die lange ausgehaltene Buhlschaft ist nicht bereit, einen kleinen Kredit für einen Neustart zu geben.
In die Isolation manövriert sich auch Andolosia. Wie sein Vater versteht er es, den Neid anderer zu wecken; v.a. der Ritter, die er in Turnierkämpfen überwindet. In Chamissos Dramenfragment ärgern sich die Unterlegenen besonders über die fehlende Ebenbürtigkeit des Siegers. Seinen Adel erkennt man nicht an, obwohl immerhin seine Mutter aus einem Grafenhaus stammt. Jenseits des Kampfplatzes wirkt sein Auftreten in höfischen Kreisen unbeholfen: „Wie schlecht gestellt und holpricht seine Worte“ (FC4, 614). Darin haben sie nicht einmal Unrecht. Vor dem englischen König und seiner Tochter versucht Andolosia die höfische
Rhetorik zu imitieren bzw. zu überbieten. Das Ergebnis verspottet der Hofnarr zu Recht als
unverständlich. Die Satzstellung gehorcht völlig der gebundenen Sprache; häufig wird der
Reim durch die Verwendung von Neologismen erzwungen. Anmaßend und provokativ findet
allerdings der König, wie sich „der Mensch in solcher hohen Pracht / Zu leben […] erkühnt“
(FC6, 622): „Da ihm das Holz gefehlt, / Bei edeln Spezereien, beim lautern Zimmetfeuer /
Hat alles er gekocht“ (ebd.). Der König hat ihn vergeblich in die Schranken zu weisen versucht. Er hat sich bei Andolosia zum Essen eingeladen und gleichzeitig den Verkauf von
Brennholz bei Todesstrafe verboten, damit die Köche keine Speisen anrichten können. Andolosia hat unklugerweise die Herausforderung mit Hilfe des Glückssäckels pariert, wodurch der
Monarch seine Machtstellung im Königreich untergraben sieht. Als nächstes Geschütz fährt er
Agrippina auf. Der Prinzessin gelingt es, ihm das Geheimnis seines Reichtums zu entlocken
und den unerschöpflichen Geldbeutel zu rauben. Andolosia sieht sich infolge dessen gezwun317
gen, seinen kompletten Besitz zu veräußern, um die Bediensteten entlohnt zu entlassen. Allein
kehrt er zu seinem Bruder nach Zypern zurück.
Ampedo sitzt noch immer in der selbst gewählten Einsamkeit des väterlichen Palastes. Er
fürchtet, die magischen Erbstücke zu verraten und hält sich sklavisch an die Devise von Fortunatus: „Es hüte unsern Schatz Verschwiegenheit“ (FC1, 605). Je rudimentärer die Kontakte
zur Gesellschaft sind, desto weniger gefährliche Auftritte und kommunikative Situationen
ergeben sich.
Peter Schlemihl liegt es anfangs völlig fern, den Umgang mit anderen Menschen zu meiden.
Man beachtet ihn in der Gartengesellschaft des reichen Kaufmanns Sir John überhaupt nicht,
da durchreisende Fremde in einer Hafenstadt keine Besonderheit darstellen. Lästige Bittsteller
dürfte der Gastgeber schon häufiger durch Ignoranz losgeworden sein. Vor dem Verkauf des
Schattens und dem Erwerb des Glückssäckels erweckt Schlemihl keinerlei Neid. Wer möchte
schon in einem gewendeten Anzug stecken? Da Schlemihl schneller zu Reichtum kommt, als
dass er in ein Dienstverhältnis treten kann, kann man über seinen Fleiß keine Aussage treffen.
Das Empfehlungsschreiben und sein Aufbruch in die Fremde sprechen für einen Ehrgeiz, der
dem des jungen Fortunatus in nichts nachsteht. Da er in der Gartengesellschaft unter der
Nicht-Beachtung seiner Person leidet, braucht er Anerkennung für sein Selbstbewusstsein.
Diese gewinnt man in seiner Zeit freilich nicht mehr mit Turnierkämpfen. Wirtschaftlicher
Erfolg und gesellschaftliches Prestige sieht er in Sir John vereinigt, der somit für ihn in Sachen Anerkennung zu einer Autorität wird. Er glaubt ihm offenbar, dass man Ruhm und Ehre
nur durch Geld erlangen könne. Seine Entscheidung fällt auf den Glückssäckel, wie bei Andolosia, der bei der Erbteilung gerne auf das Wunschhütlein verzichtet.
(5) Die Beziehungen der Protagonisten zum anderen Geschlecht
Fortunatus zeigt gegenüber dem anderen Geschlecht keinerlei Abneigungen, doch spielen
Frauen eine eher untergeordnete Rolle in seiner Lebensplanung. Als er mit 18 Jahren Zypern
verlässt, hält ihn keine Liebschaft in der Heimat zurück. Obwohl er sich auch im Dienste des
Grafen von Flandern für keine Frauen interessiert, ist er nicht bereit, sich von seinem Vorgesetzten kastrieren zu lassen (vgl. FA 14ff.). Er flüchtet nach London, um seine Mannbarkeit
zu retten. Dort trifft er bekanntlich auf andere, junge Zyprioten, Söhne von Kaufleuten, die
ihn in die Halbwelt einführen (vgl. FA 18ff.). Bald unterhält auch er eine Hure mit seinen
Ersparnissen. Dabei geht es ihm wohl weniger um die Befriedigung sexueller Begierden, als
um Anschluss an seine Landsleute. Als er und seine Kameraden alles Geld aufgebraucht haben, muss er die Erfahrung machen, dass käufliche Liebe nur so lange währt, wie man zah-
318
lungsfähig ist. Für den Mittellosen hat seine Geliebte nur noch Spott und Hohn übrig. Von
Frauen hat er offenbar nun genug.
Selbst als er reich ist, den unerschöpflichen Glückssäckel sein eigen nennt, verzichtet er völlig
auf den Umgang mit Huren. Das Reisen ist ihm wichtiger als der Umgang mit Frauen. Dabei
garantiert nur das Zeugen ehelicher Nachkommen die Potenz seines Glückssäckels als unerschöpfliche Geldquelle.1177 Erst im Alter von 33 Jahren denkt er an eine Ansiedlung in Zypern und ans Heiraten. Mit der Brautwahl lässt er sich Zeit, denn die Jungfrau des Glücks hat
es versäumt, ihm eine Frist zu setzen. Viele Väter aus dem „Volck“ (FA 72) hoffen auf einen
finanziellen und sozialen Aufstieg. Sie putzen ihre Töchter heraus und präsentieren sie ihm
als Heiratskandidatinnen. Währenddessen erkennt der König die einmalige Gelegenheit, Fortunatus in die heimische Adelsgesellschaft einzubinden (vgl. FA 73).1178 Der Sohn eines armen Edelmannes (vgl. FA 44) zeigt sich ebenso willfährig, wie der auserkorene Schwiegervater in spe, der wenig vermögende Graf Nimian (vgl. FA 73). Als reines Kalkül stellt sich auch
Fortunatus‘ Wahl zwischen den drei Töchtern dar, die gleichermaßen schön sind. Cassandra
beweist das größte diplomatische Geschick bei einer Prüfungsfrage, die ein LoyalitätsDilemma behandelt. Ihre hohe Wertschätzung von Weisheit in jungen Jahren gefällt Fortunatus, da sie ihm selbst gefehlt hat. Die Ehe wird glücklich und zwei Kinder kommen zur
Welt. Es entwickelt sich eine Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Trennungsschmerz und
Wiedersehensfreude, die Fortunatus Orientreise rahmen, lassen dies erkennen. Fortunatus
vertraut ihr dennoch nicht das Geheimnis seines Reichtums an;1179 sie will es offenbar nicht
wissen. Fortunatus stirbt seiner 15 Jahre jüngeren Frau hinterher.
Die Söhne von Fortunatus müssen nicht heiraten, um die Kraft des Glückssäckels zu erhalten.
Da Chamissos Andolosia nicht der ‚Schürzenjäger‘ des Prosaromans ist, wirken seine Empfindungen für Agrippina glaubwürdiger. Obwohl er ihre Schönheit überbewertet, scheint es
ihm nicht allein um ihre sexuelle Attraktion zu gehen. Er würde sonst nicht Opfer seines eigenen Liebeskonzeptes werden, das gegenseitiges Vertrauen als Basis einer Beziehung ansieht.
In seiner Naivität verrät er der englischen Königstochter das Geheimnis des Glückssäckels.
Ihre Falschheit bemerkt er gar nicht. In zwei Monologen bzw. Liedern bringt sie ihre Herzlosigkeit, Gefühlskälte, Eitelkeit und Lust an der Macht zum Ausdruck. Sie finge die Ritter wie
eine Spinne in ihren Netzen (vgl. FC5, 619f.) und spiele mit ihnen wie eine Katze mit der
1177
Die Bedingung ist bei der Redaktion des Prosaromans aus dem 18. Jahrhundert aus Unachtsamkeit bei der
Säckelübergabe getilgt worden (vgl. FA 39ff.) und später stehen geblieben (vgl. FA 88).
1178
Vgl. Raitz 1984, 40f.
1179
Vgl. Bachorsky 1983, 135f.
319
Maus (vgl. FC8, 626f.). Als er endlich begreift, dass er bei der Prinzessin auf keine Gegenliebe stößt, verzichtet er auf sie. Er arrangiert ihre Verheiratung mit dem König von Zypern.
Der in Zypern zurückgebliebene Ampedo interessiert sich – im Gegensatz zu Andolosia –
nicht für Frauen. Er beabsichtigt auch nicht zu heiraten, weil er offenbar fürchtet, das Geheimnis der magischen Gegenstände in einer ehelichen Verbindung preiszugeben. Seine gesellschaftliche Abstinenz schützt ihn allem Anschein nach auch vor ‚Heirats-Spekulanten‘ in
Adelskreisen, die in ihm eine gute Partie sehen müssten.
Schlemihls Reichtum sorgt dafür, dass man ihn für einen Grafen oder König hält, obgleich er
keinerlei Verbindungen zum Adel hat. Sein Geld steigert nicht nur das Ansehen, sondern auch
seinen Wert als potentieller Schwiegersohn. Dieses Phänomen, das typisch für Gesellschaften
ist, bei denen Vernunftsehen und Zwangshochzeiten die Regel sind, lässt sich besonders gut
an Minas Eltern studieren. Auch in der Hafenstadt sorgt Schlemihls Reichtum für Beachtung:
Wenn ich redete, hörte man zu, und ich wußte selber nicht, wie ich zu der Kunst gekommen war, das
Gespräch so leicht zu führen und zu beherrschen. Der Eindruck, den ich auf die Schöne [Fanny] gemacht zu haben einsah, machte aus mir, was sie eben begehrte, einen Narren[.] (PS 37 )
Gewisse Parallelen zum rhetorischen ‚Balzverhalten‘ Andolosias scheinen gegeben zu sein.
Die schöne Fanny spielt mit ihrem Verehrer, genauso wie die attraktive Agrippina mit den
Rittern. Ein Unterschied besteht aber zum Prosaroman. Ihre Gefühlskälte lässt bei Schlemihl
keine Liebe aufkommen, da er gesteht, dass er den Rausch ihrer sexuellen Attraktion nicht in
Liebe habe umwandeln können. Fanny sucht auch nicht nach dem Geheimnis seines Reichtums. Den fehlenden Schatten entdeckt sie zufällig und erschrickt. Schlemihls Flucht beendet
die sich anbahnende Beziehung, ehe er eine schmerzliche Verlust-Erfahrung machen muss.
Die Lektion, dass man Zuneigung nicht kaufen kann, erteilt ihm das Schicksal auf ziemlich
milde Art und Weise. Fanny bringt ihn weder um sein Geld, noch weist sie ihn von der
Schwelle. Fortunatus macht diese Erfahrung mit seiner Buhlschaft in London, wie Andolosia
später mit Agrippina. Schlemihl erlebt seine Tragödie mit Mina. Die dramatische Fallhöhe ist
enorm. Er findet ein Mädchen, das ihn tatsächlich liebt – und die auf lange Hand vorbereitete
Hochzeit scheitert im letzten Augenblick an der Zustimmung der Eltern, die sich von der gesellschaftlichen Akzeptanz der Verbindung abhängig zeigt. Die Obrigkeit und die Mitbürger
dulden keinen Schattenlosen unter sich. Hier gibt es keine königliche Protektion bei der
Brautwahl, wie bei Fortunatus.
(6) Die Anfälligkeit der Protagonisten für ‚Teufelspakte‘
Den Punkt „Anfälligkeit der Protagonisten für ‚Teufelspakte‘“ kann man nicht fallen lassen,
obgleich Fortunatus und seine Söhne von keinen Teufeln heimgesucht werden. Zum einen
320
besteht eine starke Verwandtschaft zwischen dem Fortunatus- und dem Faust-Stoff,1180 zum
anderen wirken übernatürliche Wesen und zwielichtige Mitmenschen massiv auf das Schicksal der Protagonisten ein. Die beiden magischen „Kleinodien“ gewinnen sie nicht durch Teufelspakte. Obwohl man in Chamissos Dramenfragment kaum etwas über die Herkunft der
magischen „Kleinodien“ erfährt, wird die Konzeption des Prosaromans beibehalten. Den
Schatz, den zehnfach unerschöpflichen Glückssäckel, habe Fortunatus in Todesnot von der
Jungfrau Fortuna erhalten (vgl. FC1, 604f.).1181 Das Wunschhütlein bleibt gestohlenes Gut, da
es des Sultans Hütlein ist (vgl. FC1, 606 bzw. FC12, 636).
Über das Wesen der Verwalterin der Glücksgüter erfährt man im Prosaroman nichts, da
kommentierende und reflektierende Passagen nahezu gänzlich fehlen.1182 Leser und Interpreten werden weitgehend auf sich selbst und die Kontextualisierungen der Figur gestellt. Von
diesen hängt ab, ob Fortuna ein ‚Engelsbild‘ oder ein ‚Höllengeist‘ ist – will man sich anachronistisch der Begrifflichkeiten E.T.A. Hoffmanns bedienen. Negative Sichtweisen auf Fortuna können sich auf Augustinus berufen, der die antik-heidnische Verkörperung der Beliebigkeit des irdischen Geschehens verdammt und die es dementsprechend im christlichen Mittelalter nicht hätte geben dürfen.1183 Für Christen wird nur scheinbar willkürlich Glück und
Unglück zugeteilt, da alles einem göttlichen Heilsplan gehorcht 1184 – sieht man aber die Fortuna als Werkzeug der Providenz, ist sie eine göttlich lizensierte, relativ autonome Macht.1185
Eine doppelgesichtige Fortuna,1186 repräsentiert bestens die Beliebigkeit. Die Frage ist, wie
man diese versteht. Den ‚Autoren‘ des Fortunatus-Prosaromans vorzuwerfen, dass sie keine
geschlossene Figuren-Konzeption gehabt hätten,1187 ist absurd. Der zeitgenössische Diskurs
über Freiheit und Determination, der zwischen ‚unberechenbarer‘ Kugel-Rollbahn und ‚regelmäßiger‘ Glücksrad-Rotation ikonographisch zu verorten ist, scheint als erkenntnistheoretisches Problem in der germanistischen Forschung eine Neuauflage zu erfahren: es wird heiß
1180
Reiselust, Erkenntnistrieb und das Verlangen nach gesellschaftlicher Anerkennung, wie auch einer optimalen
Existenzsicherung ist den Glückssuchern gemein. Vgl. Kästner, Hannes: Fortunatus und Faust. Glücksstreben
und Erkenntnisdrang in der Erzählprosa vor und nach der Reformation, in: LiLi 89 (Anfänge des Romans)
(1993), 87-120, hier 90f.
1181
Nachdem in der Frankfurter Gruppe der Prosaroman-Drucke die Jungfrau des Glückes zur Fortuna bzw.
Fortunata geworden ist, benennen Chamisso, Görres und Simrock dieses feenartige Wesen umstandslos als Fortuna; sehen in der Jungfrau des Glückes das nordisch-volkstümliche Pendant der Fortuna. Vgl. Haberkamm,
Klaus: „einfliessung der [...] planeten“ und „kunst der nigromancia“. Der Fortunatus als astrologischer ‚Subtext“
auf dem Hintergrund der Saturn-Vorstellung der Renaissance, in: Dieter Breuer (Hg.): Fortunatus, Melusine,
Genovefa, Bern [u.a.] 2010, 235-265, hier 242 und Valckx 1975, 91-112, hier 101f.
1182
Vgl. Mühlherr 1993, 5.
1183
Vgl. Wiemann 1970, 65 und Haug, Walter: O Fortuna. Eine historisch-semantische Skizze zur Einführung,
in: Haug / Wachinger 1995, 1-22, hier 1.
1184
Vgl. ders., 1-22, hier 5f.
1185
Vgl. ders., 1-22, hier 8.
1186
Vgl. ders. 1999, 22 und ders. 1993, 87-120, 93.
1187
Vgl. Kästner 1999, 46.
