Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft.

Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz
Diakonie. Für Vielfalt
in der Nachbarschaft.
Arbeitshilfe für
den Monat der
Diakonie 2015
Inhalt
3 Vorwort
Barbara Eschen
5
Wo kommen wir her?
Biblische Leitbilder von Stadt und Gemeinschaft
Viola Kennert
13
Zum Beispiel: Mehrgenerationenhaus der Paul-
Gerhardt-Kirchengemeinde in Berlin-Spandau
4
1
Kriterien zum Aufbau von Gemeinwesendiakonie-
Projekten
Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
17
Die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung
18
Zum Beispiel: ESTAruppin
9
1
19
19
21
21
23
Gottesdienstbausteine für den Sonntag der Diakonie
Lieder
Lesungen
Psalmen
Gebete
Gestaltungselement im Gottesdienst:
Vielfalt sichtbar machen
25
Zum Beispiel: ZukunftsHaus Wedding
6
2
„Gott Gewicht geben“
– Predigt über die Jahreslosung Römer 15,7
Heilgard Asmus
29
Zum Beispiel: Campus Hedwig
30
Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft.
Predigt über Jeremia 29, 4-7
Barbara Eschen
5
3
Monat der Diakonie
Ihre Beteiligung
Vorwort 3
Diakonie. Für Vielfalt
in der Nachbarschaft.
Diakonie geschieht an vielen Stellen und auf unterschiedliche Weise in
unseren Einrichtungen, Kirchengemeinden und Projekten. Damit leisten
Kirche und Diakonie wichtige Beiträge zu gesellschaftlichen Entwicklungen: Flüchtlingsarbeit, Alten- und Krankenpflege, Bildung und Erziehung, Therapie, Schuldnerberatung, Besuchsdienste, Obdachlosenhilfe …
So werden Menschen individuell unterstützt und zugleich das Miteinander von uns allen gefördert. Es geht um den Zusammenhalt in unserer
Gesellschaft, und darum, dass jede/r in ihr ihren/seinen Platz hat.
Diakonie beinhaltet viele spannende Aufgaben, sie beinhaltet auch eine
Lebenshaltung. Sie geschieht nicht nur durch Projekte und Organisa­
tionen, sie geschieht in allem, was wir tun als Kirche oder diakonische
Einrichtung oder überhaupt als Person. Denn sie strebt danach, dass
wir jeden Mitmenschen teilhaben lassen an der Gemeinschaft aller.
Das ist nicht leicht und nicht selbstverständlich. Menschen mit einer
Behinderung haben oft viele Hürden zu nehmen, um allein an einem
Gemeindefest teilnehmen zu können. Flüchtlinge werden misstrauisch
beobachtet oder gar angefeindet. Alte und pflegebedürftige Menschen
verlieren ihre vertrauten Kontakte. Mit Arbeitslosigkeit geht oft Ausgrenzung einher. Dass alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben können,
ist oft nicht gegeben.
Wir sind deshalb in verschiedenen Lernprozessen miteinander unterwegs. In den Kirchengemeinden, die ihre diakonischen Aufgaben überdenken und neu entdecken. Und auch in den diakonischen Einrichtungen, die sich nicht mehr primär als Schutzräume für Menschen in
besonderen Lebenslagen verstehen, sondern Assistenz zum Leben in
der Gemeinschaft bieten möchten.
Oft geschieht diakonische Arbeit im Verbund zwischen Kirchengemeinden und Einrichtungen, vernetzt mit anderen Akteuren in der Nachbarschaft. Vielfach aber wissen die Aktiven nur wenig voneinander, weil sie
durch ihre Alltagsaufgaben sehr belastet sind. Ihnen entgeht vielleicht
die Chance, gemeinsam mehr bewirken zu können.
Deshalb laden wir ein, den Monat der Diakonie zu nutzen, um die eigene
diakonische Arbeit zu zeigen und Kontakt mit kirchlichen oder diakonischen Partnern in der Nachbarschaft zu knüpfen.
4 Vorwort
Unser Jahresmotto bringt das Anliegen zum Ausdruck:
Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft.
Mit diesem Thema greifen wir einen Trend auf, der unter dem Stichwort
„Gemeinwesendiakonie“ diskutiert wird. Er beinhaltet Gemeindekonzepte, die für eine offene Kirchengemeinde werben. Gemeindehäuser
und Kitas sollen sich als Stadtteilzentren öffnen und sich mit anderen
sozialen Akteuren in der Nachbarschaft vernetzen. Ein Ideengeber für
diese Sichtweise ist Ernst Lange, der mit der Ladenkirche in Spandau in
diesem Sinne gewirkt hat. Bundesweit haben sich Kirchengemeinden
und diakonische Einrichtungen der beiden großen Konfessionen unter
der Überschrift „Kirche findet Stadt“ auf den Weg gemacht, um neue
vernetzte Projekte als Kirche in der Nachbarschaft zu entwickeln. Dazu
gehört auch die Zusammenarbeit mit Kommunen und Bezirken, beispielsweise mit dem Quartiersmanagement.
Andere Quellen, aus denen diese Bewegung gespeist wird, sind der
Ansatz der community care in der Pflege und die Sozialraumorientierung der Jugendhilfe. Bei beiden steht der Gedanke im Vordergrund,
Menschen, insbesondere auch wenn sie hilfebedürftig sind, nicht isoliert, sondern in ihrer Umgebung zu sehen und sie darin zu unterstützen,
am Leben des Umfeldes teilzuhaben.
Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft. Das ist kein einfaches,
aber ein bereicherndes Motto. Diejenigen, die in Kirchengemeinden und
Einrichtungen vernetzt arbeiten, haben es erlebt. Es lohnt sich, sich auf
den Weg zu machen. Und es braucht Stärkung: durch Gespräche und
Begegnungen, Besuche und Diskussion und auch durch Feier und
Gottes­dienst.
Anregungen und Hinweise soll Ihnen diese Arbeithilfe für den Diakoniesonntag am 6. September 2015 und für den ganzen September als
Monat der Diakonie geben – aber auch darüber hinaus. Wir freuen uns,
dass die erste Auflage wegen bundesweiter Nachfrage bereits vergriffen
ist, so dass wir nachdrucken. Herzlich danken wir allen, die ihre Beiträge
zur Verfügung gestellt haben und freuen uns, wenn an vielen Stellen
ausprobiert wird: Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft.
Barbara Eschen
Berlin, im Juli 2015
Einführung 5
Wo kommen wir her?
Biblische Leitbilder von Stadt und Gemeinschaft
Viola Kennert
Die Stadt – das ist das enge Zusammenleben.
Dort ist Unruhe und das Böse hat eine Chance. Die Menschen können
sich – vor Gott und voreinander – verstecken und andere werden vergessen, gehen unter.
Biblische Städte fallen mir ein: Sodom und Gomorra, Babel und Ninive.
Nach Ninive wird Jona von Gott geschickt, um die Menschen der Stadt
zur Umkehr zu bewegen.
Die Stadt – das ist biblisch der Ort, an den Gott geht, wo Gott zu den
Menschen hingeht bzw. jemanden hinschickt. Mitten hinein zu den
Men­schen schickt Gott Jona nach Ninive.
Zwei Engel kommen nach Sodom.
Und auch dieses wunderbare Bild hat in der Bibel seinen Platz: Die
Weisheit geht durch die Straßen. Sie geht und predigt und wirbt. Die
Weisheit wandert, läuft durch die Stadt. Sie ist seit der Schöpfung die
Partnerin Gottes und sie ist mitten in der Stadt, unterwegs.
Das sind Bilder von Hektik, Betriebsamkeit, Verlorenheit und von Gottes
Gegenwart mittendrin.
Andererseits: Viele Heilungsgeschichten finden am Rande der Stadt
statt. Auch die große Bergpredigt findet abseits statt. Am Rande, außerhalb steht die einzelne, die heilende, rettende Beziehung im Mittelpunkt.
Wie ein Ausschnitt, der vergrößert wird, der „herangezoomt“ wird.
Heilendes Handeln – mitten in der Stadt – und am Rande.
Welche Bilder bewegen uns, wenn wir über diakonisches Engagement
nachdenken?
Was treibt uns theologisch (an)?
Es sind einerseits die Bilder und andererseits die Erzählungen, die aufgeschriebene Botschaft, die in diesen Bildern steckt. Die heilige Schrift
also – und die Suche nach einer tiefen, existenziellen Erfahrung, die uns
bewegt zu den anderen hin.
