LESEPROBE 1 © Georgina Bolton King Holly Smale war als Jugendliche ziemlich unbeholfen, ein bisschen streberhaft und schüchtern. Mit 15 wurde sie völlig überraschend von einer Londoner Top-Modelagentur entdeckt. Sie studierte englische Literatur an der Bristol University, gab das Modeln auf und entschloss sich Schriftstellerin zu werden. Harriet zieht um ‒ und zwar nach New York! Modemetropole! Coolste Stadt der Welt! Endlich kann Harriet neu starten, Schluss mit dem Geek-Dasein! Und auch der Durchbruch als Model ist vielleicht nur eine Straßenecke entfernt. ‒ Das neue Zuhause liegt allerdings bloß in einem Vorort von New York, cool wird man nicht über Nacht und die Models sind genauso fies wie die in England. Doch dann taucht Kenderall auf und nimmt Harriet mit auf die angesagtesten Model-Partys der Stadt. Und ihre Tipps in Sachen Liebe und Nick, die haben es in sich. Ab 11 Jahren Harriet ‒ Versehentlich berühmt, Bd. 3 Holy Smale Hotdogs und High Heels Aus dem Englischen von Elvira Willems 344 Seiten • 13,5 x 20,5 cm Gebunden € 14,99 [D] € 15,50 [A] CHF 19,40 978-3-401-06934-0 Auch als E-Book erhältlich 1 Ich heiße Harriet Manners und ich habe einen Freund. Ich weiß, dass ich einen Freund habe, weil ich nicht aufhören kann zu grinsen. Mädchen lächeln oder grinsen anscheinend durchschnittlich zweiundsechzig Mal am Tag, also stehle ich statistisch gesehen wohl einer anderen ihr Glück. Ich grinse alle dreißig oder vierzig Sekunden, mindestens. Ich weiß, dass ich einen Freund habe, weil ich über meine eigenen Witze kichere, Lieder summe, deren Text ich nicht kenne, und sämtliche Tiere im Umkreis von hundert Metern knuddele und mich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehe, sooft ich ein sonnenbeschienenes Fleckchen entdecke. Dank der Glücksstoffe Phenylethylamin, Dopamin und Oxytocin, die mein Gehirn durchtränken, habe ich mich sozusagen in eine Märchenprinzessin verwandelt. Allerdings eine mit einer astronomisch hohen Telefonrechnung und dem Hang, im Internet »Symptome für Verliebtheit« zu recherchieren, wenn ihr Freund nicht da ist. Egal. Vor sieben Wochen habe ich mir jedenfalls ein funkelnagelneues knalllila Tagebuch zugelegt. Und der ultimative Grund, warum ich weiß, dass ich einen Freund habe, ist der, dass es hinten im Deckel meines Tagebuchs steht: ICH HABE EINEN FREUND 3 Das war ich natürlich.Wäre ja auch ganz schön schräg, in einem fremden Tagebuch rumzukritzeln. Es gibt eine Zeichnung von mir, die mit Datum und Uhrzeit versehen ist, um den Augenblick – vor vier Wochen und zwei Tagen – festzuhalten, seitdem die Sache mit Löwenjunge und mir offiziell ist. Richtig: Nick und ich sind endlich ein Paar. Ein Pärchen. Ein Duo, unzertrennlich wie Salz und Pfeffer oder Mozzarella und Tomate. Wir sind das menschliche Äquivalent der Seepferdchen, die Schnauze an Schnauze schwimmen und die Farbe ändern, um zu demonstrieren, wie sehr sie einander mögen, oder der Doppelhornvögel, die Duette anstimmen, um der Welt zu zeigen, dass sie absolut im Gleichklang sind. Es hat alles verändert. Seit wir den Romantischsten Sommer aller Zeiten (RSAZ) miteinander verbracht haben, besteht die Welt nur noch aus Regenbögen und Sonnenuntergängen, Guten-Morgen-SMS und Gute-Nacht-Anrufen und jemandem, der mir sagt, wenn ich Kaugummi hinten im Haar habe und an der Kopfstütze des Bussitzes festpappe. Zum ersten Mal möchte ich an meinem Leben nichts, aber auch gar nichts ändern. Im beobachtbaren Universum gibt es 170 Milliarden Galaxien und ich würde an keiner davon auch nur das kleinste bisschen ändern wollen. Mein Leben ist exakt so, wie ich es haben will. Alles ist perfekt. 