321
diskutiert, wie konservativ oder progressiv der Renaissance-Autor an der Schwelle zur Neuzeit gewesen ist.1188
Über die Gut- oder Bösartigkeit der Fortuna vor dem Hintergrund eines christlichen Weltbildes kann man bestenfalls Aussagen treffen, wenn man ihr Verhalten während ihres einzigen
Auftritts, den Lebenswandel der Protagonisten und die Beziehung zu ihren Gaben betrachtet.
Ob die haarsträubenden Zufälle, die die Handlung in Gang halten,1189 von der Fortuna bewirkt
werden, lässt der Text offen.1190 Sie tritt lediglich an einem relativ gefährlichen Ort auf.
Fortunatus hat sich in die Wildnis eines bretonischen Waldes verirrt. Nach der dritten Nacht
erwacht er gut ausgeschlafen1191 und sieht „ein schönes Weibsbild“ vor sich stehen (FA 39).
Dieses stellt sich als „Fortunata[,] die Göttin des Glücks“ vor (FA 40), da man sie an keinen
allegorischen Attributen erkennen kann. Der Erzähler verzichtet auf jede irreale Zeichnung
ihrer Person und lässt sie anfänglich sogar ihre numinose Überlegenheit verbergen, damit Fortunatus nicht erschrickt. Sie erkundigt sich nach dem Schicksal des Helden, dessen Namenspatronin sie ungefragt geworden ist. Als ambivalente Stifterin von Glück und Unglück sucht
sie sich der Polarität von Gut und Böse im christlichen Weltbild zu entziehen: „[Durch] den
Einfluß des Himmels, der Sternen und Planeten sind mir verliehen sechs Tugenden, die ich
einem Menschen zu gewisser Zeit und Stunde mittheilen kann, dieselbe[n] heissen: Weisheit,
Reichthum, Stärke, Gesundheit, Schönheit und langes Leben“ (FA 40). Sie hat Eigenschaften
zu vergeben, über die sie nicht frei verfügen darf. Ob sie den römischen Göttern mit den Planetennamen oder einem christlichen Gott gehorcht, dem alles untertan ist, bleibt in der
Schwebe.1192 Entsprechend spätmittelalterlicher Theologie, die den Zufall durch das Bild eines gesetzmäßig rotierenden Glücksrades domestizierte, existiert hier eine in ihrer Funktionsweise für den Menschen unbegreifliche Vorsehung. Da Fortunatus dem allmächtigen (!)
Gott mit einem laut gesprochenen, inniglichen Gebet für die Begegnung dankt, ehe er die
Glücksgöttin anspricht (vgl. FA 39) und dies keine exorzistische Wirkung zeitigt, ist sie keine
Verkörperung des Teufels. Sie hat es nicht auf die Seele von Fortunatus abgesehen. Dieser
will sich für den Glückssäckel „höchstens […] bedanke[n], und zu allen Diensten verpflichte[n]“ (FA 40). Die freiwillig eingeräumte Gewalt über seine Person, die nicht vertraglich
1188
Vgl. Müller 1995, 216-238, hier 217 und die Kritik daran von: Roth 2007, 201-230, hier 220.
Vgl. Müller 1995, 216-238, hier 221.
1190
Für andere Autoren ist nicht der Zufall, sondern das Geld der einzige Handlungsmotor. Vgl. Raitz 1984, 29
und Lee 2002, 34f.
1191
Der Erzähler will offenbar nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass Fortunatus geträumt hat, zumal der
Glückssäckel das Beweisstück für die Existenz der Fortuna ist.
1192
Die sechs gaben lassen sich auf die sieben kanonischen Planetengottheiten verteilen, wobei Saturn, der Hüter
der geheimen Schätze genauso tückisch wie die launige Glück ist. Vgl. Haberkamm 2010, 235-265, hier 243ff.
1189
322
fixiert wird, missbraucht Fortunata nicht. Sie rekommandiert, d.h. empfiehlt, Fortunatus drei
Dinge, die in moralischer Hinsicht nicht verwerflich sind:
„Du sol[ls]t diesen Tag alle Jahr feyren und heilig halten. Das andere: An diesem Tag kein ehlich Werk
vollbringen. Das dritte: Du magst in einem Land seyn, wo du willst, so sollst du nachfragen, ob du einen unbemittelten Mann antreffen möchtest, der eine mannbare Tochter auszusteuern hätte, aber solches
Armuth halber nicht vollführen könnte, die sol[ls]t du auf diesen Tag ehrlich kleiden, und mit vierhundert Stück Goldes, als einem Heyrathgut, erfreuen, gleichwie du von mir erfreuet worden bist.“ (FA 41)
Hannes Kästner sieht in Fortunatus‘ folgender, freiwilligen Verpflichtung zu einem ‚FortunaFeiertag‘ mit guten Gründen eine Kontrafaktur eines typischen Gelöbnisses gegenüber einem
Heiligen in Notsituationen, das spiegelbildlich die empfangene Hilfe wie ein Votiv-Bild abbildet.1193 Dennoch tritt sie nicht in Konkurrenz mit Gott1194 – zumindest für Fortunatus und
die Leute, die er mühelos1195 mit ihren Gaben beglückt. Nachdem Fortunatus von dem kriminellen Wirt in Konstantinopel beinahe um sein Glückssäckel gebracht worden ist, begibt er
sich in die Marienkapelle der Hagia Sophia, beschenkt die Priester, lässt eine Predigt zu Ehren
Gottes halten und ein Te Deum singen (vgl. FA 60). Der Vater des armen Mädchens, das er
aussteuert, lobt Gott dafür, dass er ihm den Mann – Fortunatus – vom Himmel gesandt habe
(vgl. FA 64). Mit oder ohne Wissen über die Existenz einer Fortuna, wird für das Glück von
den Nicht-Theologen in der Welt des Prosaromans Gott verantwortlich gemacht.
Der Reichtum korrumpiert Fortunatus nicht,1196 obgleich in der Wahl des Wünschenden nach
überkommenem Verständnis die Laster, Habsucht und Geist, als Movens anklingen. 1197 Er
führt kein ausschweifendes Leben. Wollust und Völlerei, die topischen Laster der Reichen,
leistet er sich nicht. Für Geiz besteht in seiner finanziellen Lage keine Veranlassung. Ein Leben in Luxus bedeutet ihm wenig. Erst nach 15 Jahren baut er sich in Zypern einen Palast, den
er sogar für eine weitere Reise verlässt. Nur eine1198 signifikante ‚Sünde‘ begeht Fortunatus.
Er entwendet spontan dem Sultan von Babylon das Wunschhütlein, als sich ihm die Gelegenheit dazu bietet. Diese hat ihm sein Reichtum geschaffen. Der Herrscher zeigt ihm seine
Schätze, um ihm seine finanzielle Überlegenheit zu demonstrieren. Dürftig muss man die Begründung des Diebstahls von Fortunatus nennen, mit dem er es vor sich selbst rechtfertigt: „O
koͤnnte mir doch dieser Hut werden! er schickte sich wohl zu meinem Seckel“ (FA 99).
Schließlich ist dieses nicht in Gefahr: der Sultan weiß nichts von seiner Existenz. Von ethi1193
Vgl. Kästner 1999, 42.
Vgl. Müller 1995, 216-238, hier 225.
1195
Vgl. Kästner 1999, 43.
1196
Seine Neugier ist zwar nach mittelalterlichen Vorstellungen, die auf Augustinus basieren, sündhaft (vgl.
Schmidt 2011, 17), doch nach der Aufklärung ist wissenschaftliche Neugier zumindest positiv besetzt, wie man
Schlemihls Ergebenheit in die Vorsehung in der Rolle eines Naturforschers sehen kann (s.o.).
1197
Vgl. Kästner 1999, 42.
1198
Fortunatus führt keinen bewussten Wirtschaftskrieg gegen die christlichen Händler in Alexandria. Vgl. die
Interpretation des Konkurrenzverhältnisses aus Sicht der Betroffenen bei Raitz 1984, 43.
1194
323
scher Spitzfindigkeit zeugt Ki-Hyang Lees Vorwurf, dass Fortunatus keine Schuldgefühle
nach dem Todschlag des räuberischen Wirts in Konstantinopel zeigt, da er mit seinem Glücksäckel dessen Habgier ungewollt geweckt und damit indirekt zu seinem Verderben beigetragen zu haben.1199
Die einzige moralisch verwerfliche Handlung, zu der das Glückssäckel direkt verführt, ist aus
den späten Druckfassungen des Prosaromans getilgt. Andolosia zahlt einem befreundeten Ritter am französischen Hof eine große Summe Geld für eine Liebesnacht mit dessen Frau, um
die er sogar noch geprellt wird.1200 Hochmut (vgl. FA 156) und Eitelkeit werden natürlich
auch durch seinen Reichtum gefördert. Betrachtet man die übrigen Gaben der Glücksgöttin,
die Fortunatus hätte wählen können, Weisheit, Stärke, Gesundheit und langes Leben, ist folgendes zu konstatieren: Sie verderben nicht zwangsläufig den Charakter eines Menschen.
Egal für welche Gabe er sich entscheidet, kommt es darauf an, ob und wie er sie nutzt. Darüber hinaus ist Leben mit und ohne Säckel gefährlich. Die Glücksgöttin ist weder gut, noch
böse, sondern neutral.
Vor diesem Hintergrund legt die Vorrede1201 die didaktische Stoßrichtung des Prosaromans
offen: „jedem zur Lehr dienet [die Geschichte], daß Vernunft und Weisheit vor allen Schaͤtzen
der Welt zu erlangen, alle Menschen begierig seyn sollen“ (FA 2). Drei Notsituationen1202
lassen Fortunatus diese Erkenntnis immer eindrücklicher selbst formulieren: „Wer das Guth
verleurt, verleurt die Vernunft; Weisheit wäre zu erwählen für Reichthum, Stärke, Gesundheit, Schöne, langes Leben, das kann man keinem stehlen und hiermit schwi[e]g er still“ (FA
60). Fortunatus spontane Wahl ist unvorteilhaft, insofern ‚falsch‘ gewesen, aber religiös nicht
unbedingt verwerflich. Auch Menschen ohne den Schutz der Weisheit sollten das Seelenheil
erlangen; ob Reichtum verdirbt, hängt von seinem Nutznießer ab. Es wird dementsprechend
gezeigt, dass Fortunatus trotz seiner falschen Wahl nach traditionellem Verständnis ganz gut
zurechtkommt.1203 Er hat genauso viel Glück und Unglück nach dem Erhalt des Säckels, wie
zuvor.1204
1199
Vgl. Lee 2002, 51.
Vgl. Anonymus, Fortunatus, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken. Hg. v. Jan-Dirk
Müller, 383-588, hier 510ff.
1201
Ein Epilog mit entsprechender Aussage existiert nur in der Prosaromanfassung 1509. Vgl. ders., 578f.
1202
Es handelt sich dabei um die Verhaftung als vermeintlicher Raubmörder in der Waldgrafenepisode (vgl. FA
46), die Verirrung in den Höhlengängen von Patricius Fegefeuer (vgl. FA 54) und der Totschlag des diebischen
Wirts in Konstantinopel durch seinen Bediensteten Lupoldus (vgl. FA 60).
1203
Vgl. Haug, Walther: Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik, in:
Ludger Grenzmann / Hubert Herkommer / Dieter Wuttke (Hgg.): Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur
Literatur und Geschichte des Mittelalters (Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag), Göttingen 1987,
21-37, hier 23.
1204
Vgl. Lee 2002, 59.
1200
324
Unabhängig davon, wie stark man Andolosias Schicksal vor dem Hintergrund von Fortunatus
Leben als Negativ-Exempel liest,1205 ist sein Lebenswandel – bei Chamisso etwas abgemildert
– nicht gerade angetan, eine positive Wirkung des Reichtums auf seinen Charakter zu behaupten. Ganze Lasterkataloge, v.a. Hochmut, Leichtsinn und Genusssucht enthaltend, hat die
Germanistik schon für ihn aufgestellt.1206 Das ist keine Kunst, denn schon die Teilnahme an
Turnieren stand im 16. Jahrhundert unter dem Verdikt der Kirche.1207 Der Text bietet dagegen
nur einen Zusammenhang zwischen Andolosias Übermut und seinem Untergang als Deutungsmöglichkeit an, doch ist diese geradezu disqualifiziert, da sie von seinem Mörder ausgesprochen wird (vgl. FA 156).1208 Im Gegensatz zu Fortunatus hat Andolosia während seiner
Reisen und Fluchten Glück: nie begegnet ihm willkürliche Gewalt und tödliche Gefahr – erst
nach seiner Rückkehr in die Heimat hat er zufälligerweise absolutes Pech.1209 Seine vorherigen Unglücksfälle sind stets von begrenzter Dauer. Auch sein Schicksal bestätigt, dass Fortuna nicht wegen einer ungleichmäßigen Verteilung von Glück und Unglück ein boshaftes Wesen besitzt.
In Chamissos Dramenfragment übernimmt für Andolosia Agrippina die Funktion der Fortuna.
Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts kommt es zu einer einmaligen, massiven Illusionsdurchbrechung: der Blick wird auf das Dispositiv des fiktiven Theaters gerichtet, auf dem sich
das Geschehen abspielen soll. Der Darsteller des Andolosia geht so weit in seiner Rolle auf,
dass er vor Schreck ohnmächtig von einem Baum fällt. Jäh bricht seine Tirade gegen Agrippina ab, als er das Entschwinden der Entführten samt Wunschhütlein und Glückssäckel realisiert. Der Souffleur setzt notgedrungen Andolosias Part bis zum Szenenende fort:
Es freut die ... Es freut die Jungfrau ... Es freut die Jungfrau ...
Da doch Andolosia nichts hört, so stecket er den Kopf aus dem Kasten, kehrt sich gegen die Zuschauer
und sagt selbst:
Es freut die Jungfrau schnell ihr Rad zu wenden,
Im unerwartet jähen Übergange
Verherrlicht Fortuna ihre Launen. (FC14, 640)
Auf der illusionsstörenden1210 Metaebene formuliert der implizite Autor eine Sentenz, die
Andolosia aus der Beschränktheit seiner Figurenperspektive nicht formulieren könnte. Sein
Hadern mit dem Schicksal verwandelt sich im Mund des Souffleurs in einen sarkastischen
Kommentar. Aufstieg und Fall, die von der Allegorie des Glücksrades als Menschheitserfah1205
Gegen derartige Lesarten zieht Detlev Roth ins Feld. Vgl. Roth 2007, 201-230, hier 212.
Vgl. Kästner 1999, 118 und Lee 2002, 74.
1207
Vgl. Kästner 1999, 129.
1208
Vgl. Mühlherr 1993, 107.
1209
Vgl. Steinmetz 2004, 210-225, hier 216f.
1210
Vgl. Walzel, Oskar F.: Fortunati Glückseckel und Wunschhütlein ein Spiel von Adelbert von Chamisso
(1806) aus der Handschrift zum erstenmal herausgegeben von E. F. Koßmann. (Deutsche Literaturdenkmale
herausgegeben von August Sauer. Nr. 54/5 Neue Folge Nr. 4/5.) Stuttgart, B. J. Gröschen. 1895. 1.20 M., in:
Euphorion 4 (1897), 132-145, hier 139.
1206
325
rung repräsentiert werden, sind in szenischer Hinsicht gerade ‚ungewollt‘ visualisiert worden,
was einer gewissen Komik nicht entbehrt. Die Bewusstlosigkeit des Andolosia-Darstellers
steht in einem engen Zusammenhang mit dem Sturz aus einem Apfelbaum, den er gemäß seiner Rolle zum Pflücken von Früchten bestiegen hat. Andolosia erkennt, dass er mit seinem
menschlichen Streben nicht gegen die göttliche Vorsehung ankommen kann, die über Fortuna
und Agrippina auf ihn einwirkt. Letztere ist die ‚Marionette‘ einer übergeordneten ‚Marionette‘, obgleich sie in ihren Allmacht-Phantasien mit ihrer Schönheit, Gefahren und ein verhängnisvolles Schicksal für ihre Verehrer in der Ritterschaft spinnen will. In zwei liedhaften Monologen bekennt sie sich zu dem Katz- und Mausspiel (vgl. FC8, 626f.), bei dem sie die Männer wie eine Spinne mit der Minne Fäden zu umgarnen sucht (vgl. FC5, 620). Das Turnier um
ihre Gunst, das Andolosia scheinbar gewinnt, dient ihrer Eitelkeit. Da Agrippina nur daran
Gefallen findet, Unheil zu stiften, repräsentiert sie nur die negative Seite der Glücksgöttin. 1211
Sie nimmt Andolosia den Glückssäckel weg, den Fortuna in ihrer Güte Fortunatus geschenkt
hat. Der „gemischte Charakter“ Fortunas im Prosaroman erfährt eine Umwertung in Chamissos Dramenfragment: die positiven Züge der nie in Erscheinung tretenden Figur werden marginalisiert zum schönen Schein. Ihr Glückssäckel bringt Andolosia und gewissermaßen auch
Ampedo den Tod, der aus Gram um den Bruder stirbt.