6 Einführung
Uns treibt die Sehnsucht nach Heil und Frieden.
Gemeinwesen – Stadt – Diakonie.
Auf der Suche nach biblischen Leitbildern möchte ich den folgenden
Weg gehen:
An fünf Merkmalen von diakonischem Handeln möchte ich an biblische
Bilder erinnern, die Sie inspirieren können, und – so hoffe ich – Ihnen
Anstöße geben, Ihre eigenen theologischen Begründungen für das diakonische Handeln der Kirche in der Stadt weiter zu denken.
1. Diakonie ist Mahnung
Gott schafft denen Recht, die Unrecht leiden. Gott speist die Hungrigen
(Psalm 146).
Maria singt vor der Geburt Jesu und nimmt das Lied der Prophetin
Hanna auf:
Gewaltige stürzen vom Thron. Hungrige füllt er mit Gütern und Reiche
lässt er leer ausgehen (Lukas 1, 46-55 und 1. Samuel 2).
Propheten und Prophetinnen kritisieren die Ausbeutung, die Ungerechtigkeit, Diskriminierung (z.B. Amos, Hosea).
Die Heilungen Jesu haben die Re-Integration der Geheilten zum Ziel
(z.B. Markus 2, 1-12).
Man kann es auch so sagen: Die Heilungen qualifizieren das neue Gemeinwesen als Integration aller (Inklusion). Die sozialen Unterschiede
werden aufgehoben (z.B. Lukas 8 und Lukas 15).
Die Blickwendung der Christenheit auf die Unterdrückten meint dem­
zufolge auch immer Kritik an den politischen Verhältnissen.
Bei der Frage nach dem Leid der Menschen ist immer zu unterscheiden
zwischen dem Leid, das zu tragen ist (Tod, Krankheit) und dem Leid,
das durch gesellschaftliche Strukturen bedingt ist.
Dabei wird auch deutlich, dass Arme zu jeder Gesellschaft gehören.
Einführung 7
Armut gibt es auch in gerechten Strukturen. Doch: Verarmung darf nicht
als individuelle Schuld stigmatisiert werden. Es ist sehr genau hinzu­
sehen, ob eine Gesellschaft Menschen in die Verarmung treibt.
Wer die biblischen Gebote achtet, gewährt Armen Schutz und Almosen.
Und findet Zeit und Worte, für die zu beten, die von schicksalhaftem
Leid geplagt sind.
Ein Fazit aus diesem ersten Gedankengang: Mahnung ist Kritik an ungerechten Strukturen und theologische Ehrlichkeit: Das Reich Gottes
kommt und ist nicht machbar.
2. Diakonie ist Barmherzigkeit
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter spielt sich auf dem Weg
zwischen zwei Städten ab. In diesem Gleichnis geschieht eine Zu­
wendung, in der der Erbarmende seinen Weg unterbricht und Initiative
ergreift (Lukas 10, 25-36).
Die zehn Aussätzigen wohnen, leben außerhalb der Stadt. Sie rufen
Jesus und er heilt sie. Alle werden geheilt, einer kehrt um, um zu danken
(Lukas 17, 11-19).
Über das Wesen von Erbarmung lernt man hier:
Erbarmen fragt nicht nach der Ursache des Leides – Überfall oder
Krankheit.
Erbarmen macht aus dem Leidenden ein Gegenüber – Barmherzigkeit
schließt Herablassung aus.
Erbarmen fragt nicht nach Dank und Bekehrungserfolgen.
Erbarmen ist die Fähigkeit, mit anderen zu leiden, und ist die Erkenntnis
der eigenen Fähigkeit, zu helfen.
Kleines Fazit:
Erbarmen ist eine persönliche Regung, die vor dem Egoismus bewahrt.
Erbarmen bewahrt auch eine Gemeinde und die Kirche vor Egoismus!
8 Einführung
3. Diakonie markiert die Schwelle zwischen „innen“ und „außen“
Oder: Diakonie ist die Tür, die Schwelle zur Gemeinde: über die Diakonie
kommen Menschen zur Gemeinde.
Die erste Gemeinde, von der wir einen ausführlichen Bericht haben, ist
die in Jerusalem (Apostelgeschichte, hier besonders Kapitel 2, 4 und 6).
Mitten in der turbulenten Stadt Jerusalem sammelt sich die Gemeinde
nach dem Pfingstfest und dem darin begründeten Neuanfang nach
Ostern:
Sie versammeln sich, brechen das Brot, loben und beten, teilen, was sie
haben und sorgen füreinander.
Und sie schaffen sich sehr bald eine Struktur der Aufgabenverteilung, in
der sie Menschen aus ihrer Mitte aussuchen, die sich um die Armen und
Witwen kümmern (Apostelgeschichte 6).
Diese Gemeinde ist attraktiv. Es kommen immer mehr dazu. Die Attraktivität ist die neue Sozialität, die anders ist als die Stadt, die aber in der
Stadt stattfindet. Diese Gemeinde hat eine diakonische Ausstrahlung.
Jesus sandte die Seinen aus, zu predigen und Kranke zu heilen. Und er
sandte sie in die Städte und Dörfer. Das ist die Kernbestimmung des
Auftrages Jesu (Lukas 9, 1-6).
Mit dieser „missionarischen Methode“ – Predigt und Heilung der
Kranken – wird der urbane Raum durchdrungen, ohne Besitzanspruch
zu erheben.
Die Attraktivität der Jesusbewegung ist, dass die Jünger und Jüngerinnen etwas wollen.
Sie fragen nicht: Was bringt es?
Sie sagen einander: Was bewegt uns?
Das ist die Fragestellung, die die eigene Motivation klärt und unabhängig und frei macht.
Einführung 9
Oder anders zusammengefasst: An der Schwelle zwischen „in der Gemeinde“ und „nicht in der Gemeinde“ – hier jetzt gemeint: die Diakonie
– fragen die Menschen: Was bewegt euch?
Die Antwort unterscheidet uns von anderen „Anbietern“.
4. Diakonie ist gegenseitiger Dienst
Wir brauchen in der Kirche eine Orientierung nach innen und nach
außen.
Christliche Gemeinde strahlt aus (ist attraktiv), wenn sie sich auch selbst
als diakonische Gemeinde versteht (Innenperspektive).
Und: Christliche Gemeinde darf sich nicht aus dem Gemeinwesen
zurückziehen. Sie muss offene Türen haben und wahrnehmen, was
außer­halb geschieht (Außenperspektive).
Nur das Gleichgewicht von beidem ist biblisch und macht die Gemeinde
attraktiv, interessant.
Das Gleichnis von den Werken der Barmherzigkeit (Matthäus 25, 31-46)
beschreibt die Außenorientierung:
Jesus spricht: „Was ihr getan habt einem von diesen Geringsten, das
habt ihr mir getan.“
Im Fremden, Armen (Nackten), Kranken, Gefangenen begegnen wir
Jesus. Und wer den Notleidenden aus dem Weg geht, geht Jesus aus
dem Weg.
Im ersten Korintherbrief 12 beschreibt Paulus die Gemeinde als einen
Leib mit vielen Gliedern. Die Gemeinde ist in sich und für sich dia­
konisch:
Jedes Glied hat seine eigene Dignität – nur im Geben und Nehmen
erfüllt sich Gemeinde.
Am Ende nennt Paulus Apostel, Lehrer, Wundertäter, Heiler und
ermahnt, sich nicht zu verschließen. Und das anschließende „Hohelied
10 Einführung
der Liebe“ (1 Korinther 13) eröffnet den weiten Raum hin zu allen
Menschen: Die Liebe.
Das heißt für mich: Die diakonisch wirkende Gemeinde in der Stadt, die
im Gemeinwesen ihren Platz finden will, muss sich selbst – auch als
Organisation! – immer mal wieder zum Thema machen. Es geht immer
um beides: Gutes zu tun nach außen hin und Gutes zu tun nach innen
hin. Die Überprüfung des eigenen Wirkens bewahrt uns davor, dass sich
fremde Kriterien einschleichen.
5. Diakonie ist der Dienst der Gemeinde in der Stadt und in der Welt
Die vielfach beschriebene biblische Geschichte von der „Speisung der
5000“ (z.B. Markus 6, 30-44) beschreibt wie in einer Zeitlupe einen
diakonischen Rhythmus:
Zuerst sollen sich die erschöpften Aktiven zurückziehen. Sie brauchen
Ruhe.