4 2 Das Tolle daran, die ganze Zeit so gut drauf zu sein, ist je- denfalls, dass mich nichts aus der Bahn werfen kann. Nicht das frühe Aufstehen nach einem Sommer, in dem ich jeden Tag lange geschlafen habe. Nicht mein Hund Hugo, der sein Fell ausgerechnet auf meinem funkelnagelneuen besonderen Outfit verliert. Nicht die Aussicht, meine Nemesis wiederzusehen – nach zehn seligen Wochen ohne sie. Nicht einmal die Tatsache, dass es der allerwichtigste Tag meines Lebens ist und keiner daran gedacht hat. Nein. Ich bin die Ruhe und Reife in Person. Wie Gandalf. Oder der Weihnachtsmann. »Guten Morgen«, sage ich, als ich in die Küche schwebe. Das ist übrigens im Augenblick meine Standard-Fortbewegungsart: Ich schwebe in einer magischen, glücklichen Blase. »Was für ein vielversprechend schöner Tag, findet ihr nicht? Nahezu verheißungsvoll sonnig, könnte man sagen. Ein Tag wie für Großes geschaffen.« Dann lasse ich gut gelaunt den Blick über meine schnarchenden Eltern schweifen. Es sieht so aus, als hätte jemand über Nacht versucht, das Haus auseinanderzunehmen, hätte es aber irgendwann aufgegeben und es stattdessen mit Schlafgas gefüllt. Bis auf das Glühlämpchen in der offenen Kühlschranktür ist es im Raum 5 dunkel und überall stehen Tassen und Teller. Mein Vater sitzt zurückgelehnt auf einem Stuhl, ein Küchenhandtuch über dem Kopf, und meine Stiefmutter Annabel ist auf dem Frühstückstisch zusammengesackt, die Wange auf einem Stück gebuttertem Toast. Tabitha liegt in ihrer Wippe und gibt süße Schnuffellaute von sich, als wäre sie nicht die Sirene, die jederzeit losheulen kann. Ich räuspere mich. »Habt ihr gewusst, dass der Monat August seinen Namen von dem ersten Kaiser von Rom, Augustus, hat? Es war der Monat, in dem er die größten Triumphe errungen hat. Das ist doch unglaublich bedeutsam, oder?« Schweigen. Es ist gut, dass ich seit Neuestem permanent gut drauf bin, sonst würde ich ungefähr jetzt einen Wutanfall kriegen. Energisch reiße ich die Vorhänge auf, damit meine Eltern den sonnigen Tag in seiner ganzen Pracht sehen können. »Feuer!«, schreit mein Vater, reißt sich das Geschirrhandtuch vom Kopf und linst durch die Finger zu mir herüber. »Oh, schlimmer.Was haben wir dir über Tageslicht beigebracht, Schatz?« »Es ist neun Uhr einundzwanzig«, erkläre ich ihm. »Ihr seid keine Vampire.« Ich sage das nicht mit großer Überzeugung. Meine Eltern haben graue Haut und rote Augen, sie sind die ganze Nacht auf, essen kaum und scheinen sich ohne Worte zu verständigen. Die Zeichen stehen nicht gut. »Hmmmhm«, grummelt Annabel und drückt sich ein wenig hoch. Der Toast klebt an ihrem Gesicht. »Wie lange haben wir geschlafen?« 6 Mein Vater steckt den Finger in eine Tasse, die vor ihm steht. »Nicht lange genug«, meint er seufzend und wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Elizabeth Hurley ist jedenfalls wieder weg.« »Oh Gott«, seufzt Annabel und kneift die Augen leicht zusammen. Ihr normalerweise perfekter Pony steht hoch wie der Kamm eines blonden Kakadus und in ihren Augenbrauen kleben Krümel. »Ich muss die Waschmaschine anwerfen, das Bad putzen …« Sie sinkt wieder auf den Tisch. »Dieser Toast ist überraschend bequem.