Ampedo hat weder eine schicksalshafte Begegnung mit der Glücksgöttin, noch mit einer Frau.
Er zerstört das Wunschhütlein stellvertretend für Glückssäckel, da er den Besitz von Zaubergegenständen für gefährlich erachtet. Eine religiöse Motivation besteht hierfür nicht.
Fortunatus bereut zwar zuweilen, Reichtum statt Weisheit gewählt zu haben, aber der Glücksgöttin selbst hat er nichts vorzuwerfen. Aus Dankbarkeit feiert alle vier Jahre seine Begegnung mit der Glücksgöttin.1212 An eine Trennung vom Säckel denkt er nicht. Er hält ihn für
ungefährlich, da er ihn seinen Söhnen vermacht.1213
Schlemihl wirft den Glückssäckel in die Schlucht. Er macht ihn für sein Unglück verantwortlich, kein normales Leben mehr führen zu können. Diese symbolische Handlung soll zudem
einen Bruch mit dem grauen Mann herbeiführen, der sich als Teufel entpuppt hat. Ein weiterer Umgang mit ihm erscheint gefährlich. Die erste Begegnung mit ihm lässt sich auf diese
Weise allerdings nicht mehr rückgängig machen. Fortuna, Agrippina und der graue Mann
1211
Darum trägt die Schlaftrunkmischerin wohl schon im Prosaroman den negativ besetzten Namen der giftmordenden Mutter des römischen Kaisers Nero.
1212
Verständlicherweise wird diese Wiederholungshandlung nicht 15-mal binnen 60 Jahren erzählt. Außerdem
hängt von der Ausstattung eines armen Mädchens mit Mitgift nicht die Funktionstüchtigkeit des Säckels ab (vgl.
FA 41). Vgl. auch die Zeittafel bei Wiemann 1970, 163.
1213
Diese Tatsache relativiert sehr stark die Bedeutung der Wahlklagen, die die nach Klaus Haberkamm angeblich negativen Seiten des Glückssäckels zeigen. Vgl. Haberkamm 2010, 235-265, hier 249.
326
sorgen jeweils für eine schicksalhafte Wende in dem Leben der Protagonisten, denen sie begegnen. Betrachtet man sie in der Reihenfolge ihrer Entstehung, ist eine Dämonisierung der
Fortuna-Figur im Werk Chamissos festzustellen. Auf sie überträgt sich eine zunehmend negative Wertung selbstbestimmten Handelns, das nur möglich ist, wenn das Individuum die göttliche Vorsehung negiert. Greift es in die Weltläufe ein, schafft es sich häufig sein Unglück
selbst. Seine Vernunft beschützt es nur unzureichend vor Verführungen mit schädlichen Nebenwirkungen. Die Fortuna-Konfigurationen sind Katalysatoren der Persönlichkeitsentwicklung.
(7) Die Allusionen zum biblischen Sündenfall
Eine ähnliche Funktion besitzt die Schlange in der biblischen Geschichte des Sündenfalls, auf
den in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte genauso dezent angespielt wird, wie in den
Abenteuern der Silvesternacht. Ob sich diese Allusionen stoffgeschichtlich bis in den Prosaroman zurückverfolgen lassen, soll hier geklärt werden. In dem Fortunatus-Handlungsstrang
des Prosaromans hat die germanistische Forschung bislang nur die Referenz auf eine andere
alttestamentarische Szene entdeckt.1214 Der Protagonist folgt nicht dem Beispiel Salomons,
der in einem Traum Weisheit als höchstes Gut wählt und dafür von Gott mit derselben belohnt wird. Im Epilog des ältesten Fortunatus-Drucks wird dieser intertextuelle Bezug markiert. Da Chamisso auf diese Textfassung keinen Zugriff besessen hat, muss es offen bleiben,
ob der Autor in Fortunatus einen Anti-Salomon gesehen hat? Eine besondere Auseinandersetzung mit dem alttestamentarischen Buch Prediger Salomo lässt sich jedenfalls nachweisen.1215 Vom Standpunkt des typologischen Denkens des Mittelalters zeigt Salomons Wahl
den richtigen Umgang mit der Willensfreiheit – im Gegensatz zum ersten Menschenpaar. Fortunatus trifft die falsche Entscheidung, folglich hat er mehr mit Adam und Eva als mit Salomon gemein. Er verstößt unbewusst gegen die göttliche Vorsehung, da er mehr besitzen will,
als ihm zusteht.
Andolosia soll wohl erst zu der Einsicht kommen, wenn er im Verlies der Raubritter sitzt und
es tragischer Weise für einen Neuanfang zu spät ist. Der gut gemeinte Rat des Eremiten in der
paradiesischen Oase (vgl. FC15, 646), die auch als „Garten“ (FC15, 647) bezeichnet wird,
prallt jedenfalls an ihm ab:
1214
Vgl. Kartschoke, Dieter: Weisheit oder Reichtum? Zum Volksbuch von Fortunatus und seinen Söhnen, in:
Dieter Richter: Literatur im Feudalismus (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 5), Stuttgart 1975,
213-259, hier 218 und 227; Kästner, Hannes: Fortunatus und Faust. Glücksstreben und Erkenntnisdrang in der
Erzählprosa vor und nach der Reformation, in: LiLi 89 (Anfänge des Romans) (1993), 87-120, hier 92; Kästner
1999, 24 und 177ff.; Huschenbett, Dietrich: Fortunatus und Salomo, in: ZfdA 133 (2004), 226-233 und Roth
2007, 201-230, hier 214.
1215
Vgl. Schwann 1984, 259. Dort werden auch die entsprechenden Belegstellen in den Fußnoten zitiert.
327
Dein Sinn und Herz von eitel irdschem Gleißen; / […] in des Himmels Wonnen / Zu kehren, und den
ewgen Durst zu stillen; / Da wäre Freiheit dir und Heil gewonnen, / Mitwollend ruhig klar des Schöpfers Willen; / Auf Felsen fest gegründet deine Weg, / In Herzens Frieden wahrend die Belohnung / […]
/ Oh Mensch der Leidenschaften Schmachbedrängnis! / Dies Schicksal spinnst du selber dir gewaltsam[.] (FC15, 647f.)
Dabei dürfte sich der Eremit im Klaren sein, dass die praktische Umsetzung des Programms
nur ansatzweise zu erfüllen ist, da Gottes Wille unerforschlich ist. Man kann ihn nur für Vieles verantwortlich machen, z.B. die Erschaffung der Apfelbäume mit ‚lasterhaften‘ und ‚tugendsamen Obst‘ in der wüstenhaften Einöde (vgl. FC15, 646). Nachdem Andolosias Agrippina dorthin willentlich verschleppt hat,1216 verführt die ahnungslose Prinzessin ihren Entführer dazu, einen Apfel von dem ‚lasterhaften‘ Baum zu pflücken. Als er nach ihrer urplötzlichen Flucht mit dem Wunschhütlein allein in der Einöde zurückbleibt, verzehrt er die giftige
Frucht. Da ihn seine ‚Eva‘ schon mit einem Schlaftrunk außer Gefecht gesetzt hat, um das
Glücksäckel zu stehlen, gibt er ihr bequemerweise die Schuld für das unbedachte Zubeißen:
[Die Zeit ist ge]kommen, und die Rache reif, / In Andolosia’s Macht bist du gefallen. / / Du, Schlange,
durftest wohl mit frechem Muthe / […] / Dem Giftbetrunkenen […] den Schatz […] entwinden, / Und
reich dich rühmen von geraubtem Gute. // […] // Du bist, […] in meinen Händen, / Zertreten kann ich
nun das Haupt der Schlange [.] (FC14, 640)
Ein drittes Mal erfolgt eine Gleichsetzung Agrippinas mit dem im christlichen Abendland
negativ konnotierten Reptil, als er sie wiederum in seine Gewalt gebracht hat: „Hebe, Schlange dich von hinnen“ (FC16, 649)! Hier treibt er rhetorisch den Teufel aus, womit implizit die
Dämonisierung der Glücksgöttin ihre Bestätigung findet. Agrippina verkörpert als Eva und
Schlange in Andolosias Augen die negative Seite von Fortuna, das Unglück. Eine konsequente Weiterentwicklung des Gedankens erscheint die Vergabe des Glückssäckels durch den Teufel in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte. Ampedo hält es mit dem Probst. Nur der
Versuchung, das Erbe gegen den Willen des Vaters zu teilen, kann er nicht widerstehen, da
sein geliebter Bruder es wünscht.
Deutliche Allusionen zur Sündenfall-Thematik lassen sich erst in Chamissos Dramenfragment
feststellen. Entscheidend für das Wohlergehen der Protagonisten in allen behandelten Werken
sind ihre Vorstellungen vom Glück. Ihrer Wahl zwischen Reichtum und immateriellen Werten wird eine große Bedeutung für die Biographie beigemessen. Schlemihls Geschäft mit dem
grauen Mann stellt sich vor dem Hintergrund von Fortunatus Geschichte auch als eine Entscheidung zwischen Glückssäckel und Weisheit dar. Es wäre unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen weise, den Schatten zu behalten. So ist er dauernd auf der
Flucht oder beim Verstecken seiner Andersartigkeit. Falsche Entscheidungen mit denselben
Konsequenzen bestimmen bekanntlich die Abenteuer der Silvesternacht. Die Wahl der Ge-
1216
„Wie Notwändigkeit [sic!] so eisern / Fällt des Mannes-Willen Machtspruch.“ (FC 16, 653)
328
liebten, dem Verlust der bürgerlichen Kleidung bzw. des Spiegelbildes, folgen sowohl Flucht
als auch Regression.
(8) Die Verschärfung des Außenseiter-Daseins
Welche Auswirkungen haben nun konkret der Gewinn bzw. der Verlust des Glückssäckels
auf die Protagonisten des Prosaromans in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten? Dass
die Außenseiter immer wieder in Angst und Not geraten, hat Sabine Sachse schon sehr früh
festgestellt.1217 Die ausführlichste Studie, die das Verhältnis von Angst und Ratio im Fortunatus-Prosaroman auslotet, legte Gerok-Reiter vor.1218 In ihr kommt sie zum Ergebnis, dass
die Vernunft Fluchtbewegungen in Reisebewegungen umzuwandeln vermag, wenn die Gefahrensituationen rasch analysiert werden, so dass noch Zeit zum Handeln bleibt.1219
Mit dem Glückssäckel verändert sich die soziale Isolation von Fortunatus nicht.1220 Der
Reichtum wirkt sich negativ auf seine Handlungsfreiheit und Sicherheit aus. Reichtum weckt
Begehrlichkeiten und den Neid vieler Menschen. Zu einer ernsten Bedrohung wird der unerschöpfliche Geldbeutel erst, wenn seine Existenz bekannt wird. Fortunatus kann ihn deshalb
in der Öffentlichkeit weder direkt anwenden, noch über ihn kommunizieren. Als Geheimnis
steht das Glückssäckel zwischen ihm und allen Vertrauten. Er besitzt die notwendige Selbstdisziplin zur Kontrolle seines Verhaltens, hat aber noch zu lernen, wie er mit ihr gehen muss.
Durch bedachtes Auftreten und Maßhalten sollten keine Zweifel an dem legalen Erwerb der
Besitztümer und der Begrenztheit des Vermögens aufkommen. In der Gestalt eines Landstreichers kann man schlecht sechs Pferde zu einem Höchstpreis kaufen, ohne sich des Straßenraubs verdächtig zu machen (vgl. FA 42ff.).
Nachdem Fortunatus sich geschickt aus der Affäre gezogen hat, hütet er sich davor, mit der
Obrigkeit in Konflikt zu geraten (vgl. FA 47). Offenbar entledigt er sich bei der nächsten Gelegenheit taktisch geschickt seiner verdächtigen Garderobe, kleidet sich aufs Beste, nimmt
einen Knecht und kauft nur zwei Pferde (vgl. ebd.). Er reist in die bretonische Andegavis und
stößt zufällig auf den weitgereisten alten Edelmann Leopoldus, der über seine Armut klagt
(vgl. FA 48). Ihn nimmt er als Dolmetscher und Berater für seine Reisen mit, nachdem er gelobt hat, „einander in keiner Noth zu verlassen“ (FA 50) – wahrscheinlich damit es ihm nicht
wie mit den zypriotischen Landsleuten ergeht. Als er von seinen Fähigkeiten überzeugt ist
1217
Sie übersetzt die Begriffe Angst und Not etwas unglücklich mit Angst und Furcht. Vgl. Sachse, Sabine:
Motive und Gestaltung des Volksbuches von Fortunatus, Würzburg 1955 (Maschinenschriftliches Manuskript),
251.
1218
Vgl. Gerok-Reiter, Annette: Die Rationalität der Angst: Neuansätze im ‚Fortunatus’, in: Wolfram-Studien 20
(2008), 273-297.
1219
Vgl. dieselbe, 286ff. und Mühlherr 1993, 70 und 88.
1220
Vgl. Kellner 2005, 309-333, hier 324.
329
und sie ein Stück weit gereist sind, stellt er dessen Treue auf die Probe. Der Begleiter folgt
ihm freiwillig in das sogenannte Fegefeuer des hl. Patrick von Irland, einem Höhlensystem,
das für seine Gefahren berüchtigt ist (vgl. 52ff.).1221 Dennoch wird er nicht zu einem wahren
Freund,1222 dem er später in Lebensgefahr seinen Glückssäckel anzuvertrauen wagt (vgl. FA
66f.). Als er zu den Krönungsfeierlichkeiten des Kaisers von Konstantinopel reist, steigt er in
einer Art Spelunke ab; nur unter den Reichen Venedigs wagt er auf größerem Fuß zu leben
(vgl. FA 70). Ihr Wirt dringt in das Zimmer von Fortunatus und Leopoldus ein, um Geld zu
stehlen, lässt aber den scheinbar wertlosen Glückssäckel zurück. Da Fortunatus genau zu diesem Zeitpunkt der Glücksgöttin seine Dankbarkeit erweisen muss, indem er ein armes Mädchen mit einer Mitgift und Aussteuer ausstattet, ist er gezwungen, sich unvorsichtig zu verhalten. Leopoldus wundert sich lediglich über die ungebrochene Freigiebigkeit seines Herrn nach
dem Diebstahl (vgl. FA 64). Eine Neugier wird bei ihm erstaunlicherweise genauso wenig
geweckt, wie bei den Zyprioten, als sich Fortunatus dort ansiedelt: „Jedermann wunderte sich,
woher ihm so grosser Reichthum zugefallen waͤre, weil jedermann bekan[n]t, daß er in grosser
Armuth von dannen weg gekommen war“ (FA 71). Niemand argwöhnt den unermesslichen
Reichtum, der kein Produkt erfolgreicher Handelstätigkeit ist. Man sieht, er verschafft sich
den Nimbus eines durch Reisen reich gewordenen Kaufmanns, hält sich aber im Rahmen des
Gewohnten.1223 Die Abwesenheit von 15 Jahren lässt den Aufbau eines Vermögens plausibel
erscheinen; die Kommunikation mit dem europäischen Ausland ist wohl nicht so intensiv,
dass Zweifel an seiner Herkunft entstehen. Nach seiner prunkvollen Heirat nimmt Cassandra,
seine Frau, den vorhandenen Reichtum fraglos hin. Fortunatus braucht ihr nie sein völliges
Vertrauen zu schenken und das Geheimnis des Glückssäckels mitzuteilen. Er beweist generell
ein diplomatisches Geschick: Er strebt keinen höheren gesellschaftlichen Status oder Macht
an, sondern einen festen Platz in der Gesellschaft,1224 wohingegen sein Sohn Andolosia stets
mit dem Adel konkurriert. Er sucht nicht den englischen König mit seiner Finanzkraft zu
übertrumpfen (vgl. FA 109), sondern führt nolens volens einen Wirtschaftskrieg gegen die
christlichen Handelspartner des ägyptischen Sultans. Er spielt nur die Rolle eines erfahrenen
1221
Die hier vorgeschlagene, nicht am Text belegbare, Motivation des Fegefeuer-Besuchs schließt nicht andere
aus: nach Hannes Kästner will sich Fortunatus nicht des Vorwurfs eines fehlenden Mutes oder Erkenntnisstrebens ausgesetzt sehen. Vgl. Kästner 1999, 57.
1222
Vgl. Bachorsky 1983, 166 und 135f., auch Wiemann 1970, 106ff. und Lee, Ki-Hyang: Armut als neue Qualität des Helden im Fortunatus und im Goldfaden (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 23), Würzburg
2002, 42.
1223
Vgl. Raitz 1984, 36.
1224
Vgl. Bachorsky 1983, 140.
330
Händlers um die nötigen Schutzbriefe1225 für seine Orientreise zu bekommen. Den Neid der
abendländischen Kaufleute kann er sich im wahrsten Sinne des Wortes erlauben (vgl. FA 92).
