Raus an die Luft! Japans Markt für Freizeitaktivitäten lässt sich weder vom demografischen Wandel noch von wachsender Disparität am Arbeitsmarkt erschüttern. Angesagt sind Sport und Aktivitäten, die nach draußen führen. Einige klassische Vergnügungen dürften allerdings langfristig einem düsteren Schicksal entgegen sehen. Von Patrick Bessler und Elise Ketelsen J edes Jahr bevor der Sommer in Japan einzieht, widmet sich Rie Sato einer sehr traditionellen Freizeitbeschäftigung. Die Angestellte bestellt dann gemeinsam mit Eltern, Geschwistern und Großeltern die drei Reisfelder der Familie, nahe dem Elternhaus in einer der Nachbarpräfekturen Tokyos. Die anstrengende Arbeit, die früher der Selbstversorgung mit Reis diente, stellt heute auch ein wertvolles Stück Lebensqualität dar. Sie verbindet die Familie und bietet Abwechslung zum Büroalltag. Frau Sato liegt damit im Trend. Immer mehr Japaner verbringen ihre Freizeit aktiv im Freien, betätigen sich sportlich oder sehen ihre Familie. Sie haben dafür im Schnitt mehr Freizeit zur Verfügung – aber weniger Geld, zumindest statistisch gesehen. De facto ist der Markt für Freizeitaktivitäten und -produkte in Japan hingegen 2013 zum ersten Mal seit 11 Jahren wieder gewachsen, so aktuellste Zahlen des Japan Productivity Center (JPC). Mit 65,2 Billionen Yen (ca. 486 Mrd. Euro) legte er um 0,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Diese positive Tendenz zieht sich durch verschiedene Branchen: Der Reisein6 J A PA N M A R K T JULI/AUGUST 2015 dustrie geht es gut, Hotels sind dauerhaft ausgelastet, was nicht nur an den steigenden Zahlen ausländischer Touristen liegt. Sportartikelhersteller verzeichnen kontinuierliche Gewinnsteigerungen. Themenparks melden Rekordbesucherzahlen. Mehr und weniger: Zeit und Geld Japan ist bekannt für seine langen, wenn auch nicht unbedingt immer intensiven Arbeitszeiten. Allgemein ist in Japan in den letzten Jahren ein Trend hin zu einer geringeren Stundenzahl zu beobachten, wie Daten der OECD zeigen. Arbeiteten Japaner vor zehn Jahren noch im Schnitt 1.785 Stunden, waren es 2014 „nur“ noch 1.735. Im Mai dieses Jahres wartete das japanische Arbeits- und Gesundheitsministerium jedoch mit weniger positiven Zahlen auf: Demzufolge arbeitete der durchschnittliche Vollzeitangestellte in Japan im abgelaufenen Jahr 2014 173 Überstunden. Das waren sieben Stunden mehr als 2013 und 36 Stunden mehr als vor zwei Jahrzehnten. Pro Woche ergibt das durchschnittlich Wikimedia/Jorge Royan T H E M A D E S M O N AT S sich die finanzkräftigen, spendierfreudigen und mit zunehmend viel Zeit ausgestatteten Babyboomer-Jahrgänge – in Japan sind das vor allem die Jahrgänge 1947-1949. Die gehen gegenwärtig in Rente und gelten laut Statistik des „Leisure Whitebook 2014“ zu den Zufriedendsten in Japan, wenn es um Freizeit geht. Mit einem Wert von 3,9 auf einer Skala von 4 sind auch die noch etwas älteren Japaner in ihren Siebzigern vollends zufrieden mit ihrem Freizeitleben. Am niedrigsten liegt dieser Wert bei Männern und Frauen in ihren Vierzigern. Sie kommen auf etwa 3,3 Punkte – eine Verschlechterung im Vergleich zur Vorjahresumfrage. Was gerade angesichts der fragwürdigen Überstundenstatistiken zählt, ist das subjektive Empfinden der Bürger. Laut der JPC-Umfrage hat mit 23 Prozent gegenüber 2003 (27,4%) eine beständig schwindende Zahl von Japanern das Gefühl, ihre Freizeit würde abnehmen. Gleichzeitig stieg die Zahl derer, die meinten, mehr Freizeit zu haben, zwischen 2003 und 2009 von 16 auf 24 Prozent. Seither sinkt sie jedoch kontinuierlich wieder. 2013 antworteten nur noch 19,5 Prozent der Befragten, dass sie tatsächlich mehr Freizeit hätten. MEHR FREIE TAGE U m mehr Freizeit zu schaffen, hat die Regierung in den vergangenen Jahrzehnten bereits die Zahl der Feiertage und den gesetzlichen Urlaubsanspruch erhöht. 