DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN SEHNSUCHT – limited edition tanzmainz ist ein Ensemble, das sich vorgenommen hat, Stücke über Themen zu entwickeln, die etwas mit unserem Leben zu tun haben. Und auch, wenn „Sehnsucht, limited edition“ seine Uraufführung am Oldenburgischen Staatstheater feierte, passt es gut nach Mainz. Weil das Thema ein universelles ist, und weil – bis auf eine Ausnahme – alle Tänzerinnen und Tänzer der Originalbesetzung heute Ensemblemitglieder am Staatstheater Mainz sind. Ich möchte das deshalb betonen, weil es uns besonders wichtig ist, ausschließlich Stücke zu zeigen, die von den Ensemblemitgliedern selbst mitentwickelt wurden und nicht einfach Übernahmen von anderen Häusern sind. Am Anfang stand die Idee, Koen Augustijnen aus Brüssel für diese Arbeit zu verpflichten. Belgien – und insbesondere Flandern – ist seit Jahrzehnten eine inspirierende Quelle für die Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Europa. Les Ballets C. De la B. mit seinem Choreografen Alain Platel ist mit seinen aufwühlenden, sich an den Widersprüchen der Gegenwart reibenden Arbeiten zum Vorbild für eine ganze Generation von Choreografen geworden. Zu ihnen gehört auch Koen Augustijnen, der, nachdem er zunächst als Tänzer von Alain Platel um die ganze Welt tourte, selbst einer der prägenden Choreografen des Kollektivs C de la B wurde und sich eine internationale Reputation erwarb. Honne Dohrmann, der Leiter von tanzmainz hatte die Gelegenheit, auf verschiedenen Festivals einige seiner Arbeiten zu präsentieren. Aus dem daraus entstehenden Kontakt ergab sich dann die Arbeit für Oldenburg und deren Fortsetzung hier in Mainz. In den ersten Gesprächen ist dann die Idee entstanden, gemeinsam zum Thema Sehnsucht zu arbeiten. Koen Augustijnen hat eigentlich Geschichte studiert, bevor er über das Theater zum Tanz kam. Vielleicht erklärt das auch seinen besonderen Zugang zu diesem Genre. Koen ist ein warmherziger, sehr politischer Mensch, gerade tourt er mit enormem Erfolg ein Stück mit zehn palästinensischen Tänzern. Seine Choreografien sind oft rau und aufwühlend, aber gerade in ihrem Streben nach Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit berührend schön. Aber diese Authentizität ist nicht einfach zu erzielen. Die Erarbeitung von „Sehnsucht, limited edition“ war für uns und die Akteure einer der intensivsten und aufwühlendsten Prozesse der letzten Jahre. Mehr als 12 Wochen dauerte die Probenarbeit. Zunächst mussten sich die sechs Tänzerinnen und Tänzer darauf verständigen, was Sehnsucht eigentlich bedeutet. Denn dieses schöne deutsche Wort lässt sich kaum adäquat in eine andere Sprache übersetzen und nur eine Tänzerin aus der Originalbesetzung spricht Deutsch. Das Besondere an der Sehnsucht ist ja, dass sie sich in die Vergangenheit und auch in die Zukunft richten kann, dass sie Landschaften, Menschen, Dinge oder auch Gefühle zum Gegenstand haben kann – man kann sich ja zum Beispiel danach sehnen, wieder einmal verliebt zu sein. In der Epoche der Romantik, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, war die Sehnsucht ein prägendes Leitmotiv für Künstler wie den Dichter Novalis oder den Maler Caspar David Friedrich, der übrigens gesagt haben soll: „Der Maler soll nicht malen, was er vor sich sieht, sondern was er in sich sieht.