Der leichtsinnige Andolosia kennt keine Furcht: völlig auf sich allein gestellt, bringt er die
listige und ‚gefährliche‘ Agrippina in seine Gewalt, um in einer Oase seinen gesamten Besitz
zu verlieren: den Glückssäckel und das Wunschhütlein. Daraufhin befindet er sich ohne Auskommen in der Wildnis. In seiner Not versorgt er sich mit den Früchten eines wilden Apfelbaums. Als Andolosia die Zauberäpfel isst, wachsen ihm Hörner. Da dies in einer einsamen
Oase mitten in der Wüste geschieht, bemerkt er die plötzliche Metamorphose seines Äußeren
allein am veränderten Schattenwurf, dem „Plageschatten“ (FC15, 642). Nicht nur zu wenig,
auch zu viel Schatten, ist ein Problem! Vergeblich versucht er die daraufhin ertasteten Hörner
zu entfernen und sich gesellschaftsfähig zu machen: „Mir selbst zum Abscheu [ge]worden,
nun ein scheues Tier, / Zu denen ich mich sehnte, Menschen muß ich fliehn“ (FC15, 642).
Vor der Stigmatisierungserfahrung bewahrt ihn lediglich die Begegnung mit einem Eremiten,
der in der Einöde das Gegenmittel selbst gefunden hat: die Äpfel vom Nachbarbaum. Würden
Hörner nicht massiv das Zusammenleben mit anderen Menschen behindern, könnte Andolosia
niemals den Plan fassen, mit den „Hörner-Äpfeln“ einen Anschlag auf Agrippinas Schönheit
und Eitelkeit zu verüben. Kein Ritter würde sich mehr für die Prinzessin interessieren. Der
Prosaroman überlässt es weitgehend dem Leser, sich die Katastrophe ausmalen, während in
Chamissos Dramenfragment Andolosia in einem Monolog sich die Konsequenzen der physiognomischen Veränderung bewusst macht. Hier entsteht eine gedankliche Verknüpfung, die
in konzeptioneller Hinsicht für Peter Schlemihls wundersamer Geschichte von erheblicher
Bedeutung ist. ‚Zu viel‘ Schatten (durch Hörner) bewirkt unermesslichen Reichtum: „Und
was des Seckels ist, den kann ich missen. Mit diesem Hauptschmuck angetan, da hat / Es keine Not – Ein Goldquell werd ich selbst mir. / Ich ziehe wo nur Menschen sind umher / Und
lasse mich für Geld beschaun – wohlan“ (FC15, 643)! Schlemihl hat schließlich ‚zu wenig‘
Schatten und bekommt dafür den Glückssäckel als Goldquelle. Er würde sicherlich Ampedo
in seiner Lebenseinstellung beipflichten: „Nur in der Ruhe Schatten blüht [d]er [Genuß] mir“
(FC1, 604).1226 – Andolosia bleibt nach der Hörner-Episode sein bisheriger Außenseiterstatus
erhalten. Auch in Zypern erweckt er gemäß dem Prosaroman in Turnieren den Neid anderer
Ritter; da man sich an den immensen Reichtum seiner Familie inzwischen gewöhnt hat,
kommt es zu keinem Eklat mit dem Königshaus. Zwei Grafen überfallen ihn und töten ihn
nach Folter im Kerker.
1225
Bezeichnet als „Recommendations-Schreiben“ (FA, 94) und Beförderungs-Briefe (vgl. FA, 96).
Nebenbei bemerkt, haben die Hörner als physiognomisches Zeichen – genauso wie Schlemihls Schatten –
keine eindeutige Aussagekraft hinsichtlich des Charakters ihrer temporären Träger. Vgl. Mühlherr 1993, 106.
1226
331
Sein Bruder Ampedo, der dieses Geschehen nur ahnt, wird „so betrübt, daß er in eine tödtliche Krankheit“ fällt und stirbt (FA 153). Ohne Andolosia ist er völlig isoliert. Seine Angst
verdammt ihn zur völligen Bewegungslosigkeit und verhindert so jegliche Form der Selbstbehauptung.1227 Dementsprechend zerstört er den Wunschhut als Inbegriff der Mobilität.1228
Nicht der Reichtum, Armut oder ein Todesfall, sondern die Schattenlosigkeit und das Verstecken derselben verschärfen die Außenseiterposition von Schlemihl. Im Gegensatz zu Fortunatus verhält sich der ‚Neureiche‘ bis zuletzt äußerst unvorsichtig. Er verrät zwar keinem
Menschen das Geheimnis seines Glückssäckels (wie Andolosia), doch er gibt maßlos viel
Geld aus. Offenbar hält niemand in einer aufgeklärten Welt unermesslichen Reichtum für
unmöglich. Seinen Sieg in einem ‚Verschwendungs-Duell‘ mit einem vermögenden Kurgast
nimmt man hin (vgl. PS 43); denn dieser Handelsmann kann kaum als der reichste Mann der
Welt gelten. Obwohl Schlemihls gewitzter Diener Rascal bald die Schattenlosigkeit seines
Herrn entdeckt hat, spioniert er dessen Glückssäckel nicht aus. Selbst Bendel, der von Schlemihl in das Geheimnis der Schattenlosigkeit eingeweiht worden ist, argwöhnt keinen Zusammenhang mit dem Reichtum, erst recht nicht seine Dimension: „Dieser war gewohnt [sic!]
worden, meinen Reichtum als unerschöpflich zu denken, und er spähete nicht nach dessen
Quellen“ (PS 42). Er stellt genauso wenig Fragen wie Leopoldus, der treue Begleiter von Fortunatus.1229 Eine Distanz bleibt zwischen beiden bestehen, ebenso zu Mina. Es verspricht seiner Geliebten nicht, nach der geplanten Hochzeit sein „Geheimnis“ gänzlich zu lüften (PS
46). Das phantastische Motiv des verkauften Schattens verdrängt, substituiert aber nicht völlig
rationale Erklärungen für das ausgegrenzt Sein des Glückssäckelbesitzers. Diese müssen sich
in den unterschiedlichsten Situationen bewähren, weshalb sie sich immer wieder gezwungen
sehen, gleich Schauspielern in verschiedene Rollen und Kostüme schlüpfen.
(9) Das Rollenverhalten und -bewusstsein der Protagonisten
Fortunatus stapelt, wie gerade dargestellt, als Besitzer des Glückssäckels tief, um sich und
seinen Reichtum zu schützen. Nachdem er sich das notwendige Äußere und Weltwissen verschafft hat, spielt (!) er einen Mann mit begrenztem Vermögen. Seine Söhne Andolosia und
Ampedo brauchen die Herkunft des Geldes nicht erklären. Man weiß, dass sie geerbt haben.
Man hat sich mit der Zeit an den Lebensstil der Familie gewöhnt.
Andolosia verdrängt die Notwendigkeit zur Vorsicht. Er will im Gegensatz zu Fortunatus das
Leben uneingeschränkt genießen. In der Rolle eines edlen Ritters gefällt er sich am besten.
Nur in der Gemeinschaft von Adeligen glaubt er, von edlem Stamm zu sein (vgl. FA 108).
1227
Vgl. Gerok-Reiter 2008, 273-297, hier 289.
Vgl. dieselbe, 286f.
1229
Bendel ist ein ebenso treuer Helfer wie Leopold. Vgl. Wambach 1994, 173-184, hier 179.
1228
332
Um sich in Turnieren als Kämpfer Ehre zu erlangen, verlässt er die Insel. Die bedeutenderen,
europäischen Königshäuser sollen Bühne seiner Selbstdarstellung werden. Da er nicht in das
Hofleben hineingewachsen ist, vermag er das Redeverhalten und symbolische Handeln der
Standespersonen nur unvollkommen zu imitieren. Sein Geld hilft ihm wenig, für voll genommen zu werden, Intrigen und Ränke zu durchschauen. Allein seine Ausdauer bei den erfolglosen Bemühungen um Anerkennung versetzen den englischen König ins Staunen: „Schon seit
dem vorgen Winter / Treibt er das tolle Spiel, und lebt in Saus und Braus, / Ihn fichtet es nicht
an, ihm geht das Geld nicht aus“ (FC6, 623). Der Monarch fühlt sich herausgefordert und
erweist Andolosia die zweifelhafte Ehre, sich zum Essen einladen zu lassen. Obwohl er den
Verkauf von allem Brennholz in England bei Todesstrafe verbietet, bewältigt der Gastgeber
die Situation: rechtzeitig stehen erlesenen Speisen auf der Tafel. Danach rechnet Andolosia
mit keinen weiteren Fallen mehr. Er glaubt Agrippinas vorgespielter Liebe genauso wie die
Wertschätzung durch die anderen Ritter. Die Scheinwelt des Hofes beginnt er erst zu durchschauen, als er seinen Glückssäckel verloren hat. Fortan sieht er in der bewussten Selbstinszenierung ein Mittel, alle Probleme, die sich ihm in den Weg stellen zu lösen. Als reumütiger
Sünder kehrt er zu seinem Bruder zurück. Er beugt sich scheinbar seinem Willen, bis ans Lebensende auf Zypern zu bleiben und fliegt bei der ersten Gelegenheit, einer Jagd, mit dem
Wunschhütlein nach Venedig (vgl. FC12, 635ff.). Bei den dortigen Juwelieren gibt er sich als
Kunde aus (vgl. FC13, 637f.) und fliegt mit dem Schmuck davon, den er zur Begutachtung
ausgehändigt bekommt. In London spielt er dann Juwelenhändler, um Zugang in Agrippinas
Gemach zu erhalten. Damit er keinen Verdacht erregt, muss er seine Gestalt vollkommen verändern.1230 Noch ehe er das Glückssäckel tatsächlich sein eigen nennt, verliert er aus Unachtsamkeit auch sein Wunschhütlein. Eine neue Verkleidung muss her, um der englischen Königstochter giftige Äpfel zu verkaufen. Dann legt er ein Doktorkleid, falsches Haar und eine
falsche Nase an (vgl. FC16, 648), um Agrippina bei der notwendigen ‚Behandlung‘ endlich in
seine Gewalt zu bekommen. Obwohl er nun als Sieger aus dem Geschehen hervorgeht, hat er
jedoch vor der Rückgewinnung der Zaubergegenstände eine komische Rolle vor dem impliziten Publikum des Chamisso-Dramenfragments abgegeben. Am Tiefpunkt seiner Geschichte
steht er mittellos in der Einöde, mit einem Hörnerpaar auf dem Kopf, so dass er sich selbst
verlachen muss. Ihm kommt die Idee, sich zu vermarkten, indem er die „lustige Figur“ spielt
(FC15, 643). Das gelingt ihm vortrefflich, weil er sie von Anfang an ist. Nach Kunde, Juwelier, Obsthändler und Arzt ist es ihm schließlich gelungen, die ersehnte Rolle eines Richters
1230
Ein Hinweis darauf findet sich in Chamissos Dramenfragment nicht. In der hier verwendeten Prosaromanredaktion bedient sich Andolosia einer falschen Nase (vgl. FA 120).
333
einzunehmen und Agrippina zu bestrafen. Dagegen bleibt sich sein Bruder Ampedo stets treu
und versucht nie jemand anderes zu sein, als er ist. Er hat auch keine Veranlassung dazu.
Schlemihl schmeichelt es zwar für den inkognito reisenden König von Preußen gehalten worden zu sein, den ihm zugewiesenen Grafentitel nimmt er hauptsächlich aus Bequemlichkeit
an: „Was sollt[e] ich tun? Ich ließ mir den Grafen gefallen, und blieb von Stund an der Graf
Peter“ (PS 41). Die diffusen Vorstellungen von der Lebensweise des Adels in der Provinz
macht er sich zu nutze. Sein sonderbares Verhalten wegen des fehlenden Schattens wird für
die Leute erklärlich, indem er die Rolle eines Grafen ausfüllt. Er sucht sich zu tarnen, während das Ziel von Andolosias aggressiven Eindringen in die Lebenswelt des Adels auf Anerkennung abzielt. Schlemihl macht aus denselben Gründen wie Fortunatus den Leuten etwas
vor.
(10) Die Situation am Ende der Biographien
Wie viel Glück und Zufriedenheit erlangen die Gestalten des Prosaromans bzw. des Dramenfragments von Chamisso? Auf den ersten Blick bleibt Fortunatus nach seiner Ansiedlung in
Zypern das Glück stets hold. Er bereut nicht mehr Reichtum statt Weisheit gewählt zu haben.
Obwohl ihm der Tod seiner Eltern „sehr leid“ ist (FA 71), kommt er sehr schnell darüber
hinweg. Er kann den väterlichen Besitz zurückerwerben, sich einen Palast bauen (vgl. FA 71),
seinen Eltern eine würdige Grabstätte errichten (vgl. FA 72), mit Stiftungen und täglichen
Messebesuchen in das Seelenheil der ganzen Familie investieren, die Protektion des Königs
genießen, eine schöne Frau aus gräflichem Haus heiraten (vgl. FA 74ff.), gesellschaftlich aufsteigen, Landbesitz erwerben (vgl. FA 83), das Wohlwollen der Bürger von Famagusta erlangen (vgl. FA 85),1231 sich in der Brautwahl-Episode von seinem Lehrmeister und Ratgeber
Lupoldus emanzipieren1232 und schließlich zwei männliche Erben zeugen (vgl. FA 87f.). Zum
wunschlosen Glück fehlen aber noch ein paar Töchter (vgl. FA 88). Obwohl „er alle Kurzweil
daselbst hatte, mit Spazieren reiten, huͤbschen Pferden, Federspielen, Jagen, He[t]zen, Beizen“
(FA 89), stellt sich Langeweile ein. Die Orientreise schafft nur vorübergehend Abhilfe. Er hat
nun die ganze Welt durchstreift und „alles erlangt“ (FA 104). Fortunatus beschäftigt sich nach
seiner Rückkehr mit „gute[r] Haushaltung“ der Erziehung seiner Söhne (ebd.). Indem er Ampedo in Ruhe lässt und Andolosias Neigung zu Ritterspielen fördert, trägt er trotz seines
Weltwisssens zur Verfestigung ihrer Verhaltens-Dispositionen bei (vgl. FA 104f.), die ihnen
im weiteren Verlauf des Prosaromans zum Verhängnis werden. Unwissentlich wirkt er an
ihrem Unglück und dem Untergang seiner Familie mit. An Weisheit mangelt es ihm noch
1231
1232
Vgl. Raitz 1984, 40f.
Vgl. Mühlherr 1993, 90.
334
immer. Nach dem Verlust seiner geliebten und früh verstorbenen Frau kommt bei Fortunatus
erst der Vanitas-Gedanke auf dem Sterbebett auf.1233 Jetzt erkennt er den ebenfalls unermesslichen Wert von Gesundheit und langem Leben, die kein Mensch kaufen kann. Beides hat ihm
aber einst zur Auswahl gestanden. Nur in der Sterbeszene ist eine signifikante Kritik an der
Wahl des Reichtums zu erkennen.1234 Ab der Geburt seiner beiden Söhne nimmt die Zufriedenheit des Fortunatus‘ diskontinuierlich ab. Kurz vor seinem Dahinscheiden ist es ihm noch
möglich, seinen Söhnen Glückssäckel und Wunschhütlein mit angebrachten Warnungen und
Ermahnungen zu übergeben, was auch ohne sonderliche Markierung noch als ein Glücksmoment angesehen werden darf. In seiner Todesstunde rechnet er nicht mit ewiger Verdammung
am Jüngsten Tag. Der Erzähler lässt seine Geschichte versöhnlich enden. Eine glückliche Zukunft der Söhne und eigenes Seelenheil sind zu erwarten; der Tod erlöst ihn von Einsamkeit,
Krankheit und Langeweile. Fazit: der Mensch ist selbst im vermeintlich größten Glück unzufrieden mit seiner Lage.
Unmittelbar vor Andolosias Rückkehr nach Zypern endet Chamissos Dramenfragment. Der
Protagonist lässt erstmals Anzeichen von Resignation und damit ein Ende seines Hochmuts
erkennen, die nach den vorangegangenen Szenen und den Prämissen der Vorlage ziemlich
unerwartet in Erscheinung treten:1235 „Gescheh der Wille Gottes, des Allmächtigen“ (FC17,
658). Würde dies seine neue Lebensmaxime, wäre die tragische Fallhöhe bei seiner Ermordung deutlich größer, da ihre konsequente Anwendung ein Höchstmaß an Zufriedenheit implizieren würde. Er verzichtet auf seine maßlose Rache an Agrippina. Er sieht von ihre Tötung ab und entscheidet sich für eine harte Bestrafung, auf die relativ schnell eine umfassende
Begnadigung folgt: er befreit sie von ihren Hörnern und beendet ihren unfreiwilligen Klosteraufenthalt. Er findet sich mit der Tatsache ab, dass sie ihn nie geliebt hat und ihn nie lieben
wird. Der Verzicht auf seine große Liebe manifestiert sich im Arrangement einer standesgemäßen, ehelichen Verbindung der englischen Prinzessin mit dem König von Zypern, unabhängig ob mit der Brautwerbung irgendwelche Ziele verfolgt werden (vgl. FA 144ff.).1236
Obwohl er Glückssäckel und Wunschhütlein für sich und seinen Bruder wieder zurück erlangt
hat, dürfte der Verlust der Geliebten die Freude darüber völlig vergällen. Die Ablenkung, die
1233
Vgl. Kästner 1999, 108.