16 Feiertage sind schon jetzt ein internationaler Rekord und 2016 wird mit dem yama no hi, dem Tag des Berges, noch ein weiterer hinzukommen. Der durchschnittliche Urlaubsanspruch beträgt in Japan derzeit nach einem Bloomberg-Bericht mehr als 18 Tage. Doch genommen werden davon immer noch weniger als die Hälfte. Im Juni legte das Arbeits- und Gesundheitsministerium den Entwurf für weitere Maßnahmen vor. Nach dem Plan sollen die Erwerbstätigen bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als 70 Prozent ihrer Urlaubstage nehmen. Zudem soll der Anteil der Mitarbeiter, die über 60 Stunden pro Woche arbeiten, von 9 Prozent im Jahr 2013 bis zum Ende des Jahrzehnts auf 5 Prozent verringert werden. Wikimedia Commons/hogeasdf 3 Überstunden – die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen 1993. Am meisten Überstunden leisteten die Arbeiter im Transportsektor – Lastwagenfahrer oder Auslieferfahrer – mit 463 Überstunden. In der Automobilproduktion kamen die Arbeiter auf 275 Stunden und im IT-Sektor auf 248 Stunden. Und das sind nur die offiziellen Statistiken. Wer Einblick in die japanische Arbeitswelt hat, weiß, dass 3 Überstunden pro Woche in vielen Sektoren für Festangestellte schlicht utopisch sind. Die Widersprüchlichkeit zwischen den OECD-Zahlen und dieser Meldung liegt vor allem in der zunehmenden Diskrepanz der Beschäftigungsverhältnisse. Fast 40 Prozent aller Beschäftigten in Japan arbeiten derzeit als Zeit- und Leiharbeiter und werden häufig stundenweise bezahlt. Ihre Arbeitszeiten sind ebenso geringer wie ihre Einkommen, selbst wenn sie die gleiche Arbeit wie die Festangestellten verrichten. Viele Unternehmen scheuen sich immer noch, neue Festangestellte einzustellen, die eventuell nur schwer wieder loszuwerden sind. Die Arbeitsbelastung der bereits Angestellten steigt, insbesondere in Zeiten konjunktureller Erholung. So bleibt am Ende das alte Bild: Die einen haben mehr Geld aber wenig Freizeit. Die anderen haben Zeit, aber weder Geld noch das Gefühl, sozial abgesichert zu sein und das Ersparte für Vergnüglichkeiten ausgeben zu können. Sorgen bereiten zudem die Lohnentwicklungen: Die Löhne und Gehälter sind in Japan in den vergangenen Monaten so kräftig gestiegen wie zuletzt vor 17 Jahren. Das könnte damit zusammenhängen, dass Japan nahezu Vollbeschäftigung erlebt. Mit der Inflation konnten sie jedoch nicht mithalten. Zunehmend bemühen sich Unternehmen jedoch, ihre Angestellten zu kürzeren Arbeitszeiten zu motivieren. Das Handelshaus Itochu verbot beispielsweise 2013 Arbeitszeiten über 20 Uhr abends hinaus. Stattdessen sollten die Arbeiter zwischen 5 und 8 Uhr morgens mit der Arbeit beginnen. Wer vor 8 Uhr erscheint, bekommt einen Zuschlag und ein Frühstück. Das Ergebnis war laut einem Bericht der Wirtschaftszeitung Nikkei positiv: Die Zahl der Überstunden von Führungsmitarbeitern sank auf 45 Stunden pro Monat, vier weniger als zuvor. Die Angestellten arbeiteten tagsüber effektiver, weil sie abends früher gehen mussten, lautete die Erklärung des Handelshauses. In dem Bestreben, die frühen Abendstunden für Zeit mit der Familie freizumachen, startete die japanische Regierung Anfang Juli eine ähnliche Initiative. Dabei werden Mitarbeiter dazu aufgefordert, ihre Arbeitszeit ein bis zwei Stunden vorzuverlegen. Laut einer Studie von Emiko Takeishi, Professorin an der Hosei Universität, beginnen nur etwa sieben Prozent der Japaner ihre Arbeit vor 8 Uhr morgens. In Großbritannien und Deutschland, die als Vorbilder der Initiative genannt werden, beginnen ganze 21 beziehungsweise 47 Prozent ihre Arbeit vor dieser Zeit. Trotz Einschränkungen zufrieden Dennoch sind, zumindest dem statistischen Jahrbuch des JPC zufolge, weite Teile der Bevölkerung recht zufrieden mit ihrer Freizeitsituation. Ganz oben auf der Zufriedenheitsskala finden JULI/AUGUST 2015 J A PA N M A R K T 7
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