Dann folgt die Predigt Jesu für die Menschen.
Nach der Predigt nehmen Jesus und die Seinen ernst und wahr, dass
die Menschen Hunger haben.
Die Jünger machen einen pragmatischen Vorschlag: Schicke sie zurück
in die Dörfer und Städte, dort können sie sich etwas zu Essen kaufen.
Jesus reagiert, in dem er den Aktionismus bremst: Seht, was da ist.
Und dann: Setzt euch in Gruppen zusammen. Teilt aus, was da ist.
Und es reicht.
Zuerst die Wahrnehmung, dann die Konzentration auf Vorhandenes,
und dann die Selbstorganisation in Gang setzen. Das sind bedachte,
ruhige, aufeinanderfolgende Schritte.
Die Gemeinde (Jünger und Jüngerinnen) handelt besonnen und achtet,
das was da ist: Menschen, die auf Teilen ansprechbar sind, weil
sie miteinander leben wollen. Das wird verstärkt und von Christus
geseg­net.
Einführung 11
Dieses findet auch alles außerhalb der Stadt statt.
Außerhalb ist es leichter, die eigene Identität, den eigenen Weg zu
finden.
Innerhalb ist man immer schon festgelegt.
Diakonie ist auf der Schwelle. Diakonie ist die Gemeinde, die unterwegs
ist und Kompromisse findet, zwischen denen, die außerhalb sind und
denen, die innen sind.
Diakonie – das ist die diakonische Gemeinde, die in die Stadt gesandt ist.
Zum Schluss:
Diakonie ist
Mahnung
Barmherzigkeit
Existenz auf der Schwelle
Gegenseitiger Dienst
die gesandte Gemeinde
Diakonie kann und soll im Gemeinwesen, in der Stadt die Liebe Gottes
bezeugen. Diakonie ist berufen zu handeln und dabei den Einzelnen
wahrzunehmen, das gesellschaftliche System (kritisch) wahrzunehmen
und auch die eigene Organisation, Struktur (kritisch) wahrzunehmen.
An den Schluss möchte ich die Vision aus der Offenbarung des
Johannes stellen:
Die neue Stadt Jerusalem, das wird ein neuer Himmel und neue Erde
sein.
Gott wird abwischen alle Tränen.
Kein Tod, kein Leid, kein Schmerz wird mehr sein (Offenbarung 21, 1-7).
Das ist die Vision, die uns bewegt.
Dazu ein Jesuswort:
12 Einführung
Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse,
sondern dass er diene (Markus 10,45).
Unser Dienst steht im Zusammenhang mit dieser Vision aus der
Offenba­rung. Sie motiviert uns. Diakonie ist Unterwegs sein zu den
Menschen. Unterwegs sein ist eine Form von Hingabe.
Hingabe ist Loslassen und Hineinbegeben.
Diakonischer Dienst hilft den Menschen und hält sie nicht fest.
Viola Kennert ist Superintendentin im Kirchenkreis Berlin-Neukölln.
Dieser Vortrag wurde gehalten bei der Tagung „Kirche in der Mitte der
Gesellschaft. Theologische Bestimmung des sozialen und dia­konischen
Engagements“ am 07.04.2011 in der Ev. Bildungsstätte Schwanenwerder. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Beispiel 13
Zum Beispiel:
Mehrgenerationenhaus der Paul-GerhardtKirchengemeinde in Berlin-Spandau
Das Mehrgenerationenhaus der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde
wurde als Bildungs- und Veranstaltungsort in Berlin-Spandau in
engem Kontakt mit der Kommune aufgebaut. Rund 200 Ehrenamtliche engagieren sich in dieser intensiven Nachbarschaftsarbeit,
auch leitende Funktionen sind ehrenamtlich besetzt.
Mit dem Stadtteilcafé, der Ausgabestelle von Laib & Seele (vor­
wiegend von Betroffenen selbst durchgeführt), den zahlreichen
Bildungs- und Beratungsangeboten für Menschen jeden Alters
wie Mieter- oder Rentenberatung, Gesundheitsthemen, Kindertanz,
Englisch­unterricht usw. ist das Mehrgenerationenhaus zu einer
wichtigen und viel frequentierten Anlaufstelle im Quartier geworden.
Menschen aus dem Mehrgenerationenhaus beteiligen sich aktiv an
den Bürgergremien des Stadtteils und leisten die Vernetzungsarbeit
im Bezirk.
Träger:
Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde in Berlin-Spandau
Kontakt:
Im Spektefeld 26, 13589 Berlin
[email protected]
www.paulgerhardtgemeinde.de
14 Einführung
Kriterien zum Aufbau von
Gemeinwesendiakonie-Projekten
Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband
1. „Suchet der Stadt Bestes! “ (Jeremia 29,7)
Die evangelische Kirche und ihre Diakonie folgen dem biblischen Auftrag und suchen gemeinsam der Stadt Bestes. In Treue zur Schöpfung
Gottes schauen sie auf die Lebensverhältnisse vor Ort; in der Hoffnung
auf eine neue Welt ohne Ausgrenzung und Zerstörung arbeiten sie mit
anderen zusammen.
2. Verantwortung für den Stadtteil
Kirche und Diakonie sind Teil des Gemeinwesens und (mit) verant­
wortlich für das Wohlergehen der Menschen im Stadtteil. Gemein­
wesendiakonie will Verantwortung im Quartier und für das Quartier
übernehmen. Ziel ist die Erfahrung gelingender Gemeinschaft und
lebendiger Gemeinden, die Bildung von sozialem Kapital im Stadtteil
und die Erhöhung von Lebensqualität für alle Bewohnerinnen und
Bewohner.
3. Strategische Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie
Gemeinwesendiakonie vernetzt die Vielfalt der „protestantischen Familie“: Kirchengemeindliches Engagement, evangelische Einrichtungen,
diakonische Dienste und kirchliche Werke am Ort gehören zusammen. So werden Kindertageseinrichtungen und Beratungsstellen zum
Familien­zentrum. Mehrgenerationenhäuser arbeiten mit Pflegediensten
und Besuchsdiensten zusammen. Verfasste Kirche und organisierte
Diakonie initiieren und gestalten gemeinsam sozialräumliche Entwicklungspartnerschaften.
Dabei ist Gemeinwesendiakonie ökumenisch orientiert und lebt von
Kooperationen mit weiteren Akteuren im Quartier.
4. Geerdet im Alltag – Zugänge eröffnen, nicht nur Dienstleis­
tungen anbieten
Ausgangspunkt, Weg und Ziel ist immer der Alltag der Menschen im
Quartier. Deren Bedarfe und Bedürfnisse, ihre alltäglichen Anliegen,
Wünsche und Hoffnungen müssen wahrgenommen und ernst genommen werden. Denn die gesellschaftlichen Prozesse von Vereinzelung
und Benachteiligung, Segregation und Exklusion manifestieren sich in
den Wohnvierteln. Die Erfahrung zeigt aber auch: Das Quartier hält ungeahnte Ressourcen bereit. Gemeinwesendiakonie will deshalb nicht
nur Dienstleistungen wie Familienzentren oder Stadtteilcafés anbieten
Einführung 15
oder wie in der Quartierspflege Versorgungsstrukturen optimieren, sondern neue Zugänge eröffnen, Ressourcen entdecken und Menschen
ermutigen.
5. Kirche und Diakonie als Akteur unter anderen Akteuren –
Koope­ration und Profil
Je nach Situation, nach Ressourcen und Begabungen, nach Kräften
und gesellschaftlichen Möglichkeiten können Kirche und Diakonie verschiedene Rollen einnehmen. Um es mit dem Bild einer Filmproduktion
zu sagen: Sie können Produzent, Regisseur, Haupt- oder Nebendarsteller, manchmal vielleicht auch nur Komparse sein. Wichtig ist, dass sie in
ihrer Motivation und ihrem Profil erkennbar bleiben.
6. Identifikation mit Kirche und Diakonie: von der Leuchtkraft
des Evangeliums
Gemeinwesendiakonisches Engagement stärkt die Identifikation der
Menschen mit Kirche und Diakonie und mit ihrem Quartier. Kristallisa­
tionsorte sind oft Kirchengebäude als Symbole des Stadtteils. Menschen erleben das kirchlich-diakonische Engagement beruflich und
ehrenamtlich Mitarbeitender, sie machen neue Erfahrungen von Nachbarschaft, Gemeinschaft und Verlässlichkeit, sie entdecken dabei die
Kraft des Evangeliums, die Menschen zur Mitte führt, trägt und bewegt.