Vgl. Mühlherr 1993, 91.
1235
Vgl. Anonymus, Fortunatus, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken. Hg. v. Jan-Dirk
Müller, 383-588, hier 575.
1236
Scheinbar absichtslos erzählt Andolosia dem zyprischen König von seinen Reisen und Agrippina, der ihn
sofort darum bittet, die ehrenvolle Aufgabe eines Brautwerbers zu übernehmen. Hat bei seinem Vater noch der
König massiven Einfluss auf die Brautwahl seines Untertanen genommen, so bestimmt nun der Untertan die
Heiratskandidatin für seinen Herrscher. Anderer Meinung ist Ki-Hyang Lee. Für ihn befriedigt Andolosia mit
dem Arrangement der Hochzeit seinen Geltungsdrang. Vgl. Lee 2002, 69f.
1234
335
ihm Brautwerbung und Hochzeitsfeierlichkeiten des Monarchen bescheren, ist nur von kurzer
Dauer. Da ihn Raubritter auf der Heimreise überfallen und gefangen nehmen, muss er die
bevorstehende Langeweile im väterlichen Palast nicht auskosten, vor der Fortunatus in den
Orient geflohen ist.
Während der Kerkerhaft fühlt er sich keineswegs von seinem Bruder verlassen; denn er
kommt nicht auf den Gedanken, so listenreich wie er ist, dass ihn Ampedo retten könnte.
Mancher moderne Leser sieht sich in der berechtigten Hoffnung enttäuscht, dass dieser ihn
mittels des Wunschhutes befreit.1237 Andolosia muss nach seiner Folterung (vgl. FA 154)
„elendiglich sterben“ (FA 156), weil seine Entführer keine Rücksicht auf sein Seelenheil
nehmen (vgl. ebd.). Die Mörder ersparen ihm ein ‚elendes Leben‘, so zynisch es klingen mag.
Besäße er die Zeit über seine Situation nachzudenken, hätte er sich nicht um das Wohlergehen
seines Bruders zu sorgen. Er hat Ampedos Wunschhütlein nicht verraten. Solange dieser lebt,
erwecken die noch vorhandenen Geldreserven kaum die Begehrlichkeit der unermesslich
reich gewordenen Raubritter.
Ampedo hat als Reicher das utopisch erscheinende Glück keine Langeweile zu empfinden,
obwohl er weder einer Arbeit noch der „Kurzweil“ eines Fortunatus’ nachgeht (vgl. FA 89).
Er ist zufrieden mit den Annehmlichkeiten des väterlichen Palastes. Seine Frömmigkeit geht
nicht so weit, dass er eine monastische Lebensform seiner Behaglichkeit vorziehen würde. Zu
seinem vollem Glück gehört einzig und allein Andolosias Anwesenheit: „Doch deiner zu entbehren wird / Ein Schweres mir, ein Ungewohntes sein“ (FC1, 606). Dies sind keine leeren
Worte anlässlich der ersten Trennung von seinem Bruder. Als er einige Jahre später den Tod
des spurlos verschwundenen Andolosia annehmen muss, stirbt er ihm aus Gram hinterher.
Andolosia und Ampedo haben am Ende nichts mehr zu hoffen; Fortunatus kann mit dem Erreichten zufrieden sein. Er hat nach dem Erhalt des Glücksäckels weitgehend nach seinen
Vorstellungen leben können. Um seine Söhne macht er sich auf dem Sterbebett keine Sorgen,
da er sie in den Umgang mit den Zaubergegenständen noch einweisen kann. Den tragischen
Ausgang erlebt er nicht mehr.
Andolosia und Schlemihl glückt es nicht, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Mitmenschen machen ihnen einen ‚Strich durch die Rechnung‘. Sie müssen letztendlich das Verzichten lernen. Nur Schlemihl ist es vergönnt nach der bewussten Trennung
von Mina, dem Glücksäckel und des Schattens allmählich zu einer Selbstgenügsamkeit zu
gelangen, die ein relativ großes Maß an Zufriedenheit garantiert – wie im Falle Ampedos.
1237
Mit dem Wunschhütlein lassen sich Menschen durch die Luft transportieren (s. Agrippina), was Ampedo
nach Rückgewinnung des Glückssäckels wissen sollte. Vgl. Bachorsky 1983, 256 und Roth 2007, 201-230, hier
223.
336
Schlemihl gelingt die unmöglich erscheinende Synthese von Regression und Reiselust dank
eines magischen Hilfsmittels. Im Gegensatz zu Fortunatus weiß er sich seiner unbegrenzten
Mobilität zu bedienen,1238 die ihm seine Siebenmeilenstiefel ermöglichen. Sie sind mehr oder
minder als das funktionelle Äquivalent des Wunschhütleins zu betrachten.
Im Fortunatus werden zwei unterschiedliche Formen des sozialen Handelns einander gegenübergestellt: Triebverzicht und regressive Integration gegen unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und den Versuch freiheitlicher Selbstverwirklichung als Individuum.1239 Diese beiden
Pole, an denen sich das Handeln eines Menschen ausrichten kann, sind als anthropologische
Grundkonstanten stets aktuell. In der Romantik, die sich an dem aufklärerischen Subjektbegriff abarbeitet, sind sie von besonderer Brisanz: Das Selbstbild und die eigenen Idealvorstellungen werden in einem harschen Spannungsverhältnis wahrgenommen. Nicht umsonst findet
zu dieser Zeit das Doppelgängermotiv seinen Eingang in die Literatur. Ampedo und Andolosia sind ein ungleiches Brüderpaar, wie Jean Pauls Zwillinge Walt und Vult in den Flegeljahren (1804) von denen Chamisso ein ‚Fan‘ war.1240 Der eine ist ein relativ sesshafter Träumer,
der andere ein ziemlich lebenserfahrener, vagabundierender Flötenspieler – trotzdem ist man
sich ziemlich gut Freund: Die Gegensätze ziehen sich an. Natürlich ist das im Prosaroman nur
angedeutet, denn Ampedo spielt nur eine untergeordnete Rolle, wie man auch hier an den
entsprechenden Absätzen gesehen hat. Als Reflektorfigur bekommt er aber in Chamissos
Dramenfragment eine bedeutende Rolle zugewiesen. In ihm kann man nicht Andolosias Tun
– ohne Kenntnis der Vorlage – an dem Tun und Lassen des Vaters messen, der oft als einzig
vorbildliche Gestalt in den Interpretationen erscheint.1241 Die Reisen des Andolosias werden
häufig vor dem Hintergrund von Fortunatus‘ Erlebnissen gelesen, was die zahlreichen Korrespondenzen und Parallelen zwischen den Lebensläufen nahelegen:1242
Da, vermutlich unter dem Einfluß der aller Wahrscheinlichkeit sekundären Paratexte, bisher alle Interpreten die Geschichte des Andolosia als Negativexempel lesen, hängt die Gesamtdeutung davon ab, wie
man ihr Verhältnis zur Geschichte des Vaters sieht. Betont man die Kontraste, dann erstrahlt Fortunatus
Geschichte in um so helleren Licht; betont man die Parallelen, dann verdüstert das böse Ende Andolosias auch das nur scheinbar glücklichere Leben Fortunatus, so daß der gesamte Roman als abschreckendes Exempel herhalten muß.“1243
1238
Vgl. Roth 2007, 201-230, hier 223 und 252.
Vgl. Raitz 1984, 60.
1240
Vgl. Adelbert von Chamisso an Adelbert von Neumann, Herbst 1806, Chamisso’s Werke, Bd. 5., 161-163,
hier 162.
1241
Vgl. Wiemann 1970, 112.
1242
Vgl. Steinmetz 2004, 210-225, hier 213f.
1243
Ebd. Ein ähnliches Bild würden wohl die Holzschnitte der Ausgabe von 1509 ergeben, bei denen sogar einzelne Druckstöcke aus dem ersten Teil wohl nicht nur aus ökonomischen Gründen den zweiten Teil illustrieren.
Meines Wissens steht eine systematische Untersuchung der Beziehungen zwischen Text und Bild aus und kann
noch als Forschungsdesiderat formuliert werden. – Möglicherweise haben diese Visualisierungen der Szenen
1239
337
Zu konstatieren ist auf jeden Fall, dass es nur einen sehr schmalen Grat zwischen richtigem
und falschem Verhalten gibt.1244 Andere Interpretationen kommen deshalb zu einer Wertung
wie dieser: „Beide machen Fehler, haben bisweilen Glück und bisweilen Pech, beide verstehen es, aus ihren Fehlern zu lernen und das Glück, wo es sich bietet, beim Schopfe zu packen.“1245
Chamisso selbst scheint Andolosia eher als ein Negativexempel zu lesen, wozu auch die geplante, aber nicht mehr ausgeführte Verdüsterung des Schlusses beigetragen hätte. Jedenfalls
setzt er dem Glückskind Fortunatus1246 – nomen est omen – einen Pechvogel, einen Schlemihl
im Schlamassel entgegen, die unheldische Figur eines Infortunatus.1247 In Peter Schlemihl
werden wieder die Wesenszüge des Fortunatus‘ vereint, die sich auf Ampedo und Andolosia
verteilt haben, wie die Parallellektüre der vier Lebensläufe immer wieder gezeigt hat. Damit
geht einher, dass die Fortuna als ambivalente Glücksgöttin zum Teufel in der Gestalt des
grauen Mannes dämonisiert wird.
Mit der Umdichtung des Fortunatus-Prosaromans durch Chamisso vollzieht sich ein Perspektivwechsel, den die Vorlage nahelegt: Fortunatus verfasst eine Art Tagebuch, auf das der Erzähler offenbar als fiktive Quelle zurückgreift. Schlemihls Aufzeichnungen werden nach dem
peritextuellen Vorspiel ohne Vermittlungsinstanz als Ego-Dokument ‚widergegeben‘. Wie
man gesehen hat und im Folgenden noch sehen wird, setzt implizit Schlemihl seine Erfahrungen in Analogie zu Biographien literarischer Gestalten. Seine Memoiren enthalten zahlreiche
intertextuelle Anspielungen – wie wohl auch der Prosaroman.
Wenn man der Sekundärliteratur glauben darf, war der anonyme Autor des Ur-Fortunatus ein
vielbelesener Mann, der Kenntnisse in mehreren Sprachen und deutschen Mundarten besaß
und souverän sich verschiedener literarischer Gattungen bediente.1248 Bedeutende Episoden
beider Prosaromanhälften sollen aus Lesefrüchten gewonnen worden sein.
(1) John de Mandevilles Reisebuch aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, lieferte offenbar nicht nur die Staffage für die Asienreise des Fortunatus‘.1249 In einer eingebetteten Erzählung stellt Melusines Schwester Melior, ein Elementargeist, einen Johanniter auf die Proauch Prosaromandramatisierungen begünstigt. Vgl. Anonymus, Fortunatus, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken. Hg. v. Jan-Dirk Müller, 383-588, hier 395, 478 und 567.
1244
Vgl. Bachorsky 1983, 265.
1245
Steinmetz, Ralf-Henning: Welterfahrung und Fiktionalität im ‚Fortunatus’, in: ZfdA 133 (2004), 210-225,
hier 215.
1246
Vgl. Müller 1995, 216-238, hier 216.
1247
Vgl. van Cleve, John van: "Infortunatus". Nochmals zur architektonischen Struktur des Fortunatus (1509),
in: Neuphilologische Mitteilungen 99 (1998), 105-112 und Mühlherr 1993, 86.
1248
Vgl. Kästner 1990, 229. Vgl. dazu auch ders., 273f. In dem Sinne auch Spiewok 1997, 61ff. und Sachse
1955.
1249
Vgl. Haberkamm 2010, 235-265, hier 235.
338
be. Als er diese zu ihrer Zufriedenheit bestanden hat, bekommt er einen Wunsch freigestellt.
Er begehrt einen ‚Glückssäckel‘ und bekommt ihn mit einer niederschmetternden Prophezeiung ausgehändigt: dem Untergang seines Ritterordens.1250
(2) Die Andolosia-Agrippina-Fabel ist offenbar in den Gesta Romanorum präfiguriert.1251
Dies hier näher zu untersuchen, würde zu weit führen. Schließlich erschöpft sich mit dem
Fortunatus die Intertextualität in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte nicht. Um den
Prosaroman nicht als Funktionsträger in der sich selbst spiegelnden Poesie überzubewerten,
seien hier vergleichsweise in Kürze noch andere Chamisso-Prätexte abgehandelt: Grimmelshausens Vogelnest-Romane, Tiecks Thomas Däumchen und v.a. diverse Werke von Fouqué.
1250
1251
Mühlherr 1993, 61.
Vgl. Mühlherr 1993, 104. Vgl. Steinmetz 2004, 210-225, hier 218.
339
10.2. Chamissos Peter Schlemihl und Grimmelshausens Vogelnest-Träger
Die kommentierten Ausgaben von Chamissos Werken verzeichnen für Peter Schlemihls wundersame Geschichte intertextuelle Bezüge1252 zu den beiden ‚Vogelnest-Romanen‘ von
Grimmelshausen.1253 Von der literaturwissenschaftlichen Forschung sind diese nie ernsthaft
daraufhin überprüft worden. Selbst Jakob Koeman, der sich mit der GrimmelshausenRezeption in der deutschen Romantik auseinander gesetzt hat, hinterfragt das tradierte Wissen
nicht.1254 In seiner äußerst umfangreichen Dissertation fasst er lediglich pointiert das Auftreten der Tarnkappe, des so genannten Vogelnests, in Chamissos Erzählung zusammen, indem
er die sorgfältig ausgewählten Zitate im Ablauf der Handlung kontextualisiert.1255 Den Grimmelshausen-Experten unter den Lesern bleibt es überlassen, sich mittels der bereitgestellten
Informationen eine eigene Meinung über die Intertextualität der Stellen zu bilden.
Dies Vorgehen wäre weniger problematisch, würde Chamisso seine Anleihen bei Grimmelshausen eindeutig markieren. Es heißt lediglich: „Der Mann mußte das unsichtbare Vogelnest,
welches den, der es hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar macht, erst getragen und jetzt
weggeworfen haben“ (PS 55). Jenseits der bislang nur postulierten literarischen Vorlage findet sich der Ausdruck auch in den Akten der frühneuzeitlichen Hexenprozesse.1256 Da aber
der empirische Autor Chamisso nicht allein auf das verständlichere Synonym „Tarnkappe“
(z.B. PS 52) setzt, darf man von einer bewussten Wortwahl, einer ‚Markierung‘, ausgehen.
Über Nachdrucke sollten ihm und seinen Zeitgenossen noch beide Vogelnest-Romane zugänglich gewesen sein.1257 Intertextuelle Bezüge können mit großer Wahrscheinlichkeit ange1252
Vgl. z.B. Feudel 1982, 691-776, hier 699 und Kühlmann, Wilhelm: Machtspiel und Begehren: Zum epischen
Tagtraum in Grimmelshausens Vogelnest-Romanen, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft
28 (2006), 11-24, hier 11.
1253
Unter Grimmelshausens „Vogelnest-Romanen“ werden hier Das wunderbarliche Vogel-Nest (1672) und Deß
Wünderbarlichen Vogelnests Zweiter theil (1675) verstanden. Vgl. Erscheinungsdaten und die vollständigen,
ausschweifenden Barock-Titel bei: Breuer, Dieter: Kommentar, in: Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel
von: Das wunderbarliche Vogelnest, in: ders.: Grimmelshausens Werke. Hg. v. Dieter Breuer. Bd. I,2. Frankfurt
a. M. (= Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 4.2), Frankfurt am Main 1992, 743-1092, hier 945ff. Zur Einbettung
der beiden Schriften in Grimmelshausens Roman-Zyklus der Simplicianischen Schriften, dessen Teile – vergleichbar den späteren Werken Jean Pauls – auf komplexe Weise zusammenhängen vgl. Meid, Volker: Grimmelshausen. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2011, 80ff. Es würde hier auch zu weit führen, die Rahmenstrukturen der Vogelnest-Romane einer Frame-Analyse zu unterziehen. So unterbleibt z.B. die Betrachtung des Privilegien und Freiheiten für den zweiten Vogelnest-Roman, das mit dem fiktiven Verfassername Nullander Rex
Selenitide gezeichnet ist (vgl. VN2, 453ff.). Die ‚verschachtelten‘ Erzählstrukturen zur Zeit der Romantik sind
durchaus schon in dem Werk Grimmelshausens angelegt.
1254
Vgl. Koeman, Jakob: Die Grimmelshausen-Rezeption in der fiktionalen Literatur der deutschen Romantik,
Amsterdam / Atlanta 1993, 1ff.