« Jawohl. Es ist genau sechs Wochen her, seit ihr uns das letzte Mal gesehen habt, und alles, was auch nur entfernt an häusliche Ordnung erinnert, hat sich vollständig in Luft aufgelöst. Mit durchschnittlich 125 Dezibel ist mein neues Schwesterchen, wie sich herausgestellt hat, noch ein wenig lauter als ein Rockkonzert (120 Dezibel) und nur ein winziges bisschen leiser – und schmerzlicher – als wiederholte Schüsse mit einem Maschinengewehr aus kürzester Distanz (130 Dezibel). Das Fremdwort infantil für kindlich geht anscheinend auf den lateinischen Begriff infans zurück und das bedeutet »stumm«. Dazu kann ich nur sagen: Die alten Römer haben Tabitha Manners nicht gekannt. In Sachen Lärm kann meine winzige Schwester locker mit irgendwelchen schwer bewaffneten Typen mithalten – jedenfalls bringt sie ihre Gefühle exakt zum Ausdruck. Ich hebe Tabby aus ihrer Wippe und sie schlägt die Augen auf und strahlt mich an. Das gehört mit zu den vielen Dingen, die ich an meiner Schwester liebe:Wir zwei sind vom gleichen Schlag. Ihr Bettchen steht allerdings – zum Glück – im Zimmer meiner Eltern, am anderen Ende des Hauses. 7 Und ich besitze erstklassige Ohrstöpsel. »Erinnert sich zufällig jemand daran, was heute für ein Tag ist?«, werfe ich in die Runde. Vielleicht sollte ich ihnen mein Tortendiagramm für heute zeigen. Das nervöse Grummeln im Bauch kann ich nicht in Schach halten, aber ich kann es wenigstens in das richtige Zehn-Minuten-Zeitfenster verweisen. »Dienstag?«, versucht sich meinVater. »Freitag? 1967? Könntest du uns einen groben Anhaltspunkt geben?« »Heb mal das grüne Handtuch rechts von dir hoch, Harriet«, murmelt Annabel mit geschlossenen Augen. »Und das Küchenhandtuch daneben. Wir sind gleich wach.« Ich trete über zwei große Kartons und Koffer, die offen auf dem Küchenboden stehen. Dann zupfe ich vorsichtig an dem Handtuch. Darunter ist eine funkelnagelneue Schultasche aus rotem Leder, an der noch der Sonderangebot-Aufkleber klebt. Auf der Klappe sind die Buchstaben HM eingeprägt, und als ich sie öffne, sehe ich, dass sie bis zum Rand mit neuen Bleistiften, Buntstiften, Linealen und Büchern vollgestopft ist. Unter dem Küchenhandtuch verbirgt sich ein selbst gebackener Schokoladenkuchen, dessen Form vage an einen Roboter erinnert und auf dem mit weißen Schokoladendrops vorn runter VIEL GLÜCK, HARRIET geschrieben steht. Und in fast unleserlicher Zuckergussschrift an den Füßen: (NICHT DASS WIR AN DAS GLÜCK GLAUBEN – DU BIST DIE MEISTERIN DEINES SCHICKSALS.) Ich strahle sie an. Seht ihr, was ich meine? Mein Leben läuft exakt nach Plan. Selbst meine Eltern halten sich an mein Kuchen-undGeschenk-Skript, obwohl sie geschlafen haben, als ich ihnen davon erzählt habe. 8 »Ach«, sage ich glücklich und lasse Tabby durch die Luft sausen wie ein zappelndes Flugzeug und gebe den beiden einen Kuss. »Danke, ihr Schlafmützen! Ihr seid unschlagbar.« »Das muss ich sofort Liz Hurley sagen«, murmelt mein Vater und schließt die Augen. »Bin gleich wieder da.« »Grüß sie von mir«, meint Annabel, gähnt und reibt sich ein wenig Butter aus dem Gesicht. »Falls sie rüberkommen will, um ein bisschen Geschirr abzuwaschen, sag ihr, sie kann sich ruhig austoben.« Und damit geben meine Eltern sich wieder dem Schlaf hin. Gut. Meinem Plan für den heutigen Tag zufolge habe ich jetzt noch sechseinhalb Minuten. Nur sechseinhalb Minuten, um meine lilafarbenen Flipflops anzuziehen, ein paar weiße Schokoladendrops vom Kuchen zu pulen, den Zuckerguss zu verstreichen, damit meine Eltern es nicht merken, und zur Bank an der Straßenecke zu sprinten, wo meine beste Freundin auf mich wartet: gespannt, mit strahlenden Augen und bereit, sich mit mir unserem jeweiligen Schicksal zu stellen. Mein Timing ist mal wieder absolut perfekt. Leider habe ich wohl vergessen, meiner kleinen Schwester den Plan darzulegen. Denn als ich ihr einen Kuss auf ihr winziges Näschen drücke, schenkt sie mir ein strahlendes, anbetungswürdiges Lächeln. Und dann kotzt sie mir über den Kopf. 9 3 Ehrlich. Ein Mal würde ich einen wichtigen Tag gern beginnen, ohne mit dem halb verdauten Mageninhalt anderer Leute bekleckert zu sein. Das hat definitiv nicht in meinem Tortendiagramm gestanden. Na, egal, während ich mir die Babykotze aus den Haaren wasche, kann ich euch auch gleich erzählen, was in den letzten sieben Wochen sonst noch so los war: 10 1. Ich bin immer noch nicht sechzehn. Was bedeutet, dass ich die Jüngste in meiner Klasse bin. Aktuellen Zeitungsberichten zufolge erhöht sich damit rein statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Leben scheitere. 