Tatsachenbindung oder neue Tatsachenfeststellung durch das

Berufung
PAK
VERFAHRENSFEHLER
Tatsachenbindung oder neue Tatsachenfeststellung
durch das Berufungsgericht?
Neue Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht gebieten sich
insbesondere, wenn Beweisaufnahme und Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts auf Verfahrensfehlern beruhen (BGH 3.6.14, VI ZR 394/13,
Abruf-Nr. 142223).
Entscheidungsgründe/Praxishinweis
Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom Gericht des
ersten Rechtszugs festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete
Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Dazu hat der BGH den praktisch wichtigsten Fall bereits
entschieden: Konkrete Anhaltspunkte, die die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich
vor allem aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der
Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (BGH PAK 04, 184).
IHR PLUS IM NETZ
pak.de
Abruf-Nr. 142223
ARCHIV
Ausgabe 11 | 2014
Seite 184
MERKE | In der Praxis ist immer wieder festzustellen, dass die Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts angegriffen wird, was meist scheitert. Tatsächlich
muss etwa ein Verstoß gegen die §§ 286, 287 ZPO beim Beweismaß oder auch
fehlende Hinweise nach § 139 ZPO als Verfahrensfehler gerügt werden, um den
Weg zu einer neuen Beweisaufnahme vor dem Berufungsgericht zu eröffnen.
Zweifel im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO liegen schon vor, wenn aus der für
das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der erneuten, wiederholten oder erstmaligen Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt
(BGH NJW 03, 3480). Ist dies der Fall, obliegt dem Berufungsgericht nach
Maßgabe des § 529 Abs. 1 Nr. 1 HS 2 ZPO die Kontrolle der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage des erstinstanzlichen Urteils.
Wann liegen Zweifel
i.S.v. § 529 Abs. 1
Nr. 1 ZPO vor?
PDF erstellt für Gast am 22.04.2016
MERKE | Bei einem Verfahrensfehler des erstinstanzlichen Gerichts obliegt dem
Berufungsgericht nach Maßgabe des § 529 Abs. 1 Nr. 1 HS 2 ZPO die tatsächliche
Inhaltskontrolle des erstinstanzlichen Urteils ungeachtet einer entsprechenden
Berufungsrüge von Amts wegen (BGH NJW 04, 1876). Wird dem nicht Rechnung
getragen, liegt ein Revisionsgrund vor.
Im konkreten Fall konnte der BGH feststellen, dass die Feststellungen des
LG, die auf eine konkrete Zeugenaussage gestützt waren, sich mit dem im
Protokoll über die Beweisaufnahme niedergelegten Wortlaut der Aussage
des Zeugen nicht vereinbaren ließen. Hier wäre richtigerweise ein Verstoß
gegen § 286 ZPO zu rügen gewesen. Eine Überzeugung des Gerichts kann
nicht auf eine nicht oder nicht so getroffene Aussage gestützt werden.
Feststellungen des
LG und Protokoll
stimmten nicht
überein
10-2014PROZESSRECHT
AKTIV
167
Berufung
PAK
MERKE | Der Gegner konnte nicht mit dem Argument durchdringen, dass sich die
Beweiskraft des Protokolls gemäß § 165 ZPO nicht auf den Inhalt von Partei- und
Zeugenaussagen erstrecke (BGH FamRZ 94, 300; NJW 82, 1052). Denn das Protokoll genießt die allgemeine Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde (§ 415 ZPO).
Der Widerspruch zwischen dem im Protokoll niedergelegten Inhalt der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts kann über § 286 ZPO
danach Zweifel an der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen begründen.
Ein weiterer Fehler der Beweisaufnahme konnte damit begründet werden,
dass das Ausgangsgericht nicht zu allen beweiserheblichen Tatsachen bzw.
Grundlagen der Beweisaufnahme – hier: der vom Beklagten bezweifelten
Glaubwürdigkeit eines Zeugen – Feststellungen getroffen hatte. In der Berufungsbegründung ist also darzulegen, in welchem Schriftsatz Zweifel an der
Glaubwürdigkeit des Zeugen begründet und welche Tatsachen hierzu vorgetragen wurden. Dann ist darzulegen, ob diese Anknüpfungstatsachen bestritten
wurden und, falls ja, welche Beweismittel zu deren Nachweis benannt wurden.
Protokoll genießt
allgemeine Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde
Was in der Berufungsbegründung
darzulegen ist
MERKE | Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass beim erstinstanzlichen Vortrag
weder die Anknüpfungstatsachen noch der Hinweis auf die Beweismittel – gegebenenfalls die eigene Aussage des vermeintlich unglaubwürdigen Zeugen – vergessen werden dürfen, wenn die Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werden soll.
PDF erstellt für Gast am 22.04.2016
Hat die erste Instanz von der Würdigung der von ihr vernommenen Zeugenaussagen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, muss eine Wiederholung der Beweisaufnahme erfolgen, wenn es für die
Glaubwürdigkeit des Zeugen auf dessen persönlichen Eindruck ankommt
und dieser sich nicht aus dem Vernehmungsprotokoll ergibt und auch nicht
sonst in die Verhandlung eingeführt worden ist.
Im Fall des BGH ging es dann noch um die Frage, ob ein bestimmter Zeuge
Verrichtungshilfe des Beklagten war, was dieser bestritten hatte. Der Kläger
war beweisfällig geblieben, reklamierte aber eine sekundäre Darlegungs- und
Beweislast des Beklagten. Das Berufungsgericht ist dem gefolgt. Der BGH hat
das anders gesehen: Die Annahme einer sekundären Darlegungslast setzt
voraus, dass die nähere Darlegung dem Behauptenden nicht möglich oder
nicht zumutbar ist, während der Bestreitende alle wesentlichen Tatsachen
kennt und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Ob und inwieweit
die nicht darlegungsbelastete Partei ihren Sachvortrag substanziieren muss,
lässt sich nur aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag bestimmen, wobei die Ergänzung und Aufgliederung des Sachvortrags bei hinreichendem Gegenvortrag immer zunächst Sache der darlegungs- und beweispflichtigen Partei ist. Eine darüber hinausgehende Substanziierungslast trifft
die nicht beweisbelastete Partei nur ausnahmsweise, wenn der darlegungspflichtige Gegner außerhalb des von ihm darzulegenden Geschehensablaufs
steht und die maßgebenden Tatsachen nicht näher kennt, während sie der
anderen Partei bekannt und ihr ergänzende Angaben zuzumuten sind.
Grundsätze der
sekundären
Darlegungs- und
Beweislast
MERKE | Die Partei, die sich in Beweisnot befindet, muss die sekundäre Darlegungs- und Beweislast in diesem Sinne ausführlich begründen und sollte sodann
um einen gerichtlichen Hinweis nach § 139 ZPO bitten.
10-2014PROZESSRECHT
AKTIV
168