7. Fremde Heimat Kirche: Beheimatung wächst aus Begegnung
Gemeinwesendiakonie wird durch die Begegnung mit dem Fremden
herausgefordert: durch nicht-bürgerliche Milieus, andere Konfessionen
und Religionen, fremde Kulturen und Sprachen. In dieser Auseinandersetzung kann sich eigene Identität klären und entwickeln. Aus Begegnung wächst Beheimatung, aus Befremdung neue Vergewisserung und
oft auch eine neue Verwurzelung im Glauben.
8. Kompetenz und Präsenz: freiwillige und berufliche Mitarbeit
Selbstorganisation, Beteiligung, Empowerment, Vernetzung und Nachhaltigkeit müssen gewollt und gefördert werden. Dazu braucht es Menschen mit Kompetenz und Präsenz. Das ehrenamtliche Engagement
schlägt eine Brücke in die Gesellschaft, die beruflichen Mitarbeitenden
sorgen für Kontinuität und Professionalität. Alle Beteiligten im Team lernen voneinander und brauchen kontinuierliche Förderung. Die Beglei-
16 Einführung
tung und Fortbildung der Ehrenamtlichen und die Weiterbildung der
Hauptamtlichen gehören zum Standard von Projekten der Gemeinwesendiakonie.
9. Vom Projektstatus zur Nachhaltigkeit: Strukturen und Finan­
zierung
Gemeinwesendiakonie braucht langen Atem und gelingt langfristig nur
mit einer soliden finanziellen Basis. Kirchengemeinden, Kirchenkreise,
Landeskirchen und diakonische Einrichtungen sind herausgefordert,
verlässliche Finanzierungen und robuste Trägerstrukturen zu ent­wickeln.
Projektfinanzierungen können einen Einstieg ermöglichen.
10. Balance halten und Versuchungen widerstehen: Aktion und
Kontemplation
Gemeinwesendiakonie will Mitglieder-, Klienten- und Stadtteilorien­
tierung in Balance bringen. Sie widersteht der Versuchung, sich in binnenkirchlichen Milieus einzurichten oder die eigene Arbeit vorschnell
diakonisch zu institutionalisieren und achtet darauf, sich durch geschäftiges Treiben nicht selbst zu verausgaben. Damit das gelingt, brauchen
Teams und Projekte Räume und Zeiten zum Innehalten und zur Vergewisserung, zu Bibelarbeit und Gebet.
11. Den Glauben leben und zur Sprache bringen
Gemeinwesendiakonie lebt aus dem Zusammenhang von Gottesdienst
und Alltag, von Aktion und Kontemplation. Aktuelle Herausforderungen
korrespondieren mit dem biblischen Auftrag. Unterschiedliche Kulturen,
Sprachen, Lebenseinstellungen kommen in den Dialog. Der christliche
Glaube, der im Handeln lebendig ist, kann und soll im Alltag zur Sprache
finden. Gemeinwesendiakonie ist Sprachschule des Glaubens. Darin
liegt eine besondere Herausforderung für berufliche und ehrenamtlich
Mitarbeitende.
12. Wachsen aus Dynamik: Kirche in der Kraft des Geistes
Der Glaube an den Gott, der aus schwierigen Lebenssituationen führt,
ermöglicht Aufbrüche auch ins Ungewisse. Der Glaube an Jesus Chris­
tus, der alle Menschen an seinen Tisch lädt, ermöglicht die Zusammenarbeit mit ganz unterschiedlichen Partnern im Gemeinwesen. Auch in
unerwarteten Begegnungen wird die lebendige Wirkung des Heiligen
Einführung 17
Geistes überraschend erfahrbar. Wo Kirche diakonisch handelt, entsteht
Gemeinschaft mit anderen Partnern und in der Nachbarschaft des
Quartiers. In dieser Dynamik wächst „Kirche mittendrin“.
Quelle: „Kirche mittendrin“, Grundlagen, datiert vom 25.09.2009; zitiert
nach: http://www.gemeinwesen-diakonie.de/grundlagen.htm.
Die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung
Sozialräumliche Arbeit will Lebensbedingungen (mit-)gestalten –
und zwar möglichst unter aktiver Beteiligung der in einem Gebiet
lebenden Menschen. Als einschlägig gelten dabei die fünf Prinzipien
der Sozialraumorientierung, die der Sozialarbeitswissenschaftler
Prof. Dr. Wolfgang Hinte formuliert hat:
1. Orientierung am Willen der Menschen
2. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe
3. Konzentration auf die Ressourcen der Menschen
und des Sozialraums
4. Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise
5. Kooperation und Koordination
Zitiert nach: W. Hinte, Fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung,
Vortrag für den Fachtag Sozialraumorientierung der Stadt Fulda
am 28.5.2008.
18 Beispiel
Zum Beispiel: ESTAruppin
Im Verein ESTAruppin bündelt der ev. Kirchenkreis WittstockRuppin seine gemeindediakonische Arbeit. Gerade im ländlichen
Raum lebt die Mitgestaltung des sozialen Umfelds von Vernetzung
und Kooperation.
Die Partner von ESTAruppin sind vielfältig, vom Handwerk und Bau
über den Gesundheitsbereich bis zum Landkreis. Projekte wie der
Bauspielplatz Wilde Blüte sind milieu- und generationenübergreifend konzipiert. Der Anspruch ist es, Menschen für ein wirkliches,
über die eingefahrenen Schranken des sozialen Status hinaus
verbindendes Gemeinwesen zu begeistern. Hierzu gehört verstärkt
die Flüchtlingsarbeit wie auch die Unterstützung arbeitssuchender
Menschen auf der Suche nach einer neuen Lebensperspektive. Die
neue „Werkstatt Südstadt“ macht es möglich, im Quartier ideellen
Mehrwert durch die Stärkung des nachbarschaftlichen Miteinanders
wie auch baulichen Mehrwert durch die Verschönerung der
Wohn­gegend zu schaffen.
Der Vereinsname ESTAruppin setzt sich aus der Abkürzung ESTA
für die Gründungsidee EinsetzenSTattAussetzen und ruppin als
Verweis auf den regionalen Bezug zusammen. Einsetzen statt
aussetzen bedeutet, dass sich Menschen – ob Fachkräfte, Arbeitslose, Migrant_innen, Ehrenamtliche, Kinder, Jugendliche oder
Senior_innen – füreinander und für andere in der Region einsetzen.
Denn erst wenn die Menschen ihr Umfeld selbst und im Diskurs
miteinander gestalten, können sie sich darin wohlfühlen.
Träger:
ESTAruppin e.V. – Gemeindediakonische Initiative
der evangelischen Kirchengemeinden in Wittstock-Ruppin
Kontakt:
Fehrbelliner Straße 135, 16816 Neuruppin
[email protected]
www.estaruppin.de
Gottesdienstbausteine 19
Gottesdienstbausteine
für den Sonntag der Diakonie
Lieder
Damit aus Fremden Freunde werden (EG Württemberg 657)
Du bist da, wo Menschen leben (Singt Jubilate 138)
Gott gab uns Atem, damit wir leben (EG 432)
He’s got the whole world (Singt Jubilate 144)
Hevenu schalom alejchem (EG 433)
Komm in unsre stolze Welt (EG 428)
Schön ist’s, wenn Schwestern und Brüder (Singt Jubilate 155)
Sonne der Gerechtigkeit (EG 262)
Strahlen brechen viele aus einem Licht (EG 268)
Wo ein Mensch Vertrauen gibt (Singt Jubilate 178)
Lesungen
Apostelgeschichte 2: Pfingsten – Gottes Geist schafft Verständigung
zwischen den Verschiedenen. Jede/r spricht seine/ihre Sprache und
kann doch die der Apostel_innen verstehen. Gottes Geist ermöglicht
dies, er hebt die Sprachenverwirrung des Turmbaus zu Babel auf.