2. Ich habe meinem Vater deswegen ordentlich zugesetzt. Schließlich ist es seine Schuld, dass ich statistisch gesehen im Leben eher scheitere. 3. Meine beste Freundin Nat und ich haben viel Zeit miteinander verbracht, obwohl ich zum ersten Mal einen richtigen Freund habe. Das liegt daran, dass Freundschaften immer vorgehen. 4. Und auch daran, dass mein Freund, der Model ist, häufig im Ausland arbeitet und ziemlich oft nicht da ist. 5. Toby hat auch viel Zeit mit uns verbracht. Dabei haben wir ihn gar nicht immer eingeladen. Oder ermutigt. 6. Und bemerkt haben wir ihn auch nicht jedes Mal. Er hat seine Stalker-Fähigkeiten enorm verbessert. 7. Mein Vater ist immer noch arbeitslos. Es sei denn, man betrachtet es als Arbeit, mit einem Baby Hoppe-hoppeReiter zu spielen. 8. Meine Großmutter Bunty ist wieder weg. Ganze fünf Tage hat sie Tabithas Geschrei ausgehalten, dann hat sie ein buddhistisches Zentrum in Nepal gefunden und ist zu dem Schluss gekommen, sich in einem »weit entfernten Land« eher »nützlich machen« zu können. 9. Was niemanden überrascht hat, am wenigsten Annabel. 10. Ich habe nicht gemodelt. Seit ich meinen Job bei der Modeschöpferin Yuka Ito gekündigt habe, habe ich nichts gemacht, was auch nur im Entferntesten mit Mode zu tun hat. Nada. Nix. Niente. Es hat sich herausgestellt, dass Yuka und mein extravaganter Agent Wilbur meine Karriere im Alleingang am Leben erhalten haben wie zwei Kaiserpinguine, wenn sie ihr lächerliches, unselbstständiges Küken aufziehen. Ein Küken, das ohne sie, 11 die es alle paar Stunden füttern und vor dem Riesensturmvogel beschützen, nicht überleben könnte. Außer dass der Riesensturmvogel in meinem Fall kein großer arktischer Vogel aus der Familie der Procellariidae ist, sondern eher eine Agentin, die Stephanie heißt und Wilbur vor sechs Wochen bei Infinity Models abgelöst hat. Sie ist sehr streng, sehr professionell und sie erinnert sich nicht daran, wer ich bin. Das weiß ich, weil sie nur selten meine Anrufe entgegennimmt, und als sie einmal doch rangegangen ist, hat sie »Wer?« gefragt. Seither habe ich nichts mehr von der Agentur gehört. Ehrlich, mir war nicht klar, wie viel Spaß es mir gemacht hat, golden angemalt zu werden, mit Tintenfischen zu ringen, im Schnee herumzuhüpfen oder so zu tun, als wäre ich die eleganteste Sumokämpferin der Welt. Das habe ich erst kapiert, als es mir weggenommen wurde. Buchstäblich. Infinity Models hat mich sogar aufgefordert, die goldenen Schuhe, von denen Yuka sagte, ich könne sie behalten, per FedEx zurückzuschicken. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich muss mich auf andere Sachen konzentrieren. In zehn Tagen fängt die zwölfte Klasse an und ich bin bereit. Ich habe eine funkelnagelneue rote Schultasche. Ich habe einen teuren Taschenrechner, der Funktionsgraphen zeichnet, Integrieren beherrscht, quadratische Gleichungen löst und natürliche Logarithmen berechnet – was auch immer das ist. Ich habe einen kompletten Satz neuer Klamotten für die Schule – keine Schuluniform – und auf den allermeisten Sachen sind keine Tiercartoons. 