1255
Vgl. ders., 531ff.
1256
Vgl. Bergengruen, Maximilian: "Des Lachens schwerlich enthalden". Zur göttlichen Logik des Teuflischen
in Grimmelshausens Vogel-Nest, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 135145, hier 137.
1257
Vgl. Koeman 1993, 55ff. Die Hinweise, die Koemann auf Forschungen zur Druck- und Textgeschichte der
Vogelnest-Romane gibt, sind wenig hilfreich. Sie beziehen sich auf Erstausgaben und Raubdrucke zu Lebzeiten
340
nommen werden. Ihr Nachweis bestätigt auch die Existenz zweifelhafter Markierungen von
Prätexten. Ein Zirkelschluss liegt nicht vor, denn es kommt auf den Konnex der Referenzindizien an: Von unsicheren Markierungen (s.o.) und mehreren teilreproduzierenden Einzelreferenzen (s.u.). Im Folgenden sollen die Tarnkappe und der von ihr beeinflusste Lebenswandel
der Protagonisten betrachtet werden.
Das Vogelnest macht den Träger unsichtbar, sowohl bei Chamisso, als auch bei Grimmelshausen. Der unsichtbare Gegenstand wirft bei ihnen mindestens so lange einen Schatten bis er
aufgefunden worden ist.1258 Ob seine Nutzer auch ein Schattenwurf verrät, bleibt in den beiden Romanen Grimmelshausens erstaunlicherweise offen.1259 Da die beiden Vogelnestträger
den Sonnenschein oder künstliche Lichtquellen nicht meiden, wie ein schattenloser Schlemihl, stellt der eigene Schatten für sie kein Problem dar. Als Erzähler berichten sie nämlich
ausführlich über die Grenzen ihrer Unsichtbarkeit, den Gefährdungen der Illusion. Das Spiegelbild (vgl. VN1, 361f.), die Körperlichkeit (vgl. VN1, 426f.), Stimme (vgl. VN1, 383 und
427) und Geräusche bei der Fortbewegung (vgl. VN1, 306) bleiben erhalten.
In Chamissos Werk sieht Schlemihl einen Schatten, der seinem verkauften nicht unähnlich ist,
vermeintlich herrenlos über die Heide streifen. Als er sich diesen aneignen will, trifft er auf
einen unsichtbaren Widerstand – den grauen Mann, der im folgenden Handgemenge sichtbar
wird. Schlemihl erklärt sich dies folgendermaßen: „Der Mann mußte das unsichtbare Vogelnest, welches den, der es hält, nicht aber seinen Schatten, unsichtbar macht, erst getragen und
jetzt weggeworfen haben“ (PS 55). Gleichzeitig sitzt er einem Trugschluss auf. Der graue
Mann besitzt zwar einen ‚eigenen‘ Schatten von passender Physiognomie, doch der erweist
sich beim Tragen der Tarnkappe als unsichtbar. Schlemihl, der das Vogelnest vermeintlich
erbeutet, transportiert unbemerkt den grauen Mann und dessen Schatten als ‚blinde Passagie-
Grimmelshausens. Vgl. ders., 533, Anm. 4 (ebd.). Meinerseits wird auf keine Drucke des 18. bzw. frühen 19.
Jahrhunderts zurückgegriffen, da anders als bei Chamissos Fortunatus-Fragment zu wenige Anhaltspunkte gegeben sind, konkrete Ausgaben zuzuordnen. Betont werden muss, dass zwischen den Werken Chamissos und
Grimmelshausen 140 Jahre liegen. Die älteste Fassung des Prosaromans liegt knapp 300 Jahre vor Chamissos
Dramatisierungsversuch. Liest man Koemans Ausführungen zu der Rezeption von Grimmelshausens Romanen
zwischen dessen Tod und der Frühromantik, kann man nicht davon ausgehen, dass sie unverändert nachgedruckt
worden sind. Bei der Betrachtung des Textes wird eine Grimmelshausen-Werkausgabe herangezogen. Abschließend sei der Gedanke geäußert, dass die Lektüre schon eines der beiden Vogelnest-Romane genügen würde, um
die gegebenen intertextuellen Abhängigkeiten zu belegen. Der zweite, düstere Teil von Grimmelshausens Opus
erfreute sich nach Ausweis der Druckzeugen einer wesentlich geringeren Popularität als der erste Teil. Vgl. Meid
2011, 109.
1258
In Grimmelshausens 1670 erschienenen Roman Der seltzame Springinsfeld, in dem die Vorgeschichte des
Vogelnestes erzählt wird, wirft die unsichtbare Tarnkappenträgerin sehr wohl noch einen Schatten, der sie aber
in keinerlei Weise bei ihren Streichen behindert. Vgl. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von: Der seltzame Springinsfeld, in: ders.: Grimmelshausens Werke. Hg. v. Dieter Breuer. Bd. I,2. Frankfurt a. M. (= Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 4.2), Frankfurt am Main 1992, 153-296.
1259
Vgl. Kaminski, Nicola: Der vergessene Schatten – Auf den Spuren des 'Simplicianischen Autors' (Teil I), in:
Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 195-214, hier 196ff.
341
re‘ mit sich in den Förstergarten (vgl. PS 57).1260 Dort lässt der teuflische Versucher zu seinen
Füßen, Schlemihls und seinen Schatten sehen, um das Opfer zum Auslösen der ‚Geisel‘ zu
bewegen (vgl. ebd.). Beide sitzen unter der Tarnkappe. Wie ist das möglich? Der Schatten des
grauen Mannes ist genauso unabhängig vom Körper, wie der Schlemihls, nur entsprechend
drapiert. Aus strategischen Gründen wird also der graue Mann auf der Heide Schlemihl Schatten aufmarschieren haben lassen, ehe er ihm den Weg verstellt hat. Langer Rede, kurzer Sinn:
auch bei Chamisso ist nicht klar, ob die Tarnkappe den Schatten des Trägers schluckt. Es
spricht aber auch nichts dagegen, dass das ‚romantische Vogelnest‘ dem ‚barocken‘ Modell in
seiner Funktionsweise entspricht.
Wie sehen die Auswirkungen auf den Lebenswandel der Tarnkappen-Träger bei Grimmelshausen und Chamisso aus? Die autodiegetischen Erzähler schreiben mit einem vorgeblich
moraldidaktischen Anliegen ihre Geschichten zur Warnung der ‚Menschheit‘ nieder (vgl.
VN1, 446f. bzw. VN2, 457 und 650). Sie distanzieren sich damit von ihren Handlungen, während sie sich an ihre Sünden zurückerinnern. Der vagabundierende Hellebardier und der
wohlhabende Kaufmann1261 der Vogelnest-Romane treten in ihren autobiographischen Schriften als erlebende Reflektor-Figuren auf, die aus zeitlicher Distanz ihre Bekehrungs- und Läuterungsgeschichten erzählen.1262 Schlemihls Selbstbezichtigungen, wie das Eingeständnis, das
Gewissen dem Reichtum geopfert zu haben (vgl. PS 30), veranlassen den fiktiven Chamisso
bekanntlich das Manuskript seiner Memoiren als „Beichte“ zu bezeichnen (PS 17). Der Literaturwissenschaftler Fedor Hoffmann rückt diese sogar mit plausiblen Argumenten in die Nähe einer Heiligen-Vita.1263 Am Ende verzichten alle Tarnkappen-Nutzer auf den Zaubergegenstand (vgl. VN1, 440ff. und VN2, 649f.). Bis zu dieser Entscheidung weisen die Werke
eine experimentelle Handlungslogik auf.1264 Diese äußert sich bei Grimmelshausen schon bei
der Konzeption der Erzählerfiguren. Im ersten Band des Romans wird der Fall durchgespielt,
was ein armer Mensch mit der Tarnkappe anfängt; im zweiten, welche Verwendung ein Reicher1265 für den Zaubergegenstand findet. Beide verführt das Vogelnest zur Sünde. Sie bege1260
Er lässt Schlemihl das Vogelnest genauso wie das Glückssäckel erproben, da ihm im Seelenhandel die Funktion eines heutigen ‚Gimmicks‘ zukommen soll.
1261
Bezeichnungen der namenlosen Hauptfiguren nach Kühlmann 2006, 11-24, hier 20.
1262
Vgl. stellvertretend Bergengruen 2006, 135-145, hier 135 und Deupmann, Christoph: Geldverhältnisse –
Ökonomie und Geld in Grimmelshausens Roman das Wunderbarliche Vogel-Nest, in: Simpliciana. Schriften der
Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 169-184, hier 177ff., Tarot, Rolf: Die Kunst des Erzählens in Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogel-Nest, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28
(2006), 25-42, hier 31ff. und Wesche, Jörg: Unsichtbares lesen – Narrative Selbstreflexion in Grimmelshausens
Vogel-Nest, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 69-82, hier 69 und 76.
1263
Vgl. Hoffmann 1970, 167-187, hier 178.
1264
Für die Vogelnest-Romane vgl. Kühlmann 2006, 11-24, hier 13.
1265
Er könnte das von der Leyerin entwendete Vermögen wieder erwirtschaften. Als er dieses sogar wieder zu
einem Großteil wieder erlangen könnte, entscheidet er sich für das Vogelnest (vgl. VN2, 474ff.).
342
hen Diebstähle1266 und erfüllen sich ihre sexuellen Wunschträume, wobei sie vor Vergewaltigungen nicht zurückschrecken (vgl. VN1, 426f. / VN2, 497f.). Chamissos Gedankenexperiment ist komplexer angelegt. Er konfrontiert Peter Schlemihl mit Reichtum, einem unvollständigen Erscheinungsbild und einer aufmerksamen Gesellschaft.1267 Gegenüber den Protagonisten der Grimmelshausen-Romane begeht er an seinen Mitmenschen keine Verbrechen,
obgleich die Wahl des Glückssäckels und die versuchte Aneignung des Vogelnests seine Charakterschwächen erst sichtbar machen.
Teuflischer Herkunft ist die unerschöpfliche Geldquelle bei Chamisso – das Vogelnest erscheint in allen drei Texten, doch keiner der Träger schließt deshalb einen Teufelspakt ab.1268
Grimmelshausens Hellebardier steckt die Tarnkappe im verknoteten Schnupftuch der Leyerin
ein, das ihr entfällt, als sie wegen ihrer Verbrechen gestellt und unbeabsichtigt getötet wird,
ehe man ihr den Prozess gemacht hat (vgl. VN1, 301).1269 Sie selbst hat es zufällig in einer
Astgabel gefunden.1270 Es enthält die Tarnkappe, die ihn mit ihren Anwendungsmöglichkeiten
schließlich zu seinem Entsetzen korrumpiert. Er vergräbt sie in einem Ameisenhaufen, damit
sie niemandem mehr schadet (s.o.). Entsprechend viel erzählerischer Aufwand ist notwendig,
dass sie an ihren nächsten Besitzer kommt. Ein Kaufmann beklagt den Verlust einer größeren
Summe Geldes, die ihm gestohlen worden ist (vgl. VN2, 469f.). Er verlässt den großen Garten seines Landhauses und trifft auf einen „fahrenden Schüler“ (VN2, 474) mit magischen
Kräften:
dann mir / weiß nicht was vor ein Geist in [den] Weg gesetzt / […] / nemlich ein altes / magers / buckelts Männel / mit kleinen Augen / einem kleinen spitzigen eingebogenen Näßlein / grossen schwartzgrauen Bart / bleich von Farb / und zimlich abgeschaben bekleidet / das sahe mich so trauff / barmhertzig und mitleidenlich an / daß ich ihm ohnschwer in seinem Angesicht ablesen konte / daß seine Person
etwas besonders (VN2, 471f.)
Dieser dünne, hagerere und alte Mann (siehe PS 24) inszeniert im Wald eine Geisterbeschwörung, damit er dem Bestohlenen das Vogelnest zuspielen kann. Drei ausführlich beschriebene
1266
Christoph Deupmann erkennt zu Recht, dass das Vogelnest ein Mittel zur potentiell unbegrenzten Aneignung
jedweden Wertes ist und deshalb keinen endlichen Wert beigemessen bekommen kann; damit gleicht es dem
Glückssäckel eines Fortunatus‘ oder Schlemihls. Vgl. Deupmann 2006, 169-184, hier 170.
1267
Dies bestätigt im Kern auch die in Umlauf gesetzte Anekdote über die Entstehungsgeschichte des Peter
Schlemihls, die hinsichtlich des biographischen Ereignisses nach wie vor zu hinterfragen ist. Zusammen mit
Fouqué malt sich Chamisso das Unglück der Schattenlosigkeit aus. Vgl. Adelbert von Chamisso an Karl Bernhard von Trinius, 11.4.1829, in: Dagmar Walach (Hg.): Erläuterungen und Dokumente. Adelbert von Chamisso.
Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Stuttgart 2003, 54. Abdruck und Vergleich aller drei Quellen zur
Entstehungsgeschichte. Vgl. Wilpert 1978, 29f.
1268
Vgl. Zeller, Rosmarie: Magia naturalis, Zauberkunst und Kritik des Wunderbaren im Wunderbarlichen Vogelnest, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 151-168, hier 157. Sie wendet
aber lässt ein, dass das Titelillustration von VN2 eine Faust-Geschichte erwarten lässt. Vgl. dieselbe, 151-168,
hier 160. Näheres zu den Vorbildern des Titelkupfers vgl. Martin, Dieter: Marlows Faust oder Petrarcas Schatzsucher? Zum Kupfertitel von Grimmelshausens Vogelnest II, in: Simpliciana. Schriften der GrimmelshausenGesellschaft 28 (2006), 185-189.
1269
Vgl. auch den Cliffhanger in: von Grimmelshausen 1969, 129ff.
1270
Vgl. ders., 113ff.
343
Geister, darunter eine Fortuna wie sie die Maler darstellen (!), verraten die Tarnkappe im
Ameisenhaufen und den Baum, in dem die Reste des gestohlenen Vermögens versteckt worden sind (vgl. VN2, 474ff.). Der fahrende Schüler will mit einem der beiden Schätze entlohnt
werden, lässt aber dem Kaufmann die Wahl; letzterer entscheidet sich gegen das Geld, für das
Vogelnest (vgl. ebd.).1271 Als dieser den Handel bereut, vernichtet er die Tarnkappe zusammen mit einem Pater, so dass sie wirklich aus der Welt geschafft ist. Sie wird auf einer
Rheinbrücke verbrannt. Ihre Asche wird in den Strom gestreut (s.o.).
Schlemihl schickt sich an, die Gesellschaft des reichen Kaufmanns Sir John und dessen Garten vor den Toren der Stadt zu verlassen (siehe VN2, 471). Er trifft auf einen grauen Mann,
mit magischen Kräften, der ihn vor die nur bedingt vergleichbare Wahl stellt, einen Schatten
oder unerschöpflichen Reichtum zu besitzen. Schlemihl entscheidet sich bekanntlich für letzteres. Ein Jahr später steht er vor einer neuen Wahl: will er seine Seele behalten oder seinen
Schatten zurück und obendrein das Vogelnest haben? Schlemihl lockt das Vogelnest nicht,
obwohl er es kurz zuvor dem Teufel gestohlen hat. Sobald er seinen Schatten zurück hätte,
benötigt er keine Tarnkappe mehr, um sich zu verbergen und könnte endlich sein zurückgezogenes Leben aufgeben. Die mit dem Reichtum selbstauferlegte ‚Unsichtbarkeit‘ hat er satt. Er
behält seine Seele und wirft in einer Höhle den „klingenden Seckel in den Abgrund“ (PS 68)
zum „Gebrause unterirdischer Ströme“ (PS 66). Auch hier endet ein ‚unsichtbar‘ machender
Gegenstand im Wasser.
Unsichtbar werden die Vogelnest-Träger sehr häufig Zeugen der Schlechtigkeit anderer Menschen.1272 Bei Grimmelshausen gelangen sie mehr oder minder stark zu dem Bewusstsein,
Gott könne sie ebenso unsichtbar beim Sündigen beobachten (vgl. VN1, 410 / VN2, 611ff.).
Daraufhin trennen sie sich vom Vogelnest, um ihr Seelenheil durch Reue, Buße und Wiedergutmachung ihrer Vergehen zu retten. Obwohl das Vogelnest nachweislich teuflischen Ursprungs ist, läutert es letztendlich seine Träger.1273 Es hilft dem Menschen, zur Selbsterkenntnis zu gelangen1274 und den Teufel durch gottgefälliges Handeln zu besiegen. Die Waffe des
Teufels richtet sich gegen diesen selbst. In Peter Schlemihls wundersamer Geschichte sieht
der Protagonist mit der Tarnkappe Minas Tränen, die vor der Zwangsverheiratung mit dem
kriminellen Rascal fließen. Er widersteht der Versuchung, in das Geschehen einzugreifen,
was ihm ‚nur‘ seine Seele kosten würde. Das Eingreifen in Gottes Vorsehung, die vielbeschworene Notwendigkeit, wäre blasphemisch. Grimmelshausens Hellebardier interveniert
1271
Dazu Zeller 2006, 151-168, hier 157.