Apostelgeschichte 6: Die ersten Diakone werden eingesetzt, um der
Vielfalt an Bedürfnissen in der Gemeinde gerecht zu werden. Diakonischer Einsatz sorgt hier dafür, dass die verschiedenen Gruppen in der
Gemeinde gesehen werden und bei der Mahlfeier bekommen, was sie
brauchen. Alle Witwen sind auf die existenzsichernden Mahlzeiten angewiesen und die Diakon_innen sorgen dafür, dass alle teilhaben können und keine Gruppe ausgeschlossen wird.
Johannes 2: Hochzeit zu Kana – Im Johannesevangelium setzt Jesus
sein erstes Zeichen der Liebe Gottes bei einem großen Fest, bei dem
Familie, Freunde und Nachbarn feiern. Lebensbejahend sorgt er dafür,
dass das Fest ungetrübt verlaufen kann und der Bräutigam sich nicht
blamiert. Die Feiernden schöpfen aus der von Gott geschenkten Fülle,
ohne es zu merken, ohne es zu wissen. Die Fülle Gottes reicht für die
vielen, die an dem Fest teilnehmen, sie trägt die Freude des Festes, an
dem viele verschiedene Gäste teilhaben.
20 Gottesdienstbausteine
1. Mose 12: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Abraham und Sarah verlassen mit ihrer Familie auf Gottes Geheiß ihre Heimat, die vertraute Umgebung, die Sippe, die Nachbarschaft. Sie gehen
mit der Zusage, von Gott gesegnet zu sein auf dem Weg in die fremden
Welten. Dabei geht es aber nicht nur um Abraham und Sarah und ihre
Zukunft. Sie bringen Gottes Segen in die neue Welt, zu den „neuen
Nachbarn“, zu den noch unbekannten Menschen. Ihnen sollen sie zum
Segen werden. Wie werden wir anderen zum Segen, unseren Nachbarn,
den Menschen auf dem Weg? Nehmen wir wahr, wer uns zum Segen
werden kann?
Lukas 19,1-10: Von Isolation zu Inklusion – Zachäus wird Teil der Gemeinschaft und sein Leben verändert sich. Die Begegnung mit Jesus
macht Zachäus gemeinschaftsfähig. Er wird von Jesus gesehen und
angesprochen und kann dann auch seine Mitmenschen anders sehen:
er lädt Jesus ein, er macht den Schaden an anderen wieder gut, er
bekommt offene Augen für die Nöte der anderen und handelt entsprechend: er gibt denen, die Hilfe brauchen.
Markus 10,46-52 und viele weitere Heilungsgeschichten: Die Heilungen
Jesu zielen immer (auch) darauf, dass die Geheilten am Gemeinwesen
teilhaben. Sie stehen nicht mehr daneben, bleiben nicht außen vor.
1. Korinther 12: Der Leib Christi ist ein Leib mit vielen Gliedern. So verschieden die Begabungen derer, die zu Christus gehören, auch sind, sie
sind alle gleichwertig. Das ist eine Provokation für die Gemeinde, in der
sich Hierarchien ausgebildet haben. Diese Provokation trifft uns auch
heute, denn gewichten wir andere nicht nach ihrer Leistungsfähigkeit?
Schätzen wir nicht die geistigen und die physischen Begabungen ein,
die Schulabschlüsse und Positionen im Beruf, die Herkunft und kulturelle Prägung, die Finanzkraft und den Status der Anderen?
Matthäus 25,31-46: Hungrige, Fremde, Arme, Kranke, Gefangene … in
all den verschiedenen Gruppen begegnet uns Jesus, überall, wo wir leben. Wenn wir Menschen in die Augen blicken, sehen wir in Jesu Augen.
Gottesdienstbausteine 21
Psalmen
Ps. 107, Singt Jubilate S. 269
Ps. 127, Singt Jubilate S. 273
Ps 84, EG 734
Gebete
Aufruf zum Gebet
Gott heißt uns willkommen.
Gott freut sich, uns alle zusammen zu sehen.
Wir empfangen Gottes Gnade, Freude und Frieden
in unseren Herzen und in unserem Leben.
Bevor wir Gott suchten,
suchte Gott uns.
Bevor wir Gott kannten,
kannte Gott uns.
Bevor wir hier angekommen sind,
hat Gott uns bereits gerufen.
(Liturgie der Waldenser)
Gebet um Einheit
Da Du Gemeinschaft bist
Heiliger Gott
Stifte Gemeinschaft
Da Du Beziehung bist
Heiliger Gott
Knüpfe Beziehungen
Da Du Wort bist
Heiliger Gott
Gib unseren Worten Sinn
Da Du Einheit bist
Heiliger Gott
Führe zusammen
Da Du Vielfalt bist
Heiliger Gott
Befreie zur Vielfalt
(Anton Rotzetter)
22 Gottesdienstbausteine
Gott begegnen
… denen wir lieber
nicht begegnen
sind Dein weg.
die wir lieber
nicht sehen möchten
sind Dein anblick.
die wir lieber nicht
hören möchten
sind Deine stimme.
das was wir lieber
nicht sehen
sind Deine
werke…
(Bruder Matty, gepostet unter >>>
“EURE GEBETE“, http://zeitzubeten.org)
Fürbitten
Barmherziger Gott,
du nimmst uns an – wir danken dir!
Hilf uns, einander anzunehmen:
als Nachbarn in unserem Kiez, Junge und Alte,
gemeinsam unterwegs als gesunde und kranke, stärkere und schwächere
Menschen,
in guter Verständigung über die Grenzen von Ländern, Sprachen, Kulturen
und Religionen hinweg,
in Respekt vor Menschen ohne religiöse Prägung,
in der Achtsamkeit für die Erfahrungen von Flüchtlingen und Migranten.
Barmherziger Gott,
Hilf uns, Vielfalt zu leben:
Dass uns ein gutes Miteinander gelingt;
Dass alle ihre Ideen und Gaben einbringen können;
Dass wir fair miteinander umgehen, auch wenn Konflikte auszutragen sind;
Dass wir den eigenen Standpunkt nicht zum Maß aller Dinge machen,
sondern füreinander offen sind.
Gottesdienstbausteine 23
(Barmherziger Gott,
Hilf uns, Vielfalt zu leben: … hier können konkrete Beispiele aus dem
eigenen Bereich genannt werden)
Barmherziger Gott,
weltweit brauchst du Menschen, die einander annehmen und Vielfalt
leben.
Wir bitten dich für alle, die sich hier vor Ort und in der ganzen Welt für
Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen,
dass die Arbeit Früchte trägt. Schenke allen Erschöpften neuen Mut,
neue Kraft und Phantasie für ihr Tun. Gott, wir bitten um deinen
Frieden für diese Welt!
Amen.
Sendungswort vor dem Segen
Wir haben voneinander gelernt,
wir haben miteinander gebetet
und uns zu gemeinsamem Handeln ermutigt.
Lasst uns nun um Gottes Segen bitten: …
(Samoa)
Gestaltungselement im Gottesdienst:
Vielfalt sichtbar machen
Menschen verschiedener Gruppen kommen im Gottesdienst in Form
von Kurzinterviews so zu Wort, dass zwei Aspekte deutlich werden:
1. Gut, dass es dich (Sie) gibt!
Welche Erfahrung und welchen Blickwinkel bringst du (bringen Sie) in
Kirche und Diakonie ein?
2. Gut, dass es die Kirche und die diakonischen Einrichtungen gibt!
Was ist für dich (für Sie) in Kirche und Diakonie wichtig?
Beispiel Hochbetagte: 1) Ich habe schon vieles im Leben gesehen und durchlebt, davon kann
ich erzählen. Ich bringe meinen Glauben ein, der durch die Höhen und
Tiefen meines Lebens gegangen ist. Ich bringe viel Zeit mit.
24 Gottesdienstbausteine
2) Ich freue mich, dass ich weiter an der Gemeinschaft teilhaben kann.
Das geht für mich nur noch in Räumen, die barrierefrei zugänglich sind,
ohne Treppen. Ich brauche die Geduld der anderen, denn alles geht bei
mir jetzt etwas langsamer. Für mich ist es wichtig, dass laut und deutlich
gesprochen wird. Besonders schön für mich ist das gemeinsame
Singen.
Beispiel Geflüchtete:
1) Ich bringe meine Geschichte mit, meine Wurzeln (in …), meine
Erlebnisse bis heute. Es war oft nicht leicht, aber ich habe schon viel
geschafft. Wir begegnen uns als Menschen verschiedener Kulturen,
Sprachen und Prägungen. Ich glaube, dass wir viel voneinander lernen
können.