“ Das wiederum passt gut zu unserer Art zu arbeiten. Denn Tänzer unserer Auffassung müssen nicht nur über eine exzellente Technik verfügen, sondern Künstlerpersönlichkeiten sein, die selbst zum Schaffensprozess beitragen und darüber hinaus bei aller Individualität ein Ensemble bilden können. Was im Schauspiel eine Selbstverständlichkeit ist, hielt im Tanz aber erst seit den 1970er Jahren nach und nach Einzug, bis dahin tanzte man vorwiegend äußerlich schön. Unsere Tänzer haben sich vielen Improvisationsaufgaben gestellt – z.B. „Gebe deiner Unzufriedenheit einen körperlichen Ausdruck“ – aber sie haben in langen Gesprächen auch vieles aus ihren eigenen Erfahrungen zum Thema Sehnsucht zu dieser Arbeit beigetragen. Das Vertrauen zu Koen DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN Augustijnen war groß und so ist ein besonders intensiver und zuweilen auch sehr persönlicher Abend entstanden. Auch wenn die Kritiker herzerfrischend unterschiedlicher Meinung über dieses ungewöhnliche Stück waren, so ist die internationale Resonanz auf die Arbeit bislang sehr erfreulich. Sehnsucht, limited edition“ hat bereits Einladungen nach Genf, Brügge und Malmö erhalten. Wir leben in einer Zeit, in der der Druck auf das Individuum immer größer wird. Und so ist es kein Zufall, dass Borderline Syndrom oder Neurosen immer häufiger auftreten. Oft dient die Sehnsucht als Ventil und befreiende Vision. Vielleicht haben Sie sich gefragt, was denn das „limited edition“ in unserem Titel wohl bedeuten mag. Für uns heißt das, dass die Sehnsucht so viele Gesichter hat, dass man sie ohnehin nie ganz fassen kann. So ist denn auch das Stück keine stringente Geschichte, sondern ein Kaleidoskop dessen, was die Sehnsucht mit uns anstellt. Sie sehen auf der Bühne Menschen, in dem verzweifelten Versuch sich zu spüren und inneren Frieden zu finden. Manche scheitern an der Unvereinbarkeit zweier Dinge. Andere sind bereit, alles für die Erfüllung eines großen Traumes zu geben. Und immer wieder scheint das Verlangen nach Gemeinsamkeit durch, das Aufgehobensein in der Gruppe, voller Vertrauen in die Zukunft. Auch wenn Sehnsucht ein eher schmerzhaftes Gefühl ist, entpuppt sie sich doch als die Liebe zum Leben und als starker Motor für Veränderungen. Denn Sehnsucht hat als Utopie auch eine politische Dimension: man denke nur an die vielen Flüchtlinge, die Deutschland gerade erreichen. Das Thema ist ebenso unerschöpflich wie faszinierend. Das Bühnenbild für die heutige Vorstellung stammt von der jungen Australierin Pia Leong. Während der Recherche mit Koen Augustijnen in Brüssel, waren beide viel gemeinsam mit der UBahn unterwegs. Dabei entstand die Idee für einen U-Bahnhof, diesen Ort des Übergangs, der Synonym für Unruhe und Bewegung ist, gleichzeitig aber ein Raum für Wartende, die Zeit zum Nachdenken haben. Ganz prägend für „Sehnsucht, limited edition“ ist der siebte Akteur auf der Bühne. Wir sind sehr froh, dass wir den großartigen flämischen Akkordeonisten Philippe Thuriot für diese Arbeit gewinnen konnten. Der international erfolgreiche Solokünstler treibt mit Auszügen aus Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ das Geschehen auf der Bühne an. Sie gehören zu den schwersten Repertoirestücken auf dem Akkordeon und falls Sie auf den Geschmack kommen, können Sie tagsüber an der Hauptkasse im Großen Haus des Staatstheaters Philippe Thuriots hervorragende CD käuflich erwerben. Vor der Premiere habe ich Koen Augustijnen gefragt, welche Reaktion er sich von den Zuschauern wünschte. Seine Antwort war: „Eigentlich, dass sie am Ende das Theater verlassen und vielleicht sagen, diese Melancholie und mein unerfülltes Verlangen sind ein Teil von mir und eine positive Kraft, die mich trägt und antreibt.“ September 2015 Honne Dohrmann Staatstheater Mainz
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