Vgl. Kühlmann 2006, 11-24, hier 16f.
1273
Vgl. Bergengruen 2006, 135-145, hier136.
1274
Vgl. Wesche 2006, 69-82, hier 72.
1272
344
gottgleich bei Verbrechen, die sich vor seinen Augen abspielen und betätigt sich als strafender
Richter; sein Kaufmann gibt sich sogar gegenüber Juden als Prophet aus!1275 Chamissos
Schlemihl gerät lediglich mit der Vorsehung in Konflikt, weil er sich Reichtum verschafft, der
ihm nicht zusteht und in die Rolle eines Grafen schlüpft. Angst setzt in jedem Fall den anmaßenden Handlungen ein Ende und führt den endgültigen Verzicht auf die Zaubergegenstände
herbei.1276
Man sollte nicht dem Glück, sondern der Zufriedenheit nachjagen. Die Moral der Geschichten
ist, sich mit den gegenwärtigen Lebensverhältnissen zu arrangieren. In Grimmelshausens
Werken darf der Mensch nach Weisheit streben, die ihm sagt, was richtig und falsch ist. Diese
Haltung begegnet einem schon im Epilog des Fortunatus-Prosaromans von 1509, dessen übriger Text die Frage, Glück oder Weisheit, unbeantwortet lässt. Die autodiegetischen Erzähler
der Vogelnest-Romane beteiligen sich am Diskurs über ein selbstbestimmtes Leben. Beide
beziehen sich in ihren Selbstreflexionen dezidiert auf den Fortunatus-Stoff (vgl. VN1, 302;
VN2, 583) und kommen zum selben Ergebnis.1277 Sie entledigen sich der Tarnkappe und folgen damit implizit dem Beispiel Ampedos, der aus Angst um Leib und Leben das Wunschhütlein verbrennt. Diese Kurzschluss-Reaktion einer unmaßgeblichen Nebenfigur stellt sich allerdings noch nicht als ein Akt der Vernunft dar. Bezeichnenderweise erscheint die ambivalente Fortuna erst bei Grimmelshausen unter den Höllengeistern, die der „fahrende Student“
beschwört. Der implizite Autor von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte markiert also
mit dem ziemlich unvermittelt auftauchenden Vogelnest in der Handlung eine konzeptionelle
Orientierung an Grimmelshausen. Er zieht seine Lehre aus der Rezeptionsgeschichte des Fortunatus‘. Schlemihl macht eine Entwicklung durch, wie die durchpsychologisierten Vogelnest-Träger, während der Andolosia des Dramenfragments im Korsett der Prosaromanhandlung keine bruchlose Wandlung zum tragisch endenden Helden vollziehen kann. Die Vorlage
kennt nur das wenig realistisch wirkende Konstrukt eines unverbesserlichen Draufgängers.
Grimmelshausen, wie auch Chamisso schreiben ‚den‘ Fortunatus nach ihren Vorstellungen
um und siedeln ihre Versionen der Geschichte in der jeweiligen Gegenwart an. 1278 Eine kriti1275
Vgl. Kaminski 2006, 195-214, hier 206f. und dies.: Der vergessene Schatten – Auf den Spuren des 'Simplicianischen Autors' (Teil II), in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 29 (2007), 359-380, hier
367ff. Zum Umgang mit ‚den‘ Juden in VN2 vgl. Heßelmann, Peter: Zum Judenbild bei Grimmelshausen. Christian Gersons Der Jüden Thalmud (1607), Michael Buchenröders Eilende Messias Juden-Post (1666) und Das
wunderbarliche Vogel-Nest II (1675), in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006),
115-134.
1276
Affekte bei Grimmelshausen vgl. Kühlmann 2006, 11-24, hier 13 und Zymner, Rüdiger: Gefühle in Grimmelshausens Vogelnest, in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 43-56, hier 43f.
1277
Vgl. Koemann 1993, 531, Kühlmann 2006, 11-24, hier 14 und andeutungsweise auch Zeller 151-168, hier
152.
1278
Vgl. Kühlmann 2006, 11-24, hier 13 (für Grimmelshausen).
345
sche Sicht auf das Kaufmannsmilieu und den Geldverkehr ist ihnen gemein.1279 Die fiktiven
Erzählern Grimmelshausens und Chamissos halten ihrer Welt den Spiegel vor, bleiben aber
paradoxerweise unsichtbar, indem sie dies aus dem Verborgenen tun. Ihr Verhalten und Denken wird bei der Niederschrift ihrer Beobachtungen sichtbar. Dies führt bei dem Barockautor
zu Interpretationen, die das Vogelnest als Allegorie der Dichtkunst plausibel machen wollen.1280 Der Voyeurismus des ‚unsichtbaren‘ Publikums und der ‚unsichtbaren‘ Erzähler1281 –
einschließlich des empirischen Autors – werden offenbart. Das Vogelnest generiert letztendlich im übertragenen Sinne auch von ihnen ein Spiegelbild.1282 Über die Unsichtbarkeit von
Spiegeln ist auch schon im Zusammenhang mit E.T.A. Hoffmanns Oeuvre philosophiert worden: „Der Spiegel selbst ist unsichtbar, sichtbar ist hingegen das Bild, das er zurückwirft. Wir
sehen also das virtuelle, nicht das gegenständliche Spiegelbild, den gegenständlichen Spiegel
sehen wir hingegen nicht“.1283 Das Fehlen des Spiegelbildes vom Schreibenden würde damit
(selbstreferentielle) Dichtung sichtbar machen. Ein Grund mehr, Schlemihls verkauftem
Schatten funktionell ein Spiegelbild entgegenzusetzen!
1279
Vgl. ders., 11-24, hier 15 (für Grimmelshausen).
Vgl. Wesche 2006, 69-82, hier 76f. und in gewisser Weise auch Locher, Elmar: Anmerkungen zur Konstruktion des 'Sehens' im Wunderbarlichen Vogelnest vor dem Hintergrund der 'neuen Optik', in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 28 (2006), 83-100.
1281
, Vgl. ders., 83-100, hier 86ff. und Wesche 2006, 69-82, hier 76.
1282
Zur Vergleichbarkeit von Vogelnest und Spiegel vgl. Wesche 2006, 69-82, hier 72. Das Vogelnest ist auch
eine akustische Horch- und Abhörmaschine. Vgl. Lochner 2006, 83-100, hier 94.
1283
Vgl. Driesen 1997, 87
1280
346
10.3. Chamissos Peter Schlemihl und Tiecks Thomas Däumchen
Kurz vor dem Ende von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte kommt es zu einer in
mehrfacher Hinsicht eigenartigen, evozierenden Einzelreferenz: „Meine [Siebenmeilen-] Stiefel nutzen sich nicht ab, wie das sehr gelehrte Werk des berühmten Tieckius, ›De rebus gestis
Pollicilli‹, es mich anfangs befürchten lassen“ (PS 78). Die Rede ist von Ludwig Tiecks
soeben erschienen Drama Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen. Ein
Märchen in drei Akten (1812).1284 Peter Schlemihl überträgt den Namen des deutschsprachigen Autors Ludwig Tieck ins Lateinische und übersetzt konsequenterweise einen Kurztitel
des Werks „Über die Taten Däumchens“ in die nämliche Sprache. Latein passt als ‚Gelehrtensprache‘ zu dem referierten Titel eines gelehrten Werks (s.o.). Allerdings hat ein Märchen
kaum den Anspruch ein gelehrtes Werk zu sein. Im Kontext der auffälligen Maskierung des
Intertextes und der Beschreibung der eigenen Tätigkeit als Naturforschers ist das flüchtig geäußerte Lob des Tieck-Textes kaum ironisch gemeint. Allenfalls die Selbstironie des Erzählers äußert sich hier als ‚Berufskrankheit‘. Schlemihl versucht alle Lebewesen der Welt mit
lateinischen Begriffen zu belegen. Er arbeitet nach eigenem Bekunden an einer „Historia stirpium plantarum utriusque orbis“ als „ein großes Fragment der Flora universalis terrae“ und
Glied seines „Systema naturae“ (alle PS 78).
Die Distanzierung von dem evozierten System, die sich abnutzenden Siebenmeilenstiefel, ist
im Gegensatz zu seiner lateinischen Markierung, leicht nachvollziehbar. In der Tat nutzen
sich Thomas Däumchens Stiefel ab. Mit jeder Reparatur verlieren sie eine Meile an Reichweite. Am Ende des Dramas müssen sie von einem Schuster ausgebessert werden. Danach sind es
nur noch Sechsmeilenstiefel:
[Die Zauberstiefel sollen] noch von dem bekannten Merlin herrühren[…]. […] Sohlen und Absatz
[sind] schon ziemlich abgelaufen. Und man hat mir gesagt, wenn man sie flicken oder versohlen läßt, so
verlieren sie jedesmal eine Meile an Kraft, bis sie zuletzt ganz ordinäre Stiefeln [sic!] werden. (TD III,2;
752)
Schlemihls Siebenmeilenstiefel sind von besserer Qualität, was er sogleich hätte bemerken
müssen. Sie bringen den Träger nicht so schnell an seine physischen Grenzen. Wer bei Tieck
mit den Siebenmeilenstiefeln große Distanzen überwindet, spürt die Erschöpfung eines gewöhnlichen Fußmarsches dieser Länge: „[Diese] Zauberstiefel machen verdammt müde, wenn
man sie an den Beinen hat.“ (ebd.) Die Zurücknahme der Relevanz des evozierten Dra1284
Vgl. Tieck, Ludwig: Phantasus, in: Schriften in zwölf Bänden, Bd. 6. Hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M.
1985, 704 – 780. Das Drama ist in seiner Erstfassung Teil von Ludwig Tiecks Phantasus; der letzte Text im
ersten Band der Zweiten Abteilung, der in die Rahmenerzählung eingebettet ist. Der zweite Band der Zweiten
Abteilung lag noch nicht vor, enthält aber bemerkenswerterweise eine Dramatisierung des kompletten Fortunatus-Prosaromans. Vgl. ders., 1149. Zur Intertextualität des Chamisso-Textes vgl. ders., 1474f., und Feudel
1982, 691-776, hier 700.
347
mentextes aus der Figurenperspektive Schlemihls ist zu hinterfragen. Die Markierung des
intertextuellen Bezugs kann vom Leser seiner Memoiren als eine teilreproduzierende Einzelreferenz angesehen werden. Aufgrund seiner Größe ist Thomas Däumchen, kurz Thoms genannt, ein Außenseiter in der menschlichen Gesellschaft wie Peter Schlemihl. Selbst seine
Mutter bezeichnet den 15jährigen als „einen Zwerg, einen unnützen Brotfresser, aus dem zeitlebens nichts werden kann, der allen im Dorf ein Spott ist“ (TD I,1; 707). Sie schämt sich,
Thoms geboren zu haben, da ihn sogar die dreijährigen Kinder verprügeln und als „Däumchen“ zu hänseln wagen (vgl. ebd.). Da er „Grütz im Kopf“ hat (ebd.), vermag er die Siebenmeilenstiefel dem Menschenfresser Leidgast zu stehlen. Sie passen sich seinen Füßen an,
wodurch ihm die Koordination einer Feldschlacht möglich wird. Mit diesem Verdienst erwirbt er sich die Protektion von König Artus, die zu einer allgemeinen Achtung seiner Person
und seiner Familie in der Öffentlichkeit führt. Außerdem ist er zu Geld gekommen. Seine
Eltern sind als Bauern so arm gewesen, dass sie ihn mit seinen Brüdern1285 im Wald (wie
Hänsel und Gretel) ausgesetzt haben.
Für Schlemihl, der wohl aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt, hat der erworbene
Reichtum einen gegenteiligen Effekt. Erst jetzt wird er zum Außenseiter. Die Siebenmeilenstiefel kompensieren keinen fehlenden Schatten. Trotz derselben Ausgangssituation der Protagonisten und ähnlichen Leidensmomenten unterscheiden sich die Biographien.
Zuletzt noch ein Blick auf den Diskurs über Zufall und Vorsehung in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte: Thoms interpretiert die Siebenmeilenstiefel als Gabe eines seltsam
märchenhaften Zufalls (vgl. TDIII,4; 756), obwohl er sie wie ihr Vorbesitzer Leidgast gestohlen hat. Magische Hilfsmittel verleiten offenbar dazu. Fortunatus stielt den Wunschhut und
Peter Schlemihl eignet sich die Tarnkappe, das wunderbarliche Vogelnest, an. Peter Schlemihl erwirbt allerdings seine Siebenmeilenstiefel auf eine ehrliche Art und Weise. Er betrachtet sie als ein Geschenk Gottes und dankt diesem mit einem Gebet. In Tiecks Drama kann sich
der Hofschuster Zahn die Existenz eines derartigen Fortbewegungsmittels auch nur durch die
Existenz von Göttern erklären:
Mein[e] Seel[e], es sind ein Paar Stiefeln von denen, die ehemals Minerva oder Merkur getragen haben.
Erinnern Sie sich nicht, daß diese Personen mit Einem Schritt vom Olymp hingelangten, wohin sie nur
wollten, und wenn es funfzig, sechzig Meilen waren? Wie läßt sich denn das anders begreifen, als mit
solchen Stiefeln, wie wir sie hier vor Augen haben. (TD III,7; 764)
Leidgast hat sie aber nicht von den antiken Göttern erhalten, sondern einem christlichen Missionar abgenommen:
Muß noch immer an den alten Wahrsager denken, dem ich sie abjagte, der wollte, wie er sagte, Christenthum und Bildung damit verbreiten, und durch alle Länder, bis zu den schwarzen Mohren, darauf
1285
Eines der Geschwister heißt übrigens Peter! Vgl. TD Personenliste, 704.
348
laufen, und erzählt mir das Ding so treuherzig hin, bis ich sie ihm natürlich von den Beinen reiße. (TD
III,2; 752)
Die Märchenwelt Tiecks weist eine erstaunliche Konzeption auf. Romantische Vorstellungen
vom Mittelalter enthalten Momente zeitgenössischer Gegenwart. In König Artus‘ Reich
sammeln Botaniker Pflanzen und Pilze (vgl. TD III,6; 761), berichten Zeitungen (vgl. TD
III,7; 766) und die Siebenmeilenstiefel werden am Ende auf einer Kunstausstellung präsentiert (vgl. TD III,7; 765). Im Peter Schlemihl liegt eine umgekehrte Konzeption vor. Schlemihl lebt in der Welt um 1800, in der die märchenhaften Wunderdinge, wie Glückssäckel,
Tarnkappe und Siebenmeilenstiefel als Fremdkörper erscheinen. Das Durchdringen zweier
verschiedener Zeitebenen ist auch für die Abenteuer der Silvesternacht charakteristisch,1286
genauso wie für die Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht, bei der ein Vokabular der
Vergangenheit benutzt wird, um die Zukunft zu beschreiben. Und damit wäre wieder einmal
Jean Paul dran.
1286
Nährlich-Slatewa 1995, 61.
349
10.4. Unbedeutendere Intertexte von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
In Peter Schlemihls wundersamer Geschichte findet sich ein fiktiver Brief Chamissos an Hitzig mit dem Ausruf: „Was würde nicht Jean Paul [aus dieser Geschichte …] gemacht haben!“
(PS 18). Mit der Nennung des Autoren-Labels als eine unspezifische Systemerwähnung eines
noch im Entstehen begriffenen Gesamtwerkes verbinden sich mehrere Aussagen. Schlemihls
Manuskript, aus der Feder des realen Chamisso, käme an den ziemlich populären und erfolgreichen Dichter nicht heran. Das soll natürlich dem bereits auf dem literarischen Markt Etablierten und seiner Leserschaft schmeicheln, die nun mit Spannung wenigstens eine Handlung
in seiner Manier erwarten muss. Nach der Digression des komplizierten Gebildes aus Gedicht(en), Brief(en) und Vorrede(en), die dezidiert nicht auf Jean Paul bezogen werden, erinnert nur noch wenig an diesen. Schlemihl und sein Diener Bendel gleichen kaum den Zwillings-1287 oder Freundespaaren des oberfränkischen Dichters. Diesen mit Einschränkungen
gegensätzlich konzipierten „Doppelgänger-Paaren“ gleichen noch weniger die „Geschäftspartner“ Schlemihl und der graue Mann. Dass Schlemihl in Rollen gedrängt wird, die er dann
zum Selbstschutz weiterspielt, erinnert wenigstens an das Welttheater-Konzept (s.o.) Jean
Pauls. Nur wenige Reflexionen des autodiegetischen Erzählers unterbrechen die linear präsentierte Lebensbeschreibung. Schachtelsätze und üppige poetische Bilder für Situationen sind
eher selten.