2) Der Glaube ist ein gemeinsames Zuhause, der Grenzen überwindet.
Hier kann ich zur Ruhe kommen. In der Gemeinde und in den Beratungsstellen der Diakonie finde ich ein offenes Ohr und erfahre praktische Unterstützung. Diese Solidarität ist für mich (und meine Familie)
sehr wichtig.
Beispiel Kind:
1) Ich bin neugierig. Ich spiele gerne und ich lache oft. Oft merke ich,
dass die Großen sich auch freuen, wenn wir Kinder da sind. Sie sagen:
„Ihr seid unsere Zukunft.“ Allerdings gucken sie auch manchmal streng,
wenn ich nicht stillsitze.
2) Ich treffe hier gerne andere Kinder, die ich kenne, und Erwachsene,
durch die ich etwas von Gott erfahre. Besonders mag ich die Feste,
oder wenn wir basteln.
Beispiel Rollstuhlfahrerin:
1) Am liebsten würde ich sagen: ich bin ein ganz normales Gemeindeglied wie du und ich. Trotzdem weiß ich, dass ich durch meine Behinderung eine spezielle Perspektive einbringe. Mich fordert manches heraus,
was für andere selbstverständlich ist. Ich wiederum kann andere dafür
sensibel machen, wie kostbar das Leben und die Gesundheit ist – und
worauf es wirklich ankommt.
2) Von klein auf waren die Einrichtungen der Diakonie ein Teil meines
Lebens. Gut, dass es sie gibt. Für mich ist immer ein barrierefreier Zugang zu den Räumlichkeiten wichtig. Dann kann ich fröhlich Gottesdienst feiern und Gemeinschaft erleben.
Beispiel 25
Zum Beispiel: ZukunftsHaus Wedding
Das Paul Gerhardt Stift macht sich seit 2010 auf den Weg, einen
sozialräumlichen Begegnungsort im Wedding zu schaffen, der
das Miteinander über Alters- und Kulturgrenzen hinweg ermöglicht:
das ZukunftsHaus Wedding (ZHW).
Aktivitäten und Projekte für Jung und Alt sowie für Menschen
unterschiedlicher Herkunft und Sprache im Stadtteil werden hier
miteinander verbunden. Zum ZHW gehören eine Wohn- und
Beratungseinrichtung für traumatisierte Flüchtlinge, ein Stadtteilund Familienzentrum, eine inklusive Kita, ein Geistliches Zentrum
und Servicewohnen für Senioren. Alle Arbeitsbereiche befinden
sich auf dem Gelände.
Im Zusammenspiel von professioneller und ehrenamtlicher Arbeit
wird das Miteinander gestaltet und die interkulturelle und intergenerationelle Bildung, Beratung und Vernetzung im Stadtteil gefördert.
Das ZHW ist offen für Menschen jeden Alters und jeder Herkunft:
„Unser Ziel ist es, ein Generationen übergreifendes Netzwerk in
der Nachbarschaft entstehen zu lassen, an das jede und jeder mit
seinen Kompetenzen und Erfahrungen anknüpfen kann.“
Träger:
Paul Gerhardt Stift zu Berlin
Kontakt:
Müllerstr. 56-58, 13349 Berlin
[email protected]
www.evangelisches-johannesstift.de/paul-gerhardt-stift
26 Gottesdienstbausteine
„Gott Gewicht geben“
Predigt über die Jahreslosung Römer 15,7
im Gottesdienst der diakonischen Gemeinschaften,
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin,15.03.2015
Heilgard Asmus
Leben kann man nur, wenn man eine Umgebung hat, die einem zum
Leben verhilft. Die Einzelne kann sich nicht selber erschaffen. Das Leben gelingt nur, wenn es eine Öffentlichkeit findet, vor der es Gestalt
gewinnen kann. Mein Leben, Ihr Leben gelingt nur, wenn es einen Sinnzusammenhang findet, der das einzelne Dasein deutet.
Wir sind da, jetzt gerade hier in der Kirche, später an anderen Orten,
morgen bei alltäglichen Arbeiten. Wir sind da und unser Dasein hat einen Sinn, der mit Gott verbunden ist. Christus hat uns angenommen zu
Gottes Lob. Paulus fasst in einem Teilsatz zusammen, wovon die Bibel
in vielen Geschichten erzählt. Jesus begegnet erniedrigten Frauen und
Männern mit Respekt, er schätzt sie als Menschen Gottes hoch. Ihre
Bedürfnisse sind wichtig, sie sind zu achten als Lebensbedarf. Jesus
kann sich ihnen zuwenden, weil er selbst menschlich ist, er weiß, wie es
im Leben geht, wie Erniedrigt werden und Gedemütigt werden Leben
brüchig macht. Paulus hat es erlebt, wie sich Dasein ändern kann, wenn
Zuwendung geschieht. Jesus hat ihn angenommen zu Gottes Lob. Und
Paulus lobte Gott – auch mit seinen Briefen. Wir lernen daraus und wir
gewinnen Sinn für unser Dasein.
Aus den diakonischen Gemeinschaften hören wir von eindrücklichen
Erfahrungen. Momente von Schwäche, getragen werden durch Stärkere, Hoffnung vermitteln und Begegnungen schaffen, pflegen und
auch sich selbst nicht vergessen – so viel Leben, so viel Sinn strahlt aus.
Ich bin beeindruckt und habe hohen Respekt vor diesen Tätigkeiten!
Wenn ich diese verbinde mit den Worten unserer Jahreslosung, dann
wird mir deutlich: Christus hat alle, die so handeln, angenommen zu
Gottes Lob. Es kann gar nicht anders sein. Könnten sie sonst so viel für
das Leben anderer tun?
Mir scheint, die Schwestern und Brüder in den Gemeinschaften, und
viele andere Ehren- und Hauptamtliche, die ihren Daseins-Sinn durch
Gottesdienstbausteine 27
Christus gefunden haben, leben einen Trostverbund. Manchmal sind sie
selbst auf Trost angewiesen und mal sind sie Tröstende. Mal nehmen sie
andere an und dann brauchen sie selbst von anderen das Zeichen für
Angenommen sein. Mal nehmen sie Lasten auf, und sie geben Last
auch weiter, teilen sie mit. Ich stelle mir vor, dass Paulus genau solch
eine Gemeinschaft von Menschen meint. Fröhliche und Ausgegrenzte,
Fremde und Nahe, Schwache oder Starke, Suchende, Hoffnungslose. In
dieser Vielfalt wird ihnen allen an den guten Orten ihre Würde nicht einfach nur zugesprochen – das geht in der Regel schnell und sagt sich
leicht. Leben muss es sein, ein Erfahrungsraum geschaffen werden, wo
Würde wirklich pulsiert. Manchmal gelingt es in Kirchen, in Einrichtungen der Diakonie, auch auf Straßen oder in Schulen.
Dreierlei ist für uns nötig, und ich möchte es noch einmal in umgekehrter
Reihenfolge sagen – also die Jahreslosung einfach von hinten nach vorn
sprechen: 1. Die Annahme Gottes – das ist wie sein eigenes Lob – für
Menschen gesungen. 2. Der Blick auf die eigene Person, die von Christus angenommen ist. 3. Die entschiedene Solidarität in der Gemeinschaft.
Sie merken schon, für mich kommt die Aufforderung „nehmt einander
an“ erst nach den Erinnerungen, dass wir Angenommene sind. Ich habe
oft selbst erlebt, dass unsere Imperative zu wenig führen, wenn sie nicht
mit einem Lebenssinn verbunden sind, der von außen auf mich zukommt. Nehmt einander an, das allein gesagt, klingt auch wie: sei höflich, gib die rechte Hand, sei nur für andere da. Wir haben in unserer
Kirche und in diakonischen Einrichtungen lange mit Aufforderungen
gearbeitet, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, immer nur für andere
da zu sein. Sie kennen wahrscheinlich den Satz: ein Christ ist immer im
Dienst. Das hat auch manche viel dienenden Menschen zerstört, wegen
der gottlosen Betonung „immer“.
Anders will ich es verstehen: Einer, Eine soll immer im Dienst sein – und
das kann eben auch eine Andere, ein Anderer sein. Setzen Sie die beiden eben so oft genannten Wörter zusammen: eine – andere, dann wird
daraus „einander“. Einander annehmen ist für mich das Trostmodell
unserer Zeit.