12 Ich habe meine neuen Lehrerinnen und Lehrer alle im Internet gestalkt und jeweils eine hieb- und stichfeste Zusammenfassung erstellt, damit ich sie für mich gewinnen und/oder zwingen kann, mich zu mögen. Aber vor allem habe ich einen astreinen, sorgfältig strukturierten Plan. Ich muss in vier Hauptfächern eine Eins schaffen und mich um meinen Freund und um meine beste Freundin kümmern, um ein gesundes und ausgeglichenes Leben zu führen. Ich muss einen Stalker von Sträuchern mit Dornen fernhalten. Und ich muss meinen einzigartigen sechzehnten Geburtstag vorbereiten. Noch nie im Leben hatte ich so viel zu tun und deswegen habe ich alles bis ins letzte Detail geplant. Das einzige Problem: Alles hängt davon ab, wie ich bei den Prüfungen abgeschnitten habe. Und das werde ich gleich erfahren. 13 4 Vor Kurzem habe ich einen interessanten Artikel über einen zwölf Wochen alten verwaisten Affen in China gelesen, der in eine heilige Stätte gebracht wurde, wo er eine starke und leidenschaftliche Freundschaft mit einer weißen Taube schloss. Obwohl die beiden total verschieden waren, wurden sie sehr schnell unzertrennlich. Manchmal frage ich mich, ob meine beste Freundin Nat und ich zusammen so ein lächerliches Paar abgeben wie die beiden. Zum Beispiel jetzt gerade. Bis ich mich hastig mit einem feuchten Lappen sauber gewischt und meiner komatösen Familie einen Abschiedskuss gegeben habe, hinke ich meinem Plan mehr als fünfzehn Minuten hinterher und hyperventiliere schon vor Panik. Und Nat wirkt, als könnte es ihr nicht gleichgültiger sein. Sie sitzt auf der Bank an der Kreuzung. Ihr neuer Pony ist absolut gerade, der Lidstrich an beiden Augen ist vollkommen identisch und ein Träger ihres gestreiften Kleids hängt so lässig über eine Schulter, dass es definitiv aussieht, als wollte sie es so haben. Francois ist längst von der Bildfläche verschwunden, aber irgendetwas von ihrem Frankreichaufenthalt ist wohl hängen geblieben. Nat sieht aus, als bräuchte sie englische Untertitel. 14 »Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin«, sage ich atemlos und reiche ihr einen Schokoladendrop. Erst da merke ich, dass ich mir das ganze T-Shirt mit braunem Zuckerguss verschmiert habe und es beunruhigend nach etwas anderem aussieht. »Glaubst du, die Ergebnisse sind schon da? Glaubst du, wir haben bestanden?« »Was für ein katastrophaler Start in den Tag«, sagt Nat und blickt von ihrer Vogue auf. »Harriet, was sollen wir bloß machen?« Erleichtert lächele ich ihr zu. Ich habe meine beste Freundin offensichtlich vollkommen falsch eingeschätzt.Wir werden zusammen durch diese furchterregenden akademischen Gewässer navigieren. »Mach dir keine Sorgen«, sage ich in möglichst beruhigendem Tonfall und mache mich daran, sie in Richtung Schule zu ziehen. »Es ist bestimmt nicht so schlimm, wie du glaubst.« »Nein, schlimmer«, erwidert Nat. »Harriet, nach was sieht das für dich aus?« Sie zupft an ihrem Kleid. Das könnte eine Fangfrage sein. »Ähm. Das ist ein …« Fähnchen. Fummel. »Kleid, oder?« Dann kommt mir die Erleuchtung. »Eine Robe?« »Das sind Streifen, Harriet. Ich trage Streifen. Aber laut Vogue ist Blümchendruck der heißeste Trend diese Saison. Ich wünschte, die hätten mich vorgewarnt.« So geht das schon, seit Nat ihren offiziellen Willkommensbrief vom Fachbereich Modedesign des Colleges hier gleich um die Ecke bekommen hat. Dermaßen konzentriert habe ich sie seit ihrer Blauer-Glitzer-Phase in der zweiten Klasse nicht mehr erlebt. Da haben wir ein paar bemerkenswerte Wochen lang beide ausgesehen wie Weihnachtsbaumschmuck. 15
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