Ein wenig ernster zu nehmen ist eine unsichere Einzelreferenz zu Goethes Faust I, die inzwischen zum tradierten und verbreiteten Wissensbestand um Peter Schlemihls wundersame Geschichte gehört.1288 Der fragliche Satz enthält eine heute ungebräuchliche Redewendung, einen früheren Allgemeinplatz in der Bildung der Leser. Folglich ist es Ermessenssache, ob ein
indirektes Zitat zu dem unvergessenen Literatur-Klassiker vorliegt. Der graue, dämonische
Mann macht Schlemihl mit seinem Interesse an dessen Schlagschatten konfus: ihm „gings wie
ein Mühlrad im Kopfe herum“ (PS 28). Nämliche Wirkung erzielt Mephistopheles mit seiner
‚Studienberatung‘ beim Schüler in Fausts Studierstube. Seine teuflischen Ratschläge zur Fächerwahl an der Universität verblüffen das Opfer, weil sie genau auf dessen noch unbewusste,
moralischen Schwächen abgestimmt sind: „Mir wird von alledem so dumm, / als ging mir ein
Mühlrad im Kopf herum“ (Vs. 1946f.)1289 Liest man die Chamisso-Stelle als eine Referenz
1287
Vgl. Adelbert von Chamisso an Adelbert von Neumann, Herbst 1806, Chamisso’s Werke, Bd. 5, 161-163,
hier 162.
1288
Vgl. Hoge, Boris: Das zerbrochene Ringlein. Eduard von Keyserling und Joseph von Eichendorff, in: Aurora. Jb der Eichendorff-Gesellschaft 68/69 (2008/2009 [=2010]), 79-88, hier 84 und Anm. 21 (ebd.).
1289
Goethe, Faust, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, III. Abt., Bd.1, 7-364, hier 63.
350
auf diese Szene, passt der mitaufgerufene Kontext. Wie der Student, begibt sich Schlemihl in
die Fremde. Beide verfügen über wenig Geld und Lebenserfahrung, haben aber Schicksalsentscheidungen zu fällen, deren Dimensionen sie nicht völlig ermessen können. Sie verkennen, eine Wahl zwischen Gut und Böse treffen müssen. Mit jeder Option verbindet sich in
unterschiedlichem Maß, über kurz oder lang moralisch korrumpiert zu werden. Es genügt,
dies für Schlemihl auszuführen. Der graue Mann bietet ihm ein ganzes Sortiment an Gegenwerten für den Schatten an: eine Springwurzel, eine Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein Galgenmännlein zu beliebigem Preis, Fortunati
Wünschhütlein und Fortunati Glücksseckel (vgl. PS 28). Fast alle diese magischen Gegenstände lassen sich zu Verbrechen missbrauchen oder begünstigen das Ausleben von Trieben.1290 Faulheit, Eitelkeit, Völlerei und Wollust, die nach christlichem Verständnis als Todsünden gelten, kann man sich mit einer unermesslichen Geldquelle leisten. Trotzdem ist sie
von allen Zaubergegenständen der harmloseste. Mehr als rasch zu befriedigende Geldgier
bzw. Habgier, etwas Eitelkeit und Faulheit kann man Schlemihl nicht anlasten. Würde er seinen ‚gemischten Charakter‘ nicht bewahren, müsste der Teufel nicht wieder kommen. Auch
ohne Pakt wäre er sich der Seele sicher.
Es gelingt ihm nicht, die Seele in Schlemihls Augen auf die Variable X zu reduzieren und als
eine galvanische Kraft oder eine pulsierende Wirksamkeit zu klassifizieren (vgl. PS 51).
Schlemihls behält seinen gesunden Menschenverstand, obgleich die Gesellschaft den Menschen auf den Schatten, seine ‚tadellose‘ Physiognomie reduziert. Realitätsverlust kommt den
Absichten des Teufels entgegen, was Mephistopheles bei seiner ‚Studienberatung‘ dem ahnungslosen Studenten in zynischer Weise noch verrät: „Das [Verstehen] wird nächstens schon
besser gehen / wenn Ihr lernt alles reduzieren / und gehörig zu klassifizieren“ (Vs.
1943ff.).1291
Neben diesen inhaltlichen Parallelen sprechen zwei Indizien für die erwogene, intertextuelle
Beziehung zu Goethes Faust, denen allerdings nur eine geringe Beweiskraft zukommt. Chamisso hat sich schon an dem Faust-Stoff vor der Veröffentlichung von Goethes Drama versucht, ohne damit zu einem ihn befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Jürgen Schwann zeigte
1290
Die Springwurzel als universeller ‚Dietrich‘, Wechselpfennige und Raubtaler verleiten zum Diebstahl. Das
Heben noch nicht versteckter Schätze mit der Alraunwurzel ist auch als Diebstahl zu werten. Mit dem Wunschhütlein sind Diebstahl, Raub, Entführung, Vergewaltigung, etc. möglich. Das Galgenmännlein gefährdet das
Seelenheil des jeweiligen Besitzers. Selbst wenn es sich nur mit Warnhinweis weiterverkaufen lässt, ist das InUmlauf-Bringen moralisch verwerflich. Das Tellertuch fördert nur die Völlerei (Todsünde) mit seiner ‚TischleinDeck-Dich‘-Funktion. Diese Fußnote vgl. Feudel 1982, Bd. 2, 691-776, hier 697.
1291
Goethe, Faust, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, III. Abt., Bd. 1, 7-364, hier 63. Hervorhebung V.R.
351
die Rettung etlicher Gedanken dieses Projektes1292 (1806) in Peter Schlemihls wundersamer
Geschichte. Er dürfte also mit Interesse verfolgt haben, was ein bedeutender zeitgenössischer
Dichterkollege daraus gemacht hat. Zudem drapiert er in Schlemihls Traum vom toten Chamisso einen Band Goethes auf dem Sofa des Studierzimmers (!), in dem es als Ausstattung
selbstverständlich noch ein Skelett und Herbar-Belege gibt (vgl. PS 31).
In dieser eigenartigen Traumsequenz kommt es zu etlichen expliziten Erwähnungen von Autoren, die Schlemihls Manuskript in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte der Zeit um
1800 verorten. Haller,1293 Humboldt und Linné liegen auf dem Schreibtisch des Naturforschers aufgeschlagen (vgl. ebd.) und zeugen von ihrem Gebrauch. Auf dem Sofa, dem Sitzmöbel für Mußestunden, findet sich außer dem genannten Buch Goethes der Zauberring
Fouqués (vgl. ebd.), der ziemlich populär gewesen ist. Dessen romantisch-verschlungene
Märchen handelt von der Verdrängung heidnischer Magie durch das Christentum im frühen
Mittelalter. Evidente inhaltliche oder thematische Bezüge zu Peter Schlemihls wundersamer
Geschichte haben sich bei einer Lektüre nicht ergeben. Mit der Nennung seines Titels erweist
der empirische Autor seinem Mentor und Freund Fouqué in erster Linie eine Reverenz, wie
auch mit dem Abdruck seiner Stammbuch-Verse (vgl. PS 79).1294 Er nennt ihn in einem
Atemzug mit Goethe, was zugleich eine gewisse Aufgeschlossenheit des fiktiven Chamissos
für verschiedene literarische Strömungen impliziert. Ab der zweiten Auflage, die den fiktiven
bzw. realen Chamisso als Dichter von Schlemihls Memoiren ausweist, darf man in dem
Traum-Tableau daher die Selbstinszenierung eines Autors ‚in seiner Bibliothek‘ sehen.
1292
Vgl. Schwann 1984, 72ff. Der Stoff lag nicht so fern, da der Faust als der jüngere Prosaroman durchaus an
denselben Diskursen, wie der Fortunatus teilhat. Vgl. Kästner 1999, 17ff.
1293
Albrecht von Haller (1708-1777) war ein Schweizer Arzt, Botaniker und Dichter. Vgl. Fueter, Eduard K. /
Elschenbroich, Adalbert: „Haller, Albrecht von“, in: NDB 7 (1966), 541-548. Onlinefassung: URL:
http://www.deutsche-biographie.de/pnd118545140.html (23.10.2013).
1294
Dies führt in der Forschungsliteratur dazu, dass in der Auflistung von den Wunderdingen, die der graue
Mann anzubieten hat, das erwähnte Galgenmännchen (neben den literarischen Kleinodien aus dem FortunatusProsaroman) mit dem Galgenmännlein von Fouqué in Verbindung gebracht wird. Vgl. Wilpert 1978, 27. Es ist
nicht von der Hand zu weisen, dass über das Sortiment des grauen Mannes eine Liste von Intertexten eingespeist
wird.
352
10.5. Mythologisches und Fouqués Held des Nordens in Peter Schlemihls wundersamer
Geschichte
Schlemihls Bildung äußert sich unaufdringlich bei der Veranschaulichung von Sachverhalten
in seinen Memoiren. Selten bedient er sich weit hergeholt erscheinender Vergleiche oder Metaphern. Umso stärker fallen sie in den relativ sachlichen Schilderungen seiner Erlebnisse und
Empfindungen auf. Er bedient sich der griechischen Mythologie, um Minas und seine Leiden
zum Ausdruck zu bringen. Sie verwandelt sich in einen Tränenquell, als sie den ungeliebten
Rascal heiraten soll, wie die Nymphe Arethusa (vgl. PS 49). Das mythologische Vorbild entzieht sich einem verliebten Jäger durch die Metamorphose in eine Quelle.1295 In beiden Fällen
nützt dies nichts. Der Jäger der Sage mutiert in einen Fluss, dessen Hochwasser sich mit der
Quelle vermengt. Mina muss Rascal heiraten, ob sie will oder nicht.
Schlemihl fühlt sich wie Prometheus (s.u.), den Zeus wegen seiner Hybris gegenüber den
Göttern von Hephaistos an den Kaukasus schmieden lässt. Regungslos hat er in der Einsamkeit auszuharren, u.a. weil er den Menschen Feuer und damit Licht gebracht hat. Chamissos
Protagonist hat mehr Reichtum zu erwerben gesucht, als ihm die göttliche Vorsehung zugestanden hat, indem er seinen Schatten verkauft hat. Er muss sich vor den Menschen verbergen, weil zu viel Licht um ihn herum ist. Das verdammt ihn zur Bewegungslosigkeit, hält ihn
in einem ‚unsichtbaren‘ Kerker gefangen. Die Entdeckung seines Geheimnisses erneuert als
Gefahr und tatsächliche Bedrohungen ständig sein Leiden, wie der Adler, der täglich die
nachwachsende Leber des wehrlosen Titanen verzehrt.
In dem Zusammenhang dieser Klage über das eigene Schicksal, wechselt Schlemihl in seiner
Ruhelosigkeit von der griechischen Mythologie gleich zur isländischen, der VölsungenSaga.1296 Sie ist dem empirischen Autor Chamisso aus Fouqués Dramen-Trilogie Der Held
des Nordens (1808) vertraut:1297
Was hülfen Flügel dem in eisernen Ketten fest Angeschmiedeten? Er müßte dennoch, und schrecklicher, verzweifeln. Ich lag, wie Faffner bei seinem Hort, fern von jedem menschlichen Zuspruch, bei
meinem Golde darbend, aber ich hatte nicht das Herz nach ihm, sondern ich fluchte ihm, um dessentwillen ich mich von allem Leben abgeschnitten sah. Bei mir allein mein düstres Geheimnis hegend, fürchtete ich mich vor dem letzten meiner Knechte, den ich zugleich beneiden mußte; denn er hatte einen
Schatten, er durfte sich sehen lassen in der Sonne. Ich vertrauerte einsam in meinen Zimmern die Tag'
und Nächte, und Gram zehrte an meinem Herzen. (PS 35)
1295
Der griechischen Sage nach verwandelte sich Nymphe Arethusa mit Hilfe der Göttin Artemis in eine Quelle
auf der Insel Ortygia, um sich den Nachstellungen eines Flussgottes zu entziehen, der so leer ausgeht. Vgl. Feudel 1982, Bd. 2, 691-776, hier 968.
1296
In Fouqués Sinne nicht unbedingt ein Stilbruch, wie das Vorwort von seinem Held des Nordens nahelegt:
„Der griechischen Mythologie steht, wenigstens in romantischer Erhabenheit, weit näher als die indische, die
nordische, ein Reich voll Eispalläste [sic!], Eisseen, Eisberge; ihr Menschengeschlecht ein Eichenwald im
Sturm“ (HN IV, lateinische Paginierung von V.R.).
1297
Hinweis auf den Prätext vgl. Feudel 1982, Bd. 2, 691-776, hier 698.
353
Die zitierte Stelle stellt eine simulierende Einzelreferenz zum ersten Teil des Dramen-Zyklus
dar, in dem Sigurd, der Schlangentödter zum Held des Nordens wird. Schlemihl empfindet
seine Schattenlosigkeit und den Besitz des unerschöpflichen Geldbeutels als einen Fluch, da
sie ihn zum Außenseiter machen. Er muss seine Mitmenschen fürchten, wie Faffner. Dieser
bewacht seinen „theuern Goldeshort“ (HN, 10) in Drachengestalt, fernab aller Menschen in
der Einsamkeit der Gnitnaheide. Auf seinem Schatz und dem dazu gehörigen Zauberring liegen der Makel eines Vatermordes und der Fluch seines ersten, rechtmäßigen Besitzers, dass
der Reichtum niemanden in Zukunft erfreuen, mehr noch, Unglück, Verderben und Tod ihr
Schicksal besiegeln solle:
Andwar verflucht' ihn, den Ring;
Fort reiß' deinen Herrn,
Reiß', Ring deinen Herrn, wer er sei auch,
Fort in Verderb! (HN 58)
In Fouqués Dramen entfaltet der Fluch eine signifikante Wirkung, indem er letztlich zahllose
Menschenleben fordert (vgl. HN IIIf. und 56ff.)
Schlemihl hat mit seiner unbedachten Entscheidung für den Glückssäckel nur ein Verbrechen
an sich selbst begangen; es gelingt ihm rechtzeitig zu fliehen, wenn Gefahr in Verzug ist. Da
ihm Reichtum nicht alles bedeutet, distanziert er sich von einem Faffner-Dasein. Er unterstellt
ihm eine so unglaubliche Habgier nach Gold, dass ihn das Wächterdasein in der Heide völlig
befriedigt. Faffners Repliken lassen darüber allerdings keine Aussage zu (vgl. HN 44ff.).
Diese Identifikationen bzw. Distanzierungen mit bestimmten mythologischen Figuren dienen
Schlemihl allem Anschein nach der Verarbeitung seiner Situation und der Konstruktion eines
Selbstverständnisses. Er sucht in der Welt nach einer Rolle, die er ausfüllen kann und findet
sie schließlich in der Existenz als Naturforscher. Rückblickend erscheint ihm die wissenschaftliche Tätigkeit vorbestimmt. Seine Umgebung interpretiert er ebenfalls unter den Prämissen seines kulturellen Wissens, wie die Gleichsetzung Minas mit Aretusa zeigt. Die intertextuellen Bezüge dienen der Konstitution des Subjekts. Vorbilder und abschreckende Beispiele helfen allerdings nur bedingt, in konkreten Situationen zu handeln oder sich mit bestimmten Gegebenheiten abzufinden.
354
10.6. Der noch unbekannte Intertext von Chamissos Peter Schlemihl
Damit wäre der Durchgang durch die Prätexte von Peter Schlemihls wundersamer Geschichte
beendet, vorerst zumindest: denn es kann noch weitere, bislang unentdeckte geben. Elisabeth
Hausmann macht auf die sehr wahrscheinliche Existenz eines wohl französischen Intertextes
aufmerksam, der bislang noch nicht entdeckt worden ist.1298 Er wird in einem TagebuchEintrag des Dichters Ludwig Uhland (1787-1862) erwähnt, der sich 1810 zu Studienzwecken
in Paris aufhielt:
Sodann bis zum 3. Juni: Besuch der Museen, der Kirche Notre Dame, des Manuskriptendepots der [National-]Bibliothek:
5. Juni: Erster Gang zu den gedruckten Büchern der Kaiserlichen Bibliothek.
16. Juni: Auf der Bibliothek Abschrift des Märchens vom verkauften Schatten. –
19. Juni: Beendigung des Auszugs aus dem Katalog der Bibliothek.
2. Juli: Erste Zusammenkunft mit Chamisso auf der Galerie.
Diner mit Chamisso bei Lambert und übriger Abend mit ihm –
Die Romanze ‚La Fille du Roy d’Espagne“.
23. Juli : Abends bei Chamisso vor seiner Abreise nach Chaumont. (Hervorhebung, V.R.) 1299
Uhland schrieb demnach ein Märchen ab, dessen zentrales Motiv der Verkauf eines Schattens
ist. Als er gut vierzehn Tage später Chamisso kennenlernte, dürfte dieses zumindest einen
Gesprächsstoff abgegeben haben. Peter Schlemihls wundersame Geschichte wäre – wie schon
ohnehin zu sehen war – kein Einfall eines Originalgenies. Ohne dies hat man schon längst der
von Chamisso verbreiteten Anekdoten zur Entstehung des Werkes wenig Bedeutung beigemessen oder als reine Fiktionen abgetan.1300
1298
Vgl. Hausmann, Elisabeth: A Note on the Source of ‘Peter Schlemih