28 Gottesdienstbausteine
Jede kann ohne Angst sie selbst sein, jeder hat eine besondere Gabe,
gleichberechtigt sind wir in aller Einmaligkeit und Verschiedenheit. Gott
hat uns so geschaffen und angenommen. Es ist wie das hohe Lied der
Inklusion, wo es keine Ausgegrenzten gibt, die hinein geholt werden
müssten. Sie sind ja alle schon in Gottes Umgebung. Nur wir Menschen
müssen noch weiter lernen, wie Inklusion zu einer selbstverständlichen
Haltung miteinander werden kann. Leben kann man nur, wenn man eine
Umgebung hat, die einem zum Leben verhilft. Leben kann man nur,
wenn es einen Sinnzusammenhang gibt, der das Dasein deutet.
Am Ende möchte ich mich selbst und Sie alle erinnern, warum es Sinn
macht, einander anzunehmen. Wir geben Gott damit ein Gewicht, wir
machen Gott in dieser Welt wichtig. Wir nehmen Gott ernst im Angesicht der Anderen, des Fremden. So leben wir im Lob Gottes. Ich habe
heute die andere Bedeutung von Lob Gottes gewählt nach der alten
Sprache unserer Bibel. Da steht Ehre, Glanz, Herrlichkeit, und eben
auch: Gewicht. Wir können Gott Gewicht geben, weil wir verständig leben, die vielfältigen Menschen froh ansehen und annehmen – da werden wir schon noch lernen, was uns bisher verborgen blieb. Miteinander
können wir doch bitte wirklich Gottes Glanz im Leben gestalten – gerade durch die Verschiedenheiten unter uns. Also, Schwestern und Brüder: geben wir Gottes Ehre Gewicht unter uns. So sei es in Jesu Namen.
Amen.
Heilgard Asmus ist Generalsuperintendentin des Sprengels Potsdam.
Beispiel 29
Zum Beispiel: Campus Hedwig
Die SozDia, ursprünglich ein Verein aus Berlin-Lichtenberg, ist seit
einigen Jahren auch in Berlin-Hohenschönhausen in der sozial­
diakonischen Stadtteilarbeit aktiv. 2015 wurde nun der Neubau
des „Campus Hedwig“ bezogen. Dort wirken mehrere Beratungsund Unterstützungseinrichtungen zusammen, die sich mit ihren
generationsübergreifenden Angeboten an alle Anwohner_innen des
Stadtteiles wenden. Die Kindertagesstätte Hedwig, das „Stadtteilzentrum Hedwig“ und die Beratungsstelle „FLEXible Erziehungshilfen“ mit ihren vielfältigen Treffpunkten und Kursen für Familien und
Jugendliche haben hier ihren Platz.
Eine Besonderheit ist: Die Arbeit mit Menschen aller Milieus und
Altersstufen wird vom Bildungsaspekt her gedacht („Campus“).
Träger:
SozDia Stiftung Berlin - Gemeinsam Leben Gestalten
Kontakt:
Pfarrstr. 92, 10317 Berlin
[email protected]
www.sozdia.de
30 Gottesdienstbausteine
Diakonie. Für Vielfalt in der Nachbarschaft.
Predigt über Jeremia 29, 4-7
Barbara Eschen
Liebe Gemeinde,
wie fühlen Sie sich in Ihrer Nachbarschaft? In Ihrem Kiez, Dorf, Stadtteil,
Wohn- und Lebensumfeld?
Das hängt sicher davon ab, wie vertraut Ihnen dieses ist. Leben Sie
schon lange dort, sind Ihnen die Menschen vertraut, die Wege und
Straßen bekannt? Oder sind Sie neu zugezogen? Oder verändert sich
Ihre Nachbarschaft, weil andere wegziehen, neue hinzuziehen? Weil
Geschäfte schließen oder neue Einkaufszentren eröffnet werden? Und
wieviel Gemeinsames haben Sie mit den Nachbarn? Väter und Mütter
mit kleinen Kindern finden leichter Kontakt zueinander, auch Hunde­
besitzer haben schnell Kontakt miteinander. Die Kirchengemeinde bietet für Neuzugezogene auch einen guten Anknüpfungspunkt. Zumindest
im Gottesdienst. Aber es gibt auch da Hürden. Manche Kreise bestehen
schon viele Jahre, haben ihre Gewohnheiten und geheimen Regeln
entwickelt. Nicht leicht für Neue.
Und wenn dort ein Altenpflegeheim der Diakonie aufmacht, oder eine
Jugendwohngruppe? Was bedeutet das für die Gemeinde, wer macht
den ersten Schritt, und wie? Was kann man voneinander erwarten?
Ja, was kann man voneinander erwarten? Das scheint mir eine zentrale
Frage zu sein. Unter Christ_innen, in Diakonie und Gemeinde – vor allem
aber auch zwischen der christlich engagierten und der übrigen vielfältigen Bevölkerung in der Nachbarschaft.
Wie ist unsere Nachbarschaft, welche Gruppen gibt es und wie kommen wir als Kirche in ihr vor? Werden wir gehört, wie wirken wir mit in
der Nachbarschaft? Zählt man auf uns? Oder werden wir ignoriert?
Ganz ehrlich: Ich fühle mich manchmal nicht gewürdigt, oder gar an die
Seite geschoben.
Gottesdienstbausteine 31
Religionsunterricht ist kein ordentliches Schulfach, sondern wird
zusätzlich erteilt.
Kirche findet in der Nische statt. 11 % der Kitaplätze sind in evangelischer Trägerschaft, in Brandenburg gerade einmal 6 %. Sind wir nicht
hoffnungslos in der Defensive?
Christliche Feste sollen aus der Öffentlichkeit ins Private verdrängt
werden.
Viele Kirchengebäude und Gemeinderäume werden längst nicht
mehr regelmäßig genutzt, andere Gebäude – Einkaufstempel, Banken
und Parkhäuser – bestimmen das Stadtbild.
Fremd in der eigenen Nachbarschaft?
Kirche auf dem Rückzug, das wirkt bedrohlich!
Bedrohlich war auf jeden Fall Babylon für das Gottesvolk, für die aus
Jerusalem Weggeführten! Babylon war ihnen ein Ort des Grauens, des
Heidentums. Sie waren unfreiwillig dort, gewaltsam verschoben, entwurzelt, fremd, unterdrückt. Sie deuteten diese Verschleppung als
Strafe Gottes und richteten all ihr Sehnen auf eine Rückkehr nach
Jerusalem. Sich einigeln und durchhalten in der Fremde, oder gar den
Aufstand proben – das war ihre Strategie. Gott würde sein Volk, seinen
Augapfel schon schützen, wenn sie sich nur von diesen Fremden, von
der Stadt und ihren Untiefen fernhielten. Babylon war Bedrohung.
Tatsächlich? Hatte Babylon nicht auch Verlockendes? Ihr Reichtum, ihre
Lebensfreude, ihre Prachtstraßen, das gute Essen, Handel und Wandel
und Bildung? Um Himmels Willen, welch ein Gedanke, nur nicht! Sich
einlassen auf Babylon bedeutete den endgültigen Untergang!!
Ist unsere säkulare und multikulturelle Umwelt auch bedrohlich? Ist sie
wie Babylon damals heute unser Untergang?
Heute in Berlin und Brandenburg begegnet mir der Bruch zwischen
Kirchenverbundenheit und dezidierter Ablehnung teilweise drastisch. In
einem Berliner Stadtteil soll es keinen Weihnachtsmarkt mehr geben,
32 Gottesdienstbausteine
sondern höchstens einen Wintermarkt. Man kann nicht damit rechnen,
den Nachbarn, die Nachbarin im Gottesdienst zu treffen.
Solche Erfahrungen sind für mich, die ich meine Kirche mag, hart. In
welcher Welt leben wir? Haben wir den Anschluss schon verpasst als
Kirche? Sollen wir uns zurückziehen auf unsere Kreise? Unter uns
bleiben und unser Profil pflegen? Wir finden nur schwer evangelische
Mitarbeitende für unsere diakonischen Einrichtungen. Sollen wir sie
schließen, uns zurückziehen, also klein aber fein sein?
Liebe Gemeinde, Jeremia, der all diese Argumente kennt, verkündet
einen anderen Plan für seine Glaubensgeschwister: „Suchet der Stadt
Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, betet für sie zum Herrn,
denn wenn‘s ihr wohl geht, geht es auch euch wohl.“
Jeremia verlangt einen entscheidenden mentalen Wechsel von seinen
Geschwistern: sich nicht länger abschotten, sondern sich den Fremden
– in diesem Fall den Herrschenden in Babylonien – zuwenden. Sie sollen
diese fremde Welt als ihre annehmen und sich in ihr einrichten. Hier ihre
Gegenwart und ihre Zukunft sehen und mit den Fremden in der Fremde
Babylons leben. Sie sollen Babylon als ihre Welt annehmen, nicht nur
aus Kalkül, nicht nur so als ob, pro forma – nein, sie sollen Babylon
mitgestalten. Häuser bauen, Gärten anlegen, Familien gründen, sich
verwurzeln. Was Jeremia in Gottes Namen verlangt, und vorschlägt, ist
eine Hundertachtziggraddrehung. Aber sie ist lebensnotwendig, nicht
nur vordergründig, demografisch. Es geht vor allem um die Glaubensund Lebenshaltung.
Das Einigeln und rückwärtsgewandte Träumen macht kaputt. Jerusalem, die Vergangenheit wird verklärt und nichts Neues dazugelernt. Und
das macht krank, handlungsunfähig. Wer krampfhaft festhält an einem
vermeintlich goldenen Zeitalter, ist selbstzerstörerisch. Ähnliche Haltungen sehe ich bei den Anhängern von Pegida. Sie klammern sich an
ein erstarrtes Bild des Abendlandes, das es nie gab und sie sind voller
Angst vor der Gegenwart und ihren Chancen.
Um die Gegenwart geht es Jeremia. Denn auch die Gegenwart in Babylon ist nicht gottlos. Gott ist mitten unter euch – das ist seine Botschaft.
Gottesdienstbausteine 33
Gott ist nicht in Jerusalem zurückgeblieben, es gibt keinen Ort der Welt,
an dem Gott nicht wäre („… und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an
der Welt Ende“ – so die Worte des Auferstandenen in Matthäus 28).
Also: Gott wirkt hier und heute unter uns in dieser Gesellschaft, so Gottfern sie uns auch vorkommt. Wir haben es eigentlich sogar leichter als
das Volk in der Verbannung, das Jeremias Gedanken zu folgen versucht.
Unsere Gesellschaft ist wesentlich mitgeprägt von der jüdisch-christlichen Tradition durch den christlichen Glauben. Z.B. die Menschenrechte, die Unantastbarkeit der Würde eines jeden haben ihre Wurzeln
im biblischen Schöpfungsglauben – zumindest eine ihrer Wurzeln.
Wir leben einen aufgeklärten Glauben, der sich Fragen und Vernunft
nicht entzieht, sondern sie zum Prinzip macht. Wir sind dialogfähig und
Dialog suchend mit anderen Weltanschauungen. Genau das können wir
als Impulse einbringen gegenüber Andersdenkenden und auch gegenüber Vertretern und Vertreterinnen islamischer Tradition.
Jeremia macht Mut, sich mit Vertrauen der Gegenwart zu stellen. Gottes
Geist wirkt in dieser Gesellschaft und davon leben wir als Kirche, in der
Kirche mit anderen. Ja, es gibt viele gute aufbauende Beispiele. Davon,
wie Kirche in die Gesellschaft, in die Nachbarschaften hineinwirkt.
Gerade wenn Kirche und Diakonie gemeinsam aktiv sind.
Mich beindruckt, was ich dabei erlebe:
Ambulante Hospizarbeit
Besuchsdienste und Begleitung von Menschen mit Demenz
(Haltestelle Diakonie)
Känguru – begleitende ehrenamtliche Unterstützung von
jungen Müttern oder Eltern mit Neugeborenen
Laib und Seele (Tafelarbeit in der Kirchengemeinde)
Flüchtlingsbegleitung in Willkommensprojekten
Von einem Beispiel möchte ich erzählen, von der Berliner Kältehilfe. Sie
ist ein Netz von kirchlich-diakonischen Trägern, Deutschem Roten
Kreuz und anderen zur Versorgung von Obdachlosen im Winter. 600
Schlafplätze helfen über die Nacht, Kältebusse suchen die Wohnungslosen auf. Wintercafés und Suppenküchen bieten Versorgung an.
34 Gottesdienstbausteine
Es sind Hauptamtliche und Ehrenamtliche im Einsatz in Kirche und
Diakonie, z.B. in der Tabor-Gemeinde. Seit 25 Jahren öffnet die TaborGemeinde an jedem Dienstagabend um 21:00 Uhr die Türen. Im Vorraum der Kirche, der durch eine schöne Glaswand vom Kirchenschiff
getrennt ist, gibt es etwa 60 Plätze an Tischen, eine Theke mit Kaffee
und Suppe. Fünf Ehrenamtliche, der Pfarrer, zwei ehrenamtliche Ärzte,
eine Polnisch sprechende Ehrenamtliche warten auf die Gäste.
50-60 Männer und Frauen stehen seit ca. einer Stunde vor der Tür,
Obdachlose. Sie betreten den Raum, lassen sich Bettwäsche und
Isomatten geben, rollen sie am Rand des Raumes dicht an dicht aus,
legen ihr Gepäck ab. Die Gäste holen sich Kaffee und Suppe, viele sitzen am Tisch und schweigen, manche reden miteinander polnisch,
bulgarisch, deutsch. Eine angenehme Atmosphäre. Manche gehen zum
Arzt. Mancher erzählt einer Ehrenamtlichen ein Stück aus seinem
Leben. Mitternacht wird das Licht ausgemacht, alle ziehen sich auf ihre
Matten zurück – bis morgens. Dann gibt es Frühstück. Um acht Uhr
verlassen die Gäste mit Sack und Pack die Kirche – bis nächsten Dienstag. So geht es den ganzen Winter über.
Wie kommen wir also zurecht als Vertreter_innen einer Kirche in einer
Gesellschaft, in der das Christliche nicht selbstverständlich ist? Wir vertrauen darauf, dass Gott hier ist, in unseren Häusern, wo wir wohnen,
wo wir pflanzen und mitgestalten, wo wir Vielfalt leben und neue Kontakte suchen, wo wir kritische Töne anschlagen und Lieder der Hoffnung
singen, wo wir Kinder und Jugendliche stärken, abgehetzte Erwachsene wahrnehmen, für Menschen am Rande sensibel sind, Respekt zollen
denen, die sich selbst aufgegeben haben, wo wir uns um das Wohl der
Gesellschaft kümmern. Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen
und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Barbara Eschen ist Direktorin des Diakonischen Werkes
Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Hinweis zum Monat der Diakonie 2015 35
Monat der Diakonie
Ihre Beteiligung
Ihre Beteiligung am Monat der Diakonie könnte sein …
…
…
…
…
…
…
…
…
…
...
ein gemeinsames Sommerfest von Kirchen­gemeinde und Einrichtung der Diakonie
ein thematischer Gottesdienst
eine Begegnung im Seniorenheim
ein Taizé-Treffen im Gelände eines Trägers der Diakonie
ein diakonischer Kiezspaziergang
ein Film- und Gesprächsabend
ein inklusives Rockkonzert
ein interreligiöses Fest im Flüchtlingswohnheim,
für das gemeinsam gekocht wird
eine Ausstellung mit Rahmenprogramm
und vieles mehr
Als Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
wol­len wir diese Aktionen unterstützen. Deshalb können Kirchen­ge­
mein­den und Einrichtungen der Diakonie für gemeinsame Projekte und
Veranstaltungen 2015 eine finanzielle Unterstützung bei uns erhalten.
Weitere Informationen dazu finden Sie im www.diakonie-portal.de
(klicken Sie einfach den Themen-Banner „Diakonie. Für Vielfalt in der
Nachbarschaft“ an).
Dort finden Sie zum Beispiel eine Plakatvorlage als Word-Datei im
A3-Format. Damit können Sie auf eigene Veranstaltungen hinweisen.
Wir unterstützen Sie gerne bei der Erstellung Ihres Plakates:
[email protected]
Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz
Diakonisches Werk Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz e.V. (DWBO)
Paulsenstr. 55/56
12163 Berlin
www.diakonie-portal.de
[email protected]
Tel. 030 820 97– 0
Fax: 030 820 97–105
Redaktion: Verena Mittermaier, Pfarrerin
Referentin des Vorstandes
Titel: Archiv DWBO
Druck: Juli 2015 (2. Auflage)